Selbstbestimmung und Teilhabe durch gelingende Kommunikation

Kinder mit Down-Syndrom lernen Gebärden-unterstützt, für sich selbst zu sprechen


Thèse de Bachelor, 2016

54 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Kindliche Sprachentwicklung und Sprachförderung
2.1 Sprachentwicklung
2.1.1 Früher Dialog, Turn-taking und „Lallphase“
2.1.2 Triangulieren und Beginn der Wortschatzentwicklung
2.1.3 Von Proto-Wörtern zur „Wortexplosion“
2.1.4 Funktions- und Symbolspiel
2.1.5 Mehr-Wort-Äußerungen
2.2 Zusätzliche anatomische und medizinische Aspekte
2.3 Zusammenhang von Sprache und Kognition
2.4 Sprachförderung

3. Kommunikationsförderung durch Gebärden
3.1 Gebärdensysteme im Vergleich
3.2 Argumente für und gegen Gebärden
3.2.1 Sprachanbahnende Wirkung und sprachliche Gesamtentwicklung
3.2.2 Entwicklung eines Symbolsystems
3.2.3 Freude und Frust in Bezug auf Kommunikation
3.2.4 Verständnisprobleme
3.2.5 Ressourcen-Orientierung
3.2.6 Einfluss auf die sonstige Entwicklung
3.2.7 Motorik
3.2.8 Alltagstauglichkeit und Kosten
3.2.9 Soziale Anerkennung
3.3 Methodisches Vorgehen in der Arbeit mit Gebärden
3.3.1 Zeitpunkt ihrer Einführung
3.3.2 Auswahl der Gebärden
3.3.3 Rahmenbedingungen für die Arbeit mit Gebärden
3.3.4 Ganzheitlichkeit und Alltagsbezogenheit
3.3.5 Über- und Unterforderung vermeiden
3.3.6 Konkrete Praxisideen
3.4 Kooperation zwischen Kind, Eltern und Fachpersonal
3.4.1 Die Lebenssituation der Familie
3.4.2 Die Arbeitssituation des Fachpersonals
3.4.3 Mögliche Chancen und Schwierigkeiten der Kooperation

4. Kommunikation als entscheidender Faktor für Selbstbestimmung und Teilhabe
4.1 Kommunikation und Selbstbestimmung
4.2 Kommunikation und Teilhabe

5. Fazit

I. Literaturverzeichnis

II. Anhang
II.I Transskript: Interview Cora Halder
II.II Leichte Sprache

1. Einleitung

„Eine Logopädin machte (…) mit einem Kind mit Down-Syndrom lange klassische Sprachanbahnungstherapie mit Hilfe eines Spiegels; nur das Kind mochte diesen Spiegel gar nicht. Als es wieder einmal zu diesem Spiegel ging, sprach das Kind die ersten Worte seines Lebens, und die waren klar und deutlich: „Blöde Kuh!““ (Naumann 2004, 44).

Wie können Kinder zum Ausdruck bringen, was sie empfinden, wenn ihnen die Worte fehlen? Woher weiß man, dass sie Angst haben, sich ärgern oder freuen, überfordert sind oder sich unverstanden fühlen? Wie kommen Zufriedenheit und Humor zum Ausdruck?

In meiner beruflichen Praxis als Tagesmutter betreue ich ein kleines Mädchen mit Down-Syndrom (im Folgenden: DS), das immer wieder solche Fragen in mir aufkommen ließ und mir zeigte: Man kann vieles auch ohne Lautsprache ausdrücken, aber es erfordert mehr Geduld und Aufmerksamkeit auf beiden Seiten und eine enge Beziehung zueinander, um die Zeichen zu erkennen und richtig zu deuten.

Kommunikation und (Laut-)Sprache haben in unserer Gesellschaft eine wichtige Bedeutung. Doch Kinder haben auch schon etwas zu „sagen“, wenn sie noch nicht sprechen - erst recht Kinder mit DS, die oft deutlich später sprechen lernen und damit noch länger warten müssen, bis sie sich lautsprachlich äußern können. Herauszufinden, ob und wie Gebärden die Kommunikation in dieser Phase erleichtern, hat mich dazu motiviert, diese praktisch anzuwenden und das Thema theoretisch zu erarbeiten. Das Ergebnis dieser beiden Prozesse liegt mit dieser Arbeit vor.

Nach der Darstellung der allgemeinen Sprachentwicklung und den durch das DS bedingten Besonderheiten wird die Methode der Kommunikationsförderung durch Gebärden beschrieben und mit konkreten Ideen für die Praxis verknüpft. Die Lebenssituation der Familie spielt bei der Sprachförderung ebenso eine Rolle wie die Kooperation mit Fachkräften, weshalb die Chancen und Herausforderungen dieser Zusammenarbeit dargestellt werden. Abschließend wird beleuchtet, welche Be­deutung gelingende Kommunikation für Menschen mit DS auch über das Kleinkind­alter hinaus in Bezug auf Selbstbestimmung und Teilhabe hat.

Ein Expertinnen-Interview ergänzt die aus Literatur und Praxis gewonnenen Erkenntnisse (vgl. Transskript des Interviews, Anhang II.I).

2. Kindliche Sprachentwicklung und Sprachförderung

2.1 Sprachentwicklung

Um zu kommunizieren nutzen wir unseren gesamten Körper. Wir äußern uns durch Mimik, Gestik, Körperhaltung, Worte, Blickkontakt.

Atmung, Stimmbänder, Kiefer, Zunge, Lippen und Gehirn müssen zusammen­arbeiten. In diesem komplexen Prozess können schon kleinste Abweichungen Auswirkungen auf die Sprachentwicklung und die gesprochene Sprache haben (vgl. Fröhlich 2001, 12).

