Die Rolle der Liebe im Kontext der Selbstwerdung in ausgewählten Erzählungen Hermann Hesses


Examination Thesis, 2010

94 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhalt:

1.Einleitung:

2.Theoretische Vorüberlegungen und Begriffsklärungen:

3.Vorgehen:

4 Camenzind, Gertrud und Roßhalde – die Unfähigkeit, die eigene Libido anzunehmen und das Künstlerproblem
4.1 Camenzind:
4.2 Gertrud (1910):
4.3 Roßhalde – Unvereinbarkeit von Künstlertum und Liebe:
4.4 Zwischenergebnis – vor der Psychoanalyse:

5. Demian – Beginn der Psychoanalyse:

6. Siddharta – der Weg zur vollkommenen Liebe:

7. Der Steppenwolf – Kampf ums Ideal:

8. Narziß und Goldmund – Möglichkeit einer gelebten Liebe

9. Schlusswort:

10. Literatur:

1.Einleitung:

Die vorliegende Arbeit stellt sich die Aufgabe, die Rolle und Entwicklung der Liebe in ausgewählten Werken Hermann Hesses zu untersuchen. Dabei wird besonders ihre Funktion in Bezug auf die Jungsche Psychologie, die sich mit dem Problem der Selbstwerdung des Individuums beschäftigt, Beachtung finden und die Aufgabe, die der Liebe in dieser Selbstfindung des jeweiligen Protagonisten zukommt, geklärt werden. Ich werde zeigen, dass die Liebeserfahrungen ein essentieller Bestandteil auf dem Weg des Individuums zu sich selbst sind und ihnen als solche ein hoher Stellenwert in den Werken zukommt. Dabei werden die ersten drei behandelten Werke, Camenzind, Gertrud und Roßhalde eine Sonderstellung einnehmen, da sie noch nicht auf dem Hintergrund der Psychoanalyse entstanden sind. Gerade in der Behandlung der Liebe in diesen Werken und durch die Kontrastierung zu den Späteren wird es deutlich, welch große Fortschritte Hesse durch die Psychoanalyse gemacht hat und wie sich dadurch seine Einstellung, bzw. seine Darstellung der Liebe weiterentwickelt.

2.Theoretische Vorüberlegungen und Begriffsklärungen:

Die Wahl dieses Interpretationsrahmens für die Untersuchung der Liebesdarstellungen erfolgt aus folgenden Überlegungen. Die Bedeutung der Jungschen Psychologie für Hermann Hesse ist schon mehrfach untersucht worden und es wurde gezeigt, dass seine Werke ab „Demian“ mittelbar und auch unmittelbar von den Ideen und Begriffen Jungs geprägt wurden.[1] Die Aneignung dieser psychologischen Prägung erfolgt im Rahmen zahlreicher Sitzungen, die er mit dem Psychologen Dr. Lang, einem Schüler Jungs, nach einer Lebenskrise abhält, die Hesse 1916 durchlebt.[2] In diesem Jahr stirbt sein Vater, sein Sohn Martin ist schwer krank und die Entfremdung von seiner Ehefrau Maria Bernoulli nimmt für ihn nicht mehr erträgliche Ausmaße an, letztlich muss sie in eine Nervenklinik, da sie an Schizophrenie leidet.[3] Dem Entschluss, sein Leben zu ändern, folgt die Psychoanalyse bei Dr. Lang, der ihm helfen soll, seine innersten Konflikte zu erforschen, um dann eine Entscheidung über die Art seines weiteren Lebens treffen zu können.[4] Die Ergebnisse und Erkenntnisse, die Hesse in den Gesprächen zuteilwerden, verarbeitet er in seinen Werken, von denen ich hier jene untersuche, die für die Analyse der Liebe relevant sind. Es wird deutlich werden, dass man den Erfahrungen der Protagonisten in der Liebe eindeutige Rollen im Bezug auf ihre psychologische Entwicklung, hin zu sich selbst, zuteilen kann. So werde ich zeigen, welche Bedeutung Hesse der Liebe und ihren Spielarten in dem Prozess der Selbstwerdung zuschreibt.

Zunächst müssen jedoch einige Grundzüge und Begriffe des psychologischen Entwicklungsmodells Jungs erläutert werden, die später häufig auftreten werden. Zentrales Anliegen seiner Psychologie ist die „Individuation“.[5] Dies ist der Prozess, in dem ein Individuum lernt, Mängel seines eigenen Wesens, archetypische Vorstellungen und auch Erlebniskomplexe, die zunächst unbewusst oder in die Außenwelt projiziert sind, als natürlich Teile des eigenen Selbst anzunehmen und so einen höheren Grad an innerem Einheitsgefühl zu erlangen.[6]

Indem ein Individuum Teile seiner eigenen Psyche, die es in die Außenwelt, etwa in andere Personen, projiziert hat, als solche erkennt, wird es fähig, diese zu „assimilieren“, d.h. sie als zu sich gehörend zu akzeptieren und so nach und nach ein immer vollständigeres Selbstbild zu erreichen.[7] Je vollständiger dieses Bild, desto größer ist das Gefühl der inneren Ganzheit.

Jung unterteilt die Psyche in verschiedene Komponenten. Den Teil, den wir nach außen tragen und unserer Umwelt präsentieren nennt er das „Ich-Bewusstsein“, also den Teil, den wir meinen, wenn wir von „Ich“ sprechen, bzw. uns Gedanken darüber machen. Um uns nun weiterzuentwickeln, muss sich unser Ich-Bewusstsein mit verschiedenen archetypischen Figuren auseinandersetzen, d.h. es muss sich der Projektion bewusst werden, sie als eigenen Teil erkennen um ein besseres Bild des eigenen Selbst zu bekommen.[8] Diese Figuren nennt Jung „Archetypen“ und sieht in ihnen Urbilder, die allen Menschen innewohnen, und in denen Grunderfahrungen der Erfahrungswelt der Spezies Mensch angelegt sind.[9] Archetypen ruhen daher auch im „kollektiven Unbewußten“, einem Teil der Psyche, in dem, laut Jung, eben diese basalen Erfahrungen bereits angelegt sind.[10] Jung unterscheidet nun verschiedene Archetypen, deren Projektionen wir assimilieren müssen um nach und nach immer tiefer in die eigene Psyche und ihre Bedürfnisse und Antriebe vorzudringen.

Der erste Archetyp, mit dem sich das Ich-Bewusstsein gewöhnlich auseinanderzusetzen hat, ist der „Schatten“. Er stellt die Teile unseres Selbst dar, die wir häufig als nicht zu uns gehörig anerkennen wollen und die doch zu uns gehören. Etwa Handlungsimpulse, die aus Zorn, Angst oder Habsucht entstehen, gehören hierher. Durch die Verzweiflung, die ein Individuum in der Auseinandersetzung mit seinem Schatten erfahren kann, kommt es in eine Situation, in der eine psychische Weiterentwicklung möglich ist.[11] Es kann hier seine eigentlichen Bedürfnisse erkennen und so Entscheidungen für eine Verbesserung der Situation treffen, um in Zukunft diese Situationen zu vermeiden oder die Einstellung dazu und das Verhalten ändern.

