Kleists "Marquise von O…" zwischen Fremd- und Selbstbestimmung


Dossier / Travail, 2014

15 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

1 Patriarchalisch geprägte Kleinfamilien-Strukturen zu Beginn des 19. Jahrhunderts

2 Kleists Marquise von O und ihre Entwicklung von der Fremdbestimmung hin zur Selbstbestimmung?
2.1 Die Marquise von O als Teil der patriarchalischen Familienstruktur
2.1.1 Beziehung zum Vater als Repräsentant der Männerwelt
2.1.2 Beziehung zur Mutter unmittelbar nach dem Vertrauensverlust
2.2 Persönliche Entwicklung nach dem elterlichen Verstoß
2.2.1 Emanzipation und Prozess der Selbstfindung am Landgut
2.2.2 Die Öffentlichmachung ihrer Situation und die Abweisung des Grafen
2.3 Rückkehr in die Enge des Elternhauses
2.3.1 Handlung nach den Vorgaben der Mutter
2.3.2 Aussöhnung mit dem Vater und seine erneute Verfügungsgewalt
2.4 Heirat mit dem Grafen, dem väterlichen „Rivalen“
2.4.1 Zweckehe ohne Rechte eines Ehemanns
2.4.2 Zweite Hochzeit unter geänderten Voraussetzungen

3 Selbständigkeit mit Einschränkungen

4 Literaturverzeichnis

1 Patriarchalisch geprägte Kleinfamilien-Strukturen zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Das Gefüge der bürgerlichen Kleinfamilie im frühen 19.Jahrhundert, mit welcher Heinrich von Kleist die Leser seiner erstmals 1808 erschienen Novelle Die Marquise von O… konfrontiert, geht von einem stark patriarchalisch geprägten Prinzip aus.[1] Der Vater steht als „selbstverständlicher Repräsentant der Familie“[2] an der hierarchisch aufgebauten Spitze des Familienbundes, dessen Mitglieder ihm unbedingten Gehorsam schulden. Die Gerichtsbarkeit über die Tochter besteht fort, solange diese bei ihren Eltern lebt, und geht mit der Heirat dann auf den Ehemann über.[3] Das bedeutet, dass Ehefrau oder Tochter gerade auch um die Jahrhundertwende herum ihre persönlichen Wünsche und Freiheiten in jedem Lebensabschnitt zurückstellen und sozusagen den Vorstellungen und Vorgaben eines Mannes unterordnen müssen:

Haben die individualrechtlichen Anschauungen der Aufklärung die persönliche Freiheit des einzelnen hervorgehoben und somit z.B. emanzipatorische Tendenzen zugunsten der Frau befördert, wird jetzt wieder die Position des Inhabers familiärer Gewalt gestärkt.[4]

Eben diese Position rechtfertigt sich auch auf der Basis einer „tief verwurzelten Analogiesetzung zwischen himmlischem Vater und Familienvater“.[5] Die Legitimation der patriarchalischen Vormachtstellung speist sich demnach aus dem Verweis auf eine göttliche Instanz, die den Mann als Krone der Schöpfung mit umfassender Verfügungsgewalt ausgestattet hat. Zudem prägen sowohl bürgerliche, als auch adelige Modelle und Haltungen die Familienstruktur dieser Zeit.[6] Insbesondere auch in der Marquise von O… sieht Stephens diese Verquickung von adeligen und traditionellen bürgerlichen Elementen realisiert und stellenweise sogar parodiert.[7] Krumbholz spricht von einer „patriarchalisch strukturierten, strengen ethischen Normen verpflichteten Kleinfamilie an der Nahtstelle zwischen Adel und Bürgertum“.[8] In diesem Zusammenhang wird die Vormachtstellung des Vaters, die auch für die nun folgenden Kapitel im Bezug auf den Entwicklungsprozess der Marquise von großer Wichtigkeit ist, bei Kleist immer wieder kritisch beleuchtet und in ihrer Unbedingtheit in Frage gestellt.[9]

2 Kleists Marquise von O…und ihre Entwicklung von der Fremdbestimmung hin zur Selbstbestimmung?

Die Titelfigur aus Kleists Novelle befindet sich nach dem Tod ihres ersten Mannes als Witwe zunächst nämlich wieder in der Obhut des Vaters und damit in einem Zustand der Fremdbestimmung. Sobald ihre vorerst unerklärliche Schwangerschaft jedoch als tatsächlich bewiesen gilt, wird mit dem Auszug auf ihren Landsitz ein fortschreitender Selbstbestimmungsprozess in Gang gesetzt. Im Folgenden soll näher auf diese Thesen eingegangen und zudem untersucht werden, ob eben diese Tendenz der aufkommenden Selbstbestimmung mit der erneuten Rückkehr in das elterliche Haus und der zweiten Ehe später wieder revidiert wird und die Marquise wieder in ihre alten Verhaltens- und Abhängigkeitsmuster zurückfällt.