Bei Kindern mit DS verläuft die Sprachentwicklung dennoch sehr typisch, z.B. was die Reihenfolge angeht. Die einzelnen Stufen werden aber meist später oder nicht im gleichen Umfang erreicht. Daher werden im Folgenden die allgemeine Sprachentwicklung und mögliche Besonderheiten bei Kindern mit DS dargestellt.

Die kognitive, soziale und sprachliche Entwicklung sind eng miteinander verbunden, weshalb die Sprachentwicklung nicht losgelöst betrachtet werden kann und auch andere Aspekte miteinfließen.

Die folgende Gliederung erklärt die einzelnen Entwicklungsbereiche und aufeinander folgenden Phasen, die sich aber auch überschneiden können.

2.1.1 Früher Dialog, Turn-taking und „Lallphase“

Schon lange vor dem ersten gesprochenen Wort entwickelt sich Sprache. In der Interaktion und Kommunikation zwischen Säugling und Bezugspersonen werden wichtige Grundlagen gelegt (vgl. Adam 1993, 26). Kinder wissen intuitiv, dass menschliche Stimmen wichtig sind und ziehen diese anderen Geräuschen vor (vgl. Rondal 2009, 36).

Kinder mit DS lassen sich leichter durch Geräusche ablenken, können also menschliche Stimmen offenbar schlechter herausfiltern. Zudem reagieren sie verzögert auf auditive Reize, weil sie diese langsamer verarbeiten (vgl. ebd.).

Mit etwa sechs Monaten, wenn Kinder zwischen sich und anderen Personen unterscheiden können, entdecken sie das „Turn-taking“, d.h. den Dialog im Wechsel. Er entwickelt sich in der Regel von selbst. Die Bezugspersonen reagieren, suchen den Blickkontakt und die Aufmerksamkeit des Kindes und zeigen ihm durch Sprachmelodie und Pausen, wann es an der Reihe ist zu „antworten“ (vgl. Rausch 2013, 203).

Etwa zur gleichen Zeit beginnen Kinder sowohl Silbenketten zu bilden, die in ihrer Sprachmelodie schon an der Muttersprache orientiert sind als auch Lautfolgen aus der Umgebung zu imitieren - daher der Name „Lallphase“ (vgl. Weinrich 2013, 147; Szagun 2008, 65).

Das Kind erkennt allmählich die Bedeutung von Kommunikation. Es zeigt auf Dinge, die es haben möchte, ahmt Gesten und Laute nach und merkt an den Reaktionen, die es bekommt, ob es eine Situation bzw. ein Wort richtig verstanden hat. Das natürliche Antwortverhalten der Bezugspersonen, „dialogisches Echo“ genannt, steigert die Motivation und fördert die Sprachfähigkeiten des Kindes (vgl. Wilken 2010, 46).

Kinder mit DS lautieren auch, allerdings deutlich später. Sie sind zudem weniger aktiv und reagieren verzögert und oft undeutlich, so dass ihre Antwort nicht bzw. nicht mehr wahrgenommen und als solche erkannt wird. Das bewirkt meist eine erhöhte Aktivität der Bezugspersonen, durch die das Kind aber erst recht in eine passive Haltung versetzt wird. Zudem unterbrechen Kinder mit DS ihr Lautieren erst ca. zwei Sekunden später als andere Kinder, die nach etwa drei Sekunden eine Pause machen, weil sie eine „Antwort“ ihres Gegenübers erwarten (Rondal 2009; 37; Wilken 2014, 63; Wilken 2010, 44f).

2.1.2 Triangulieren und Beginn der Wortschatzentwicklung

Mit etwa sechs Monaten beginnt das Kind, Reaktionen zu Handlungen, Ereignissen oder Dingen gezielt zu erwarten oder zu erfragen. Dazu lenkt es die Aufmerksamkeit des Gegenübers auf den Gegenstand, für den es sich interessiert (z.B. durch Klopfen), was als „triangulärer Blickkontakt“ bezeichnet wird. So lernt es, das, was Erwachsene dazu sagen, mit den Dingen oder Ereignissen zu verbinden, die es mit den Sinnen erlebt, erforscht und abgespeichert hat. Umgekehrt überlegt es bei Wörtern, die es hört, zu welchen vorhandenen Dingen diese passen könnten. Es kann noch nicht an Dinge denken, die es nicht sieht, denn sein Sprachverständnis ist noch an die konkrete Situation gebunden (vgl. Zollinger 2014, 12f; Mayer 2012, 56).

Kinder mit DS nutzen den triangulären Blick deutlich seltener. Dadurch bleibt der Kommentar der Erwachsenen nur eine Art Hintergrundgeräusch und das Kind kann das Erlebte oder neu Entdeckte nicht mit den genannten Be­zeichnungen verknüpfen (vgl. Zollinger 2014, 15).

Wie häufig Kinder Gesten nachahmen bzw. selbst nutzen und in welcher Intensität sie den triangulären Blick einsetzen, ist unterschiedlich.

Je stärker ein Kind diese Optionen nutzt desto größer ist sein Wortschatz einige Monate später (vgl. Grimm 1999, 23).

Kinder mit DS nutzen diese referentiellen Möglichkeiten seltener (vgl. Wilken 2010, 44). Dadurch kann sich die Wortschatzentwicklung verzögern.

2.1.3 Von Proto-Wörtern zur „Wortexplosion“

Gegen Ende des ersten Lebensjahres entwickeln sich aus den Silbenketten der Lallphase durch eine bessere sprechmotorische Kontrolle und durch Imitation der Sprachstrukturen der Umgebung erste „Proto-Wörter“ (vgl. Weinrich 2013, 147). Proto-Wörter sind erfundene Wörter wie „brumm-brumm“ für „Auto“. Damit zeigt das Kind, dass es verstanden hat, dass Lautfolgen oder Wörter für etwas anderes stehen können.