Ein weiterer Archetyp ist die „Anima“ für den Mann und der „Animus“ für die Frau. Sie stellen jeweils die Aspekte der Psyche dar, die vordergründig eine untergeordnete Rolle in der Bewältigung des Lebens spielen. Nach Jung steht die Anima für die weibliche, nicht auf Ratio sondern auf Eros ausgerichtete Seite des Mannes, der sein Leben sonst in der rationalen Auseinandersetzung bewältigen will. Umgekehrt steht der Animus der Frau, die im Leben eher von der emotionalen Seite des Eros beeinflusst ist, für die Ratio.[12] Das Individuum muss nun seine eigene Dualität erkennen und akzeptieren, dass ihm beide Prinzipien innewohnen, sowohl das Weiblich als auch das Männliche. Nach der Assimilierung dieser Archetypen ist eine Annäherung an das „archetypische Selbst“ möglich:

„Das Selbst ist nach Jung am tiefsten im kollektiven Unbewußten vergraben und manifestiert sich deshalb erst nach der Auseinandersetzung mit den übrigen Archetypen. Das Selbst besitzt einen Doppelaspekt: Das Selbst vermittelt die Erfahrung des tiefsten und innersten Kerns der Psyche und gleichzeitig das Erlebnis von deren Einheit und Ganzheit.“[13]

Durch die unterschiedlichen Archetypen ist es dem Individuum möglich, bis zu seinen Innersten Bedürfnissen und Regungen vorzudringen, das eigene Wesen zu erkennen. Das archetypische Selbst steht somit am Ende des Individuationsprozesses als Erkenntnis des Innersten der eigenen Psyche. Die Erkenntnis dieses Selbst durch das Ich-Bewusstsein wird als eine „umwälzende innere Erfahrung […] als ein Wiedergeburtserlebnis oder eine Gotteserfahrung empfunden.“[14] Die Ahnung des innersten Kerns der eigenen Psyche lässt das Individuum sich selbst vollkommene Einheit erfahren. Diese Ganzheit wird religiös als Einheit mit Gott und der Schöpfung gedeutet. Die Annäherung und Erkenntnis des Selbst kann jedoch immer nur vorläufig sein. Es muss nach der Assimilierung eines Archetyps immer eine Abgrenzung des Ich-Bewusstseins von diesem stattfinden, bei welcher er als Teil und Möglichkeit zur Annäherung an das Selbst erkannt wird, der Unterschieds zwischen Ich-Bewusstsein und Selbst jedoch gewahrt bleibt.[15] Es ergeben dich daraus Zyklen der Individuation, in denen das Gefühl der inneren Einheit mit zunehmender Assimilierung der Projektionen wächst:

„Die Assimilation der Projektionen […] hebt die zunächst unbewußte kollektive Verhaftung des einzelnen auf, ermöglicht psychisches Wachstum und schafft die Möglichkeit eines bewußten und reflektierten Umgangs mit innerseelischen Antrieben, Bedürfnissen und Dispositionen […].“[16]

Das Individuum kann so lernen, die Signale aus der eigenen Psyche zu erkennen und deuten um die den individuellen Bedürfnissen entsprechend beste Ausrichtung des Lebens zu erreichen.

Für diese Arbeit wird besonders die Frage wichtig sein, welche Archetypen in den Personen verkörpert sind, mit denen Liebeserfahrungen gemacht werden, wie sich der Umgang mit diesen gestaltet und welche Aussagen man daraus über die Individuation der jeweiligen Person ableiten kann, bzw. wie sich der Umgang mit der Liebe in der Individuation widerspiegelt.

3.Vorgehen:

Um die Rolle der Liebe in den Werken Hesses zu analysieren, werde ich zunächst eine kurze Einzeluntersuchung der Rolle der Liebe auf der inhaltlichen Ebene jedes Werkes vornehmen, um dann diese Rolle in Bezug auf den Individuationsprozess des, bzw. der, Protagonisten zu deuten. In den ersten drei Werken wird die Deutung weniger auf die Psychoanalyse rekurrieren, da sie auf diese noch keinen Einfluss nahm. Es wird jedoch die Ausgangsproblematik in Bezug auf die Liebe und damit auch auf die Individuation deutlich. Nach der Untersuchung aller Werke werde ich die Gesamtentwicklung der Liebe in Bezug auf die Individuationsproblematik und damit ihre Bedeutung im Werk Hesses aufzeigen.

4 Camenzind, Gertrud und Roßhalde – die Unfähigkeit, die eigene Libido anzunehmen und das Künstlerproblem

4.1 Camenzind:

Die Erzählung Camenzind begründet Hesses literarischen Erfolg und sichert ihm einige Jahre sein finanzielles Auskommen für ihn und seine Frau Maria Bernoulli, die er 1904 in Basel heiratet, auch wenn ihm der Gedanke einer Ehe kurz zuvor noch Unbehagen einflößt:

„Ich kann aber in dieser Sache mich einstweilen zu nichts entschließen, da ich zunächst noch zu arm an Gelde bin und auch vor dem heiraten ein unbestimmtes Grauen habe.“[17]

Wie sich später zeigen wird, ist die Sorge Hesses bezüglich der Heirat nicht ganz unbegründet.

Der Titelheld des 1904 erschienen Romans, Peter Camenzind, wächst in einem Bergdorf namens Nimikon auf und erlebt seine Kindheit isoliert in der bäuerlichen Welt dieses Dorfes. Beim Verlassen der dörflichen Gemeinschaft um in eine höhere Schule zu gehen, findet er sich unter der städtischen Bevölkerung jedoch schnell als Außenseiter wieder und flüchtet sich in die Natur; die Umgebung, die ihm seit seiner Kindheit vertraut ist.[18]

In der Stadt erfährt er auch zum ersten Mal das Aufkeimen der Liebe:

„Mit siebzehn Jahren verliebte ich mich in eine Advokatentochter. Sie war schön, und ich bin stolz darauf, daß ich mein Leben lang immer nur in sehr schöne Frauen verliebt war. Was ich um sie und andere litt, erzähle ich ein andermal. Sie hieß Rosi Girtanner und ist heute noch der Liebe ganz anderer Männer, als ich bin, würdig.“ (I, 239)[19]

Camenzind deutet hier bereits an, was sich in seinem Leben als Konstante erweisen wird: das Leiden an der Liebe. Diesen neuartigen Gefühle versucht er in zaghaften Dichtversuchen Ausdruck zu verleihen, die von seiner Lektüre Heines, Lenaus, Schillers und Goethes beeinflusst sind (Vgl. I, 240). Durch diese Einflüsse entwickelt er eine Liebesvorstellung, die überhöht und realitätsfern romantisch ist und die ihm eine Annehmen seiner eigenen sinnlichen Wesenszüge im Verlauf der Erzählung unmöglich machen wird. Dies bestätigt Camenzind selbst zu Beginn des zweiten Kapitels:

„Um von der Liebe zu reden, darin bin ich zeitlebens ein Knabe geblieben. Für mich ist die Liebe zu Frauen immer ein reinigendes Anbeten gewesen, eine steile Flamme meiner Trübe entlodert, Beterhände zu blauen Himmeln emporgestreckt. Von der Mutter her und auch aus eigenem, undeutlichem Gefühl verehrte ich Frauen insgesamt als ein fremdes, schönes und rätselhaftes Geschlecht, das uns durch eine angeborene Schönheit und Einheitlichkeit des Wesens überlegen ist und das wir heilig halten müssen, weil es gleich Sternen und blauen Berghöhen uns ferne ist und Gott näher zu sein scheint. Da das rauhe Leben seinen reichlichen Senf dazu gab, hat die Frauenliebe mir so viel Bitteres als Süßes eingebracht; zwar blieben die Frauen auf dem hohen Sockel stehen, mir aber verwandelte sich die feierliche Rolle des anbetenden Priesters allzuleicht in die peinlich-komische des genarrten Narren.“ (I, 242)

