Rote Exklusion? Politische Analyse zur Behindertenpolitik in Russland


Trabajo Escrito, 2017

37 Páginas, Calificación: 1,0

Florian Wondratschek (Autor)


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Einführung

Verständnis einer Behinderung

Russlands Weg zu mehr Toleranz
19-20. Jahrhundert: Gemäßigt, antikapitalistisch, exklusiv
Sowjetische Nachkriegspolitik: „Behinderte gibt es nicht“
Etablierung von Behindertenrechten
Antidiskriminierungsgesetz fehlt
Menschenbild zu Behinderten – Studien mit Studierenden

Politische Handlungsfelder der russischen Behindertenpolitik
Bildungspolitik
Darstellungen in Heimen
Sozialpolitik
Stadtplanungspolitik

Quintessenz

Literaturnachweise

Einführung

Weiß-rot-blaue Fahnen wehten in der Halle in Moskau, als Yuliya Samoylova ihren Song „Flame is burning“ für den Eurovision Song Contest 2017 unter großem Beifall sang. Die Gewinnerin des nationalen Singwettbewerbs X-Factors im Jahr 2014 wurde als Kandidatin der russischen Föderation für den europäischen Singwettbewerb gekürt. Mit ihrer Nominierung stand sie für jene Menschen, die trotz ihrer großen Einschränkungen eine grandiose musikalische Leistung erreichen. Yuliya Samoylova sitzt seit einer missglückten Impfung im Kindesalter im Rollstuhl und wurde durch ihren Erfolg zu einem Vorbild für behinderte Menschen. Dass sich der russische Fernsehkanal entschieden hatte, eine Behinderte zum Song Contest nach Kiew zu schicken, war keine Selbstverständlichkeit. Denn immer noch gibt es Menschen, die meinen, solche Menschen hätten auf einer Bühne nichts zu suchen, denn sie stören den ästhetischen Genuss (Heyden 2017). Doch selbstbewusst vertritt Samoylova als Behinderte eine gesellschaftliche Minderheit, die in Russland einen besonderen Stellenwert besitzt. Es sagt viel über die Grundwerte eines Staates aus, wenn die Integration von behinderten Menschen als Ziel deklariert wird. Solidarität, Menschenwürde und Vielfalt sind die Eckpfeiler einer gelungenen Integration von Behinderten. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Toleranz für eine Person ist eine natürliche Grundhaltung, um eine gerechte Teilhabe zu ermöglichen. Die international abgeschlossene UN-Behindertenrechtkonvention (UN-BRK) greift viele dieser Grundwerte auf und übergibt den Staaten die Verantwortung für diese Menschen. Spätestens seit Samoylova beim Eurovision Song Contest 2017 aufgrund des außenpolitischen Streits mit der Ukraine nicht teilnehmen durfte, ist die Frage nach der russischen Behindertenpolitik aktueller denn je. Wie ist der Umgang der größten Nation der Welt mit Behinderten?

Die vorliegende Arbeit mit dem provokant gewählten Titel „Rote Exklusion? Politische Analyse zur Behindertenpolitik in Russland“ verfolgt mehrere Ziele. Zunächst soll die Frage geklärt werden, was man unter einer „Behinderung“ genau versteht. Mehrere Modelle müssen betrachtet werden, da der Weg Russlands in der Behindertenpolitik auf einer historischen Entwicklung mit unterschiedlichen Positionen basiert. Die politische Einstellung gegenüber behinderten Menschen in Russland unterscheidet sich mit bestimmten kulturbedingten und gesellschaftlichen Kennzeichen von Europa. Aktuelle Forschungsberichte zeigen neben der Behindertenpolitik auch die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber behinderten Menschen und deren Haltungen zu ihrer sozialen Verortung.

