In diesem Essay wird versucht, den Begriff des "Erinnerungsortes" nach Pierre Nora zu definieren. Dabei wurde ein Beispiel aus Sachsen herangezogen: Pirna-Sonnenstein.
Die Definition des »Erinnerungsortes« mit einem Beispiel aus Sachsen
von Daniela Di Pinto
Was ist ein »Erinnerungsort«?
Möchte man aus historischer Sicht den Begriff des »Erinnerungsortes« definieren, so muss man zunächst auf den französischen Historiker Pierre Nora zurückgreifen. Noras Konzept war es, die “Kristallisationspunkte unseren nationalen Erbe” zu identifizieren. Das Resultat war das siebenbändige Werk Les lieux des mémoire, die sich zwar auf französische »Erinnerungsorte« beziehen, aber auch als Beispiel für »Erinnerungsorte« in anderen Ländern Europas gelten sollte, und somit auch für Deutschland.
Historiker haben erst in jüngster Zeit angefangen, die Unterschiede zwischen dem historischen Forschen und dem Gedächtnis von Individuen und Kollektiven ernst zu nehmen. Im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis, welches institutionell organisiert und um Objektivität der Historiographie bemüht ist, ist die kollektive Erinnerung subjektiv, mit Emotionen verbunden. Sie ist wandelbar und die Überlieferungen passen sich an die zeitweilige Gegenwart an.
Individuelle Erinnerungen prägen sowohl unser Leben als auch unsere Persönlichkeit. Dies gilt auch für das Kollektiv, z. B. für Bewohnerinnen einer bestimmten Region. Schließlich hat nicht nur der Einzelne eine Erinnerung, sondern auch das Kollektiv besitzt ein gemeinsames Gedächtnis. Laut Hagen Schulze und Etienne François sind Erinnerungsorte “langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität”.
Sucht man konkrete Beispiele für »Erinnerungsorte«, so wird es komplex, denn dieser Begriff geht über die reine Örtlichkeit hinaus. Die Verortung von Erinnerung wird zwar in vielen Konzepten von Gedächtnis betont, doch Pierre Nora selbst hebt hervor, dass sich kollektive Erinnerungen nicht nur in Orten, sondern auch in Personen, Symbolen oder Riten manifestieren können. Für das Kollektiv sind »Erinnerungsorte« identitätsstiftend und verschiedene gesellschaftliche Gruppen haben durchaus »Erinnerungsorte«, welche unterschiedlich weit in die Vergangenheit zurückreichen. Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass manche »Erinnerungsorte« zwischen Gedächtnis und Vergessenheit schweben, andere wiederrum bewegen sich in der Erinnerung der Zeitgenossen und müssen erst zeigen, inwieweit sie die Generationen überdauern. In den »Erinnerungsorten« finden sich Menschen in “etwas” wieder, das sie miteinander verbindet, “etwas”, das für ihre Identität als relevant gesehen wird. Die Erinnerung kann unter Umständen sehr konfliktreich oder sogar mit Negativem behaftet sein.
Die Geschichtswissenschaft setzt sich nicht nur mit dem Begriff des »Erinnerungsortes« auseinander, sondern trägt auch dazu bei, das dem Graben zwischen Historiographie und kollektiver Erinnerung hinweg geholfen wird.
Die Geschichte Sachsens ist sehr facettenreich, die Wahl des »richtigen Erinnerungsortes« stellt sich als herausfordernd dar. Daher muss man auf eine “Selbstentdeckung” - wie es Pierre Nora bezeichnete - gehen. Dabei stellen sich gerade die verschütteten, schon fast vergessenen oder gar verdrängten »Erinnerungsorte« als besonders spannend dar.
