Von der Pferdearbeit zu einem didaktischen Konzept

Mentale Konzepte bei der Arbeit mit Pferden und im Unterricht


Libro Especializado, 2017

71 Páginas


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Impressum

Vorwort

Pferde – der Beginn einer Beziehung
Fazit

Pferde und Menschen – eine Jahrtausende alte gemeinsame Geschichte
Frühe Zeugnisse
Pferde gefügig machen
Mechanisierung
Pferdesport
Und heute?

Horsemanship

Eigene Schritte
Greenhorn Level 2
Der Weg
Millimeterarbeit
Mentale Konzepte in der praktischen Pferdearbeit

Pferdegestützte Arbeit
Wie ist ein typisches Führungskräfte-Seminar aufgebaut?
Fazit und kritische Betrachtung

Pferd und Wissenschaft

Pferde-Mensch-Kommunikation
Innere Haltung
Zusammenfassung

Mentale Konzepte – Hintergrund und Tradition
Begriffsklärung
Traditionelle Denkschulen

Mentale Konzepte – die Palette
Nochmals zurück: ein Überblick
Aus dem oben Gesagten lassen sich folgende Konsequenzen ableiten:
Die Palette
Autosuggestion
Affirmationen und Visualisierungen
Entspannungsübungen, Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation
Hypnose
Was ist Trance?
Mentaltraining – Bewegungskoordination
Visualisierung
Gewaltfreie Kommunikation GFK
Introvision

Ein didaktisches Konzept – Transfer auf Unterrichtssituationen
Das Transfermodell
Transfermodell, Phase A
Transfermodell, Phase B
Transfermodell, Phase C
Anwendung bei gefährdeten Jugendlichen

Anhang

Umsetzung im Unterricht – erste Erfahrungen
Durchführung
Arbeitsblatt Lernen – der Schlüssel dazu
Arbeitsblatt «Das Motivations-ABCD»
AB Wissensstruktur Ursachenzuordnung

Bildtafeln

Literatur

Vorwort

Können Pferde einen Beitrag leisten um Lernen auszulösen? Gar dort, wo pädagogische Konzepte ins Leere laufen und nichtlernenden Lernenden Begriffe wie Mehrfachproblematiken, Bildungsresistenz oder fehlende betriebliche und schulische Sozialisation angehängt werden?

Von der Arbeit mit Tieren auf die mit Menschen zu schliessen, gruppendynamische Effekte mit Herden- und Gruppenverhalten gleichzuschalten kommt einem Vorprellen in eine pädagogische Tabuzone gleich. Beobachtung von tierischem Verhalten gehört in den Bereich der Verhaltensforschung, so sind wir es gewohnt. Man stellt sich eher Versuchsanordnungen vor, die feststellen, dass Rabenvögel über einen Zahlenbegriff verfügen, als dass Pferde wichtige Impulse zum Lernen in Gruppen oder Klassen liefern können.

Pferdearbeit ist eigentlich Menschenarbeit. Wo ich vor vier Jahren den Satz «Ich arbeite mit dem Pferd» sagte, und «ich» das Subjekt war, das Pferd das Objekt, verschob sich die Semantik des Satzes mehr und mehr zu «ich arbeite an mir, ich erlerne eine Sprache, ich verinnerliche mir mentale Konzepte und wirke über diesen Umweg indirekt auf das Pferd ein. – Die Grenze vom Subjekt zum Objekt verwischte sich immer mehr, oft dachte ich, meine Stute hätte über Nacht neue Spiele ausgeheckt um mich zu trainieren. Die Arbeit auf den folgenden Seiten gleicht einem Dreieck, dessen eine Ecke von Pferden, die zweite von Mentalen Konzepten[1] und die dritte vom Menschen besetzt sind.

Die Leitfragen der Arbeit sind folgende:

- Wie können «gefährdeten Jugendliche» Bildungsinhalte nahe gebracht werden, die für den Übertritt in die Sekundarstufe II und das Bestehen einer Berufsausbildung erforderlich sind?
- Sind Mentale Konzepte ein tauglicher Weg dazu?
- Wie können Mentale Konzepte vermittelt werden, wie können sie das Unterrichtsrepertoire von Lehrpersonen erweitern.
- Welche Impulse können von pferdegestützter Arbeit auf Unterrichtssituationen ausgehen?

Das Vorgehen für diese Arbeit orientiert sich an der Praxis, exakter, am Begriff «Praxis», der aus dem Griechischen kommt und so viel heisst, wie Tat, Handlung, Verrichtung, aber auch Durchführung, Vollendung und Förderung. – Tat, Handlung, Verrichtung kennzeichnet die Arbeit mit Pferden, wo das aktuelle Geschehen im Hier und Jetzt zwischen Mensch und Pferd im Vordergrund steht, nicht das luftig geistige Gebilde eines Theoriegebäudes. Der wesentliche Teil der Arbeit ist «Praxis» und die Ausführungen auf den folgenden Seiten wollen den Leser an diese heranführen. Die Speisekarte soll aber nicht mit der Speise verwechselt werden. Nicht die Ausführungen sind die Arbeit, sondern die «Praxis».

Diesem Gedanken ordnet sich auch die Form des vorliegenden Papiers unter. Mehr Essay als an den Formalismen einer wissenschaftlichen Arbeit gehorchend folgt sie nicht jedem Nebenpfad und gibt nur einen rudimentären Blick über den Wissensstand wider, sondern bewegt sich frei und persönlich gefärbt durch die Kapitel. Was hier vorliegt, ist nicht ein abschliessendes Dictum über das gewählte Thema, vielmehr ein Zwischenbericht. Es scheint mir lohnend, weiter vertiefend in die Materie einzudringen. «Praxis» bedeutet ja auch Vollendung und Förderung. Meine Arbeit mit Pferden wird weitergehen.

An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen Dank aussprechen, an erster Stelle gebührt er meiner Frau Esther. Ihre systematische gegenseitige Beobachtung und Rückspiegelung bei der Pferdearbeit hat erst meine «Pferdesinne» soweit geschärft, dass diese Arbeit möglich war. Und dann gehört der Dank natürlich meiner geduldigen, spitzohrigen Pferdelehrerin, Shiva Esmeralda.

Pferde – der Beginn einer Beziehung

Wie wir zu unserem Pferd kamen ist eine jener verrückten Geschichten, die das Leben so schreibt. – Sie beginnt mit einem Bekannten aus demselben Dorf, der bei seinem Maiensäss einige Pferde hält. Er bittet meine Frau ihn nach H. zu fahren, weil er dort ein Pferd anschauen und eventuell kaufen möchte.

Am Abend desselben Tages erhalte ich ein Telefon, ich sei nun Pferdebesitzer geworden, zumindest hätten wir, meine Frau und ich, uns zur Hälfte an einem Pferd beteiligt. Die beiden hätten ein Pferd angetroffen, das aus seiner Box stürzte und nervös den kleinen Auslauf davor durchmass, hastig das Bisschen Grün darin verschlang. Die Besitzerin konnte es krankheitshalber nicht mehr bewegen, es fristete ein monotones Boxendasein. Der Bekannte nannte einen lächerlich tiefen Preis und zu seiner Überraschung stieg die Frau darauf ein. Nun konnte er nicht mehr zurückkrebsen, hatte aber das Geld nicht um den Deal zu besiegeln. Das war die Stelle, wo meine Frau einsprang, ihn das Gesicht wahren liess und uns zu Pferdebesitzern machte.

Für Unterkunft und Futter war gesorgt, noch hätte ich mich aus der Angelegenheit raushalten können.

Mein allererster Eindruck von diesem Pferd: es war gross. Mit ihrem Stockmass von 1.68 Metern übertraf sie, es war eine Stute, die anderen Pferde des Bekannten um Welten, was ihre Grösse noch mehr zum Ausdruck brachte. Sie hatte hellwache Ohren, die alles um sie herum registrierten und sie genoss das freie Weiden im Grünen, kompensierte, was sie in ihrer Box wohl schmerzlich vermisst hatte. Sie registrierte meine Anwesenheit, gab mir aber weiter nicht Acht.

«Was macht man eigentlich mit einem Pferd», diese Frage begann Gestalt anzunehmen und – das wusste ich damals noch nicht – würde mich noch intensiv begleiten. Unser Bekannter genoss es, inmitten der Gruppe zu sein und fand dazu immer einen Grund, hier noch etwas Heu hinzulegen oder da den Zaun zu rücken, das Fell zu striegeln oder die auf der Weide verstreuten Pferdeäpfel zu entfernen. Gelegentlich sattelte er eines seiner Pferde, aber begierig aufs Reiten war er nicht. Und im Sommer würden sie ja für vier Monate weg auf der Allmende und Alp mit den anderen Pferden des Dorfes sein.