Mithilfe der Analyse der derzeitigen Lebensumstände von Behinderten wird beschrieben, inwieweit die Gesetzgebung und deren Umsetzung eine integrative Politik verwirklichen. Im Rahmen des Forschungsgegenstandes werden die aktuelle Bildungspolitik, Sozialpolitik und Stadtplanungspolitik einzeln beleuchtet, um einen innenpolitischen Überblick über das bisher wenig ergründete Feld zu erlangen. Des Weiteren sollen auch die kritischen Standpunkte von Menschenrechtsorganisationen aufgeführt und analysiert werden. Sie zählen wesentlich zu einer Gesamtbetrachtung dazu und bringen neue Akzente. Ziel dieser Ausarbeitung ist es, basierend auf Recherchen in Sekundarliteratur, Studien, Staatsarchiven und föderalen Ministerien, Wissen über die russische Behindertenpolitik zu gewinnen, die zwischen der langen historischen Auseinandersetzung und dem neusten Stand der Politikwissenschaften eine Brücke baut.

Verständnis einer Behinderung

Der Umgang einer Gesellschaft mit der Behindertenfrage hängt davon ab, was sich eine Gesellschaft unter Behinderung vorstellt. Um Russland hinsichtlich ihres Umgangs mit Behinderung darstellen zu können, muss daher zunächst einmal geklärt werden, was Behinderung ist und welches gesellschaftliche Verständnis von Behinderung gilt. (Fröhlich 2009, 295f.)

Unter der Berücksichtigung verschiedenster Wissenschaften versuchten Forscher diese Fragen im historischen Kontext herauszufinden. Die Weltgesundheitsorganisation stützt sich in den Achtzigern auf das International Classification of Impairment, Disabilities and Handicaps (ICIDH), ein medizinisch basierendes Rehabilitationsmodell, in dem eine Klassifizierung zwischen Schädigung, Beeinträchtigung und Benachteiligung anwendet wurde und dass Benachteiligungen und Beeinträchtigungen auf körperliche oder kognitive Anomalie oder Funktionsstörungen zurückzuführen seien (vgl. WHO 1980, Waldschmidt 2006). Als ein Nachfolgermodell zum ICIDH entwickelt werden sollte, kritisierten britische Wissenschaftler das Modell aufgrund einem einseitigen Begriff von Normalität, der individuellen Schädigung (impairment) als alleinige Ursache von Beeinträchtigung (disability) und Benachteiligung (handicap). Das Modell mache Behinderte für ihr Schicksal selbst verantwortlich und ignoriere gesellschaftliche Haltungen. Weiter beanstandeten die Forscher die Tatsache, dass behinderte Menschen so in abhängige Positionen gezwungen werden und die Bewältigung der eigenen Behinderung als Anpassungspflicht gelte (ebd., Barnes 1999, 24ff). Die Alternative war ein soziales Modell, welches auf einer theoretische Perspektive fußt, den Disability studies, einer interdisziplinären Wissenschaft, die Behinderung als soziale, historische und kulturelle Konstruktion begreift. Behinderungen sind nicht naturgegeben, sondern ein kulturelles und gesellschaftliches Trennungsmerkmal, welches in der Öffentlichkeit konstruiert und produziert wird (Mitchell/Snyder 1997). Diese Studien sehen die Behinderung als Folge sozialer Beeinträchtigung (Whyte 1995, 10). Es sind die Blockaden innerhalb einer Gesellschaft, welche Behinderten eine inklusive Teilhabe verwehren. Heute wird Behinderung als „soziales Problem“, im Zusammenspiel von wissenschaftlichen Diskursen, institutioneller Kontrolle, staatlicher Regulierung, zivilgesellschaftlichem Engagement und individuellen Reaktionen, anerkannt, dessen Verständnis davon geprägt wird, wie die Gesellschaft es thematisiert, regelt und auf Behinderung reagiert (Fröhlich 2009, 296). Somit spielt es eine Rolle, welche Inklusionsmaßnahmen im politischen Bereich unternommen werden und was für eine Wertschätzung Behinderte im Gesetz erfahren. Befinden sich in einer Gesetzgebung keine Behindertenrechte, so ist davon auszugehen, dass dieser negative Einfluss in die Gesellschaft getragen wird und so die Diskriminierungen und Ungleichheiten bei behinderten Menschen erkennbar sind. Aufgrund der Verschiedenheit von Behinderungen muss eine Behindertenpolitik nicht gleichmäßig ausgelegt sein, sondern kann bei jeder Form von Behinderungen abweichen. In Russland werden diese Abweichungen in den nachfolgenden Kapiteln aufgezeigt, welche Einfluss auf das Verständnis der Gesellschaft genommen haben. Der Schlüssel zur gesamtgesellschaftlichen Anerkennung und Teilhabe benötigt aber neben Bürgerrechten und Sozialleistungen ein handlungsleitendes, kulturelles Verständnis von Behinderung im institutionellen und sozialen Gefüge einer Gesellschaft (Waldschmidt 2006, 72).