Ein »Erinnerungsort« in Sachsen: Pirna-Sonnenstein
Am 08. Juli 1811 wurde Sonnenstein als eine der ersten deutschen Heilanstalten eröffnet. Dank ihrer außergewöhnlichen Heilungserfolge erlangte die Anstalt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Anerkennung und Ansehen, nicht nur innert Deutschlands, sondern europaweit. Die Landesanstalt wurde im Oktober 1939 geschlossen. Die Nationalsozialisten errichteten in den Jahren 1940 und 1941, im Rahmen der “Aktion T4”, sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich, bei der insgesamt 70.000 Menschen ermordet wurden, welche psychisch erkrankt und geistig behindert waren. Auch auf Sonnenstein ließ die Berliner Zentrale im Frühjahr 1940 “eine Gaskammer und ein Krematorium im Keller des Männerkrankengebäudes einbauen”. Des Weiteren wurden die restlichen vier Häuser, die zum Komplex gehörten, vom übrigen Gelände abgegrenzt, damit die Vorgänge verdeckt werden konnten. Laut Boris Böhm waren in der Tötungsanstalt in den Jahren 1940 und 1941 “insgesamt über einhundert Angestellte tätig: Ärzte, Pflegepersonal, Fahrer, Bürokräfte, Handwerker und Polizisten. Etwa die Hälfte von ihnen stammte aus Sachsen, darunter waren fünf gebürtige Dresdner, wie der Wirtschaftsleiter Gerhard Börner und der Standesbeamte Friedrich Tauscher.”
Die Ermordungen begannen Ende Juni 1940, sie erfolgten systematisch: Die sächsischen Landesanstalten Arnsdorf, Zschadraß, Waldheim und Großschweidnitz dienten als Sammelanstalten. Von dort aus wurden die als »lebensunwert« stigmatisierten Menschen mit Bussen nach Sonnenstein transportiert. Einmal dort angekommen, mussten sie das Eingangstor des Gebäude C16 passieren, dort wurden sie vom Pflegepersonal in »Empfang« genommen und den Ärzten vorgeführt. Die Ärzte stellten zunächst die Identität fest, eine vorgetäuschte Todesursache wurde festgelegt und anschließend wurden diese Menschen - meist in Gruppen von ca. 20 bis 30 - vom Personal in die als Duschräume getarnten Gaskammern geführt. Um den Tötungsvorgang einzuleiten, öffnete ein Arzt den Hahn, die Menschen erstickten an Kohlenmonoxid. Nach dem Tötungsvorgang wurde das Gas abgesaugt, die Leichenverbrenner zogen die Leichen aus den Gaskammern heraus. Bevor die Leichen zur Verbrennung gebracht wurden, wurden vorhandene Goldzähne herausgebrochen, andere
Leichen stattdessen wurden nicht sofort in das Krematorium gebracht, sondern seziert. Die Asche, wahllos in Urnen abgefüllt, wurde nur nach Anforderung an die Angehörigen zugesandt und die verbleibende Asche wurde entweder auf der Anstaltsdeponie entsorgt oder dem Elbhang hinunter geschüttet. Den Angehörigen wurden Sterbeurkunden mit den zuvor festgelegten, vorgetäuschten Todesursachen und eine Beileidsbekundung zugeschickt. Auf Sonnenstein fielen Frauen und Männer jeglichen Alters zum Opfer, auch mehr als 850 Kinder und Jugendliche fanden dort den Tod. Die “Aktion T4” wurde am 24. August 1941 von Adolf Hitler mit sofortiger Wirkung eingestellt, nachdem der Widerstand der betroffenen Angehörigen, einzelnen kirchlichen Vertretern, wie dem Bischof von Münster Clemens August Graf von Galen, einigen Heimleitern und Mitarbeitern immer lauter wurde. Doch die Morde in Pirna gingen - bis zur Auflösung im Sommer 1942 - dezentral weiter, auch unter dem Stichwort »Sonderbehandlung 14f13« bekannt. Danach wurde Sonnenstein bis zum Kriegsende als Lazarett von der Wehrmacht benutzt, jegliche Spuren des »Euthanasie«- Verbrechens wurden sorgsam beseitigt. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden auf Sonnenstein 13.720 Menschen ermordet.