Ich bezeichnete mich zu dieser Zeit als absolutes Pferde-Greenhorn. Ponyhof als Kind? – nein. Reiterfahrung? – nein. Meine Pferdeerfahrung beschränkte sich darauf, einen Sommer lang die drei Island Ponys des Schwiegervaters zu füttern, pflegen und hätscheln. Dort begann ich mich mit diesen Tieren auseinanderzusetzen und wie andere mit einem Hund ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen.

Aber es kam zu einem Schlüsselerlebnis, das meinen Zugang zu Pferden völlig veränderte. Wir sollten zwei Pferde meines Bekannten und unseres vom Dorf zurück zu ihrem Platz bringen, der etwa eine halbe Stunde entfernt war. Die beiden Begleiter wollten diese Strecke für einen Ritt nutzen und hatten ihre Tiere gesattelt. Ich führte unser Pferd am Führseil und ging voran, die beiden Reiter hinter mir. Ich konnte gut spüren, wie es ihnen nicht ganz leicht fiel, aus Rücksicht zu mir ihr Tempo zu zügeln, sie wären gerne in etwas flotterem Trab unterwegs gewesen. Mein Pferd war aufmerksam bei mir. Ich probierte aus, ob es mir folgen würde, wenn ich mein Gehtempo erhöhte. Ja, es ging mit, ich begann zu laufen und synchron trabte es an. Seite an Seite liefen wir, präziser: ich rannte und das Pferd trabte. Sie passte ihr Tempo exakt meinem an, der Kopf war stets auf der Höhe meiner Schulter ausgerichtet. Begeisterte Rufe von den beiden Reitern hinter mir. Deren Pferde versuchten unser Tempo mitzugehen und da es wesentlich kleinere Pferde waren, reichte dazu die Gangart Trab nicht, sie fielen in einen leichten Galopp.

Ich konnte es kaum fassen. Unser Pferd, das nicht einfach zu führen war und oft stehen blieb um die Gegend zu bestaunen, dieses Pferd liess sich so einfach in einen Trab bringen. Aber es war noch mehr als das: In dieser Szene hatten wir so etwas wie einen geöffneten Kommunikationstunnel zueinander. Es brauchte nichts koordiniert zu werden, weil ein blindes gegenseitiges Verständnis da war, das uns für einen Augenblick synchronisierte.

Diese schnelle Pace konnte ich nicht lange halten, ich keuchte schon schwer und fiel in den Schritt zurück. Meine Dame neben mir tat genau so, und sie blieb in der Aufmerksamkeit bei mir bis wir ankamen, dann war Schluss. Ich war elektrisiert. Konnte es sein, dass es artübergreifende Kommunikationskanäle gab, die weit mehr waren als Dressur und Steuerung über Kommandos? Vielleicht so wie Musik und Rhythmus für einen Künstler eine Sprache ist und kulturübergreifend Menschen so in ihren Bann ziehen kann, dass man in einem Konzertsaal eine Stecknadel fallen hört?

Wer nun denkt, am Folgetag hätte ich dort anknüpfen können, der schätzt Shiva Esmeralda, so heisst unser Pferd, falsch ein. So einfach wollte sie es mir dann doch nicht machen. Ich hatte in den Augen der gestrengen Meisterin noch viel zu lernen.

Endlich kam die Zeit, wo sie mit den anderen Rossen vereinigt auf die Allmende durfte. Fast schon paradiesische Pferdezustände. Eine Gruppe von Pferden wird in einem vergleichsweise riesigen Gelände sich selbst überlassen. Nahrung à discretion, lästige Fliegen ebenfalls. Die Pferdehalter schauen alle paar Tage mal vorbei, ob alles in Ordnung ist; dies sind nebst zufällig vorbeistreifenden Pilzsammlern schon alle menschlichen Kontakte.

Ich versuchte es mir einzurichten, dass ich möglichst oft die Herde besuchte. Zumeist findet man die Pferde beim Äsen vor, es scheint zwischen ihnen nicht viel zu laufen. Doch das stimmt so nicht ganz: Mit der Zeit wird die eigene Beobachtungsgabe geschärft und ich beginne, feine Unterschiede wahrzunehmen. Zum Beispiel, wer aktuell in der Leaderposition ist und wie die Stimmung in der Herde ist. Die Führerposition scheint nicht fix einem Pferd zugesprochen zu sein, sondern wechselt situationsbedingtzwischen einigen ranghohen Pferden. Diese Beobachtung steht im Kontrast zur vorherrschenden Ansicht, wie sie Monty Roberts formuliert: «Als Herdentier braucht das Pferd zum Überleben einen guten Führer. Im Wesentlichen ist die Alpha-Stute für die soziale Hierarchie der Familiengruppe verantwortlich. Sie stellt grundsätzlich die Regeln auf, hält die anderen Stuten in Reih und Glied und bestraft die Halbstarken in der Herde. Sie entscheidet auch darüber, wohin die Herde wandert, wo sie ruht und wo sie nach Wasser und Nahrung sucht. (…) Wenn Sie glauben, dass der Leithengst etwas mit den alltäglichen Entscheidungen innerhalb der Familien zu tun hat, irren Sie sich. (…) Die Aufgabe des Leithengstes besteht darin, die Stuten zu befruchten und zu verhindern, dass sie von anderen Hengsten gestohlen werden.» (Roberts, 2002, S 21-22)

Die Sache beginnt interessant zu werden. Kann es sein, dass ich Greenhorn bereits mit meinen ersten gezielten Beobachtungen an Grundfesten des Wissens der traditionellen Pferdewelt rüttle? – Der oben zitierte Monty Roberts ist nicht irgendwer in der Pferdeszene, sondern als Begründer des Join-up, einer sanften Methode im Umgang mit Pferden, als Buchautor und als Berater der Königin Elizabeth II, der er 1989 seine Methoden in deren Reitstall vorführen durfte, und als Ehrendoktor der Universität Zürich (2002) eine gewichtige Stimme.

«Mein» Pferd gibt mir auf der Weide wenig acht. Nichts von schwanzwedelnder Begrüssung, wie sie jedem Hundehalter geläufig ist, nein, sie frisst einfach weiter, ich würde es schon beinahe als leidenschaftliches Fressen bezeichnen, was sie zelebriert. Mit der Lippe prüft sie den Bewuchs und reisst ohne Hast Bissen um Bissen mit den Vorderzähnen ab. – Ich wiederum lerne zu akzeptieren, dass auf der Allmende und Alp ich als Mensch nichts in ihrem Pferdeverband verloren habe, ich werde als Beobachter geduldet, sie haben mich aber nicht als Club Méditerranée Animator gebucht.

Die Pferde auf der Allmende zu finden, ist gar nicht so einfach. Im eng gekammerten Gelände, wo Wald und Lichtungen sich folgen, bin ich schon nahe an der Herde vorbeigegangen ohne sie zu sehen. Einmal, bei einem Regen- und Kälteeinbruch, fand ich sie erst auf dem Rückweg unter einigen Wettertannen ruhig stehen, in einer Art Trancezustand. Eine Weile stand ich mittendrin, Kopf an Kopf bei meinem Pferd, und wir hörten dem ruhigen Ein- und Ausatmen des andern zu.

Ein Phänomen, das mich immer wieder überrascht hat, ist wie Akzeptanz innerhalb einer Pferdegruppe übertragen wird. Es gab spätere Szenen, die dies schön verdeutlichen, zum Beispiel diese: Zwei stämmige Freiberger Wallache, werden neu in die Herde auf der Allmende bei Monbiel gebracht. Der eine markiert sofort den Macker und geht alles an, was «seiner» Herde zu nahe kommt. So pflügt er auch auf mich los. Ich bleibe ruhig stehen, vermittle ihm, dass ich nicht gewillt bin, auch nur einen Zentimeter vor ihm zu weichen und wende mich wieder Shiva zu. Misstrauisch stoppt er vor mir. - Bei den nächsten Besuchen empfängt mich der Kerl ganz anders, ist entspannt und freundlich. Er scheint meine Stellung in der Herde zu kennen, wie wenn die anderen Pferde ihm diese «erklärt» hätten.