In seiner romantisierten Sicht der Frauen erhöht Camenzind sie, sieht in ihnen erhabene Wesen, die er zwar aus der Ferne anbeten kann, sie jedoch nicht erreichen kann und mit ihnen umzugehen vermag. Es wird sich zeigen, dass diese Unzulänglichkeit, sich dem weiblichen Geschlecht gegenüber angemessen zu verhalten hauptsächlich darauf beruht, dass Camenzind seine Libido nicht anerkennen und sie hin zu einem normalen, respektvollen Umgang mit Frauen kultivieren kann. In dem Zitat wird deutlich, dass er sie idealisiert, vergöttlicht und sie damit nicht der niederen Triebe, bzw. solchen, die er als dunkel und animalisch empfindet, angemessen sieht, die er ihnen gegenüber empfindet. Auch die Sprachebene des Zitats reflektiert dies recht gut. Die poetische Schilderung der Apotheose der Frauen wird mit dem weltlichen Einfluss des „rauhen Lebens“ kontrastiert und zeigt so den Konflikt, in dem sich der Protagonist befindet.[20]

Die Art und Weise, auf die Camenzind seine Liebe ausdrückt, zeigt seine Knabenhaftigkeit. Er widmet Rösi auf einem Heimaturlaub Bergbesteigungen, Seeüberfahrten und dergleichen, ohne dass sie etwas davon oder auch von seinen Gefühlen weiß (vgl. I, 243f). Eine seltene Blume, die er im Gebirge extra für sie pflückt und ich schenken will, legt er bei Nacht an ihr Haus, als Liebesbeweis, von dem sie allerdings nie wissen wird, von wem er kam. In ähnlicher Weise wie er zuvor über Frauen redet, kommentiert er nun diesen Liebesdienst:

„Niemand sah mich, und ich erfuhr nie, ob Rösi meinen Gruß zu sehen bekommen hatte. Aber ich war an Flühen geklettert und hatte mein Leben gewagt, um einen Zweig Rosen auf die Treppen ihres Hauses zu legen, und darin lag etwas Süßes, Traurigfrohes, Poetisches, das mir wohl tat und das ich noch heut empfinde. Nur in gottlosen Stunden scheint es mir zuweilen, als sei jenes Rosenabenteuer so gut wie alle meine späteren Liebesgeschichten eine Donquichotterie gewesen.“ (I, 246)

Anstatt Rösi seine Gefühle zu zeigen und um sie zu werben, sublimiert er seine Gefühle in Handlugen, die an seiner Situation nichts ändern werden und keinerlei Aussicht auf Erfolg haben. Das Tragischschöne dieser Taten kann ihn zwar teilweise befriedigen, da er seinem Bedürfnis, der Liebe Ausdruck zu verleihen, nachkommen kann. Dennoch kann er die Chancenlosigkeit nicht vor sich verheimlichen, wenn er seine romantisierte Deutung einmal ablegt und sich der Realität dahinter bewusst wird.

Später in der Erzählung, bei seinem Studium in Zürich, trifft er mit seinem Freund Richard, der ihn in die studentischen und Künstlerkreise einführt, auf Mädchen seines Alters und seine idealisierte Vorstellung von Frauen wird deutlich: „[…] die Mädchen aber waren praktisch, klug und gerissen, und nirgends war etwas von dem verklärenden Duft zu merken, in welchem ich die Frauen gerne sah und verehrte“ (I, 264). Camenzinds Bild ist poetisch überhöht und er kann mit realen Frauen aus diesem Grund nicht umgehen. Er ist in seinen Vorstellungen gefangen und bringt seine Erfahrungen aus dem realen Umgang nicht in diese Idealisierungen ein um ein Bild zu schaffen, das der Realität entspricht und ihm Handlungsmöglichkeiten eröffnen würde. In Zürich lernt er auch die Malerin Aglietti kennen, in die sich Camenzind verliebt und in der er eine Steigerung seiner Schwärmerei für Rösi Girtanner sieht, die ihm „nur wie eine Vorbereitung auf den heutigen Augenblick“ erscheint (I, 270). Nach der Verabschiedung von der Malerin wird Camenzind auf einem Hügel, auf den er spaziert ist, von seiner entfachten Leidenschaft überwältigt:

„Und wie der Wind die Äste der Obstbäume und die schwarzen Kronen der Kastanien liebkoste, bestürmte und beugte, daß sie stöhnten und lachten und zitterten, so spielte mit mir die Leidenschaft. Auf dem Kamm des Hügels kniete ich, legte mich auf die Erde, sprang auf und stöhnte, stampfte den Boden, warf den Hut von mir, wühlte mit dem Gesicht im Gras, rüttelte an den Baumstämmen und weinte, lachte, schluchzte, tobte schämte mich, war selig und todbeklommen.“ (I, 271)

Es ist offensichtlich, dass er seinem sinnlichen Begehren nach der Frau keinerlei Kontrollinstanz oder Führung durch seine Vernunft oder Erfahrung zur Seite stellen kann, die einen angemessenen Umgang mit seinem Verlangen ermöglichen würde und ihm die Möglichkeit zur Handlung hin zur Erfüllung seiner Wünsche, im Rahmen der sozialen Gegebenheiten und Umgangsformen, geben könnte. Der Vergleich mit den Ästen der Obstbäume, die willenlos der Kraft des Windes ausgesetzt sind, verdeutlicht die Wehrlosigkeit Camenzinds gegenüber seiner sinnlichen Seite noch und zeigt, dass für ihn die Ratio keinerlei Einfluss auf seine unbewussten Triebregungen hat. Camenzind hat nie gelernt, seine triebhafte Seite als einen natürlichen Teil von sich anzunehmen, in Jungschen Termini kommt er nie dazu, seine Anima zu assimilieren und in sein Selbst zu integrieren. Auch wenn Jungs Psychologie hier noch keinen Einfluss auf Hesse hatte, so würde die Interpretation von Camenzinds Unvermögen, seine sinnliche Seite zu akzeptieren, als Neurose, die durch eine nichtassimlierte Anima zustande kommt, sicher treffend sein.

In einer letzten Episode nimmt er dann letztlich Abschied von der Idee, dass es für ihn eine erfüllende Liebe geben könne. Auf einem Fest rudert er nachts mit Frau Aglietti auf einen See hinaus, mit dem Hintergedanken, ihr seine Liebe zu gestehen. Im Verlauf des Gesprächs erzählt sie ihm jedoch, dass sie einen bereits vergebenen Mann Liebe und Peters Hoffnungen sind somit zunichte gemacht (Vgl. I, 275f). Dennoch erfährt er nie, wie die Reaktion gewesen wäre, hätte er ihr seine Liebe gebeichtet. Interessant ist, dass Frau Aglietti selbst die Rolle der Liebe nennt, die sie bisher auch für Peter gespielt hat:

„Ach, die Liebe ist nicht da, um uns glücklich zu machen. Ich glaube, sie ist da, um uns zu zeigen, wie stark wir im Leiden und Tragen sein können“ (I, 276).