2.1 Die Marquise von O als Teil der patriarchalischen Familienstruktur

2.1.1 Beziehung zum Vater als Repräsentant der Männerwelt

Bevor die Marquise aufgrund ihrer außerehelichen Schwangerschaft von ihren Eltern, „den Gesetzen familialer Ehre gehorchend“,[10] regelrecht verstoßen wird, lebt sie mit ihren beiden Kindern wieder im Commendantenhaus, wo sie ein Leben in „der größten Eingezogenheit“[11] führt. Als allein mit ihren Kindern lebende Witwe hätte sie mit Sicherheit über ein größeres Maß an Selbstständigkeit verfügt als im väterlichen Haushalt, dafür allerdings den Schutz durch das männliche Familienoberhaupt eingebüßt.[12] Ihre Abhängigkeit zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Marquise nach der erzwungenen Kapitulation ihres Vaters gegenüber den russischen Soldaten (MVO, S.145, Z.17-19) gemeinsam mit der Familie lieber auf die ländlichen Güter ihres Vaters gezogen wäre. Dessen ungeachtet lebt die Familie dem Wunsch des Vaters gemäß fortan in einem Stadthaus (MVO, S.148, Z.24-26). Dem pater familias fällt somit die Rolle des alleinigen Befehlshabers in der Familie zu, der sich weibliche Bedürfnisse aller Art unterzuordnen haben. Noch dazu bringt es schon die Stellung als Kommandant mit sich, dass der Herr von G… an die „augenblickliche und unumschränkte Ausführung seiner Befehle gewöhnt ist“.[13] Die Marquise reagiert auf derartige väterliche Vereinnahmungen unbewusst damit, dass sie sich allein ihrer Mutter in Bezug auf delikate Angelegenheiten wie ihre (un)mögliche Schwangerschaft anvertraut. Sie traut sich erst mit ihr zu sprechen, als der Vater für einen Moment das Zimmer verlassen hat (MVO, S.148, Z.35-37). Ihr ist also bereits an dieser Stelle klar, dass ihr Vater keinerlei Verständnis für ihren Zustand aufbringen würde, weil er – wenn auch unausgesprochen – gewisse Besitzansprüche als Mann an ihr geltend macht: „Es gelingt keinem männlichen Besucher – außer dem Arzt, ‚der das Vertrauen ihres Vaters besaß‘ (MVO, S.160, Z.27f.) – sich der Marquise allein zu nähern“.[14] Wenn es um seine Tochter geht, ist der Vater „von der Hellhörigkeit der Eifersucht besessen“[15] – eine Tatsache, die natürlich jegliche Selbstbestimmung hinsichtlich der etwaigen Wahl eines neuen Ehemanns nahezu unmöglich macht. Dies zeigt sich auch daran, dass vorwiegend der Vater an Stelle der Tochter auf den überstürzten Heiratsantrag des Grafen F… reagiert und den Grafen zunächst darauf hinweist, dass die Marquise nicht gedenke, ein zweites Mal zu heiraten (MVO, S.151, Z.6-8). Hier, sowie insbesondere in der späteren, inzestuös anmutenden Versöhnungsszene zwischen Vater und Tochter, wird deutlich, dass die Beiden - wenn auch nur auf unbewusster Ebene - eine „tiefe emotionale Beziehung“[16] verbindet, die weit über das Maß einer zu dieser Zeit üblichen Vater-Tochter-Beziehung hinausgeht. Kircher sieht in dem „patriarchalischen Herrschaftsdenken eine Ausdehnung des Besitzanspruches auf die Tochter sogar auf erotischem Gebiet“.[17] Die Marquise wird nicht nur hinsichtlich Gender-theoretischer Aspekte in jeder Lebenslage auf ihren Vater zurückverwiesen, sondern stimmt vielmehr ihr ganzes Handeln und Tun auf seine Wertevorstellungen ab. Umso härter trifft sie der Bruch mit dem wegen seines „autoritären Herrschaftsgebarens“[18] nunmehr unmenschlich erscheinenden Vater, dem sie durch ihr angebliches außereheliches sexuelles Verhältnis eine tiefe Wunde zugefügt hat: Er hofft, „daß ihm Gott den Jammer ersparen werde, sie wieder zu sehen“ (MVO, S.166, Z.4f.). Weder muss, noch darf sie sich von nun an weiter nach den Anweisungen ihres Erzeugers richten, der seinerseits „meint […] , er hätte keine Tochter mehr“ (MVO, S.173, Z.7f.) und dessen „Türe sie verschlossen fand“ (MVO, S.166, Z.12). Die Marquise ist nun für ihn eine „Gefallene, der er schweigend den Rücken zuwendet“.[19]