Oder ein anderes Beispiel: Eines Morgens liegen einige Pferde ausgestreckt auf dem Boden, die anderen stehen um sie herum. Es gelingt, sich ihnen ruhig anzunähern und sich neben ihnen niederzukauern, sie zu streicheln. – Pferde können auch im Stehen schlafen und sie legen sich nur hin, wenn sie sich sicher fühlen. Das Aufstehen ist eine recht mühsame Prozedur und im Liegen vergeben Pferde die Chance auf eine schnelle Flucht. – Indem ein Pferd liegen bleibt, wenn ein Mensch sich nähert, es gar berührt und streichelt, beweist es ein gutes Stück Vertrauen. Interessant war aber, dass in dieser Szene es nicht «unsere» Pferde waren, weder das eigene, noch die vom Stall her wohl bekannten. Woher wussten sie, dass sie uns – meine Frau war ebenfalls dabei – vertrauen konnten? – Es kam noch besser. Unsere Stute und eine andere standen dösend daneben. Als wir sie begrüssten und über den Widerrist strichen, bekamen sie weiche Knie und legten sich ebenfalls auf den Boden (siehe dazu die Bildtafeln im Anhang).

Wieder zurück zum ersten Sommer, wo ich die Pferdegruppe auf der Allmend und Alp beobachten konnte. Es war ein lauer Abend, die Weide schon im Schatten und die Pferde ein Stück weit oben im ansteigenden Gelände. Shiva war die Aufpasserin, die Ohren zeigten in meine Richtung. Sie setzte sich in Bewegung, begann im rauen Gelände zu traben. Nun gingen die Köpfe überall hoch und alsbald stürmte die ganze Gruppe auf mich zu. Beeindruckend, diese Energie, die von rennenden Pferden ausgeht. Shiva fliegt an mir vorbei, verwirft den Kopf und schlägt mit den Hinterläufen in die Luft. Die anderen tun ihr gleich und zeigen wilde Kapriolen. Dann ist der wilde Ausdruck von Spiel und Lebensfreude vorbei. – Ich wusste instinktiv, dass mir mitten im Tanz der fliegenden Hufen keine Gefahr drohte und empfand die Darbietung als grosses Geschenk.

Wenn die Pferde am Äsen sind, ist die Gruppe locker verteilt. Eine passt in der Regel auf, sie scannt die Umgebung auf Unregelmässigkeiten ab und kommt deutlich weniger zum Fressen als die anderen. Man nimmt kaum Bewegung wahr, das einzelne Tier macht mal einen Schritt hier- und einen dorthin, aber die Gruppe als Ganzes scheint stets am selben Ort zu sein. Doch dies täuscht. Eine Viertelstunde später ist die Herde bereits eine Kuppe weiter und hat sich insgesamt in die Höhe verschoben. - Wie werden solche Bewegungen ausgelöst und koordiniert? - Schaut man genau hin, dann findet man einzelne Pferde, die beim Grasen eine Art Strategie verfolgen. Sie zupfen hier ein paar Mäuler voll Kräuter ab, dann schreiten sie vier, fünf Meter weiter und senken erneut den Kopf um zu grasen. Bald ist ein solches Pferd, häufig ist es unsere Stute, am Rand der Gruppe und verschiebt sich weiter. Nun ist eine Lücke von sagen wir zehn Metern entstanden. In der Herde bewegen sich die einzelnen Tiere tendenziell in Richtung der «Abtrünnigen»; der Bewegungsvektor eines jeden gibt einen feinen Anstoss auf die umliegenden Tiere. Und so verschiebt sich die Herde allmählich als Ganzes.

Um eine solche Beobachtung mit dem Konzept von Führung in Übereinstimmung zu bringen: Pferde scheinen den eigenständigen Individuen zu folgen. Denen, die sich nicht mit dem zufrieden geben, was alle fressen, sondern ausloten, ob die Kräuter eine Senke weiter nicht noch besser wären. Oder anders gesagt: Kreative Elemente, die die Sicherheit ausstrahlen, dass sie wissen, was sie tun und zugleich aber die Herde als Ganzes im Auge behalten, sind als Leader prädestiniert’.

Davon ist die auf Dominanz und Hierarchie begründete Führung in Pferdeherden wie auf einer anderen Ebene angesiedelt. Zum Beispiel der Friesenwallach, der beim Zusammentreffen auf der Allmende «seine» Gruppe beschützen will und die beiden «fremden» Wallache auf Distanz hält. Mal für Mal startet er durch und verscheucht die «Eindringlinge», die ihrerseits dem Ritual folgen, sich ausserhalb der Gruppe bewegen und sachte versuchen, immer wieder die Distanz zu verkürzen, bis der Friesenwallach erneut lossprintet. Dies kostet Energie, die beiden auf der Aussenbahn bleiben beharrlich dran und mit der Zeit gelingt es ihnen, Tiere der Gruppe zu beschnuppern ohne dass der dominante Aufpasser losprescht.

Um diese beiden Ebenen – Ebenen deswegen, weil beide parallel in ein- und derselben Pferdegruppe vorkommen können - noch deutlicher zu unterscheiden, könnte man einerseits vom Typus des Führers sprechen, der dominant auftritt und dem es um den formellen Status in der Gruppe geht, während der andere Typus die Herde zusammenhält und die Impulse setzt, denen die Herde folgt. Finden sich in einer Pferdegruppe beide Typen, dann beobachtete ich häufig, dass der Führungsanspruch in der Art aufgelöst wurde, dass dem dominanten Typus formell der Vortritt gewährt wurde, wie wenn die Herde ausdrücken würde: «Wenn die so viel daran liegt, Chef zu spielen, dann lassen wir dich halt, bei wichtigen Dingen halten wir uns aber an den zweiten Typus!»

Später fand ich diese Unterscheidung in der Literatur zum ersten Mal beschrieben bei Mark Rashid, der aufgrund der Beobachtung grosser Herden in einer Ranchumgebung sogenannte Alpha-Führer und «sanfte» Führer beschrieb. Keines der Alphas hatte Interesse daran, sich mit einem anderen Herdenmitglied zu befreunden. Sie zeigten Dominanz, wo immer sich Gelegenheit dazu fand. (…) Ging hingegen einer der «gewählten» oder «sanften» Führer zur Tränke, folgten ihm oder ihr fast immer sämtliche andere Mitglieder dieses Verbands. (…) Keine Drohungen, keine Attacken, keine ängstliche Reaktionen. (Rashid 2011, S 57)

Dass Pferde in Bezug auf (menschliche) Führung durchaus etwas zu sagen haben, ist ein faszinierender Gedanke. Zum einen sticht die Parallelität von hierarchischen Strukturen und denen einer Pferdeherde ins Auge. Inwieweit greifen Führungskonzepte auf soziale Gruppenstrukturen zurück, die im Laufe der Evolution sich herausgebildet haben und die bei Menschen wie Pferden ähnlich aufgebaut sind? Zum zweiten weisen die Beobachtungen auf einen hohen Grad an Differenzierung hin bei der Ausgestaltung des Gruppenverhaltens von Pferden; eine Differenzierung, die erst die Fülle an Verhaltensmustern bereitstellt, die als Voraussetzung unabdingbar ist um darin menschliches Verhalten zu reflektieren.

Das Beispiel des sanften Führers und die Lehren, die aus hippologischem Führungsvrehalten gewonnen werden können, skizzieren einen möglichen Weg auf, um Erkenntnisse von Pferden zu gewinnen, nämlich durch Beobachtung, Übertragung und Reflexion.

An dieser Stelle möchte ich noch zwei Beobachtungsbeispiele einfügen. Das erste handelt von Aggression und Dominanz, das zweite beleuchtet die feinen Zwischentöne.

Der neu erworbene Zeus, ein junger Wallach, ein «Jugendlicher», wird von seinem Besitzer in die Herde auf der Allmende gestellt, ohne dass vorherig eine Kontaktaufnahme hätte erfolgen können. In der Herde befindet sich Otti, ein älterer Bursche mit chronischen Schmerzen im Bewegungsapparat, die von seiner Traber-Karriere herrühren. Ich kannte Otti als ein in sich zurückgezogenes Pferd, das kaum eine überflüssige Bewegung machte und recht lethargisch wirkte. – Der junge Zeus näherte sich unbekümmert der Gruppe, was bei Otti alle Dämme brechen liess. Er legte die Ohren zurück und legte zu einer aggressiven Attacke gegen Zeus an, der schleunigst das Weite suchte. Doch obschon letzterer sich «richtig» verhielt und einen gehörigen Respektsabstand zur Gruppe einhielt, legte sich die Aggressivität bei Otti nicht. Wieder und wieder nahm er Anlauf, galoppierte auf Zeus los und zeigte seine Zähne. Nun war Bewegung in der ganzen Gruppe. Innen die unbeteiligten Pferde, im weiten Orbit Zeus, der gejagt wurde und zu Otti gesellte sich unsere Stute. Sie, die sanfte Führerin der Gruppe, lief Seite an Seite mit Otti, wie wenn sie ihn etwas emotional runterbringen wollte: «Komm, so scharf musst du beim Kleinen doch nicht reinfahren!» - Die Beobachtung zeigte schön auf, wie eine Führerin in der Herde auch eine vermittelnde Rolle einnehmen kann. Schlüssig erklären, warum Otti derart ausgeflippt ist, lässt sich nicht. Die Vermutung liegt aber nahe, dass sich bei ihm viel Frust aufgestaut hatte, als seine Besitzerin ein neues Pferd erwarb, einen jungen Araber-Wallach, mit dem Otti seine Box teilen musste und der seinen Rang einnahm. Einen Winter lang musste Otti viel einstecken und nun drohte nochmals dasselbe auf der Weide von Zeus, einem Pferd mit ebenfalls starkem Arabereinschlag, das war wohl zuviel für ihn (siehe dazu die Bildtafeln im Anhang).