Für Camenzind wird die Liebe tatsächlich meist im Leid bestehen. Dies hängt damit zusammen, dass er sein romantisches Ideal nie aufgibt, welches ihn die Frauen, die er liebt, nicht so sehen lässt wie sie sind, sondern er immer ein verklärtes Bild behält. Sein Ideal hält ihn davon ab, zu erkennen, welche Frau tatsächlich für ihn in Frage käme für eine erfüllende, gegenseitige Liebe. Dies erkennt er selbst, handelt jedoch nie danach:

„Übrigens gibt es nichts Erfolgloseres als das Nachdenken über jemand, den man liebt. Solche Gedankengänge sind wie gewisse Volks- und Soldatenlieber, worin tausenderlei Dinge vorkommen, der Refrain aber hartnäckig wiederkehrt, auch wo er durchaus nicht paßt“ (I, 273) Er ist sich bewusst, dass seine Beobachtungen, gewissermaßen die Strophen, ein anderes Bild, evtl. ein Realeres, Ausbalanciertes, zeichnen als das, was er in der Frau sieht und das trotzdem immer wiederkehrt, das Ideal, der Refrain. Camenzind meidet Frau Aglietti fortan, leidet aber weiter unter dem Verlangen nach ihr:

„Aber kein Tag ging ganz ohne Leid vorbei. Manchmal überfiel es mich nachts im Bette, daß ich stöhnte und mich bäumte und spät in Tränen entschlief. Oder erwachte es, wenn ich der Aglietti begegnet war.“ (I,279)

Mit dem Tod seines Freundes Richard sieht Camenzind seine Jugend abgeschlossen und das woran er glaubte, gescheitert:

„Das war die Geschichte meiner Jugend. […] Es wäre an mir gewesen, die harte Probe zu bestehen, mich nach den Sternen zu richten und auf neuer Fahrt um den Kranz des Lebens zu kämpfen und zu irren. Ich hatte an die Freundschaft, die Frauenliebe, an die Jugend geglaubt. Nun sie mich eine um die andere verlassen hatten, warum glaubte ich nicht an Gott und gab mich in seine stärkere Hand?“ (I, 291f)

Im ersten Teil des Zitats erkennt er, was seine Aufgabe wäre, nämlich sich weiter um die Dinge bemühen, an die er glaubt und die ihm wichtig sind. Er erkennt nicht, dass die Frauenliebe nicht gescheitert ist, sondern er sie vielmehr noch nicht einmal ansatzweise versucht hat, zu leben, da er in ständiger Passivität verharrt, und lediglich unter seinen Trieb- und Gefühlsregungen leidet, ohne jedoch den Versuch zu unternehmen, sie in sein Wesen und Leben zu integrieren. Sie bleiben ihm fremd. Dass er sich nicht in Gottes Hand geben kann, also einfach dem Lauf der Dinge folgen, ohne ihn beeinflussen zu wollen, gründet in einer weiteren Einsicht über sein Leben, die er nie sinnvoll umsetzten wird:

„Aber ich war zeitlebens zag und trotzig wie ein Kind und wartete immer auf das eigentlich Leben, daß es im Sturm über mich käme, mich verständig und reich machte und auf großen Flügeln einem reifen Glück entgegentrüge.“ (I,292) Er sieht, dass sein Leben bisher im Warten auf das Glück bestand, dass es ihm das Glück zutragen würde, ohne dass er dies durch eigenes Handeln beeinflussen müsste. Aber gerade in seinen bisherigen Liebeserfahrungen hat sich gezeigt, dass auf diese Weise nur das Leid vermehrt wird. Aus dieser Grundhaltung heraus ist es auch zu verstehen, weshalb Camenzind nie einen Versuch unternimmt, sich einer Geliebten so zu nähern, dass sie seine wahren Gefühle erkennt. Und auch das Unvermögen, sich mit seiner Sexualität auseinanderzusetzen gründet auf dieser Passivität, die ihn zwar seine Triebe wahrnehmen, aber keine Handlungen folgen lässt, da er auf eine Lösung durch eine äußere Kraft wartet, die aber eben genau in dieser Problematik von ihm selbst kommen müsste. Frauen könnten ihm dabei zwar helfen, wie sich in später etwas in Siddharta oder Der Steppenwolf zeigt, aber die Grundbereitschaft zur Annahme dieses Wesenszuges muss von ihm selbst ausgehen.

Auch ein Arzt, den er kurz später aufsucht, bestätigt die Problematik von Camenzinds Haltung, der aufgrund seines mangelnden Kontakts zu seinen Mitmenschen unter einer konstanten Traurigkeit leidet, und rät ihm, mehr unter Menschen zu gehen, da er sonst gefahrlaufe, „menschenscheu“ zu werden (Vgl. I, 296).

Später findet Camenzind sich häufig in einer Intellektuellen- oder zumindest einer Künstlergesellschaft ein, bei der er das Mädchen Elisabeth trifft, der er von seinen Wanderungen und Naturerlebnissen erzählt. Es zeigt sich, dass er seine Abwendung von der sozial lebbaren Liebe tatsächlich verfolgt:

„Ich saß still daneben, betrachtete die schöne Segantiniwolke und das schöne von ihr entzückte Mädchen. Dann fürchtete ich, sie möchte sich umwenden, mich sehen und anreden und ihre Schönheit wieder verlieren, und ich verließ den Saal schnell und leise.“ (I, 308)

Er sieht in ihr nach wie vor nur, was er sehen möchte, sein Ideal, und bemüht sich nicht mehr um die Realität, die sich ihm aufdrängen würde, würde das Mädchen zu ihm sprechen und ihre Persönlichkeit offenbaren. In diesem Zusammenhang ist auch die erstarkende Liebe zur Natur zu verstehen:

„Um jene Zeit begann meine Freude an der stummen Natur und mein Verhältnis zu ihr sich zu verändern. […] Ich sah immer wieder die Wälder und Berge, Matten, Obstbäume und Gebüsche stehen und auf irgendetwas warten. Vielleicht auf mich, jedenfalls aber auf die Liebe. Und so begann ich diese Dinge zu lieben. Es kam ein starkes, dürstendes Verlangen in mir ihrer stillen Schönheit entgegen. Auch in mir drängte ein tiefes Leben und Sehnen dunkel empor und suchte nach Bewußtsein, nach Verstandenwerden, nach Liebe.“ (I, 308)

Es scheint, als sublimiere er seine Liebe zu Frauen, die er bereits als aussichtslos angenommen hat, in der Liebe zur Natur. Gewissermaßen ersetzt er die Projektionsfläche, die er in den Frauen bisher gesucht hat, durch eine Neue, die es ihm leichter macht, da er hier keine Zurückweisung fürchten muss. Auch kann er sein eigenes Bedürfnis, geliebt zu werden, hier eingestehen, da auf der Ebene der Naturliebe seine geschlechtlichen Bedürfnisse keine Rolle spielen und er sie aussparen kann. In seinen Betrachtungen der Natur und ihren zahlreichen Erscheinungen, glaubt er die „Töne Gottes Sprache“ zu finden, auch wenn er sie nicht verstehen kann (Vgl. I, 308f).Nach dem Jungschen Deutungsmuster wären diese Töne die Bedürfnisse des Selbst, die Camenzind ahnt, aber nicht erkennen kann, da er essentielle Teile seines Selbst nicht annehmen kann.