2.1.2 Beziehung zur Mutter unmittelbar nach dem Vertrauensverlust

Auch auf die so geliebte und hochgeschätzte Mutter kann sich die Marquise aufgrund der „anderen Umstände“ nun in keiner Weise mehr verlassen: „Im Prinzip […] hält sie, wie der Kommandant, an den gesellschaftlichen Normen fest“.[20] Schließlich stößt sie ihre Tochter, „von einem Extrem ins andere fallend“,[21] noch vor dem Vater mit unerbittlichen Flüchen von sich:[22] „geh! geh! du bist nichtswürdig! Verflucht sei die Stunde, da ich dich gebar!“ (MVO, S.165, Z.11f.). Bemerkenswert ist auch, dass das Schreiben „vom Vater“, welches die Tochter des Hauses verweist, „von der Mutter gebracht ward“ (MVO, S.165, Z.37). Nicht einmal mehr die Bezugsperson Mutter bringt hier noch so etwas wie Verständnis oder Mitgefühl für die „gefallene Tochter“ auf, sondern scheint im Gegenteil den Vater in seinen Absichten und seiner Überzeugung als federführende Kraft sogar noch zu bestärken. Als die Wahrheit offenbar zu werden droht, unterwirft sich die Marquise ihrer Mutter, „die sie einem strengen Verhör unterzieht“,[23] bedingungslos, um eben gerade nicht verstoßen und sich selbst überlassen zu werden: „Die Marquise, ihr mit ausgebreiteten Armen folgend, fiel ganz auf das Gesicht nieder, und umfaßte ihre Knie“ (MVO, S.163, Z.8f.). Die Möglichkeit eines selbstbestimmten, von den Eltern losgelösten Lebens, erscheint der Titelfigur zu diesem Zeitpunkt noch als unmöglich, ja als schlimmste aller denkbaren Entwicklungen.

[...]


[1] Vgl. Kircher, Hartmut: Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili, Die Marquise von O…. Interpretationen. Hgg.von Klaus-Michael Bogdal und Clemes Kammler. 2.Auflage. Bd.50 Oldenbourg Interpretationen. München. Oldenbourg 1999, S.76.

[2] Schwind, Klaus: Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur. Hg.von Hans-Gert-Roloff. Frankfurt am Main. Diesterweg 1991, S.95.

[3] Vgl. Jin, Il-Sang: Die gesellschaftlichen Formationen in Heinrich von Kleists Erzählungen. Europäische Hochschulschriften. Reihe I, Deutsche Sprache und Literatur. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften 1997, Bd.1619, S.136.

[4] Schwind: Die Marquise von O…, S.95.

[5] Stephens, Anthony: Kleists Familienmodelle. In: Kleist-Jahrbuch. Internationales Kleist-Kolloquium Berlin 1986. 1988/89 (1988), S.226.

[6] Vgl. ebd., S.223.

[7] Vgl. ebd., S.224.

[8] Krumbholz, Martin: Gedanken-Striche. Versuch über Die Marquise von O…. In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur 1993, Sonderband, S.128.

[9] Vgl. ebd., S.225.

[10] Ott, Michael: „ … Ich will keine andre Ehre mehr, als deine Schande…“. Zu Ehre, Duell und Geschlechterdifferenz in Kleists Erzählungen. In: Kleist-Jahrbuch 1999 (2000), S.156.

[11] Müller-Salget, Klaus (Hg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Text und Kommentar. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 2005 (Bd.5), S.777. Im Folgenden wird der Primärtext aus dieser Ausgabe abgekürzt als MVO zitiert.

[12] Vgl. Künzel, Christine: Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht. Frankfurt/New York: Campus 2003, S.38.

[13] Politzer, Heinz: Der Fall der Frau Marquise. Beobachtungen zu Kleists ‘Die Marquise von O…’. In: Deutsche Vierteljahresschrift 51 (1977), S.99.

[14] Künzel: Vergewaltigungslektüren, S.38f.

[15] Politzer: Der Fall der Frau Marquise, S.111.

[16] Müller-Salget: Kommentar zu ‚Die Marquise von O…‘, S.778.

[17] Kircher: Die Marquise von O…, S.83.

[18] Ebd., S.82.

[19] Politzer: Der Fall der Frau Marquise, S.112.

[20] Kircher: Die Marquise von O…, S.83.

[21] Ebd.

[22] Müller-Salget: Kommentar zu ‚Die Marquise von O…‘, S.791.

[23] Vgl. Bacher, Suzan: Lektürehilfen Heinrich von Kleist, Die Marquise von O…, Das Erdbeben in Chili. 5.Auflage. Stuttgart: Klett 1997, S.16.

Fin de l'extrait de 15 pages

Résumé des informations

Titre
Kleists "Marquise von O…" zwischen Fremd- und Selbstbestimmung
Université
LMU Munich
Note
1,3
Auteur
Année
2014
Pages
15
N° de catalogue
V378985
ISBN (ebook)
9783668559073
ISBN (Livre)
9783668559080
Taille d'un fichier
589 KB
Langue
allemand
Mots clés
marquise von o, heinrich von kleist, selbstbestimmung, fremdbestimmung
Citation du texte
Raphaela Maier (Auteur), 2014, Kleists "Marquise von O…" zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378985

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