Delice ist eine zwanzigjährige Freibergerstute, eine gesetzte Dame, die, wenn sie sich durchsetzen möchte, den Kopf etwas nach vorne streckt, die Ohren anlegt und ihren massigen Körper in Bewegung setzt. Im Gehege bilden sie und der gleichaltrige Dianico ein unzertrennliches Duo, welches das Sagen hat. Mein Pferd als zuletzt angekommenes in der Gruppe hat sich hinten anzustellen und die bestehenden Machtverhältnisse zu akzeptieren. Das macht sie auch, sie zeigt sich devot, obschon sie vom Charakter her ein ranghohes Pferd ist.

Ich war mit beiden Pferden auf dem Reitplatz, der rund zehn Gehminuten von ihrem Gehege entfernt liegt. An dessen Seite befindet sich der Auslauf von einigen Pferden. Meine Stute versteht sich mit zweien besonders gut, sie tauschen sich übers Gatter hinweg Zärtlichkeiten aus und knabbern sich gegenseitig am Hals. An diesem Tag war Delice rossig, sie ging schnurstracks zum Zaun, hob den Schwanz und machte sich für den Kerl auf der anderen Seite interessant. Shiva näherte sich, Delice machte sich breit und liess sie nicht an den Zaun. Blitzschnell drehte sich Shiva und kickte in Richtung ihrer Kontrahentin aus. Delice hielt dagegen, doch Shiva hielt stand und warf abermals ihre Hinterhufe an deren Brust. Nach 10 Sekunden war die Angelegenheit geklärt. – Die gängige Ansicht von Hierarchie, von wer oben und wer unten ist, wird mit diesem Beispiel abermals in Frage gestellt. Shiva akzeptiert Delices Position im Gehege, also in deren Homebase. Gemäss der Anstandsregeln von Pferden hat sie die herrschende Hausordnung einzuhalten. Ganz anders aber draussen oder eben auf dem Reitplatz, der klar nicht mehr zur Homebase gehört. Hier wird die Position ausgehandelt und beruht auf den aktuellen Verhältnissen, Delice kann sich nicht auf den Vorrang der Älteren berufen. Sie «vergisst» dies, und wird mit zwei trockenen Kicks belehrt.

Kurz danach kamen beide Pferde zusammen auf eine Weide, nur die beiden. Würde sich dort wieder eine neue Konstellation einstellen, Delice vielleicht ihren Rang zurückerobern? - Die Beobachtungen ergaben kein eindeutiges Bild. In der Hitze standen die beiden dicht nebeneinander, Kopf an Schwanz, so dass jede der anderen die Fliegen von den Augen verscheuchen konnte. Sie frassen Kopf an Kopf, ohne dass die eine der anderen gewichen wäre. Es schien, als ob die beiden Pferde Freundschaft geschlossen hätten, zumindest kooperierten sie gleichberechtigt miteinander. Eines Morgens brachte ich den beiden Rossen etwas Kraftfutter und begrüsste sie. Unvermittelt schlug Shiva mit den Hinterbeinen in die Luft aus. Eine massive Warnung! - Hoppla, war ihr da Delice zu nahe gekommen? Schlug etwa Eifersucht durch, da ich keine bevorzugte, indem ich beiden je ein Becken mit Kraftfutter hinstellte? – Delice trollte sich und begann in einigem Abstand zu grasen. Shiva schien nachdenklich zu sein, sie hatte wohl überreagiert. Dann setzte sie sich in Bewegung, näherte sich der andere Stute und lud sie ein, wieder an ihrem Platz zu fressen. Doch die wollte nun auch nicht mehr, graste weiter und drehte sich noch etwas mehr ab, so dass sie Shiva ihr Hinterteil zeigte, was unter Pferden als ausgesprochen unhöflich gilt.

Fazit

An dieser Stelle scheint ein Zwischenfazit angebracht zu sein. Allmende und Alp ermöglichten Beobachtungen an Pferdegruppen, teils waren diese ein gutes Dutzend Pferde stark, die sich (fast) frei bewegen konnten. Die Beobachtungen zeigten vielschichtige und differenzierte Verhaltensmuster auf. Beschreibungen, die Herdenverhalten auf einer reinen Dominanzbasis erklären, greifen zu kurz, um nicht zu sagen, greifen daneben. Die beobachteten Muster lassen sich damit nicht hinreichend erklären. Die Fülle und Reichhaltigkeit an differenzierten Verhaltensweisen ist ermutigend, und ergibt genügend Material, um sie auf menschliche Gruppen – insbesondere auch in Führungssituationen – zu projizieren und um Analogieschlüsse ziehen zu können. Allein durch Beobachtung, also ohne aktives Eingreifen, erschliesst sich ein Feld von «Pferdearbeit», das weiter zu ergründen vielversprechend und in meinen Augen interessant erscheint.

Das Stichwort «Pferdearbeit» leitet zum nächsten Kapitel, wo wir uns der Frage widmen, was im Allgemeinen unter Pferdearbeit verstanden wird.

Pferde und Menschen – eine Jahrtausende alte gemeinsame Geschichte

Die Kulturgeschichte des Menschen ist eng gekoppelt mit der Domestikation und Nutzung von Pferden, was aber den Zugang zum Wesen Pferd mehr erschwert als erleichtert. Der Übergang von Wissen und Fakten zu Legenden und Mythen erscheint unscharf und ohne klare Kontur. Geschrieben worden ist schon viel, sehr viel. Allein Google books listet unter dem Stichwort «horse» 8.8 Millionen Titel auf.

Wie der Mensch selbst ist auch sein engster und wichtigster Gefährte ein Phantasma des Wörterbuchs, ein Wesen aus Wörtern. Seit der Antike hat die hippologische Literatur ihren Gegenstand in immer neuen Traktaten ausbuchstabiert: die Kunst das Pferd zu zähmen und zu züchten, seine Gestalt zu schätzen und seine Leiden zu kurieren. ( Raulff, 2015, S 171)

Raulff versucht die gemeinsame Geschichte Mensch-Pferd an der Leitlinie «Vektor, Geschwindigkeit, kinetische Energie» auszurichten. Das Pferd wird reduziert auf seine Geschwindigkeit und die Möglichkeit etwas zu tragen oder zu ziehen. Eine solch nüchterne Betrachtungsweise, die streng die physikalische Funktion des Pferdes für den Menschen in den Vordergrund rückt, mag recht nützlich sein, sowohl um die Historie zu strukturieren, wie auch um die Beziehung von Mensch zu Pferd zu verstehen.

Frühe Zeugnisse

Der Anfang der Pferde-Mensch-Geschichte liegt im Dunkeln. Nach Schätzungen dürfte er im 4. Bis 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung liegen. Bronzezeitliche Felszeichnungen in Schweden (Tegneby) zeigen Bildern von berittenen Pferden und solchen die als Zugtier einen Pflug ziehen. Etwas näher liegen uns die Darstellungen von Herodot und Xenophon.

Als Beispiel sei ein Zitat von Xenophon aufgeführt, der von 430 – 355 v. Chr. lebte.

Wie man nun einen Menschen am wenigsten erzürnt, wenn man weder etwas sagt noch thut, was ihm unangenehm ist, so wird auch ein zornmüthiges Pferd am wenigsten von dem erzürnt werden, der ihm nichts zu Leide thut. Zuerst muss man beim Aufsteigen Sorge tragen, es dabei so wenig als möglich zu beunruhigen. Nachdem man aber aufgesessen, muss man etwas längere Zeit stillhalten als sonst gewöhnlich, und es sodann mit den sanftesten Hülfen anregen; dann aber, vom Langsamen anfangend, es so zum Schnelleren fortführen, dass das Pferde selbst nicht merkt, wie es zu der Schnelligkeit gekommen ist. (Jacobs, 1825, S 55)

Xenophon deckt viele praktische Aspekte der Pferdehaltung ab, zum Beispiel äussert er sich über Hufpflege und Reinlichkeit im Stall, wie auch, worauf beim Pferdekauf zu achten sei. Beeindruckend, die Behutsamkeit und Achtsamkeit, die Xenophon an den Tag legt (.. muss man beim Aufsteigen Sorge tragen, es dabei so wenig als möglich zu beunruhigen) – damit müsste er sich heute noch in keinem Reithof verstecken.