Russlands Weg zu mehr Toleranz

In den nachfolgenden Abschnitten wird die Behindertenpolitik von der Russischen Föderation seit Beginn des 19. Jahrhunderts präsentiert. Nach vielen unterschiedlichen Behindertenpolitiken hat sich spätestens seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention eine politische Handschrift abgezeichnet. Es wird geklärt, mit welchen politischen Mitteln und Methoden um eine jeweilige Behindertenpolitik im politischen Diskurs debattiert wurde und welche konkreten Maßnahmen darauf folgten.

19-20. Jahrhundert: Gemäßigt, antikapitalistisch, exklusiv

Die Sichtweise auf körperlich- und geistig eingeschränkte Menschen wurde im Laufe von 200 Jahren von Veränderungen geprägt, die sich auch weit über die sowjetische Grenzen nach Westeuropa ausbreiteten. Der russische zaristische Staat strebte nach Kontrolle und Erhalt der sozialen und politischen Ordnung im russischen Imperium und übernahm Verantwortung für die Geisteskranken und Körpergeschädigten (Brown 1989, 33). Das Zarenreich sorgte für eine enorme Vergrößerung des Netzwerks von Institutionen, Anstalten und Heimen, was zur Stärkung der Definitionsmacht eines medizinischen Verständnisses von Behinderung führte (Fröhlich 2008, 297). Behandlungen jenseits der Öffentlichkeit sorgten einerseits für eine Exklusion von Behinderten, andererseits glaubte man, Behinderungen seien Krankheiten. Auch in Europa wurden Menschen mit Behinderungen zunehmend unsichtbar, da sie nun in den für sie geschaffenen Sonderinstitutionen verwahrt wurden. Die Förderung solcher „medizinisch korrektiven Problembewältigungsstrategien“ machte den Umgang mit behinderten Menschen homogener (ebd.). In Westeuropa erreichte diese medizinische Kategorisierung einen Höhepunkt. Ein konsequentes Sterilisationsgesetz, welches mit Unterstützung der medizinischen und biologischen Wissenschaften in Deutschland eingeführt wurde, verfolgte das Ziel alle behinderten Menschen ohne ihre Einwilligung zwangssterilisieren zu lassen (Mathok 2016). In der gesamten Historie der Sowjetunion ist so ein besonders hartausgelegtes Gesetz nicht verabschiedet worden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließ sogar das Zarenreich Behinderte von gemeinnützigen Trägern, gesellschaftlicher Organisationen und Privatpersonen finanziell unterstützen (Romanov 2007,74f.). Die Tradition dieser gesellschaftlichen Wohlfahrtspflege wurde erst von der Regierung der Bolschewiken gestoppt, weil sie darin eine „heuchlerische Absicht“ der herrschenden Klassen der Ausbeutergesellschaft sahen (vgl. Romanov 2007, 229; Bol’saja Sovetskaja Enciklopedija 1950, 278). Der Staat wollte das Problem selbst in die Hand nehmen und übernahm die Bürgschaft, indem alle öffentlichen und privaten Organisationen, die vor der Oktoberrevolution noch in der karitative Behindertenhilfe tätig waren, aufgelöst und deren Eigentum dem sowjetischen Staat zugeführt wurden (Nazarov 1994, 5f). Sämtliche Aufgabenbereiche in der Behindertenpolitik, auch die der Bildung, wurden in das Sozialfürsorgeamt überführt. Deren Pflege gestaltete sich mit der verbreiteten Auffassung, eine Behinderung sei eine persönliche Tragödie, da die Herangehensweise als „medizinisch“ beschrieben wurde. Rechtlich erhielt man als betroffene Person Krankenstatus (Jarskaja-Smirnova 2005, 18ff.). Da der Staat diese Ansicht schon vor der Oktoberrevolution durch alle politischen Ebenen weiterforcierte, prägte das die darauffolgende Sozialpolitik weiter. Die Art und der Umfang von Sozialleistungen erfolgten über eine Festlegung von speziellen Kommissionen des Staates, unter welchen sich auch viele Ärzte befanden (Romanov 2007, 385). In der Kommission gab es allerdings keine pädagogischen Vertreter. Am 8. Dezember 1921 führten Volkskommissare der sowjetischen Regierung den Begriff „Arbeitsfähigkeit“ (trudosposobnost‘) ein (RSFSR 1921, Art. 672). Unter diesem Namen wurde ein Hierarchiesystem aufgebaut und Behinderte konfrontiert, auf Kosten der Werktätigen zu leben.

„Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen“ war der Tenor eines 1925 geschriebenen Rundbriefes des Volkskommissariats für Sozialfürsorge (Volkskommissariat für Sozialfürsorge, 1925). Die Durchsetzung stützte man auf eine fragwürdige Interpretation der marxistischen Ideologie. Darin unterschied Karl Marx den Menschen vom Tier, da dieser sich erst durch die Arbeit als Mensch definiert. Ein Zusammenspiel zwischen Arbeit und Menschen sollte demnach die Menschlichkeit ausmachen. Das Menschsein der Behinderten wurde so infrage gestellt. Der Gedanke der „Internationalen Solidarität“ ist übergangen worden, wenn man Solidarität als Maß für die noch zusammenhaltbare Verschiedenheit der Gesellschaft versteht (Luhmann 1988,25). Es ging dem russischen Staat aber darum, dass Menschen ihre physische Fähigkeit nutzen einer Berufung nachzugehen, die den gesellschaftlichen Aufbau vorantreibt (Matokh 2016, 50). Eine „Behinderung“ wurde somit durch die Arbeitsfähigkeit in der sowjetischen Leistungsgesellschaft bestimmt. In der Verfassung wurden diese Bestimmungen weiter verschärft. Das Volkskommissariat erließ ein Gesetz, dass den Feinden der Arbeiterklasse, wie Gutsbesitzer und Kapitalisten, neben dem Wahlrecht auch das Recht auf Sozialleistungen entzogen wird – selbst bei einer Behinderung (Lipatov 1957,155). Es war deshalb auch nicht überraschend, dass die dargestellte Anzahl der Sozialfürsorgeberechtigte mit Behinderung sank (Romanov 2007, 36). Die dann ausgezahlten Behindertenrenten stiegen schrittweise bis 1927 an (RSFSR 1927, 37). Nicht nur im finanziellen, sondern auch im organisatorischen Bereich sollte eine Weichenstellung vollzogen werden. Zehn Jahre nach dem Verbot von der nichtstaatlichen Wohltätigkeitshilfe, entstanden offenere, aber regierungstreue Behindertengenossenschaften (ebd.). Jene behindertennahe Einrichtung hatte nicht die Aufgabe, mehr politische Rechte einzufordern, sondern den Behinderten Arbeit zu beschaffen. Die Genossenschaft lässt sich gut mit einem Jobcenter vergleichen. Grund für diese Einführung war die steigende Bedeutung von nicht eingesetzten Arbeitsressourcen und Stalins ehrgeizigen Industrialisierungsplänen (Romanov 2007, 41). Betriebe waren von nun an verpflichtet Behinderte über einen Verteilungsschlüssel in den Betrieb zu integrieren (Lebedeva 1931, 18ff.). Die Ausbildung und Arbeitszuweisung wurde vom staatlichen Organ der Sozialfürsorge übernommen, lediglich wurde das Klassenprinzip beibehalten (Verzbilovskij 1931, 18ff.). Das Prinzip des Verteilungsschlüssels hatte den Vorteil, dass man arbeitsfähige Behinderte Arbeitgebern zuteilen kann. Doch diese Richtlinien unterschieden sich signifikant von der Realpolitik. Einige Studien weisen darauf hin, dass der Ausschluss Behinderter aus dem öffentlichen Raum aufgrund der Nichtintegrationsfähigkeit in einem Beruf erfolgte (Fefelov 1986, 101). Als Hauptgrund lassen sich die fehlendende behindertengerechte Ausstattung in Bauten und Räumen, sowie die desolate Verkehrsinfrastruktur, benennen (Matokh 2016, 52). Die Möglichkeit einer Arbeit nachzugehen, oblag hauptsächlich der städtischen Bevölkerung. Ländliche Bauern mit Handicap konnten weder in die Stadt pendeln, noch auf einen gleichen Anspruch auf Unterstützung hoffen. Deren finanzielle Hilfe regelte der Staat über eine Sonderkasse der Kolchosbauern (kolchoznye kassy vzaimopomosci) ab. Das Budget der Kasse setzte sich aus den erwirtschafteten Beträgen der Bauern zusammen. Bei Geldmangel oder schlechten Ernteerträgen konnte jegliche Hilfe ausbleiben (Romanov 2007, 56f.). Bauern eine garantierte Alters- und Arbeitsunfähigkeitsrente zu geben, wurde erst 1964 durch ein Gesetz gewährleistet (Michalkevic 1966). Man konnte es als geschlossenen Teufelskreis ansehen: Arbeitswillige Behinderte können nicht arbeiten, weil der Staat nicht behindertengerecht ausgestattet ist. Dadurch sieht man sie als arbeitsunfähig an und sie werden Opfer von Diskriminierungen, Anfeindungen und Erniedrigungen.

