Systematisierung des Sprachwandels. Datenerhebung dialektaler Syntaxphänomene


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Hinführung zum Thema

2. Erhebungsmethode dialektaler Syntax

3. Sprachdynamische Phänomene der Dialektsyntax im deutschen Sprachraum
3.1. Am-Progressiv
3.2. Präteritumschwund
3.3. Passiv
3.4. Konjunktiv II würde + Infinitiv
3.5. Tun-Periphrase

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

6. Anhang - Fragebogen zur Datenerhebung

1. Hinführung zum Thema

„Auf die Frage [...] warum es ein System gibt, läßt sich nur die Antwort geben, daß das System existiert, weil es geschaffen wird [...] die Entwicklung der Sprache ist eine ständige Systemati­sierung. Und jeder Sprachzustand stellt eine systematische Struktur dar, gerade weil er ein Moment der Systematisierung ist.“ (Coseriu 1974:236)

Die bis zur Reformationsbewegung Martin Luthers 1517, welche mittels des koinzident entwickelten Buchdrucks von Johannes Gutenberg eine umfangreiche Verbreitung genoss, bestehende Gleichberechtigung der regionalen Varietäten des deutschen Sprachraumes wurde mit der Entfaltung der Schriftsprache aufgelöst. Der um 1650 einsetzende dezentrale Prozess der Sprachvereinheitlichung, auf Basis der Selektion prestigeträchtiger Sprachvarietäten, stellt die Geburtsstunde einer bis in die Gegenwart anhaltenden, auf Kodifikation gerichtete Systematisierung der deutschen Sprache dar. Die folgenden Jahrhunderte zeichnen sich im Zuge der diesbezüglichen Bemühungen um eine stetige Optimierung des dynamischen Systems Sprache, vom Purismuswillen des 17. und 18. Jahrhunderts, von der vom Verständnis der deutschen Sprachpflege nach Wolfgang Ratke angetriebenen Gründung von Sprach- und Literaturgesellschaften, wie dem gegenwärtig fortbestehenden Pegnesischen Blumenorden, hin zur Aus- und Weiterbildung einer einheitlich hochdeutschen, überdachenden Standardsprache mit tendenziell steigender Verdrängung der Dialekte aus.

Die auf erneuernde Grammatikalisierung basierende Sprachsystematisierung der deutschen Standardsprache, deren ursprüngliche Wurzel in den sprachlich mündlichen Varietäten mit begrenztem räumlichen Geltungsbereich, den Dialekten, liegt, steht hinsichtlich der resultierenden Überwindung von synthetischen Sprachformen anhand einer selbsterstellten Befragung von ausgewählten, dialektalen Syntaxphänomenen im Zentrum dieser Hausarbeit. Zur Darstellung, inwieweit der systematisierte Sprachwandel, welcher sich aufgrund von politischen Veränderungen, wie die Bildung von Nationalstaaten, religionsgeschichtlichen Ereignissen und gesellschaftlichen Umbrüchen, wie der Ablösung der Feudalkultur, in der gesprochenen Sprache innerhalb eines wesentlich kürzeren Zeitraumes vollzieht als in der geschriebenen Sprache, in die nicht homogenen Dialekte des deutschen Sprachraumes anhand von analytischen Phänomenen vordringt, wird der Am-Progressiv, Präteritumschwund, Passiv, Konjunktiv II mit würde und die Tun-Periphrase herangezogen. Dabei finden die am Aufgabentyp orientierten, zu erwartenden Antworten, sowie die gegenwärtige Stellung und Verortung dieser durch den Rückgriff auf Sprachatlanten empirischer Daten Erläuterung.