Bei Herodot von Halikarnassos sticht eine Beschreibung der Begräbnisgebräuche der Skythen heraus. Der König wird mitsamt seinen Pferden, einem seiner Kebsweiber, seinem Mundschenk und anderen Dienern begraben und es wird ein hoher Grabhügel aufgeschüttet. Nach Verlauf eines Jahres (….) erwürgen sie fünfzig (Diener) und dazu fünfzig der schönsten Pferde, denen sie die Bauchhöhle ausnehmen und reinigen, mit Häcksel füllen und dann wieder zunähen. (Braun, 2001; S 347)

Es folgt eine detaillierte Beschreibung, wie die toten Diener auf den an Stangen aufgestellten Pferden in Reiterposition fixiert werden und zu einer gespenstischen Totenwache formiert werden.

Herodot beschreibt die Skythen als wildes, nomadisierendes Reitervolk, dessen Überfälle berüchtigt waren. Sie waren die Vorläufer der zentralasiatischen Reitervölker, die bis ins Mittelalter immer wieder Vorstösse nach Westen machten, wie die Awaren 881 vor den Toren Wiens.

Doch handelt es sich bei Herodots Schilderungen um Geschichte im Sinne von historischen Tatsachen oder um Geschichten, die zur Schaffung von Mythen dienten, zumal die Skythen am Rande seiner bekannten Welt angesiedelt waren? – Die Zweifel wurden in neuster Zeit entkräftet, als im Altai Gebirge im äussersten Nordwesten der Mongolei spektakuläre archäologische Funde gemacht wurden. Das Team von Hermann Parzinger öffnete 2006 eine noch unberührte Grabkammer und traf auf die Überreste von zwei Pferden mit verziertem Zaumzeug. In der eigentlichen Bestattungskammer befand sich die mumifizierte, mit einem mit Schaffell gefütterten Murmeltiermantel bekleidete Leiche, ein Krieger, der vor etwa 2500 Jahren verstorben war. Parzinger, der wohl bekannteste «Skythenjäger», hatte 2001 mit russischen Kollegen das Grab eines Fürsten mit seiner Frau geöffnet, dessen Grabbeigaben nebst anderem aus 14 Pferden bestanden.

Fassen wir zusammen: Die Skythen wie die später auftauchenden zentralasiatischen Reitervölker kannten die Techniken und Methoden um Pferde abzurichten, zu reiten und in der Kombination Mensch-Pferd als Kriegsgerät einzusetzen. – Der Satz mag etwas gar nüchtern ausdrücken, dass damit ein Quantensprung in der Kriegstechnik gelungen war. Krieger, die im vollen Lauf ihres Pferdes Pfeile schiessen konnten, dazu neue Taktiken auf dem Schlachtfeld ermöglichten, wie schnelle Vorstösse um den Gegner in seinen Flanken zu treffen, dies sollte bis zum Ende der Kavallerie anfangs des 20. Jahrhunderts die Kriegstechnik prägen.

Pferde gefügig machen

Dass die militärische Rolle den Pferden nicht gut bekam, muss wohl nicht besonders beleuchtet werden. Hingegen möchte ich darauf hinweisen, dass Pferde für ihre militärische Verwendung in grosser Zahl rasch und nach standardisierten Verfahren abgerichtet werden mussten. Doch was heisst das?

Die natürlichen Feinde des Steppenbewohners Pferd sind grosse Raubtiere, z. B. Wölfe oder Pumas und die Taktik, ihnen zu entgehen, heisst «erkennen und weglaufen». Pferde haben ein äusserst feines Gehör entwickelt, es soll zehn Mal besser als das menschliche sein, sie können die Ohrmuscheln einzeln bewegen und auf einen Punkt ihrer Aufmerksamkeit fokussieren. Ein fein entwickelter Geruchssinn und Augen, mit denen sie bis auf einen toten Winkel von 10° Rundumsicht haben. Damit haben sie im Laufe der Evolution ein ausgezeichnetes Frühwarnsystem entwickelt. Und falls sie etwas Beunruhigendes wahrnehmen, dann setzen sie ihre überlegene Geschwindigkeit ein und galoppieren mit hoher Geschwindigkeit aus der Gefahrenzone.

Ein Pferd zum Reittier zu machen, bedeutet nichts anderes, als ihm seinen natürlichen Fluchtimpuls auszutreiben und es beherrsch- und steuerbar zu machen. Die Pferdeanatomie bietet hier eine Möglichkeit an, nämlich das Diastema, oft auch «Laden» genannt, der zahnfreie Bereich im Maul zwischen den Schneidezähnen, genau genommen den Hakenzähnen, und den Prämolaren. Hier wird die Trense hineingelegt, das Stück Metall im Maul, das durch die Einwirkung des Reiters mit den Zügeln Druck auf die Zunge, den Gaumen wie auch auf die Unterkieferknochen ausübt. Das Prinzip ist heute noch das Gleiche wie bei den ersten bekannten Reitervölkern, es wird Druck in den stark von Nerven durchzogenen Bereichen des Schädels ausgeübt, und zwar nicht wenig. - Neuere Forschungen gehen von 300 kg/cm2 Druckspitzen aus und durchschnittlichen Werten von 150 kg/cm2. Keine Frage, damit wird massiv Schmerz ausgeübt!

Pferde lernen schnell und haben ein hervorragendes Gedächtnis. Die Aussicht auf Schmerz lässt – abhängig vom individuellen Pferdecharakter – Pferde diesen vermeiden, indem sie das gewünschte Verhalten produzieren. Innerhalb einer gewissen Bandbreite funktioniert dies, wie aber die Berichte von durchgehenden und buckelnden Pferden zeigen, lassen sich Pferde selbst über massivste Schmerzen nicht in allen Situationen sicher kontrollieren. – Die logische Antwort darauf war, die Anwendung von Gebissen derart zu perfektionieren, dass ein jegliches Ausweichen um kurz Linderung zu schaffen, verunmöglicht wird. Das Arsenal an «Hilfen», das im Laufe der Geschichte entwickelt worden war, würde jeder Folterkammer gut anstehen.

Die Methodik ist seit je her dieselbe, nämlich negative Konditionierung. Bewegt sich ein Pferd ausserhalb des gewünschten Rahmens, wird ihm über das Zaumzeug und Trense Schmerz zugefügt. Weder kann es dem aufgesetzten Druck mit dem Kopf ausweichen, noch das Eisen im Maul mit der Zunge wegschieben. So lernt es schnell, Schmerz zu vermeiden, indem es das vom Reiter gewünschte Verhalten zeigt, und dieser wiederum braucht das Zufügen von Pein zumeist nur anzudeuten: das Pferd ist konditioniert worden. Manche Pferdetrainer führen gar stolz ein Pferd vor, bei welchem das Andeuten der zügelnden Bewegung genügt, selbst dann, wenn dem Pferd kein Zaumzeug angelegt worden ist. Aufgrund einer Vorführung lässt sich nicht schlussfolgern, dass ein Pferd ohne Gewalt, bzw. ohne Eisen im Maul, gearbeitet worden ist.

Wer sich mit der Funktionsweise von Gebissen auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich zum Einstieg den Youtube Film «Reiten ohne Gebiss, neue Erkenntnisse, neue Wege» ( https://youtu.be/SYBi0iGxrKU ), zur weiterführenden Vertiefung das Buch «The horse, crucified and risen» (Nevzorov Alexander. "The horse crucified and risen". Nevzorov Haute Ecole, 2011, 2012.)