Spät, einige Jahre später, kommt Camenzind zu der Erkenntnis, dass er sich durch seine Naturliebe von den Menschen entfernt und fasst den Entschluss, sich diesen doch wieder zu nähern. Er erinnert sich an Elisabeth und beschließt, sie aufzusuchen, um sie zu seiner Frau zu machen: „Jetzt glaubte ich, mein Schicksal zu erkennen, das mir in der Möglichkeit einer Liebesehe die Brücke zur Menschenwelt schlagen wollte“ (I, 313). Er ist nach wie vor so sehr auf sich selbst bezogen, dass er die Möglichkeit einer Ablehnung Elisabeths gar nicht in Betracht zieht. Auch seine Verfangenheit in dem alten Idealbild kommt deutlich zum Ausdruck, nur dass er dieses Mal den Entschluss fasst, Elisabeth zu diesem umzuformen:

„ […] sie würde von mir das überall schlummernde Schöne sehen lernen, und ich würde sie so mit Schönem und Wahrem umgeben, daß ihr Gesicht und ihre Seele alle Trübungen vergäße und sich zur Blüte ihrer Fähigkeiten entfalten könnte.“ (I, 313)

Es ist offensichtlich, dass er einer Ehe nicht fähig ist, da er in Elisabeth nicht eine Frau sieht, die er liebt und annimmt wie sie ist, sondern sie erst seinem Ideal anpassen möchte. Die Ankündigung, dass Elisabeth bereist einen Anderen heiraten wird, lässt Camenzind sein Vorhaben vergessen, sich in das soziale Leben der Mitmenschen integrieren zu wollen und er geht auf Wanderschaft in sein Heimatdorf, um seinen Vater zu besuchen (Vgl. I, 314). Allein die Parallelstruktur der Episoden von Frau Aglietti und Elisabeth zeigt die Stagnation in der Entwicklung des Protagonisten, welcher der Umwelt seine Deutung überstülpt und erwartet, dass sich diese auch entsprechend verhält, anstatt sich mit den sozialen Gegebenheiten vertraut zu machen und zu versuchen, innerhalb diesen auf seine Ziele hin zu agieren.

Dennoch fühlt er weiterhin die Notwendigkeit der Liebe in seinem Leben:

„Wohl wußte ich, daß aller Güter Freude und Kern die Liebe sei und daß ich beginnen müsse, trotz meines frischen Schmerzes um Elisabeth die Menschen ernstlich liebzuhaben. Aber wie? Und wen?“ (I, 317) Er richtet sein Liebesbedürfnis zunächst an seinen Vater, den er fortan pflegen und ihm zur Seite stehen will, dem dies aber eigentlich zuwider ist. Camenzind entschließt sich, nach Italien zu reisen, um dort seine geschichtliche Studien weiterzuverfolgen. Dabei überwindet er scheinbar seinen Liebesschmerz und findet sich mit seinem Dasein ab:

„Nun ging mir allmählich der Blick für den Humor des Lebens auf, und es schien mir immer möglicher und leichter, mich mit meinen Sternen zu versöhnen und mir von der Tafel des Lebens noch den einen oder anderen schönen Bissen zu gönnen.“ (I, 324)

Er versöhnt sich mit seinen Erfahrungen in der Liebe und akzeptiert die Aussicht, dass er auch fortan enthaltsam leben wird und sich auf das Schöne, das ihm bleibt, konzentriert. Dies ist zwar eine generelle Steigerung seines Wohlbefindens, aber es versperrt jede Möglichkeit, sich doch noch mit den triebhaften Seiten des Selbst auseinanderzusetzen und sein ganzes Wesen erfahren zu können. Dass er hier auch das Heiratsangebot seiner Gastwirtin ausschlägt, deute ich so ,dass er noch zu sehr an Elisabeth gebunden ist, was sich bald zeigt, und diese Frau für ihn daher nicht in Frage kommt und keinen wichtigen Schritt in seiner (Nicht-)Entwicklung spielt (vgl. I, 323). Seine Antwort, mit der er wohl auch das Angebot abschlägt, er liebe keine Frauen mehr, sondern den heiligen Franz, der ihn lehre, alle Menschen gleichermaßen zu lieben, zeichnet tatsächlich sein Vorhaben vor, das er in einer Dichtung verwirklichen will, dennoch wird er nie danach leben können (vgl. I, 323).[21]

Das Vorhaben, Elisabeth wiederzusehen, bricht er kurz vor der Begegnung wieder ab, da ihm seine Erinnerungen teurer sind, als ein neuerliches Verlangen nach ihr, das aufbrechen würde, wenn er sie wiedersähe. Auch erscheinen ihm die triebhaften Momente des Begehrens als „unrein“, was wieder zeigt, dass er auch als Erwachsener nicht mit seiner Sinnlichkeit umzugehen gelernt hat (vgl. I, 339). Während der gesamten Erzählung hat er den Plan, eine „große Dichtung“ zu schreiben, deren Ziel sein soll:

„Und ich wollte vor allem das schöne Geheimnis der Liebe in eure Herzen legen. Ich hoffte, euch zu lehren, allem Lebendigen rechte Brüder zu sein und so voll Liebe zu werden, daß ihr auch das Leid und auch den Tod nicht mehr fürchten, sondern als ernste Geschwister ernst und geschwisterlich empfangen würdet, wenn sie zu euch kämen.“ (I, 329)

Dass gerade er, der sich einer Liebe, die alle Aspekte des menschlichen Seins, Körper und Geist, umfasst, als nicht gewachsen erwiesen hat, den Plan fasst, die Menschen das Lieben zu lehren, zeigt, wie sehr er an seinem geistigen Ideal einer Liebe festhält, das er inzwischen auf seine gesamten Erfahrungen bezieht. Damit kommt er zwar zum Einklang mit der Welt, in dem er sich nicht mehr beunruhigen lassen muss, aber diese Einsicht kommt eher aus der Notwendigkeit, das Leid in seinem Leben zu verarbeiten, als aus einem reichen Erfahrungsschatz, der ihn sein Selbst kennen lässt und aus einer inneren Harmonie, einem Gefühl der Ganzheit mit sich selbst, wie es später etwa in Siddharta beschrieben wird. Dementsprechend ist auch das weitere Handeln Camenzinds keines, das diese Allakzeptanz überzeugend widerspiegelt. Er sucht vielmehr verzweifelt nach einer Möglichkeit, zu lieben, die ihn dennoch nicht mit seinen unterdrückten Trieben konfrontiert.

Dies findet er in dem schwerbehinderten Boppi, um den er sich bis zu dessen Tod kümmert:

„In der stille brannte die alte Liebe in mir fort, nur war es nicht mehr das frühere anspruchsvolle Feuerwerk, sondern eine gute und dauerhafte Glut, die das Herz jung hält und an der sich ein hoffnungsloser Hagestolz gelegentlich an Winterabenden die Finger wärmen darf. Seit vollends Boppi mir nahestand und mich mit dem wundervollen Wissen um ein beständiges, ehrliches Geliebtsein umgab, konnte ich meine Liebe ohne Gefahr als ein Stück Jugend und Poesie in mir leben lassen.“ (I, 353).

So kann er den Aspekt der Gegenliebe erfahren, ohne sich mit seinen geschlechtlichen Trieben auseinanderzusetzen.