Aus der Sowjetpresse entsprang in den Dreißigern ab und zu eine progressive Idee, Behinderte am kulturellem Leben teilhaben lassen zu können, zum Beispiel durch die Herstellung spezieller Hörgeräte für Schwerhörige in Kino und Theater – was als moderne technische Errungenschaft der Sowjetunion publiziert wurde (Matokh 2016, 52). Außer dieser kurzen Passagen wurde Behindertenpolitik in den Medien nie zu einem zentralen Thema. Das Ziel, Behinderte in der Gesellschaft gleichzustellen, war weder politisch, noch zivilgesellschaftlich gegeben. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1930 als gesamtgültigen Bildungsstandard schloss Kinder mit schweren Behinderungen aus dem staatlichen Bildungssystem aus, da sie der Leistung von normal entwickelten Kindern nicht standhalten konnten. Sie wurden als „bildungsunfähig“ betitelt und in Einrichtungen abgeschoben, die nicht dem Bildungsministerium, sondern dem Ministerium für sozialen Schutz und den Gesundheitsministerien unterstanden (vgl. Hoppe 2000, S. 58).

Sowjetische Nachkriegspolitik: „Behinderte gibt es nicht“

Während des 2. Weltkrieges wurden sowjetische Behinderte Opfer des deutschen Naziregimes. Protokolle aus der Stadt Pskov untersuchten und fixierten das Verbrechen der deutsch-faschistischen Eindringlinge und Komplizen. Pskov hatte zu diesem Zeitpunkt eines der größten psychiatrischen Einrichtungen (Kovalev 2016, 373f.). NS-Ärzte aus Deutschland ermordeten sehr viele psychisch beeinträchtigte Menschen mit dem Wirkstoff Scolopamin, welchen sie den Behinderten gewaltsam in die Kehle spritzten oder ins Essen injizierten (ebd.). Sämtliche Aufklärungsarbeiten über das Vergehen wurden erst nach der Befreiung 1944 durch die Rote Armee aufgenommen und kollaborierende Mediziner zu Gefängnisstrafen verurteilt (ebd.).