Seit dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Mai 1945 bis zu dem Dresdner »Euthanasie«-Prozess im Jahr 1947 kann man folgendes zusammenfassen: Im Mai 1945 kam es zunächst durch die Sowjets zu Ermittlungen im »Euthanasie«-Verbrechen. Die sowjetische Geheimpolizei konnte in der zweiten Hälfte desselben Jahres einige Personen verhaften. Darunter befanden sich Prof. Paul Nitsche, welcher langjähriger medizinischer Leiter der “T4”-Organisation war, und Dr. Ernst Leonhardt, Direktor der Landesanstalt Arnsdorf, sowie die Pfleger Paul Räpke, Hermann Felfe und Erhard Gäbler, die in Pirna-Sonnenstein angestellt waren. Auch das medizinische Personal der Anstalt Großschweidnitz, die an der Medikamenten-»Euthanasie« nach der Einstellung der “Aktion T4” beteiligt waren, wurde inhaftiert. In Dresden wurde Anfang 1946 eine deutsche Ermittlungskommision gebildet, welche im Sommer desselben Jahres die Strafverfolgung von den Sowjets übertragen bekam. Die Fahndung nach weiteren Verantwortlichen der »Euthanasie«- Verbrechen in Sachsen blieben jedoch erfolglos. Am 16. Juni 1947, nach dem der Staatsanwalt bereits im Januar die Anklage erhob, begann der Prozess. Die Anklage lautete: “Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. 73 Zeugen und drei Sachverständige wurden zur Problematik der »Euthanasie« ver- und angehört. Nach drei Wochen Gerichtsverhandlungen kam es zu den Urteilen. Prof. Nitsche und Dr. Leonhardt erhielten die Todesstrafe, welche am 25. März 1948 im Hof des Landesgerichts Dresden vollstreckt wurden, sowie die Pfleger Felfe und Gäbler. Die Pfleger entzogen sich jedoch der Vollstreckung, in dem sie unmittelbar nach der Verkündung des Urteils Suizid begangen. Das Gericht verurteilte zu dem einige Ärzte und Pflegepersonal aus der Anstalt Großschweidnitz zu
hohen Zuchtstrafen, drei Freisprüche mussten aus Mangel an Beweisen ausgesprochen werden.
Die Aufklärung gestaltete sich in den Nachkriegsjahren als extrem schwierig, denn nach dem Prozess 1947 wurden die »Euthanasie«-Morde totgeschwiegen, einige ärztliche und pflegerische Mitarbeiter wurden 1956 in der DDR amnestiert und die Gebäude der Landesanstalt waren bis 1990 für die Öffentlichkeit unzugänglich. In den Jahrzehnten der SED-Diktatur wurde keinerlei Erinnerung an die »Euthanasie«-Opfer betrieben, die Aussagen der älteren Mitarbeiter gingen in den 1970/80er Jahren verloren und den jüngeren Betriebsmitarbeitern wurde die Vorgeschichte Sonnensteins gar verschwiegen. Die SED-Kreisleitung ließ lediglich eine sehr allgemein gehaltene Tafel im Eingangsbereich anbringen: “Zum Gedenken an die Opfer faschistischer Verbrechen verübt in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt auf dem Territorium Pirna-Sonnenstein 1940 - 1941”. In den Schulen wurden die »Euthanasie«-Verbrechen nie thematisiert. Die historische Aufarbeitung fand erst in den Jahren der »Wende« und der deutschen Wiedervereinigung (1989/90) eine Stimme. Das Kuratorium Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein e.V. , welches als Bürgerinitiative 1991 gegründet wurde, setzte sich engagiert für die Aufklärung der »Euthanasie«-Verbrechen ein. Im darauf folgenden Jahr wurde eine provisorische Ausstellung eröffnet, zwei Jahre später, nämlich 1994, erhielt die Gedenkstätte finanzielle Förderungen. Im selben Jahr wurden denkmalpflegerische Maßnahmen für Sonnenstein vorgenommen, es entstanden auch getrennte Gedenk- und Ausstellungsbereiche. 1997 legte der Freistaat Sachsen fest, dass in einem Teil des Gebäudekomplexes eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen eingerichtet werden soll. In diesen Jahren ging die finanzielle Förderung durch den Bund weiter, so dass die Gedenkstätte am 09. Juni 2000 der Öffentlichkeit übergeben werden konnte.