Mechanisierung

Die industrielle Revolution baute nicht nur auf der verbesserten Dampfmaschine von James Watt auf, sondern vor allem auf – Pferde. Jeder Schritt, der die Mechanisierung vorantrieb, befeuerte die gesellschaftlichen Umwälzungen, die Arbeiter in Fabriken pferchte und Städte wie London und Paris anschwellen liess. Vor allem aber wurde das Bedürfnis gesteigert, Güter hin und herzuschieben, Personen zu transportieren, Briefe zu versenden und den innerstädtischen Verkehr zu bewältigen. Pferde waren dazu unentbehrlich und wurden in grosser Anzahl ge- und verbraucht. Um dies zu illustrieren einige Fakten aus dem Buch von Raulff:

Für die Pferde, die in ihr leben und von ihr verbraucht werden, ist die vom Sturm der Mechanisierung erfasste Stadt des 19. Jh. kein gesundes Milieu. …. Stadtpferde rücken im Alter von fünf Jahren ein und haben eine durchschnittliche Lebensdauer von 10 Jahren. (Raulff, 2016, S 30)

Man stelle sich vor, was es für das Leben in einer Stadt wie Manhattan bedeutete, dass dort gleichzeitig 130000 Pferde arbeiteten. Was mochte der Passant empfinden, der eines Tages den Broadway in New York verstopft fand mit toten Pferden und ineinander verkeilten Fahrzeugen? Wie roch eine Stadt, auf die, wie auf New York um 1900 die Pferde täglich 1100 Tonnen Mist und 270’000 Liter Urin niedergehen liessen, und aus der jeden Tag zwanzig Pferdekadaver abtransportiert wurden? (Raulff, 2016, S 30)

Pferde als Mittel zum Zweck. Eingebunden in einen Mechanisierungsstrudel. Betrunkene Kutscher, die wild auf ihre Pferde eindroschen, gehörten zum Alltag in den Städten. Diese Umstände mochten nicht alle Bürger hinnehmen. Die Empörung über die Misshandlungen von Pferden fand Gleichgesinnte und so wurden um 1820 die ersten Tierschutzgesellschaften in England gegründet. Deren Exponenten waren in ihren Schriften nicht eben zimperlich und griffen zum verbalen Zweihänder, so zum Beispiel Henry Curlings Buch mit dem unmissverständlichen Titel: «A Lashing for the Lashers»[2]

Pferdesport

Nebst dem Einsatz im Militär und dem zivilen Nutzen in Land- und Forstwirtschaft, wie auch dem Aufbau einer modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft, ist der Pferdesport als dritte Säule zu nennen, für den Pferde in grosser Anzahl bereitgestellt wurden. Der Atmosphäre auf dem Rennplatz wohnt auch heute noch etwas Mondänes inne. Elegant gekleidete Damen, ein Cüpli in der Hand; Herren, die im Führring die Pferde mit Kennerblick einschätzen um ihre Wetteinsätze zu platzieren, dazwischen die schmächtigen, bunt gekleideten Jockeys.

Die Wurzeln des Pferdesports liegen, wie könnte es anders sein, in England. Oder präziser: in Newmarket, wo 1622 das erste Rennen stattgefunden hat und wo von den königlichen Stuarts ein eigentlicher Renn- und Zuchtbetrieb aufgebaut wurde.

Den Verlautbarungen nach ging es, wenn orientalische Pferde, anfangs einzelne Hengste, später auch Gruppen von Stuten, darum, die genetischen Eigenschaften der einheimischen Pferderassen generell zu verbessern. Tatsächlich ging es in erster Linie um Geschwindigkeit. Das schnelle Pferd war das Ziel der Zuchtbemühungen, das Pferd, das Rennen zu gewinnen imstande war. Mit diesem Ziel identifizierte sich nicht nur eine gewisse, Land besitzende und Tiere züchtende, Schicht des englischen Adels, mit diesem Projekt verband sich die englische Krone. (Raulff 2016, S 120)

Bei dieser Gewichtung wundert es nicht, wie systematisch die Zucht betrieben wurde. Das Stud Book von 1791 gilt als Adelskalender des englischen Vollbluts. Ein Aufschreibsystem, mit dem über Generationen die Erfolge der Kreuzungen vermerkt waren. Blood horses oder Thoroughbreds, also Vollblüter, wurden die englischen Pferde genannt, deren Stammbaum sich auf einen der drei legendären Araberhengste zurückführen liess, der bekannteste war «Godolphin Arabian».

Das Renn- und Wettfieber schwappte auf den Kontinent über, wo dem englischen Beispiel nachgeeifert wurde und zahlreiche Zuchten für Rennpferde entstanden. Im Gefolge des Pferdesports finden wir eine ganze Armada von Trainern, Züchtern, Reitern, Stallburschen und vieles andere mehr. Der Verschleiss an Pferden ist enorm, die hochgezüchteten und -trainierten Pferde sind oft nach zwei Saisons durch, will heissen auf dem Rennplatz wegen ihres lädierten Bewegungsapparates nicht mehr zu gebrauchen, und dazu ist das Verletzungsrisiko auf der Rennbahn hoch.

Die Organisation «Horse Death Watch» notiert alle auf britischen Rennbahnen getöteten Pferde. Beim Schreiben dieser Zeilen liegt die Zahl bei 1566, und das in einer Beobachtungsperiode von 10 Jahren![3]

Auf der Rennbahn euthanasierte Pferde stellen nur die Spitze des Eisbergs dar. Nach einer Studie von Herzog und Lindner (Herzog 1992), die in Deutschland 436 Rennpferde über 16 Monate beobachteten, wiesen 55.3% der Pferde nach der Beobachtungsperiode Erkrankungen des Bewegungsapparates auf, 11 Pferde kamen dabei ums Leben.

Der wirtschaftliche Faktor von Pferdesportveranstaltungen ist hoch zu gewichten. In der Schweiz werden bei rund 800 Veranstaltungen ein Umsatz von 86 Mio Franken[4] erzielt.

Und heute?

Das Ende der gemeinsamen Geschichte Mensch-Pferd schien mit dem Aufkommen des Automobils besiegelt. Doch selbst im Zweiten Weltkrieg wurde mehr Transportarbeit von Pferden geleistet als von Fahrzeugen.

Grasten 1950 noch 1.5 Mio Pferde in Deutschland, waren es 1970 nur noch 250000. Noch tiefer scheint der Fall, wenn man sich vor Augen hält, dass vor dem Ersten Weltkrieg 4 Millionen Pferde in Deutschland lebten. (Raulff, 2016, S 43)

So um die 1970er Jahre war der Schlusspunkt dann doch gesetzt. Das Pferd als Mittel zum Zweck hatte ausgedient. Flugzeuge sind schneller, Motoren leistungsfähiger, selbst in der Land- und Forstwirtschaft.

Was bleibt, sind Pferde in Sport und Freizeit. Während der Sportbetrieb sich grosso modo resistent gegen Veränderungen zeigt, ist doch die Freizeithaltung von Pferden ein neueres Phänomen. Das Bundesamt für Statistik zählte 2012 innerhalb der Schweiz 103’010 Equiden, also Pferde, Ponys, Kleinpferde, Esel, Maultiere und Maulesel. Tendenz steigend, mit einer jährlichen Wachstumsrate von 4%.

Sollte nun nach einer mehrtausendjährigen gemeinsamen Geschichte eine neue Pferdezeit anbrechen, in der das Pferd selbst zum Zweck erhoben wird? Oder anders gesagt: Sollte nun eine bessere Zeit für Pferde anbrechen, die mehr beinhaltet als die übliche ekstatische Hingezogenheit junger Mädchen zu ihnen?

Horsemanship

Das Zauberwort, der neue Weg um mit Pferden zu arbeiten, lautet «Horsemanship». Hinter diesem Begriff tummeln sich eine Vielzahl von Trainingsmethoden und -schulen, deren gemeinsamer Nenner das Versprechen ist, eine gewaltfreie Methode anzubieten, die auf der Basis einer gemeinsamen Kommunikation Mensch- Pferd aufgebaut ist. Weitere Merkmale sind, dass das Training sich nicht aufs Reiten beschränkt, sondern um die Arbeit vom Boden aus erweitert worden ist und auch, dass der das Pferd trainierende Mensch durch das Training sich persönlich entwickeln soll.

Zwei Protagonisten möchte ich herausgreifen, damit in groben Zügen erkennbar wird, was hinter Horsemanship steckt. Der eine ist Pat Parelli, der andere Monty Roberts. Die beiden stehen für zwei recht unterschiedliche Ausrichtungen.

Der ehemalige Rodeo-Reiter Parelli hat seine Methode angelehnt an die natürlichen Verhaltens- und Kommunikationsweisen von Pferden zusammen mit anderen entwickelt. Bekannt sind die «sieben Spiele», ein jedes beinhaltet ein Set von Übungen, zum Beispiel soll das Pferd im Spiel 2 lernen auf Druck mit der Schulter oder der Hinterhand zu weichen, in der nächsten Stufe, dem Spiel 3, soll der Druck lediglich über Körpersprache aufgebracht werden.

Parellis Methode heisst vor allem einmal üben. Eine reiche Ansammlung von Übungen, die einem strengen Aufbau folgen. Methodisch baut sie auf dem Prinzip der «negativen Verstärkung» auf. Druck wird stufenweise aufgebaut, bis das Pferd die gewünschte Reaktion zeigt, dann erfolgt ein Nachlassen.

Der Begriff «Horsemanship» wird bei Parelli mit «natural» ergänzt und unter dem Label «Parelli Natural Horsemanship» ist eine beachtliche Organisation geschaffen worden, die Franchising-Nehmer in vielen Ländern hat.