Nach dem zweiten Weltkrieg gab es über drei Millionen Kriegsverletzte, die wieder in die Sowjetunion zurückkehrten, doch für sie war in der kommunistischen Heldenpropaganda kein Platz (Blaschke 2014). Ziel war es, die Sowjetunion als Gemeinschaft geistig und körperlich gesunder Menschen darstellen zu lassen. Man versteckte Behinderte vor der Öffentlichkeit, insbesondere, wenn es internationale Großveranstaltungen gab (Heyden 2017). Während der Weltjugendfestspiele 1957 wurden die Kriegsbehinderten aus St. Petersburg auf die Kloster-Insel Walaam umgesiedelt, weil die internationalen Gäste nur gesunde und keine behinderten Menschen sehen sollten (ebd.). Der Aufbau von speziellen Ausbildungsstätten, geschlossenen Anstalten und ein nichtöffentliches Netzwerk an Internaten, förderte die Ausgrenzung von Behinderten. Kriegsversehrtenverbände stießen Veränderungen in der Sozialpolitik für Menschen mit Behinderungen an, die erstmalig zur Leistungsentschädigung und sozialen Absicherung von Kriegsopfern führten (Spörke 2009, 91). Allerdings erwies sich diese Forderung als eine Bevorzugung Kriegsbehinderter vor Zivilbehinderten.

In den achtziger Jahren erreichte die Segregation und Isolierung von Menschen mit und ohne Behinderungen ihren Höhepunkt, als es z.B. für behinderte und nicht behinderte Kinder verboten war, während der Sommerferien miteinander zu spielen und zu arbeiten (Fröhlich 2008, 19). Diese Isolation setzte sich ins Erwachsenenalter fort, denn die staatliche Politik verbot die übliche Anstellung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen (ebd.). Behinderten wurde auch der Zugang zum Hochschulwesen verweigert, da sie die medizinische Zulassungsuntersuchung nicht bestehen konnten (ebd.). Bei der Arbeitsplatzsuche mussten sie sich den Vorgaben fügen, denn eine Interessensvertretung gab es seit der Auflösung der „Produktionsgenossenschaft für Behinderte mit Störungen der Fortbewegungsfunktionen“ seit 1956 auch nicht mehr (ebd.). Neugründungen von Gesellschaften zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Belange von Behinderten waren in der Sowjetunion nicht gestattet (vgl. Fefelov 1985). Die im Jahre 1980 stattgefundenen Olympischen Sommerspiele in Moskau beflügelten die Isolationshaltung, da die Sowjetunion sich weigerte, auch die Paralympics zu organisieren. Laut dem Parteichef der KPdSU Leonid Breschnew gab es keine Behinderten, weswegen die Spiele ins niederländische Arnheim verlegt wurden (Blaschke 2014).

Etablierung von Behindertenrechten

Behindertenrechtsaktivisten und deren Organisationen erreichten in öffentlichen Kampagnen und friedlichen Protesten, dass sich die Gesetzgebung umorientierte. 1981 setzte die Regierung einen allgemeinen Bundesbehindertenbeauftragter ein (Spörke 2009, 92–93). Nichtstaatliche Interessenvertretungen forderten in der Behindertengesetzgebung eine verankerte gesellschaftliche Gleichstellung und Teilhabe für alle Menschen mit Behinderungen zu verbreiten und durchzusetzen (Poore 2007, 183). Damit entwickelte sich auch ein großer gesellschaftlicher Druck gegen die Ausgrenzung durch Anstalten, in dem ein großer Teil der Menschen mit Behinderungen lebte.

[...]

Final del extracto de 37 páginas

Detalles

Título
Rote Exklusion? Politische Analyse zur Behindertenpolitik in Russland
Universidad
University of Education Ludwigsburg
Calificación
1,0
Autor
Año
2017
Páginas
37
No. de catálogo
V379123
ISBN (Ebook)
9783668567283
ISBN (Libro)
9783668567290
Tamaño de fichero
609 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
rote, exklusion, politische, analyse, behindertenpolitik, russland
Citar trabajo
Florian Wondratschek (Autor), 2017, Rote Exklusion? Politische Analyse zur Behindertenpolitik in Russland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/379123

Comentarios

  • No hay comentarios todavía.
Leer eBook
Título: Rote Exklusion? Politische Analyse zur Behindertenpolitik in Russland



Cargar textos

Sus trabajos académicos / tesis:

- Publicación como eBook y libro impreso
- Honorarios altos para las ventas
- Totalmente gratuito y con ISBN
- Le llevará solo 5 minutos
- Cada trabajo encuentra lectores

Así es como funciona