Diese Stufe erreichen Kinder mit DS später (vgl. Rondal 2009, 37). Ihnen fällt die sprechmotorische Kontrolle schwerer. Ihre kinästhetische Wahrnehmung, d.h. das Wahrnehmen der eigenen Zungenbewegungen ist ungenauer, wodurch sie diese bei der Lautproduktion schlechter fühlen, wiederholen und speichern können, was für das Nachahmen von Lauten aber Voraussetzung ist. Die Koppelung der verschiedenen Eindrücke, also des Hörens der eigenen Laute und das Spüren der Zungenbewegung, fällt Kindern mit DS durch die zeitliche Verzögerung bei der Wahrnehmung und Verarbeitung dieser Ein­drücke schwer (vgl. Wilken 2010, 44f).

Die ersten gesprochenen Wörter haben meist eine viel umfassendere Bedeutung, die das Kind in dieses Wort mit einschließt, als nur das Wort an sich. Grimm spricht von einem „affektiv-sozialen Gesamtzusammenhang“ (Grimm 1999, 36). Nach und nach beginnt das Kind, diese aus dem situativen Kontext zu lösen, wozu es kognitive Fähigkeiten wie die der Kategorisierung und Analogiebildung nutzt (vgl. Motsch 2013, 3).

Kinder mit DS haben Schwierigkeiten mit abstrakten Begriffen und können nicht so früh Kategorien bilden wie andere Kinder (vgl. Giel 2012, 18).

Kategorien helfen, Wörter so abzulegen, dass man schnell wieder auf sie „zugreifen“ kann (vgl. ebd.).

Der passive Wortschatz ist bei allen Kindern (mit und ohne DS) wesentlich größer als der aktive Wortschatz, d.h. schon lange, bevor sie Wörter sprechen, verstehen sie vieles.

Sie lernen nicht nur Wörter auswendig, sondern auch die Semantik, also die Wortbedeutung, was eine der schwierigsten Aufgaben ist und bei allen Kindern lange dauert. Durch die aktive Auseinandersetzung mit der Umgebung finden sie nach und nach heraus, worauf genau sich das gehörte Wort bezieht und was es beschreibt, um ihre erste Idee immer mehr einzugrenzen (Giel 2012, 17; Rondal 2009, 37f).

Einige Kinder mit DS spielen weniger eigenaktiv, was zusammen mit der Schwierigkeit, Kategorien zu bilden und abstrakte Wörter zu verstehen, einen langsameren Wortschatzaufbau bedingt (vgl. Giel 2012, 17).

Wenn das Kind erste Wörter spricht, sind diese noch an die Situation gebunden. Es sagt „Wauwau“, wenn es einen Hund sieht, kann aber nicht „Wauwau“ sagen, um den Eltern zu erklären, dass es den Hund der Nachbarn besuchen will. (vgl. Zollinger 2014, 13).

Das Kind achtet jetzt darauf, was aus seinem Handeln folgt. Da es weiß, dass es eine eigene Person ist und Wörter sagen kann, die von anderen verstanden werden und etwas bewirken, ist die Sprache nun sehr wichtig für das Kind: Es will über sich sprechen, seine Absichten und Bedürfnisse ausdrücken und hat die verändernde Kraft der Sprache entdeckt. Das erklärt die folgende „Wortexplosion“ (vgl. Zollinger 2014, 13f). Es kommen rasend schnell Wörter dazu, vor allem solche, die für das Kind Bedeutung haben (vgl. Szagun 2008, 114f).

Der Wortschatzaufbau ist bei Kindern mit DS zwar evtl. verzögert, bereitet ihnen aber keine Schwierigkeiten (vgl. Wilken 2014, 65). Allerdings nutzen sie bestimmte Wortgruppen seltener, z.B. Artikel, Präpositionen, Hilfsverben, Konjunktionen und gebeugte Verbformen, da diese im Satz weniger betont werden, kein so großes semantisches Gewicht haben und daher für Kinder mit DS schwerer „herauszufiltern“ und zu erlernen sind (vgl. Rondal 2009, 38).

2.1.4 Funktions- und Symbolspiel

Das zweite Lebensjahr ist von Funktionsspiel und Imitation geprägt. Das Kind untersucht verschiedene Gegenstände, beobachtet Erwachsene und lernt die Dinge so ihrer Funktion entsprechend zu gebrauchen (vgl. Bürki 2014, 23). Durch die wiederholte Anwendung bekommt es Routine und muss sich nicht mehr so stark auf die Handlung an sich konzentrieren, so dass der Blick frei wird, auch das Resultat zu beachten. Es realisiert, dass sein Tun Spuren hinterlässt, z.B. dass der Stift Striche auf das Papier gemalt hat.

Die funktionalen Handlungen werden nicht mehr nur als Imitation ausgeführt, sondern um etwas Neues entstehen zu lassen. Dadurch kommen Kinder am Ende des zweiten Lebensjahres zu ersten inneren Bildern und Vorstellungen von Handlungen und deren Wirkung (vgl. Bürki 2014, 24). Das Funk­tionsspiel wird damit durch das Symbolspiel abgelöst bzw. ergänzt. Das Kind baut, ausgehend von dem, was es gerade tut, eine Vorstellung von etwas auf, das nicht da ist, z.B. indem es feststellt, dass die aufeinandergelegten Bauklötze wie ein Turm aussehen. Seine Vorstellung ist nicht mehr auf die konkrete Situation beschränkt, daher braucht es die Sprache, um auf Dinge, die räumlich oder zeitlich außerhalb der Situation liegen, Bezug zu nehmen (vgl. Zollinger 2014, 11).

Es beobachtet zudem, wie Menschen miteinander umgehen und verinnerlicht soziale Regeln, die eine weitere Basis für die Sprachentwicklung sind (Largo 1998, 14f).

Gemeinsames Handeln ist eine der Grundlagen der Kommunikationsförderung. Erst durch den Umgang mit den Dingen versteht das Kind die Bedeutung – und erst dann kann ein Symbol, also z.B. ein Wort, dafür eingeführt werden (vgl. Adam 1993,107f).