Nach dem Tod Boppis und dem Verlust dessen Gegenliebe für Camenzind zeigt sich erneut, dass er dem Umgang mit seiner Geschlechtlichkeit keinesfalls gewachsen ist. Eines Nachts in seinem Heimatdorf überfällt ihn erneut die „Liebeskrankheit“ und zeigt, dass alle bisherigen Bemühungen, diese Seite des Wesens zu unterdrücken, fehlgeschlagen sind:

„In dieser schrecklichen Zeit der Frühlingskämpfe überfiel mich noch einmal die überwundene Liebeskrankheit so ungestüm, daß ich mich nachts erhob, mich ins Türfenster legte und unter bitteren Schmerzen Liebesworte an Elisabeth ins Getöse hinausrief.“ (I, 346f)

Er hat sein Begehren nie überwunden sondern lediglich unterdrückt, wie man hier sehen kann. Am Ende der Erzählung entscheidet sich Peter wieder für ein Leben in dem Bergdorf seiner Kindheit und sieht in seinen Reisen und dem Leben der Städte lediglich eine Irrfahrt:

„Und was ist denn nun bei soviel Irrfahrten und verbrauchten Jahren herausgekommen? Die Frau, die ich liebte und immer noch liebe, erzieht in Basel ihre zwei hübschen Kinder. Die andere, die mich geliebt hatte, hat sich getröstet und handelt weiterhin mit Obst, Gemüse und Sämereien.“ (I, 370)

Dieses Resümee zeigt, das er in seiner ganzen Zeit keine Fortschritte gemacht hat. Er erkennt nach wie vor nicht, dass es an seiner eigenen Passivität gelegen hat, dass er in der Liebe unglücklich geblieben ist. Somit kann das Ende des Romans als Symbol für die Resignation Camenzinds gedeutet werden, der sich mit seiner kleinen, berechenbaren Umwelt abfindet, in der er, so wie er ist, funktionieren und leben kann, ohne ständig aufs Neue an seine Wesensdefizite erinnert zu werden.

Das Hauptproblem des Versuchs des Protagonisten, sich selbst zu finden und ein glückliches Leben zu führen, besteht darin, dass er seine sexuelle Bedürfnisse und sein Begehren nach Liebe, die Körperlichkeit einschließt, nicht als natürliche Seite seines Wesens annehmen kann, sondern sie konstant leugnen will. Dennoch bricht sie regelmäßig in unkontrollierten, unbewussten Momenten aus ihm heraus und ist die Ursache seines Leidens an der Liebe. Der gesamte städtische Umgang erscheint Peter fremd und er lernt nie, dass es nur innerhalb dieses sozialen Kontexts möglich wäre, seine unterdrückte Seite zuzulassen und sie auszuleben, hin zu einem ganzheitlicheren Verständnis seines Selbst. Die Ursache hierfür ist ein verklärtes Bild der Liebe, welches so poetisch und edel scheint, dass es den sexuellen Umgang nicht einschließt, sondern nur in der Verehrung der Frau besteht. Es zeigt sich, wie sehr ein solches, realitätsfernes, Ideal das Leben Camenzinds, der sich davon nie lösen kann, negativ beeinflusst. Parallel zu diesem Ideal stellen der häufige Rückzug in die Natur und seine letztliche Heimatverbundenheit Zeichen für seine Befremdung gegenüber dem städtischen Leben und den Frauengestalten darin dar.[22] Auch die franziskanische Liebe, die er allen Menschen in seiner geplanten großen Dichtung nahebringen will, erscheint auf diesem Hintergrund wenig überzeugend, und dient ihm wohl eher als Möglichkeit, seinem eigenen Dasein eine weltanschauliche Grundlage zu geben, die ihn trotz der uneingestandenen Unzulänglichkeiten, glücklich werden lassen kann.

Auch in dem Roman, den ich als nächstes besprechen werde, schildert Hesse die Auseinandersetzung eines Künstlers mit der Liebe.

4.2 Gertrud (1910):

In diesem Roman schildert Hesse das Schicksal eines Komponisten, der schon jung durch einen Unfall eine Behinderung erleidet, die ihn dazu bringt, sich nach und nach in die Musik zurückzuziehen und dort den Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die er glaubt, aufgrund dieser Einschränkung in der Realität nicht ausleben zu können. Ähnlich wie bei Camenzind gelingt es ihm nicht, seine libidinösen Gefühle in sein Selbstbild zu integrieren und es wird sich zeigen, dass er sie auch in der Kunst nicht so ausdrücken kann, dass er nicht mehr unter ihnen leidet.

Der Roman beginnt mit einem Resümee des Lebens des Protagonisten Kuhn, in dem er den Gegensatz seines äußeren und inneren Lebens zur Sprache bringt, der für ihn bezeichnend sein wird:

„Wenn ich, von außen her, über mein Leben weg schaue, sieht es nicht besonders glücklich aus. […] Ist das äußere Schicksal über mich hingegangen wie über alle, unabwendbar von den Göttern verhängt, so ist mein inneres Geschick doch mein eigenes Werk gewesen, dessen Süße oder Bitterkeit mir zukommt und für das ich die Verantwortung allein auf mich zu nehmen denke.“ (II, 9)

Kuhn kämpft fortwährend um einen inneren Frieden, der ihn trotz seiner Behinderung und den Einschränkungen, die er dadurch fühlt, glücklich sein lässt. Ähnlich wie Camenzind sucht er nach einer Perspektive auf das Leben, die ihn damit versöhnt. Die Rolle, die der Musik in diesem Zusammenhang zukommt, macht er ebenfalls deutlich:

„Etwa von meinem sechsten oder siebenten Lebensjahr an begriff ich, daß von allen unsichtbaren Mächten die Musik mich am stärksten zu fassen und zu regieren bestimmt sei. Von da an hatte ich meine eigene Welt, meine Zuflucht, und meinen Himmel, dem mir niemand nehmen oder schmälern konnte und den ich mit niemand zu teilen begehrte.“ (II, 10)

Die Musik wird als Möglichkeit der Flucht aus der Realität beschrieben, als Welt, in der er selbst die Geschehnisse in der Hand hat und sich auszudrücken und auszuleben vermag. Allerdings gibt er auch gleich zu, dass diese „innere Welt“ allein nicht ausreichte, um ihn ganz glücklich werden zu lassen und gebraucht dafür Worte, die später in der Psychoanalyse wiedergefunden werden können:

„Im Innersten spürte ich wohl den unabweislichen Mahner, das dürstende Verlangen nach einem reinen, wohlgefälligen, in sich seligen Tönen und Verklingen; meine Tage aber sind voll von Zufall und Mißklang […]“ (II, 11)

Er drückt hier den Wunsch aus, sein Selbst ganz annehmen und leben zu können, so, dass es in ihm „selig tönen“ würde, wie es später bei Siddharta der Fall sein wird, der das „Om“ als Symbol der Ganzheit in sich hört. Der Begriff des Mahners zeigt schon, dass er sich bewusst ist, was er möglicherweise versäumt hat und, dass sich dieses dann im Missklang seines Lebens niederschlägt. Die folgende Widmung seines Werkes an eine Frau, die sich später als seine Liebe erweisen wird, die er nie leben konnte, impliziert auch schon den Kernaspekt seiner Daseinsproblematik:

„Wenn ich mich nun besinne, für wen ich diese Blätter beschreibe, wer eigentlich so viel Macht über mich hat, daß er Bekenntnisse von mir fordern und meine Einsamkeit durchbrechen kann, so muß ich einen lieben Frauennamen sage, der mir nicht nur ein großes Stück Erleben und Schicksal faßt, sondern wohl auch als Stern und hohes Sinnbild über allem stehen mag.“ (II, 11f)

Indem er die unglückliche Liebe als Sinnbild seines Daseins nennt, gibt er den Gründen für das Nichtauslebenkönnen der Liebe die gleiche programmatische Rolle, was, wie sich zeigen wird, durchaus zurecht geschieht. Kuhn wird wie Camenzind, seine Triebseite nicht ausleben können, macht aber dennoch einige Fortschritte gegenüber diesem, ohne jedoch den Weg zu sich selbst bedeutend weiter gehen zu können. Der Weg Kuhns zu diesem Resümee soll nun kurz nachgezeichnet werden anhand der Stellen, die für die Analyse der Liebe wichtig sind.