Die zweite Person, Monty Roberts, möchte ich etwas intensiver ausleuchten. Jahrgang 1935 wuchs er mit Pferden auf und ritt bereits als Kind auf zahlreichen Wettbewerben. In seinen biographischen Angaben taucht immer wieder das Wort Gewalt und Grausamkeit auf, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen die Gewalt, die er von seinem Vater ertragen musste, und zum anderen die, welche den Pferden angetan wurde.

Was mich gegen meinen Vater neben seiner Grausamkeit im Umgang mit Tieren ebenso aufbrachte, war seine Grausamkeit mir gegenüber. Er schlug mich mit Ketten. Ich landete im Krankenhaus, und meine Mutter bettelte, ich solle es als Unfall darstellen. (Roberts 2004, S 15)

Als Jugendlicher verbrachte Roberts viel Zeit bei der Beobachtung von wilden Mustangs und studierte deren Körpersprache. Die gewonnenen Erkenntnisse versuchte er in der Koppel umzusetzen um «rohe» Pferde einzureiten und stellte fest, dass er damit schneller ein Pferd zureiten konnte als sein Vater und sein Bruder. Deren «Methode» sah so aus: Die Pferde wurden an einen festen Pfahl angebunden, dann die Hinterbeine hochgebunden, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnten. Nun wurden sie verängstigt, indem man ihnen einen beschwerten Sack auf die Hinterhand schlug. Zeigten sie Widerstand und Furcht bei dieser Methode, wurden sie geprügelt. Das Verfahren dauerte ungefähr sechs Wochen und war dann zu Ende, wenn man über die am Boden liegenden Pferde gehen konnte, ohne dass sie die geringste Abwehrreaktion zeigten. Dann waren sie gebrochen.

Sein Vater liess sich nicht von Roberts Fortschritten überzeugen. Wann immer er damit anfing, riskierte er eine Tracht Prügel. – Trotzdem liess er nicht von seinen Beobachtungen ab und verfeinerte seine Methode. Durch Vorversuche ermutigt, war er 1952 überzeugt, er könne damit einen wilden Mustang einfangen und einreiten. Er sonderte «seinen Mustang» von der Herde ab und trieb ihn vor sich her, bis dieser klare Signale von sich gab, mit ihm in Kontakt zu treten und sich zu nähern. Es gelang Roberts, innert 24 Stunden, dass der Hengst so viel Nähe zuliess, dass es ihm gelang, ein Lasso um seinen Hals zu legen. In kleinen Schritten gewöhnte er ihn an einen Gurt, einen Sattel und am dritten Tag setzte er vorsichtig den Fuss auf den Steigbügel und verlagerte sein Gewicht darauf. Am nächsten Morgen ritt er ihn – und das alles alleine in der Wildnis, kein Zaun weit und breit.

Statt eines triumphalen Empfanges zuhause wurde er ausgelacht und als Lügner und Spinner bezeichnet. Niemand wollte ihm glauben, was ihm gelungen war.

Durch dieses Erlebnis und die Gewalt, die Pferden im elterlichen Betrieb widerfahren war, geprägt empfand es Roberts als seine Mission, seine gewaltfreie Methode, die er «Join-up» nannte, in die Welt zu tragen, indem er bis ins hohe Alter unermüdlich Vorführungen vor vielköpfigem Publikum veranstaltete. Er teilt sein Wissen gerne weiter, zum Beispiel hat eine seiner Schülerinnen, Kelly Marks, «Intelligent Horsemanship» gegründet, eine Bewegung, die gewaltfreie Methoden weiterentwickelt und gute Praxis ihrer Mitglieder fördert und verbreitet.

Die Join-up Methode findet in einem abgesperrten Kreis von 15 Metern Durchmesser statt, dem Round Pen. Der Mensch schickt das Pferd weg, indem er in eine treibenden Position schräg hinter dem Pferd tritt und mit einer Peitsche in die Luft schlägt oder ein Seil hinter dem Pferd auswirft. Das Pferd wird nun auf dem Zirkel einige Runden traben oder galoppieren. Wenn das Pferd sich auf den Menschen in der Mitte einlassen möchte, wird es dies durch klare Zeichen zeigen, wie z. B. ein Ohr zum Menschen wenden, oder den Kopf senken und lecken. Nun lädt der Mensch das Pferd körpersprachlich zu sich ein, nimmt eine entspannte Haltung ein und lobt es, wenn es kommt. Anschliessend schreitet der Mensch ruhig in Form von Achterschlaufen im Round Pen herum. Das Pferd, das sich nun ihm angeschlossen hat, wird ihm auf den Schritt folgen.

Monty argumentiert, dass das Pferd im Round Pen sich «frei» entscheiden könne, dem Menschen zu folgen, und dass dieses Verfahren dem natürlichen Verhalten in der Herde entspricht, wo eine Stute ein ungezogenes Fohlen nach aussen schickt. Es darf sich erst wieder nähern, wenn es die Lektion verstanden hat und dies körpersprachlich mit Zeichen der Unterwürfigkeit ausdrückt.

Aus heutiger Sicht wird das Join-up eher kritisch beurteilt. Fakt ist aber, dass Roberts damit eine Türe für gewaltfreie Trainingsmethoden geöffnet hat und mit seinen Konzepten ein breites Publikum erreicht hat.

Eigene Schritte

Nach der ersten Sömmerung auf der Alp brannte ich darauf, mit meinem Pferd zu arbeiten. Doch wurde ich bald schon arg eingebremst wegen einer Verletzung des Pferdes. Ich hatte sie kurz angebunden, an einem viel zu langen Seil. Unglücklicherweise bildete sich eine Schlinge um ihre Fessel, die sich umso mehr zuzog, als das Pferd sich zu befreien versuchte. Die Wunde sah erst nicht weiter schlimm aus, doch es entwickelte sich daraus eine Blutvergiftung und in der Fesselbeuge brach die Wunde immer wieder auf. So war Shiva über Monate ein Pflegefall. Als ich wieder an Arbeit und Training denken konnte, lag der Platz, wo sie untergebracht war, noch in tiefem Schnee. Das Gelände war steil, zum Üben denkbar ungeeignet. Dort versuchte ich mein erstes Join-up mit ihr zu machen. Ich warf das Seil und trieb Shiva vor mir her. Der abgesteckte Bereich war viel zu gross, sie verkroch sich jeweils in eine Ecke, ich hinterher um sie herauszuscheuchen. Ziemlich anstrengend, aber: nach einigen lebhaften Sprints richtete das Pferd die Ohren in meine Richtung und begann zu kauen, kam dann gar auf mich zu!

Wochen später wiederholte ich die Übung, diesmal in wesentlich geeigneterem Gelände. Zwar kein Round Pen, aber von einem kreisförmigen Drahtzaun abgegrenzt. Shiva rannte im Kreis eine Runde, eine zweite Runde, dann senkte sie den Kopf, leckte und kam ins Zentrum. Sie folgte anschliessend perfekt meinen Achterschlaufen. - Doch dann, in weiteren Settings, lenkte sie überaus schnell ein, sie lief höchstens eine halbe Runde, dann senkte sie den Kopf und kam ins Zentrum.

Ich realisierte, dass aus dem Join-up in kürzester Zeit eine «Übung» geworden war. Mein Pferd verstand das Ziel der Übung, nämlich dass ich wollte, es würde mir willig nachtrotten, also produzierte es dieses Verhalten ohne Umwege, damit die lästige Übung möglichst rasch vorüber ging.

Zeitsprung, einige Monate später. Wir nehmen an einem Kurs in Bodenarbeit von Alfonso Aguilar teil. Aguilar, ein früherer Mitarbeiter von Parelli, hatte sich von diesem losgesagt und seine eigene Methode entwickelt, die im Wesentlichen aus einem Katalog von Übungen bestehen, die aber wesentlich flexibler strukturiert sind. Beispielsweise besteht eine Station aus weichen Matten, über die eine Plastikfolie gelegt ist. Das Pferd soll vom Besitzer, der fix neben den Matten steht und es am langen Seil hält, dazu gebracht werden, über die Matten zu gehen. Für ein Pferd braucht dies einiges an Überwindung. Weichen, nachgebenden Untergrund mögen sie nicht, ebenso wenig Plastikbahnen, deren Flattern und Geräusche sie beunruhigen. Shiva ist wach und neugierig, sie beäugt die Station, bleibt stehen, wendet sich ab. Im nächsten Anlauf setzt sie einen Fuss auf die Matte und schon ist sie drüber. Von da an sind die Matten Peanuts und weitere Wiederholungen langweilen sie. – Bei einem anderen Posten soll eine Europalette bestiegen werden. Shiva weicht aus, verweigert sich. Aguilar versucht es selbst, sie verweigert immer noch. Mit einem Grinsen gibt er das Führseil zurück und meint: «Warum sollte sie auf die Palette steigen, wenn sie diese doch leicht umgehen kann!» - Die Bemerkung trifft voll ins Schwarze, und wird in den Jahren danach immer wieder bestätigt: Unser Pferd «studiert», sie muss einen Sinn hinter einer Übung sehen. Die Freude eines Hundes, der zum zehnten Mal ein geworfenes Aststück apportiert, will nicht aufkommen. Stattdessen gleitet ihre Aufmerksamkeit weg und sie zeigt Zeichen von Lustlosigkeit.