Das Symbolspiel tritt bei Kindern mit DS später auf (vgl. Rondal 2009, 37).

2.1.5 Mehr-Wort-Äußerungen

Mit durchschnittlich 12 Monaten sprechen Kinder erste Wörter.

Kinder mit DS sind im Durchschnitt 24 Monate alt (vgl. Wilken 2014, 35).

Hat das Kind einige Wörter gelernt, verbindet es diese zu Zwei- und später Mehr-Wort-Äußerungen, z.B. „Ball haben“.

Ganze Sätze sprechen Kinder mit durchschnittlich 18 Monaten.

Kinder mit DS erreichen diese Fähigkeit im Durchschnitt mit 36 Monaten – die Streuung reicht aber von 18-96 Monaten (vgl. Wilken 2014, 35).

Das Kind erwirbt immer mehr grammatikalisches Wissen und kann irgendwann auch Vergangenes, Zukünftiges und Abstraktes bezeichnen.

Mit letztgenannter Fähigkeit haben Kinder mit DS evtl. Schwierigkeiten (vgl. Grimm 1999, 71). Allerdings gibt es interessante Ausnahmen, in denen Menschen mit DS in einem Kloster z.B. abstrakte religiöse Konzepte lernten. Neueste Studien zeigen, dass Kinder mit DS durchaus abstrahieren können (vgl. Zimpel 2016, 79f+136ff).

Insgesamt sind die aktiven Sprachfähigkeiten bei Jugendlichen mit DS längst nicht so weit entwickelt wie ihr Sprachverständnis und ihre sonstigen Fähig­keiten. Einen so starken Unterschied zwischen den einzelnen Entwicklungs­bereichen gibt es bei keiner anderen geistigen Behinderung (vgl. Sarimski et al. 2010, 20).

2.2 Zusätzliche anatomische und medizinische Aspekte

Ein Großteil der Kinder mit DS hat mehr gesundheitliche Probleme als Kinder ohne diese Chromosomenstörung (vgl. Pueschel 1995, 65). Solche Probleme verlang­samen die gesamte Entwicklung, somit auch die der Sprache. Da sich auch Seh- oder Hörprobleme auswirken können, sollten regelmäßig Tests durchgeführt werden, um diese zu erkennen (vgl. Giel 2012, 13; Pueschel 1995, 73). Bei ca. 78% der Kinder mit DS liegt eine Hörstörung vor, die ein Grund für das falsche Aussprechen von Buchstaben und Wörtern sein kann (vgl. Schorn 1990, 159+161). Auch vorübergehende Hörstörungen kommen vor, weil Kinder z.B. durch Infekte Mittelohrent­zündungen haben.

Diese aus anatomischen Gründen gehäuft vorkommenden Infekte (vgl. Grimm 1999, 71) können Kinder zudem so sehr „beschäftigen“, dass weniger Kraft bleibt, Neues zu lernen.

Außerdem können orofaziale Dysfunktionen auftreten, d.h. Störungen, die mit dem Mund bzw. Gesicht zu tun haben und indirekt die Sprachentwicklung beeinflussen (vgl. Giel 2012, 44).

2.3 Zusammenhang von Sprache und Kognition

Kinder mit DS zeigen eine verzögerte kognitive Entwicklung. Das Gehirn wächst etwa in halbem Tempo und auch die Differenzierung dauert länger. Die Intelligenz reicht bei Kindern mit DS von schwerer Behinderung bis zu fast durchschnittlichen Werten. Meistens liegt eine leichte bis mäßige Beeinträch­tigung vor (vgl. Pueschel 1995, 78+83).

Menschen mit DS lernen aber ihr Leben lang. Die Lernfähigkeit kann sogar ab 30 Jahren noch einmal zunehmen (vgl. Zimpel 2016, 77).

Ob die kognitive Entwicklung die sprachliche beeinflusst oder umgekehrt, wird viel diskutiert. Für Piaget beeinflusst die Sprache kaum die geistige Entwicklung, die Sprachentwicklung ist nur Abbild der allgemeinen kognitiven Veränderungen. Die wichtigste Entwicklung der frühen Kindheit ist für ihn die Möglichkeit des symbo­lischen Denkens, also auch die, neue Ideen zu schaffen, was z.B. mathematische Überlegungen erst ermöglicht. Kinder erarbeiten sich diese Fähigkeit, wenn sie Gelegenheiten bekommen, Sprache im Zusammenhang mit Personen, Gegen­ständen, Handlungen und Situationen zu erleben, wenn sie aktiv und eigenständig mit Symbolsystemen umgehen dürfen (vgl. Largo 2009, 173+183f). Piaget schreibt schlussfolgernd dazu: „Alles, was wir einem Kind beibringen, kann es nicht mehr lernen.“ (Largo 1998, 14 – zitiert nach Piaget 1981, 63). Erst wenn Kinder im wahrsten Sinne des Wortes begriffen haben, dass Symbole auf etwas anderes verweisen können, sind sie in der Lage, die Funktion sprachlicher Zeichen zu erkennen (vgl. Rausch 2013, 203). Sie entwickeln ein System, in dem die nicht anwesenden Dinge geistig präsent sind und können auch in deren Abwesenheit über sie sprechen. Diesen Schritt nennt Piaget „Objektpermanenz“ (vgl. Adam 1993, 74f). Kinder denken dann kontextunabhängig, erinnern sich nicht nur, sondern haben eine innere Vorstellung mit einem gewissen Abstraktionsgrad. Das Wort „Auto“ hat mit den verschiedenen, realen Autos, die das Kind kennt, wenig zu tun. Dennoch kann es eine Art Schema von „Autos“ mit diesem Wort verbinden. Diese Fähigkeit entsteht aus der sensomotorischen Entwicklung, d.h. durch das Erkennen der Welt über die Sinne und über motorische Erfahrungen. Die Symbole, die ein Kind so gebildet hat, stehen nicht nur für die Dinge an sich, sondern für das Verständnis des Kindes von diesen Dingen (vgl. Largo 2009, 182-185). Während das Kind anfangs nur nachahmt, was es aktuell sieht oder hört, kann es das nach und nach auch zeitversetzt tun, da es die Situation „innerlich repräsentieren kann“ (Adam 1993, 75).