Der Gedenkbereich wurde zweigeteilt und befindet sich im Keller, in der die Verbrechen stattfanden. Zum einen die Räume der ehemaligen Gas-, Leichen- und Krematorienkammern, die den Ort der Morde bezeugen. Zum anderen, der sich unweit befindliche Gedenkraum, welcher den Besuchern einen Rückzugsort bietet, und der »Raum der Biographien«, der Lebenswege und Foto- graphien von Menschen zeigt, die in Pirna-Sonnenstein Opfer der »Euthanasie«-Verbrechen wurden. Insbesondere der »Raum der Biographien« stellt dar, dass diese Getöteten keine anonymen Menschen waren, sondern - wie Boris Böhm es treffend bezeichnete - “lebendige Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien”. Des Weiteren thematisiert die Ausstellung im Dachboden der Gedenkstätte nicht nur die Geschichte Sonnensteins, sondern auch von der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland über die humanistische Tradition Sonnensteins bis hin zur Entstehung der Rassenhygiene und den »Euthanasie«-Verbrechen. Ein weiterer Bereich befasst sich auch mit dem Holocaust und der letzte Abschnitt mit den strafrechtlichen Verfolgungen der Sonnensteiner Täter.
Die Ausstellung endet mit Informationen zum heutigen Umgang mit den »Euthanasie«-Verbrechen.
Laut Boris Böhm kam es in den vergangenen Jahren zu wichtigen Veränderungen in der Museumsarbeit, welche durch “neue Forschungsergebnisse und systematische Recherchen” nach den Ermordeten entstanden sind. Neue Gedenktafeln wurden eingeweiht, in denen bisher bekannte Opfer mit Namen und Geburtsjahr festgehalten werden. Des Weiteren erklärt er, dass im Jahr 2010 die untersten Schichten des Verbrennungsofens freigelegt wurden, damit das erhaltene Fundament die “Authentizität des historischen Ortes” unterstreicht. 2011 wurde eine Grabstätte am Elbhang errichtet.
Erstmals kamen 2012 mehr als 10.000 Besucher nach Pirna-Sonnenstein. Nicht nur die Besucherzahlen wachsen kontinuierlich, auch die Zahl der Angehörigen, die sich an die Gedenkstätte wenden. Inzwischen finden jährlich mehr als 300 Führungen statt, in der der Gedenkstätte vor allem die Bildungsarbeit mit Jugendlichen wichtig ist.
Abschließend kann man durchaus unterstreichen, dass die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein nicht nur die Erinnerung als Ort an die »Euthanasie«-Opfer mit ihren Biographien am Leben hält, sondern auch die Verantwortung der Täter in den Blick rückt. Sie wirft ebenfalls die Frage der Gesellschaft bzw. der Öffentlichkeit nach dem Verhalten während der »Euthanasie«-Verbrechen und deren Aufklärung und Aufarbeitung auf. Die Gedenkstätte kann man - Boris Böhm zitierend - “bewusst als gegenwartsbezogener Lernort” bezeichnen, deren Ziel es auch ist, die Besucher für eine aktive Geschichtsauseinandersetzung zu motivieren, um heutigen Diskriminierungen entgegen zu wirken und sich für die Menschenwürde zu engagieren.
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- Daniela Di Pinto (Author), 2015, Die Definition des "Erinnerungsortes" mit einem Beispiel aus Sachsen: Pirna-Sonnenstein, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378332