Ganz anders bei T.: Sein Schecke und er sind ein fortgeschrittenes Team. Aus Distanz kann er sein Pferd zu Seitwärtsschritten von ihm weg und zu ihm hin veranlassen, es achtet konzentriert auf seine Zeichen und auch schwierige Elemente führt es mit Leichtigkeit vor.

Am Tag darauf ist «Liberty» im Round Pen angesagt. Das Pferd ist dabei ohne Halfter und nicht angebunden. Der Besitzer steht in der Mitte und versucht es auf seine Signale hin in verschiedene Gangarten zu bringen und zu wenden. – Beim Schecken von T. , am Vortag noch das Vorzeigepferd, geht nun richtig die Post ab. Der Schecke springt und buckelt, er schlägt die Hufe in die Luft und – schlimmer – wendet sein Hinterteil in Richtung von T. und keilt aus. Aguilar, der Kursleiter, greift ein und bricht die Übung ab. Ganz anders bei unserem Pferd. Sie ist hellwach und lebendig, reagiert aber gut auf die Zeichen und lässt sich gut durch die Übung leiten. – Sie wird das einzige Pferd sein, das im freien Training im Round Pen kein aggressives, impulsives Verhalten zeigt.

Wie lässt sich dieser fundamentale Unterschied deuten? Unser Pferd zeigt sich auch ohne Strick und direkte Einflussmöglichkeit freundlich, es galoppiert und kann wilde Sprünge zeigen und mit den Hinterbeinen ausschlagen, richtet diese Waffen aber nicht gegen den Menschen in der Mitte. Bei den anderen Pferden scheint sich wie ein Ventil zu öffnen, das sonst sorgsam verschlossen ist. Aufgestaute Aggression bricht heraus und richtet sich gegen die Person in der Mitte. Der wildeste Tanz geht vom Schecken aus, der zuvor in den Übungen am Halfter brilliert hat.

Dieses Verhalten macht nachdenklich und wirft zugleich einen Schatten auf die Methoden von Horsemanship. Wie gern arbeiten Pferde auf diese Art? Entsteht so die vielbesungene Partnerschaft zwischen Mensch und Tier? Indem ein endloser Übungssyllabus durchgearbeitet wird?

Heute schaue ich Pferde anders an als damals. Über Beobachtung schärft sich das Erkennen ihrer Mimik. Und sie können ihre Befindlichkeit ganz gut ausdrücken. Verkniffene Lippen, kleine Augen mit der Stresskule darüber zeugen von innerer Anspannung, während ein entspanntes, gelöstes Gesicht mit kugeligen Augen Zufriedenheit ausdrückt; bestimmend ist aber immer der Gesamteindruck. Das mechanische Zuordnen von einzelnen Zeichen zu einer bestimmten Stimmung ist viel zu grob.

Beim Abspulen von Übungen sehe ich immer wieder Pferde, die einen Gesichtsausdruck haben, wie wenn sie weggetreten sind, die Lippen zusammengekniffen, die Augen starr. Selbst im Bewegungsmuster sind deutliche Unterscheidungen zu sehen. Hier ein Trab, bei dem alles schwer erscheint, das Pferd ist nicht ausbalanciert, die Bewegungen nicht rhythmisch. Im anderen Fall schwebt es förmlich über den Boden, die Bewegungen erscheinen leicht und harmonisch.

Pferde geben eindeutige Antworten, vorausgesetzt der Mensch versteht sie zu lesen. Bei vielen Übungen lautet sie nein, ja manche Pferde, die wie Zombies Übungen abspulen sind regelrecht übungsgeschädigt und traumatisiert.

Die gute Absicht der Horsemanship-Bewegung, nämlich gewaltfrei mit Pferden zu arbeiten, hat sich fatalerweise in ihr Gegenteil verkehrt. An die Stelle physischer Gewalt ist psychischer Druck getreten. Ein Pferd kann der zermürbenden Abfolge von Übungen nicht entrinnen, es stumpft ab. Dass ihm eine freie Entscheidung zugebilligt wird, ist eine Illusion. Entweder produziert es das Gewünschte oder der Druck aufs Pferd wird erhöht. – Die Berichte mehren sich, wo Besitzer ihre Pferde einem «Pferdeflüsterer» überlassen, der seine Problemverhalten wegkurieren soll, und die dann mit noch schlimmeren Symptomen zurückkommen.

Warum aber sind die unerwünschten Effekte bei den Protagonisten der Horsemanship-Bewegung offensichtlich nicht auszumachen? - Folgende Erklärung bietet sich an: Bei allen, ob sie nun Roberts oder Aguilar heissen, gibt es trotz unterschiedlicher Trainingskonzepte Gemeinsamkeiten. Zum einen vermitteln sie bei der Pferdearbeit auf dem Platz eine enorm hohe Präsenz. Sie sind mit allen Sinnen «da», die Konzentration ist beim Pferd, bei dem, was in diesem einen Augenblick geschieht und lassen sich durch nichts ablenken. Zum zweiten strahlen sie eine gelassene Ruhe aus, wie wenn ihre Haltung sagen würde: «Das bekommen wir schon hin!» Zum dritten können sie ein Pferd gut lesen, und damit sind sie ihm in ihren Interventionen einen entscheidenden Bruchteil einer Sekunde voraus. Wenn beispielsweise ein Pferd unsicher ist, ob es dem Menschen vor sich trauen kann, kommt es möglicherweise auf die Idee, vor ihm hochzusteigen um ihn zu testen. Erkennt man dies im Ansatz, bevor es steigt, macht der Trainer vielleicht einen Schritt zur Seite, und richtet es mit dem Führseil aus, durchkreuzt dessen Aktion und bringt das Pferd zu reagieren, nicht umgekehrt. Andernfalls diktiert das Pferd das Geschehen und der Mensch fällt in seinen Augen als Führer durch. - Der vierte Punkt ist die Unterscheidung zwischen Druck und Klarheit, welche gute Trainer mitten im Life-Geschehen zu treffen haben, was stets eine Gratwanderung ist.

[...]


[1] «Mentale Konzepte» wird in dieser Arbeit als fester Begriff verwendet, siehe Kapitel «Mentale Konzepte – Hintergrund und Tradition

[2] Auspeitschung für die Auspeitscher

[3] http://www.horsedeathwatch.com/

[4] Nach Hansueli Huber, Geschäftsführer Fachbereich Schweizer Tierschutz, 14.12.2015

Final del extracto de 71 páginas

Detalles

Título
Von der Pferdearbeit zu einem didaktischen Konzept
Subtítulo
Mentale Konzepte bei der Arbeit mit Pferden und im Unterricht
Autor
Año
2017
Páginas
71
No. de catálogo
V379769
ISBN (Ebook)
9783668571600
ISBN (Libro)
9783668571617
Tamaño de fichero
5014 KB
Idioma
Alemán
Notas
Die vorliegende Arbeit gibt in dichter Form geschrieben eine Einführung in die Pferdearbeit des Autoren und wie diese auf Schulsituationen, besonders bei schulmüden Jugendlichen eingesetzt werden kann. Die Form der Studie ist die eines Essays, welche im Rahmen einer Intensivweiterbidung am Gewerblichen Berufsschulzentrum GBS in St. Gallen entstanden ist. - Die Arbeit ist keine Semester- oder Diplomarbeit und daher unterliegt sie auch keiner Benotung.
Palabras clave
Kommunikation mit Pferden, Pferdetraining, Neue Konzepte in der Arbeit mit Pferden, Pferdeausbildung, Methodik, tiergestützte Arbeit, Mentale Konzepte, Haltungen, Haltungen erwerben, Tierethik, Didaktik, Training für Lehrpersonen, Sanfte Pferdearbeit, Pferde verstehen, Pferde und Selbstreflexion, Übertragung Tierarbeit auf Lehr-Lernsituationen, Förderung gefährdeter Jugendlicher
Citar trabajo
Alfred Cajacob (Autor), 2017, Von der Pferdearbeit zu einem didaktischen Konzept, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/379769

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