Der Mensch entwickelt seine kognitiven und sozialen Kompetenzen durch die Aus­einandersetzung mit seiner Umwelt, was schwer ohne Kommunikation gelingt (vgl. Rothmayr 2001, 149f). Aus dieser Sicht könnte man Piaget widersprechen: Unsere Umgebung beeinflusst stark unsere Sprache und diese „gibt wiederum die Bahnen vor, auf denen sich unser Denken entwickelt. Es lässt sich nichts denken, was nicht in sprachliche Form zu gießen ist.“ (Radtke 2007, 139f).

Dabei muss nicht von Lautsprache die Rede sein, sondern allgemein von einem Symbol- oder Sprachsystem. Zudem bauen die Entwicklungen der kognitiven und sprachlichen Systeme auf­einander auf. Jeder Fortschritt wirkt sich auch auf die anderen Bereiche aus (vgl. Rondal 2005, 31).

Die Benennung von Dingen und Handlungen beeinflusst ebenso die Begriffsbildungs- und Kategorisierungsprozesse und somit die Kognition (vgl. Szagun 2008, 151+160).

Somit ist anzunehmen, dass Sprache und Kognition untrennbar verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen (vgl. a.a.O., 160).

In Bezug auf Kinder mit DS ist besonders wichtig, dass sich die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten anfangs etwa niveaugleich ent­wickeln, sich anschließend aber die Sprachentwicklung deutlicher als die sonstige Entwicklung verzögert. Kinder mit DS verstehen dann weit mehr, als sie äußern können, da. das Sprachverständnis– entsprechend der kognitiven Fähigkeiten der Kinder – deutlich besser ausgeprägt als die ak­tive Sprache. Das kann zu Fehleinschätzungen und Frustration führen (vgl. Wilken 2014, 56+63-65).

Für den Spracherwerb und das Erlernen grammatikalischer Regeln ist das Arbeitsgedächtnis sehr wichtig, da es die ankommenden sprachlichen Informationen innerlich so lange vorhält, bis sie im Langzeitgedächtnis gespeichert sind.[1] Auf diese gespeicherten Informationen kann dann immer wieder zugegriffen werden, um sie mit neuen Erkenntnissen zu vergleichen und ggf. zu überarbeiten. In einem Gespräch hält das Arbeitsgedächtnis die Informationen also solange aufrecht, bis wir sie verstanden haben und darauf reagieren können, bevor es sie ins Langzeitgedächtnis weitertransportiert (vgl. Alton 2002, 12). Eigentlich hält das Arbeitsgedächtnis Informationen nur wenige Sekunden vor. Durch die sog. „innere Rede“ hält man sie aber aufrecht, falls man sie länger halten muss. Mit zunehmendem Alter erhöht sich die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, wodurch sich Wörter schneller lernen lassen und lange und schwere Wörter leichter aufgenommen werden können (vgl. ebd.).

Bei Kindern mit DS ist die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses von Anfang an geringer. Sie nimmt auch nicht im Lauf ihres Alters zu (vgl. Alton 2002, 13). Deshalb und wegen ihrer schwächeren auditiven Aufmerksamkeit nehmen sie die ankommenden Informationen gar nicht oder verlangsamt auf, weshalb diese unvollständig oder ungenau im Langzeitgedächtnis ankommen.

Wenn sie sich am Ende des gehörten Satzes nicht mehr an den Anfang erinnern können, ist es schwierig für sie, die Bedeutung der gesamten Aussage zu verstehen (vgl. a.a.O., 14.).

Ein leistungsschwächeres Arbeitsgedächtnis sorgt u.a. für eine ungenaue Wahrnehmung von Reihenfolgen, was das Entdecken und Verarbeiten von syntaktischen Regeln wie bestimmter Wortpositionen im Satz usw. erschwert. Auch das Abrufen gespeicherter Informationen gelingt nicht immer (vgl. Motsch 2013, 5f). Das kann ein Grund dafür sein, dass Kinder mit DS meist einfache Haupt­sätze ohne Nebensätze bilden oder im Telegrammstil sprechen (vgl. Wilken 2014, 65).

Das Gedächtnis für visuelle und räumliche Informationen sowie das Langzeitgedächtnis sind bei Kindern mit DS nicht beeinträchtigt (vgl. Alton 2002, 12). Hier liegen ihre besonderen Stärken.

2.4 Sprachförderung

Da bei Kindern mit DS die Streubreite in der Entwicklung noch größer ist als bei Kindern ohne Behinderung, ist der Förderbedarf sehr unterschiedlich. Die Sprach­förderung muss jeweils auf den Entwicklungsstand und die Persönlichkeit des Kindes abgestimmt werden (vgl. Wilken et al. 2009, 46).

Im Bereich Kommunikation ergänzen sich Förderung und Therapie.