2. Erhebungsmethode dialektaler Syntax

„Ziel einer Spracherhebung sei es, die sozialen und kommunikativen Prozesse in ungestörtem Verlauf zu beobachten - und gerade durch den Prozess des Beobachtens werde eben diese Ungestörtheit beeinträchtigt. [Somit dürfte] die objektive Darstellung und Interpretation eines natürlich verlaufenden, ungestörten Sprachprozesses eine Fiktion sein, wenn man die Anwesenheit Dritter als Beeinträchtigung der Natürlichkeit ansieht.“ (Löffler 2005:45)

In der empirischen Sozialforschung wird im Hinblick auf die Authentizität des erhobenen Sprachmaterials der Gewährsperson zwischen vier verschiedenen Befragungstechniken in Bezug auf die jeweilige Ausprägung des sogenannten „Beobachterparadox“ differenziert. Die direkte Methode, welche auf dem unmittelbaren Aufzeichnen der mündlichen Sprachäußerung durch die sofortige schriftliche Fixierung oder dem Mitschneiden eines Tonbandgeräts basiert, suggeriert aufgrund einer mündlichen Befragung oder eines direkten Gespräches keinerlei Beeinflussung von geschriebener Sprache und mündet somit in gewöhnliche Sprechstrukturen der Gewährsperson. Das dabei erhobene Sprachmaterial, welches eine besonders hohe Eignung für die Erforschung der exakten lautlichen Notation aufweist, entzieht sich jedoch gleichzeitig der Heterogenität der Datenmenge, womit eine Komplikation innerhalb der Vergleichsbasis der Dialektalphänomene einhergeht. Als eine Variante der direkten Methode versteht sich die teilnehmende Beobachtung, welche die Beeinflussung der Gewährsperson durch den fehlenden offiziellen Charakter des Interviews ausschließt und somit ein größtmögliches Maß an Authentizität der Sprachdaten ermöglicht. Als konträre Analogie versteht sich die indirekte Methode, wobei spezifische Sprachdaten des Probanden auf der Basis eines auszufüllenden Fragebogens ermittelt werden. Die Eignung des dabei erhobenen Materials zielt in der Regel auf die Erforschung von sprachlichen Phänomenen ab, welche lexikalischer, syntaktischer, morphologischer oder semantischer Natur sind und die lautliche Notation des Sprechaktes in den Hintergrund tritt. Aufgrund der dem Fragebogen zugrundeliegenden Schriftlichkeit kann von keiner Natürlichkeit der ausgefüllten Sprachdaten durch den Probanden ausgegangen werden. Als großer Vorzug dieser indirekten Befragungsmethode lässt sich das ökonomische Vorgehen in zeitlicher und positioneller Hinsicht für ein dichtes Belegortnetz anführen, weshalb größere dialektgeographische Untersuchungen auf die indirekte Befragung angewiesen sind. Weiterhin steht im Bereich der Erhebungsstufe der Fragebogen in Interviewtechnik zur Auswahl, welcher in Form eines gezielten Interviews als Kombination der direkten und indirekten Methode zu verstehen ist. Auf das weitere Vorgehen innerhalb der

Erhebungsstufe vor der Durchführung der Befragung, der Aufbereitungs- und Korrelationsstufe wird aufgrund mangelnder, inhaltlicher Relevanz in dieser Hausarbeit nicht eingegangen.

Der im Folgenden behandelte, selbsterstellte Fragebogen, welcher auf spezifisches Abfragen spezieller syntaktischer Phänomene von Dialektsprechern abzielt, bedient sich der indirekten Methode und ist aufgrund des analytischen Fragebogens verschiedener Aufgabetypen wie Einsetzaufgaben, Übersetzungsaufgaben etc. innerhalb der Dialektologie als Verschmelzung der Methoden „established methods“ und „new methods“ anzusehen.

3. Sprachdynamische Phänomene der Dialektsyntax im deutschen Sprachraum

3.1. Am-Progressiv

Als erstes dialektales Syntaxphänomen des indirekten Fragebogens findet sich der, seit dem 15. Jahrhundert belegbare „Am-Progressiv“ als Ausbreitung einer einfachen Tempusform in der Verbindung mit der finiten Verbform von sein, mit der Funktion der Darstellung einer Handlung oder eines Geschehens als nicht abgeschlossen und im Verlauf befindlich. Während die progressive Syntaxstruktur „Sie ist noch am schlafensowie obligatorische Verbindungen mit bestimmten Verben, wie „Ich bin am verhungern.“ (* „Ich verhungere gerade.“) im gesamten deutschen Sprachraum Verwendung finden, trifft die rheinische Verlaufsform „Ich bin gerade die Uhr am reparieren.“ in den geographischen Abschnitten Österreich, Ost- und Norddeutschland auf normabweichenden Widerstand.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Gemäß dem Aufgabentyp der Bildbeschreibung, welcher sich als Variante der Übersetzungs­befragung zur gezielten Abfrage von Sätzen und Satzteilen eignet, sollten die Gewährspersonen anhand des im Aufgabentext vorgegebenen situativen Kontextes auf die Beschreibung der Tätigkeit im angefügten Bild schließen und die Antwort auf die Frage „Was machst du gerade?“ in die natürliche Form ihres alltäglichen Dialekts überführen. Dabei wird die Auswahl zwischen weiteren Konkurrenzformen, wie die agensbezogenen dabei- und beim-Konstruktionen, welche in den östlichen Bundesländern der ehemaligen DDR vorziehende Benutzung finden, die twn-Periphrase, der unmarktierte Präsens und der Präsens in Verbindung mit dem zeitlich fixierenden Temporalverb gerade eröffnet.

