Der Begriff und die Funktion der Strafe in Nietzsches "Genealogie der Moral". Ist eine generelle Straflosigkeit für Gesellschaft, Opfer und Täter erstrebenswert?

Wie kann "Leidenmachen" Genugtuung bringen?


Essay, 2017

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Einordnung der Streitschrift Nietzsches „Zur Genealogie der Moral.“

Die Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes

Vergesslichkeit

Verantwortlichkeit und Gewissen

Schuld und Strafe

Macht, Gerechtigkeit und Straferleichterung, Straflosigkeit

Begriff und Funktion von Strafe

Begriffsklärung

Funktion

Ist generelle Straflosigkeit möglich beziehungsweise erstrebenswert?

Aus Sicht des Opfers

Aus Sicht der Gemeinschaft

Aus Sicht des Täters

Straflosigkeit gibt es nur gegen Unfreiheit

Literaturverzeichnis

Einordnung der Streitschrift Nietzsches „Zur Genealogie der Moral.“

Mit seiner Streitschrift „Zur Genealogie der Moral.“[1] beschreibt Friedrich Nietzsche die Entstehung und Interessengebundenheit von Moral[2]. Es geht in erster Linie nicht um die philosophische Auseinandersetzung mit ethischen Normen sondern um deren geschichtliche Herleitung. Gleichwohl geschieht das nicht historisch-wissenschaftlich, leidenschaftslos sondern – wie bereits der Untertitel „Eine Streitschrift“ vermuten lässt – im Kampf gegen unsere „moralischen Vorurtheile“[3].

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Nietzsche nicht nach einer philosophischen Begründung für Moral sucht. Es geht ihm nicht um die Frage, warum der Mensch so oder so handeln soll. Vielmehr fragt er nach dem geschichtlichen, kulturellen und auch psychologischen Ursprung von Moral mit dem Ziel, „zur wirklichen Historie der Moral“[4]

vorzudringen.

Die Figur der „Genealogie“[5] scheint sich seit Nietzsche zu einer eigenen stilistischen Methode entwickelt zu haben, in deren Form zwischen „Dekonstruktion“ und konstruktiver „Klärung und Legitimation moralischer Begriffe“[6] verschiedenste philosophische Untersuchungen wissenschaftlich akzeptabel sind. Weder der Begriff „Genealogie“ noch die entsprechende Methode wird in dieser Arbeit allerdings problematisiert.

Vorliegend geht es vielmehr darum, die kritische Position Nietzsches zur Strafe zu thematisieren, wie sie zum Beispiel in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt:

Ich werde dafür argumentieren, Bestrafung als kulturhistorische Errungenschaft anzusehen, die letztendlich selbst dem Täter zu Gute kommt. Es kann nach meiner Auffassung keine Rede davon sein, Straflosigkeit als Ausdruck der Größe oder gar „Luxus“ anzustreben. Denn das könnte nur auf Kosten bürgerlicher Freiheit geschehen.

Methodisch werde ich zunächst die Positionen Nietzsches in der zweiten Abhandlung zusammenfassen, um mich danach mit den dort gefundenen Thesen auseinanderzusetzen.

Die Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vergesslichkeit

Nietzsche beginnt die Zweite Abhandlung mit einer Diskussion über Vergesslichkeit, die er als Kraft zur positiven Hemmung versteht[8].

Unter dem Begriff „Vergesslichkeit“ fasst er zwei Eigenschaften des Gehirns zusammen:

- Einmal geht es tatsächlich um Vergessen, so wie wir es alltagssprachlich verstehen: das Entfernen von Gedankeninhalten aus dem Gehirn, „damit wieder Platz für Neues…“9 entsteht.
- Zum anderen meint „Vergessen“ aber wohl auch die Aussortierung von Sinneseindrücken, bevor sie überhaupt in unser Gedächtnis eindringen. Anders ist das Bild der Vergesslichkeit als Türwächter nicht zu verstehen: „Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen…“9.

Nietzsche behauptet weiter, der Mensch („dieses nothwendig vergessliche Thier“) habe sich sodann ein „Gegenvermögen“ für Fälle des Versprechens „angezüchtet“[9].

Versprechungen sind bei Nietzsche Verfügungen in die Zukunft. Er bringt sie in Verbindung mit einer Kette einzelner, geplanter Willensakte, die nur kraft des Nicht-Vergessens mindestens solange halten, bis sich der entsprechende Gesamtwille verwirklicht hat.

Da Nietzsche die Vergesslichkeit als ursprünglichen Naturzustand erkannt hat, braucht es nach seiner Auffassung Schmerzen und Qualen, um neben der Vergesslichkeit ein Gedächtnis zu entwickeln:

„Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun , bleibt im Gedächtniss“[10].