Eltern, PädagogInnen und das sonstige soziale Umfeld des Kindes sind nicht für therapeutische Aufgaben zuständig und in der Regel auch nicht qualifiziert. Durch sie geschieht Sprach förderung im Alltag durch Vorlesen, Singen, Erklären der alltäg­lichen Dinge usw. (vgl. Giel 2012, 14). Förderung hat eine andere Ausrichtung als Therapie. Sie hat im Idealfall eine ganzheitliche Sicht und nicht nur die Defizite, sondern auch die Ressourcen im Blick. Sie möchte die Entwicklungskräfte nutzen, die Kinder mitbringen. Therapiemaßnahmen haben meist konkrete Ziele, welche Erfolge wann zu erreichen sind. Solche starren Vorgaben sollten in der Förderung nicht vorkommen (vgl. Krebs 2004, 36). Entscheidend ist, dass die Fortschritte aus dem Kind heraus geschehen und dass Eltern und Fachleute Vertrauen in die natür­liche Entwicklung haben und nicht die Eigenaktivität und Motivation des Kindes übersehen, dazulernen zu wollen (vgl. Wilken et al. 2009, 42). Cora Halder betonte im Interview, dass eine positive Erwartungshaltung des Umfeldes wesentlich für die Entwicklung des Kindes ist (vgl. Interview, Z. 118-134).

Das Kind spürt, ob man ihm etwas zutraut. Während eine gute Lernatmosphäre und anregende Angebote im Bereich Sprache hilfreich sind, macht eine isolierte Förderung in einer Art Trainingssituation dagegen keinen Sinn, denn das Kind erwirbt Sprache durch konkrete Erfahrungen, wie bereits dargestellt wurde.

Der Erwachsene sollte sich vom Kind leiten lassen, da dessen Interessen durch seinen Entwicklungsstand bestimmt werden und daher für den Lernerfolg entscheidend sind (vgl. Largo 2009, 75+225).

Neben der Möglichkeit der „Alltagsförderung“ gibt es ein großes Angebot an professionellen Fördermöglichkeiten.

Die kindliche Entwicklung ist aber nicht im Wesentlichen von diesen Maßnahmen abhängig, auch wenn dieser Eindruck für Eltern entstehen kann (vgl. Wilken et al. 2009, 42). Studien zur Wirkung von Frühförderung bei Kindern mit DS haben gezeigt, dass Kinder, die von klein auf gefördert wurden, bessere Leistungen erbrachten als nicht geförderte Kinder. Aber man kann nicht abschätzen, wie Frühförderung bei einem bestimmten Kind wirkt. Manchen hilft sie sehr, anderen weniger (vgl. Selikowitz 1992, 120). Und nicht alles, was sich verändert, ist auf Förderung zurückzuführen, auch die Ergebnisse normaler Entwicklungsprozesse werden bei Studien mit erfasst. Der Vergleich mit Heimkindern lässt vermuten, dass es am Wichtigsten ist, dass Kinder mit DS zuhause aufwachsen, wo sie von den Eltern durch ganz natürliche Dinge wie Vorlesen, gemeinsames Alltagserleben und -gestalten gefördert werden (vgl. ebd.). Wo Frühförderung dem Familienleben im Weg steht, verliert sie ihren Ressourcencharakter und erhöht die Stressbelastung für das Kind und seine Familie (vgl. Heckmann 2004, 170; Krebs 2004, 34). Sie kann das Kind und sein Umfeld auch zeitlich oder finanziell überfordern (vgl. Wilken et al. 2009, 44).

Eltern von Kindern mit Behinderung fühlen sich noch mehr unter Förderdruck als andere Eltern (vgl. Wilken 2004, 49). Besonders zu Beginn der Auseinandersetzung mit der Behinderung haben Eltern oft den Wunsch, etwas zu verändern, oder Angst, etwas zu verpassen (vgl. Wilken 1999, 117).

Berichte über erfolgreiche Entwicklungsverläufe anderer Kinder, die einer bestimmten Fördermaßnahme zugeschrieben werden, sollten mit Vorsicht gelesen werden, da sich jedes Kind ganz individuell entwickelt (vgl. Largo 1998, 11). Cora Halder weist im Interview ebenfalls darauf hin, dass Eltern Schuld­gefühle entwickeln können, wenn sie an diejenigen Möglichkeiten denken, die sie nicht genutzt haben.

Sie sagte, ihr würde es vermutlich heute genauso gehen, wenn ihre Tochter sich sprachlich nicht so gut entwickelt hätte, da sie keine Gebärden nutzen wollte (vgl. Interview, Z. 184-196). Dennoch findet sie es wichtig, vor allem das, was in der Familie ohne Stress machbar ist, auch zu tun. Gebärden sind eine solche Möglichkeit (vgl. Interview, Z. 145-150, 171-187).

Bei Menschen mit DS sollte man Sprachförderung nicht nur im Kindesalter, sondern ein Leben lang im Blick haben (vgl. Rondal 2005, 32). Dabei sollte es immer vor allem um die Person gehen und wichtiger sein, „best­möglich zu verstehen“ als „bestmöglich zu fördern“ (vgl. Rothmayr 2001, 241).

3. Kommunikationsförderung durch Gebärden

Kommunikation findet statt, wenn zwei Personen eine kommunikative Absicht haben und der kommunikative Akt gelingt. Kommunikation kann dabei über verschiedene Symbolsysteme stattfinden – die gesprochene Sprache ist nur eines unter vielen, die denkbar sind (vgl. Adam 1993, 31).

Die Kommunikationsförderung durch Gebärden ist eine Methode der Unterstützten Kommunikation (UK). Unter UK versteht man alle Methoden, die die Kommunika­tionsmöglichkeiten von Menschen mit eingeschränkter oder fehlender Lautsprache erweitern. Neben körpereigenen Methoden wie Gebärden und Mimik gibt es auch externe Methoden wie Talker, d.h. elektronische Sprachausgabegeräte, und Bild­tafeln (vgl. Giel 2012, 30).

In Deutschland werden seit etwa 1970 in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung Gebärden verwendet, um die Kommunikation zu erleichtern (vgl. Braun 2003, 5). In den USA und Großbritannien begann man damit schon früher. Trotz Bedenken, dass man damit die Lautsprachentwicklung behindern könnte, machte man Versuche, auf diese Weise schwieriges Verhalten in Einrichtungen besser in den Griff zu bekommen.[2] Doch mit der Zeit wurde klar, dass UK wesentlich mehr leisten kann. Sie macht – je nach Grad der Behinderung – auch differenzierte Dialoge möglich.