Ausgehend von den Zentren des Ursprungs und der Verbreitung der am-Konstruktion, dem rheinischen und niederdeutschen Raum und der deutschsprachigen Schweiz, liegt der Progressiv im Varietätenspektrum des Deutschen in einer West-Ost-Staffelung in unterschiedlichen Grammatika­lisierungsstadien vor. Während Gewährspersonen, welche aus den dialektalen Sprachräumen des Ostfriesischen, Westfälischen, Fränkischen, Rhein-Pfälzischen, Schwäbischen und des bis in die deutschsprachige Schweiz reichenden Alemannischen stammen, am-Progressive im üblichen Gebrauch präferieren und sich demzufolge für die Antwortmöglichkeit a) entscheiden würden, sind im Osten des Landes, welcher Ostniederdeutsch und -fränkisch, Obersächsisch und Bairisch umfasst, Ersatzkonstruktionen des Progressivs anzutreffen. Sowohl im Osten des Sprachraums als auch im Südbairischen erfährt die beim-Konstruktion im intendierten Standard sowie Dialekt Vorzug. Für die geographisch mittleren Dialekte wie dem Hessischen und Thüringischen, welche die Übergangszone symbolisieren, stellen Progressivkonstruktion im Allgemeinen eine Seltenheit dar. Im Bezug auf die Grammatikalisierungsstadien vertritt Elspaß (2015:409) die Annahme, „dass die syntaktischen Restriktion für den am-Progressiv in den Ursprungslandschaften am geringsten sind, seine Grammatikalisierung dort also am weitesten fortgeschritten ist.“

Obwohl in der gegenwärtigen Grammatik der deutschen Standardsprache keine offizielle Verlaufsform ohne zeitliche Begrenzung existiert, wird lediglich der Gebrauch von beim­Konstruktionen als korrekt angesehen, während die Verwendung des am-Progressivs der Umgangssprache zugeschrieben wird: „Ich bin beim Arbeitenvs. *„Ich bin am Arbeiten(Barta 2014:21). Der Verzicht des Standards, die am-Konstruktion in imperfekten Vorgängen zur Bereicherung der deutschen Grammatik zu realisieren bringt gleichzeitig eine Aspektlosigkeit des Deutschen zum Ausdruck, weshalb deutsche Sprecher häufig auf die Wiedergabe des realen Tatbestandes unter Benutzung von nicht-verbalen Mitteln, wie Verbzusätze, Adverbien oder Konjunktionen, angewiesen sind. Aufgrund der analytischen Form, die in Kombination mit substantivierten Infinitiven nicht auflösbare Verschmelzung der jeweiligen Präposition mit dem Artikel der + Dativ-Markierung, stehen alle deutschen Progressiv-Konstruktionen unter starker Markierung, wodurch eine Grammatikalisierung unter aufkommenden Fragen zur Wortart und Groß- oder Kleinschreibung der Infinitiv-Komponente vor besonderen Problemen stehen.