Verantwortlichkeit und Gewissen

Nietzsche definiert den Begriff der Verantwortlichkeit nicht explizit. Klar ist aber so viel: Die Vergesslichkeit wird für Fälle des Versprechens „ausgehängt“. Durch Übung und Gebrauch wird der Mensch „berechenbar gemacht“ und damit verlässlich. Er kann für sich und andere Verantwortung übernehmen, was laut Nietzsche ein Privileg des Menschen ist. Die Regelmäßigkeit, mit der das geschieht, entwickelt sich zum Instinkt, den Nietzsche „Gewissen“ nennt[11].

Schuld und Strafe

Persönliche Schuld leitet Nietzsche aus dem ökonomischem Tauschhandel ab[12].

Er bedient sich dabei einer ethymologischen Überlegung, indem er den moralischen Schuldbegriff vom Wort „Schulden“ ableitet12, das er ursprünglich im Handel und anderen kommerziellen Tätigkeiten des Menschen verortet. Das „Äquivalenz“-Prinzip des privaten Obligationenrechts findet sich nach Nietzsche eins zu eins im zivilen Deliktsrecht und gleichzeitig im staatlichen Strafrecht wieder.

Alle drei Rechtsgebiete werden von der Idee des Ausgleichs („Äquivalenz“) beherrscht:

- Das private Vertragsverhältnis begründet seit alters her die synallagmatische Beziehung von Leistung und Gegenleistung zwischen Gläubiger und Schuldner.
- Ein Austausch findet nach Nietzsche aber auch für den Fall statt, dass der Schuldner sein Leistungsversprechen an den Gläubiger nicht einhalten kann. Es kommt dann jedoch nicht zu einer Vorteilsausgleichung in „Geld, Land, Besitz irgendwelcher Art“. Vielmehr erwirbt der Gläubiger aufgrund der Verpfändung des Schuldners „Herren-Rechte“ über diesen: Er kann deshalb seinen Schuldner strafen, verachten und misshandeln. So wächst dem Gläubiger durch Machtausübung über den Schuldner ein Wohlgefühl zu[13].
- Im Strafrecht macht Nietzsche den Äquivalenzgedanken ebenso aus. Der Gesetzesbrecher sei:

[...]


[1] Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral.|Eine Streitschrift. Leipzig 1887. Digitale Kritische Gesamtausgabe (eKGWB).

[2] Raffnsøe, Sverre: Nietzsches Genealogie der Moral. Paderborn 2007. Seiten 25f.

[3] Nietzsche: Vorrede 2.

[4] Nietzsche: ibidem. Vorrede 7.

[5] Vergleiche dazu die Untersuchung von Foucault, Michel: Nietzsche, La Généalogie, L’Histoire. In Hommage à Jean Hyppolite. Paris 1971. Seiten 145 ff.

[6] Lotter, Maria-Sibylla: Die kritische Funktion der Genealogie. In Zeitschrift für Kulturphilosophie. Hamburg 2011. Seite 402.

[7] Nietzsch: ibidem. Zweite Abhandlung 10.

[8] Nietzsche: ibidem. Zweite Abhandlung 1.

[9] Nietzsche: ibidem. Zweite Abhandlung 1.

[10] Nietzsche: ibidem. Zweite Abhandlung 3.

[11] Nietzsche: ibidem. Zweite Abhandlung 2.

[12] Nietzsche: ibidem. Zweite Abhandlung 4.

[13] Nietzsche: ibidem. Zweite Abhandlung 5.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Der Begriff und die Funktion der Strafe in Nietzsches "Genealogie der Moral". Ist eine generelle Straflosigkeit für Gesellschaft, Opfer und Täter erstrebenswert?
Untertitel
Wie kann "Leidenmachen" Genugtuung bringen?
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
14
Katalognummer
V380307
ISBN (eBook)
9783668573604
ISBN (Buch)
9783668573611
Dateigröße
494 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nietzsche, Genealogie, Moral, Strafe, Genugtuung, Vergeltung, Straftheorie, wortbrüchig, vertragsbrüchig, Spezialprävention, Generalprävention, Belohnungszentrum, Rechtsanspruch auf Strafe, Beichtvater, Bußwerke, Pönitent, Gewissen, Tauschhandel, Herren-Rechte, Schuldner, Gläubiger, Leistungsversprechen
Arbeit zitieren
Götz-Ulrich Luttenberger (Autor:in), 2017, Der Begriff und die Funktion der Strafe in Nietzsches "Genealogie der Moral". Ist eine generelle Straflosigkeit für Gesellschaft, Opfer und Täter erstrebenswert?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/380307

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