Für Kinder mit DS hat sich die Kommunikationsförderung durch Gebärden besonders bewährt.

3.1 Gebärdensysteme im Vergleich

Die meisten Menschen denken an die Deutsche Gebärdensprache (DGS), wenn sie von Gebärden hören. Sie ist eine eigenständige Sprache, mit der sich vor allem Gehörlose verständigen. Es gibt Landessprachen und Dialekte, man kann jeden erdenklichen Sachverhalt mit ihr ausdrücken, Grammatik und Syntax weichen von der Lautsprache ab. Sie für den Zweck der Sprachförderung von Kindern mit DS zu erlernen, ist daher weder nötig noch sinnvoll. Wichtig ist sie aber insofern, da ein­zelne Systeme Gebärden aus der DGS entnommen haben. 1977 erschien das „Gebärdenlexikon“ und bot erstmals ein Nachschlagewerk für deutsche Gebärden.[3] In Anlehnung an diese oder unabhängig davon entwickelten sich in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung Gebärdensysteme. Dem Nachteil dieser unterschiedlichen Systeme, z.B. bei einem Umzug einer Person in eine andere Einrichtung, wurde durch die Gebärdensammlung „Schau doch meine Hände an“ 1999 Abhilfe geschaffen. Sie wurde durch eine Expertenkommission zusammengestellt, die die Sammlungen verglich, und sich auf ca. 600 Gebärden festlegte, die später durch religiöse Gebärden erweitert wurden (vgl. Braun 2003, 7). Das Gebärdenlexikon und das Makaton-Material, das im Folgenden noch erklärt wird, wurden mitberücksichtigt. Dass man nicht direkt das Gebärdenlexikon nutzen wollte, wurde mit der zu großen Zahl an Gebärden und Schwierigkeiten bei der Ausführung begründet. Diese Entscheidung ist bedauerlich, da 600 Gebärden nicht ausreichen, um damit die indivi­duellen Bedürfnisse und Interessen von Menschen abzubilden – und weil die Ge­bärden, die in den Katalog aufgenommen wurden, teilweise von ihrer visuellen Unterscheidbarkeit, den motorischen Ausführungen und den kognitiven Anforderungen her sogar schwieriger sind als die entsprechenden DGS-Gebärden. Aus rechtlichen Gründen mussten alle Gebärden neu fotografiert werden, wodurch Ungenauigkeiten entstanden. Nur ca. ein Drittel der Gebärden in „Schau doch meine Hände an“ sind identisch mit der DGS, viele ähnlich. Erlangt eine Person keine Lautsprache und bleibt bei der DGS, wäre es einfacher, sie hätte von Anfang an deren Gebärden gelernt. So bestehen also zwei hauptsächlich genutzte Gebärdenkataloge neben­einander und man nutzt in der UK meist ergänzend zu „Schau doch meine Hände an“ Gebärden aus der DGS (vgl. Braun 2000, 7-9).

Für kleine Kinder mit DS hat Etta Wilken vor einigen Jahren „GuK“ (= “Gebärden-unterstützte Kommunikation“) entwickelt, für das sie die Gebärden hauptsächlich „Schau doch meine Hände an“ und ergänzend dem Gebärdenlexikon entnommen hat. Der GuK-Grundwortschatz umfasst 100 Gebärden. Bei Bedarf gibt es einen Aufbauwortschatz. GuK hat primär das Ziel, den Weg zur Lautsprache zu erleichtern. Es wurde für Kinder entwickelt, die hören, aber noch nicht sprechen können. Für die meisten Kinder mit DS sind Gebärden nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Lautsprache, d.h. sie sind nicht dauerhaft auf Gebärden angewiesen, weshalb GuK nur einen überschaubaren Wortschatz bietet und darauf verweist, bei Bedarf Ge­bärden aus dem Gebärdenlexikon zu ergänzen (vgl. Wilken 2005, 35).

Makaton ist eine Gebärdensammlung, die 1972 von MAgaret Walter, KAthy Johnston und TONy Conforth (daher der Name Makaton) in Großbritannien auf Basis der englischen Gebärdensprache entwickelt wurde. In Deutschland bietet sie ent­sprechend auf Basis der DGS ein Vokabular in neun Lernstufen, ergänzt durch Piktogramme (vgl. Braun 2000, 9).

Vergleicht man die vorhandenen Sammlungen, spricht für das Gebärdenlexikon die unbegrenzte Erweiterbarkeit, die vor allem dann wichtig wird, wenn ein Kind nicht zur Lautsprache kommt und dauerhaft ein alternatives Kommunikationssystem braucht. Für GuK spricht die kinderfreundliche Darstellung der Gebärden auf farbigen Karten, die sich vielfältig für Spiele, zum Gestalten persönlicher Bilderbücher oder für die Aufbewahrung in Karteikästen eignet. „Schau doch meine Hände an“ hat den Vorteil, dass diese Sammlung in den meisten Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung genutzt wird, oft auch in Kindergärten und Schulen. Makaton führt die Gebärden der DGS mit ergänzenden Piktogrammen ein, die Kinder evtl. zusätzlich ansprechen.

Ein mögliches Entscheidungskriterium könnte sein, das System zu wählen, das in der Einrichtung (z.B. dem Kindergarten) genutzt wird, in die das Kind gehen wird, damit die Kommunikation keinen Bruch erlebt. Allein durch Bilder und Fotografien sind Gebärden in ihrer Bewegungsabfolge schwer zu lernen, daher kann auch das Angebot einer Sammlung auf CD mit Lern-Videos ein Auswahlkriterium sein.

Für die vorliegende Arbeit spielt es keine Rolle, welches der beschriebenen Gebärdensysteme genutzt wird.