3.2. Präteritumschwund

Der sich langsam vollziehende Prozess der bis in die Gegenwart anhaltenden Tempusumschichtung, der bereits um die Jahrtausendwende einsetzt und ab 1530 als vorbildhafter Stilwechsel gegenüber den landschaftlichen Archaismen an Ausbreitung gewinnt, bei der die satzklammerbildende Zeitform des Perfekts das, die abgeschlossene Vergangenheit ausdrückende Präteritum verdrängt, findet sich vorwiegend im Süden des deutschen Sprachraums, weshalb er auch die Bezeichnung „oberdeutsche Präteritumschwund“ trägt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie im vorangegangen behandelten Phänomen haben wir zur Befragung der dialektalen Präteritum/ Perfekt-Distribution den Aufgabentyp der Übersetzungsbefragung vorliegen, bei welchem die Probanden den im Aufgabentext kontextuierten Satz „Ja, aber später. “ gezielt in die Vergangenheitsform ihres Dialekts setzen. Hierbei stehen ihnen die imperfekte Form des Präteritums, welche in der Regel zur Nutzung von Tatsachenberichten als Erzähltempus der geschriebenen Sprache fungiert, gegenüber dem analytisch zweigliedrigen, resulativen Perfekt mit mehrdeutiger Verwendbarkeit, der Markierung des Vollzugs, der temporalen Abgeschlossenheit und zur Darstellung zukünftig erfolgender Handlungen, zur Verfügung.

Entsprechend den historischen Prozessen der Entstehung der Tempusdistribution, liegt im deutschsprachigen Dialektraum eine Dreiteilung vor. Die niederdeutschen Dialekte verfügen über eine sukzessiv zahlreiche Quantität an Präteritalformen, indessen südlich des Thüringer Waldes am Main, an der Städtegrenze Trier - Frankfurt - Plauen, die Ersetzung durch die jeweilige Perfektform stattfindet. Bis auf einzelne präteritale Formen, vor allem für die drei Verben haben, sein und wollen, vollzog sich der oberdeutsche Präteritumschwund nahezu vollständig. Der mitteldeutsche Sprachraum, für den keine flächendeckende Dokumentation der Distribution vorhanden ist, stellt als Übergangsgebiet die Verbindung der beiden Extreme dar. Die Dialekte, welche den Präteritumschwund nicht vollständig vollzogen haben, weisen den Erhalt des Präteritums charakteristisch bei hochfrequentierten Verben, wie sein und den Modalverben, vor.

Als Begründungen für den Präteritumschwund der gegenwärtig deutschen Sprache lässt sich einerseits die auf der artikulatorischen Apokope, dem Schwund des auslautenden Schwas „з“, beruhend missverständlichen Homonymie der Präteritalform der 3. Person Singular Indikativ der schwachen Verben, welche ihr Präteritum und Partizip II mittels der Endung „-t(e)“ bilden, mit der entsprechenden Präsensform anführen[1]. Der zweite Erklärungsversuch, welcher von diachronen Sprachwissenschaftlern als wahrscheinlichere Möglichkeit angesehen wird, besteht in der effektiven Ausweitung des Perfekts in Bedeutung und Gebrauch. So ermöglicht die Perfektklammer durch das finite (Hilfs)Verb die vorteilhaft frühe Identifizierung des Subjekts und dient der unterstützenden Trennung von Thema und Rhema eines Satzes.

Aufgrund der Bedrohung der mangelnden Benutzungsvielfalt mündet der qualitative Aspekt des Rückganges der Präteritalform, welcher im Verschwinden bei vorerst schwachen einsetzt und sich schließlich auch bei den Modal- und starken Verben etablierte, sprachtypologisch in die Abbaubegründung der synthetischen Bildungen und bekräftigt die Zunahme der Vorkommens­häufigkeit von analytischen Konstruktionen.

[...]


[1] Zusammenfall der 3. Ps. Sgl. Ind. Präsens und Präteritum bei schwachen Verben aufgrund Apokope: er/sie macht vs. er/sie macht(e)

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Systematisierung des Sprachwandels. Datenerhebung dialektaler Syntaxphänomene
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
20
Katalognummer
V374835
ISBN (eBook)
9783668520264
ISBN (Buch)
9783668520271
Dateigröße
594 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprachwandel, Datenerhebung, Sprachdaten, Dialekt, Syntax, Am-Progressiv, Präteritumschwund, Passiv, Konjunktiv, Tun-Periphrase
Arbeit zitieren
Maria Beyer (Autor:in), 2017, Systematisierung des Sprachwandels. Datenerhebung dialektaler Syntaxphänomene, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374835

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