Sehr wichtig ist aber, dass die Lautsprache jeweils das Gerüst darstellt, zu dem begleitend gebärdet wird (vgl. Braun 2003, 5). Es wird dabei nicht jedes Wort gebärdet, sondern nur die Schlüsselwörter werden visuell verdeutlicht.[4]

Allgemein gilt: Wenn sich Eltern oder Fachkräfte zu sehr auf den jeweils vor­gegebenen Wortschatz konzentrieren, könnte es sein, dass sie die kommunikativen Interessen des Kindes, mit dem sie arbeiten, übersehen und damit auch seine Motivation und Freude ausbremsen (vgl. Braun 2000, 10). Es ist wichtig, die für das einzelne Kind wichtigen Gebärden zu ergänzen, am besten aus der DGS.

3.2 Argumente für und gegen Gebärden

3.2.1 Sprachanbahnende Wirkung und sprachliche Gesamtentwicklung

Durch Gebärden, die Kinder früher lernen können als Lautsprache, werden ihnen der Sinn und die Bedeutung von Sprache bewusst. Gebärden haben deshalb – konträr zu den Bedenken der Skeptiker, die eine Hemmung der Lautsprachentwicklung befürchten – eine sprachanbahnende Wirkung. Kinder lautieren mehr, wenn sie Ge­bärden nutzen, die Kommunikationsfähigkeit wird verbessert und das Sprechen lernen beschleunigt. Das ist mit den kognitiven Voraussetzungen zu erklären, die in beiden Systemen – also in der Nutzung von Gebärden wie der von Lautsprache – sehr ähnlich sind, da für beide die gleiche Hirnregion zuständig ist (Wilken 2010, 45; Launonen 1996, 226; Adam 1993, 133).

Kinder verstehen durch Gebärden nicht nur einzelne Wörter früher, sondern können auch Sätze besser entschlüsseln, da die entscheidenden Informationen durch Gebärden betont werden (vgl. Wilken 2004, 105). Satzstrukturen können bereits mit Gebärden oder Wort-Gebärden-Kombinationen aufgebaut werden, was die allge­meine Sprachentwicklung fördert und ohne Gebärden zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich wäre (vgl. Wilken 2001, 16; Giel 2012, 33). Wenn Kinder Gebärden nutzen, ist es wahrscheinlicher, dass sie später in ganzen Sätzen sprechen, denn mit Hilfe der Gebärden können sie Satzmuster schon früher verstehen und verinner­lichen und haben zudem die Möglichkeit, sie bereits vor Erwerb der Lautsprache auszuprobieren und zu üben (Bird et al. 2011, 64).

Wortfelder und Kategorisierungen können erarbeitet werden, die die Speicherung von Gebärden, aber auch der zugehörigen lautsprachlichen Bezeichnungen erleichtern (vgl. Giel 2012, 33).

Diese vielen Einzelschritte, die durch Gebärden früher bzw. leichter möglich sind, führen zu grundlegenden sprachlichen Fähigkeiten. Kinder „müssen dann einen relativ geringen Transfer leisten, wenn sie mit dem Sprechen beginnen“ (Sarimski et al. 2010, 21). Die besseren sprachlichen Kompetenzen, die das Kind erwirbt, zeigen sich auch nach Jahren noch (vgl. Wilken 2004, 105).

3.2.2 Entwicklung eines Symbolsystems

Das für die Lautsprachentwicklung so wichtige Symbolverständnis wird bereits mit Gebärden entwickelt und das Symbol Gebärde muss dann nur noch durch das entsprechende Wort ersetzt werden. Damit ist den Kindern schon lange vor der aktiven Verwendung die Bedeutung vieler Wörter klar.

Wenn Kinder die lautsprachlichen Bezeichnungen beherrschen, lassen sie die entsprechenden Gebärden nach und nach weg (vgl. Henrich et al. 2007, 51). Zunächst ist ihr Wortschatz an Gebärden größer als der an gesprochenen Wörtern, doch mit der Zeit kehrt sich dieses Verhältnis um (vgl. Sarimski und Wagner 2010, 50).

[...]


[1] Diese Beschreibung ist sehr vereinfacht, da man inzwischen in der Hirnforschung nicht mehr nur von Kurz- und Langzeitgedächtnis spricht. Das Arbeitsgedächtnis entspricht in etwa dem Ultrakurzzeitgedächtnis. Für die Darstellung der Besonderheiten in der Informationsverarbeitung sollte diese Beschreibung aber genügen. Details vgl. Zimpel 2016, 41-49.

[2] Eine detaillierte Darstellung findet sich in: Adam 1993, 150-184.

[3] Bibliographische Angaben zu den Gebärdensammlungen siehe I. Literaturverzeichnis.

[4] Davon weicht das System der „Lautsprachbegleitenden Gebärden (=LBG)“ ab, in dem jedes Wort gebärdet wird (vgl. Braun 2000, 9). Insgesamt ist es deutlich komplizierter, nicht effektiver und daher nicht zu empfehlen.

Fin de l'extrait de 54 pages

Résumé des informations

Titre
Selbstbestimmung und Teilhabe durch gelingende Kommunikation
Sous-titre
Kinder mit Down-Syndrom lernen Gebärden-unterstützt, für sich selbst zu sprechen
Université
YMCA University of Applied Sciences
Note
1,0
Auteur
Année
2016
Pages
54
N° de catalogue
V376797
ISBN (ebook)
9783668542136
ISBN (Livre)
9783668542143
Taille d'un fichier
658 KB
Langue
allemand
Mots clés
GuK, down syndrom, gebärdensprache
Citation du texte
Hannah Schelzel (Auteur), 2016, Selbstbestimmung und Teilhabe durch gelingende Kommunikation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/376797

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Titre: Selbstbestimmung und Teilhabe durch gelingende Kommunikation



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