In seiner Schulzeit kommt es zu der ersten Verliebtheit in eine Mitschülerin namens Liddy:

„Diese schöne Liddy nahm mich mit ihrer naiven Koketterie immer wieder gefangen, wenn ich sie sah. […] Ich war nie lang in sie verliebt […]. Manchmal aber gelang es ihr, wieder, mich durch eine Geste, durch ein geflüstertes Wort so zu erregen, daß ich halbe Nächte heiß und wild in der Nähe ihrer Wohnung unterwegs blieb.“ (II, 16f)

Diese typische jugendlich unerfahrene Schwärmerei führt zu dem Unfall, der auf einer winterlichen Schlittenfahrt stattfindet, bei der er sich Liddy gegenüber beweisen will und dabei mit einem Baum kollidiert (vgl. II, 20). Mit diesem Zwischenfall, der sein Bein entstellt zurück lässt, sieht sich Kuhn seiner Jugend beraubt und in „stillere Lande gewiesen“, jenseits von „Jugendlust“ und „Torheit“ (vgl. II, 20f). Nach einem Besuch Liddys, bei dem er sich bewusst wird, dass seine Verliebtheit nur Schwärmerei war, vollzieht sich dann ein Wandel:

„Ich sah plötzlich, wie falsch und traurig ich die ganze Zeit gelebt hatte, da nun Liebe, Freunde, Gewohnheiten und Freuden dieser Jahre von mir abfielen wie schlechte Kleider, sich ohne Schmerz trennten, so daß es nur zu verwundern blieb, wie ich es bei ihnen so lange habe aushalten können oder sie bei mir.“ (II, 26)

Auch wenn er sich von seiner Jugendliebe hier problemlos trennen kann, so wird es sich doch zeigen, dass das generelle Bedürfnis nach Liebe, körperlicher und geistiger, keineswegs aus seinem Leben wegzudenken ist. Das wird ihm selbst auch bald bewusst:

„Wie durfte ich denn hoffen, […] je wieder einem Mädchen Liebe zeigen zu können! Ich würde immer nebendraußen stehen, wie beim Tanzen, und zusehen müssen und den Mädchen nicht für voll gelten, und wenn je eine freundlich wäre, so würde es Mitleid sein!“ (II, 30) Er sieht sich durch seine Behinderung nicht mehr als vollwertigen Mann an und glaubt nicht daran, aufrichtig und ganz, also auch körperlich, geliebt werden zu können, da er sich von den konventionellen sozialen Verhaltensformen, mit denen Werben und Begehren ausgedrückt werden, ausgeschlossen sieht. Wie Camenzind gebraucht auch Kuhn die Metapher des Sturmes, um sein sinnliches Verlangen, das in einsamen Nächten aus ihm herausbricht, zu beschreiben und zeigt damit ebenfalls die Willkür, mit der er diesem Unterworfen ist (Vgl. II, 33). In seiner anhaltenden Beschäftigung mit der Musik, findet er ein Bild für die innere Einheit seines Selbst, die er zwar nicht erreichen wird, aber deren Ahnung ihn bereits versöhnlich stimmt mit seinem Schicksal:

„Nun sah ich an hellen Tagen die Sonne und den Wald, […] und ich fühlte in den dunklen Stunden mein krankes Herz mit doppelte Glut sich dehnen und empören, und ich unterschied nicht mehr Genuß und Weh, sondern eines war dem anderen gleich, und beides tat weh, beides war köstlich. Und während es mir innen wohl und weh erging, stand meine Kraft doch in Ruhe darüber, schaute zu und erkannte das Helle und Dunkle als geschwisterlich zusammengehörend, das Leid und den Frieden als Takte und Kräfte und Teile derselben großen Musik.“ (II, 34f)

Kuhn begreift, dass letztlich alles Erleben und alle seine Gefühle und Bedürfnisse aus einer Quelle stammen. Er nennt diese hier die „große Musik“ und meint damit, wie zuvor schon angedeutet, sein Selbst, aus welchem sowohl seine triebhaften Dränge als auch sein künstlerisches Schaffen, das ihn genau davon erlösen soll, entspringt und so die Pole seines Lebens vereinen könnte. Die Versuche, diese Musik seines Selbst festzuhalten gelingen ihm hier nicht, aber sie gewähren ihm Einblicke in die Möglichkeiten der Selbstwerdung:

„Ich konnte diese Musik nicht aufschreiben, sie war mir selber noch fremd und ihre Grenzen mir unbekannt. Aber ich konnte sie hören, ich konnte die Welt in mir als Vollkommenheit empfinden.“ (II, 35)

Die Musik drückt den Zusammenklang aller Teile des Selbst aus, den Kuhn hier zu ahnen beginnt, und ihn in seiner Kunst nachahmen will. Dieses Nachahmen ist nun jedoch nur die Realisation dieser Ahnung, nicht aber ein tatsächliches Klingen dieser Musik aus seinem eigenen Selbst. Dafür müsste er erst seine Wesenszüge zu leben verstehen. Die Kunst gibt ihm hier kurzzeitig die Möglichkeit, den Eindruck eines individuierten Selbst zu erwecken, allerdings verklingt dieser auch wieder und wirft den Künstler auf seine innere Unzufriedenheit zurück, die er nur im tatsächlichen Leben überwinden könnte.[23]

Im weiteren Verlauf seins Komponierens trifft Kuhn auf den Opersänger Muoth, der seine Musik schätzt und Kuhn nach und nach Zutritt zu der Opernwelt verschafft, in der er es zu einigem Ansehen bringen wird. Muoth stellt in der Erzählung das Gegenstück zu Kuhn dar, denn er ist allein auf seine momentanen Bedürfnisse ausgerichtet und lebt nur den Moment, gewissermaßen als dionysisches Gegenstück zum apollinischen Menschen Kuhn, der sich der Realität durch den Verstand nähern will, bzw. sie durch diesen deutet und erträglich macht. Auf die Gründe, die zum Scheitern von Muoths Liebe führen gehe ich nach der Analyse Kuhns ein.

Nach einigem Erfolg mit seiner Musik fühlt Kuhn sich als Mensch immer noch unverstanden, fühlt sich nicht wirklich als ganze Person angenommen:

„Irgendeine Brücke zu den Menschen mußte ich finden, ich mußte auf irgend eine Weise mit ihnen leben können, ohne stets der Unterliegende zu sein. Gab es keinen anderen Weg, so führe vielleicht doch meine Musik dahin. Wenn sie mich nicht lieben wollten, so würden sie mein Werk lieben müssen.“ (II, 78)

Seine Erscheinung lässt ihn glauben, dass er von den Mitmenschen nicht als vollwertig anerkannt wird. Dieses Stigma möchte er in der Kunst überwinden, und durch sie von den Mitmenschen akzeptiert werden. Dass dies allein jedoch keine gangbare Lösung ist, sondern er seine Isolation fürchtet, zeigt der folgende Satz:

„Solche törichte Gedanken ward ich nicht los. Und doch war ich bereit, mich hinzugeben und zum Opfer zu bringen, wenn nur jemand mich wollte, wenn nur jemand mich wirklich verstünde.“ (II, 78)

Sein eigentlicher Herzenswunsch ist ein Gegenüber, das über seine Behinderung, die er selbst sicher schlimmer empfindet als seine Mitmenschen, hinwegsieht und sein ganzes Wesen annimmt und darauf antwortet. Die Erfüllung dieses Bedürfnisses läge offensichtlich in der Liebe. Diese glaubt er nun auch zu finden, in Gertrud Imthor, deren Vater häufig Musiker in seinem Haus versammelt und in dem auch Kuhn etwas vorspielen soll. Bei der Begrüßung glaubt er bereits, in ihr die Akzeptanz gefunden zu haben, die er sich wünscht: „‘Ich freu mich auf das Trio‘, sagte sie lächelnd, als habe sie mich so erwartet, wie ich nun war, und sei befriedigt“ (II, 81). Beim folgenden Vorspiel widmet er ihr die Musik in Gedanken:

„Ich gab ihr meine Musik und meinen Atem, meine Gedanken und meinen Herzschlag hin, […]. Zugleich mit dem Wohlgefühl und wachsenden Schwall der Töne trug und erhob mich ein verwundertes Glück darüber, daß ich nun so plötzlich wisse, was Liebe sei. Es war kein neues Gefühl, nur eine Klärung und Entscheidung uralter Ahnungen, Rückkehr in ein altes Vaterland.“ (II, 82)

Mit Gertrud erhält sein Bedürfnis nach einem liebenden Gegenüber eine Richtung, gewissermaßen ein Ziel, das ihn aus seiner Isolation heraushebt und eine Brücke zu ihr baut. Er ist in der Lage dieses Gefühl klarer wahrzunehmen, weil es sich auf etwas außerhalb richtet, und er es so von seinen eigenen Wesenszügen, um die es bisher gekreist ist, scheiden kann. Im Jungschen Sinn findet er eine Animaprojektion, die ihm Teile seines eigenen Selbst deutlich machen kann und ihm hilft, diese Teile in sich zu integrieren.

Zunächst scheint er gar nicht den Anspruch zu haben, Gertrud in Liebe an sich zu binden:

„Mir war im Herzen wohl, daß ich ein solches Geschöpf in der unvollkommenen Welt lebendig wußte, und ich konnte nicht daran denken, sie etwa einzufangen und für mich allein wegzunehmen.“ (II, 85)

Allein die Ahnung einer Liebe reicht aus, ihn den „Zusammenklang der Sphären“ wahrnehmen zu lassen, die Einheit des Selbst, die er unbewusst durch Gertrud zu erreichen hofft, was sich auch an seiner Beschreibung, dass er die Welt nun „im ursprünglich göttlichen Lichte“ wahrnehme, zeigt, die auf die Ahnung der tiefsten Strukturen seines Seins bezogen ist(II, 85). Diese Hochstimmung weicht jedoch bald der Erkenntnis, dass das reine Dasein der Geliebten ihm nicht genügt und er eine engere Verbindung zu ihr wünscht:

„Sie mochte singen, sie mochte freundlich sein, sie mochte es gut mit mir meinen, das alles war nicht, was ich begehrte. Wenn sie nicht ganz und für immer mir eigen wurde, mir allein, dann war mein Leben vergebens, und alles Gute und Zarte und Eigenste in mir hatte keinen Sinn.“ (II, 91)

Sein Begehren nach ihr drückt sich bereits in eifersüchtigen Besitzansprüchen aus, welche Indiz dafür sind, wie wichtig ihm die Ahnungen scheinen, die Gertrud in ihm wachgerufen hat. In späteren Werken werde ich diese Liebe als eine egoistische kennzeichnen, die dazu dient, die Animaprojektion an sich zu binden um deren Assimilierung in das Selbst möglich zu machen. Es gelingt ihm, sein Verlangen teilweise in der Musik zu sublimieren, die er zusammen mit Gertrud macht. Mit ihr studiert er ein Stück einer Oper ein, in die er seine Gefühle hineinprojiziert und so, auf der Ebene der Kunst, mit ihr vereint scheint. Sie ist Kuhns Möglichkeit, das auszudrücken, was er sich real nicht gestattet. Allerdings ist diese Sublimation nur bedingt wirksam gegen seine inneren Regungen: „Solche Zeiten dauern nicht lange. Es ging schon gegen Ende und meine Flamme flackerte wieder ungeteilt in blinden Liebeswünschen […]“ (II, 94).Mit dem Ende der Zusammenarbeit hört auch die Vermittlerrolle der Musik auf zu wirken und die eigentlichen Bedürfnisse Kuhns treten in sein Bewußtsein und lassen ihn an ihrer vermeintlichen Unerfüllbarkeit leiden. Im Gegensatz zu Camenzind gelingt es Kuhn jedoch, seiner Liebe einmalig Ausdruck zu verleihen als Gertrud die Trauer in seinem Blick bemerkt, die er angesichts der bald endenden gemeinsamen Beschäftigung mit der Oper empfindet:

„Ich schwieg und stand auf und nahm ihr Gesicht vorsichtig in beide Hände, küßte ihre Stirn und ihren Mund und setzte mich wieder. Sie ließ alles still und fast feierlich geschehen, ohne Befremdung und Unwillen, und da sie Tränen in meinen Augen sah, strich sie mir mit ihrer lichten Hand beruhigend über Haar und Stirn und Schulter.

Dann spielte ich weiter, und sie sang, und der Kuß und diese merkwürdige Stunde blieb unbesprochen, doch unvergessen zwischen uns, als unser letztes Geheimnis.“ (II, 94)

Dieser Kuss als Ausdruck seiner Liebe schürt einerseits die Hoffnungen auf eine mögliche Beziehung mit Gertrud in Kuhn, andererseits zeigt er auch die Aussichtslosigkeit der Liebe, da er zwar freundschaftlich angenommen wird, aber die Antwort keinesfalls die Leidenschaft vermuten lässt, die Kuhn so sehr wünscht. In der Folgezeit verursacht ihm jede freundliche Geste und nette Umgang mit Gertrud Leid, da er sieht, dass sein Angebot nicht erhört wird und er das entgegenkommende Wohlwollen nicht annehmen kann, der von „Stürmen des Liebhabens“ heimgesucht wird (Vgl. II, 96). Die Übertragung seiner Gefühle und dem Verhältnis zu Gertrud in die Musik bringt ihm zwar immer wieder Momente der Zufriedenheit: „War ich darüber enttäuscht, so tröstete es mich zu fühlen, wie innig sie in meiner Musik lebte, wie sie mich verstand und darüber stolz war“ (II, 100). Dennoch fühlt er sich regelmäßig von seinem Verlangen gequält: „Da fing die Pein wieder an, wuchs und verfolgte mich bis in die Nächte hinein“ (II, 100). Diese Pein bringt ihn auch dazu, Gertrud einen Brief zu schreiben, in dem er ihr seine Liebe nun explizit gesteht. Ihre Antwort ist zwar nicht abweisend, macht aber deutlich, dass sie sein Verlangen nicht teilt, die Freundschaft mit ihm jedoch hoch schätzt (Vgl. II, 102). Das Wissen, wenigstens auf diese Weise für sie da sein zu können, lässt ihn neue Stärke spüren:

„Ihr Blick forderte Vertrauen von mir, ich spürte ihre Nähe, und sogleich erhoben sich Scham und Stolz in mir, halfen mir das verzehrende Schmachten besiegen und die brennenden Wünsche niederschlagen.“ (II, 103)

Er scheint hier seine Rolle als Freund hinzunehmen und muss damit auch die weitere Unterdrückung seiner Liebe akzeptieren. Dennoch lässt seine Hoffnung nie nach und als er erfährt, dass sein Freund Muoth und Gertrud ein Paar sind, scheint ihm sein Leben jeden Sinn verloren zu haben, so dass er sich sogar des Leben nehmen will:

„Fest stand nur, daß ich nicht mehr leben dürfe: denn schon empfand ich ahnend hinter der eisigen Hülle meines Entschlusses die Schrecklichkeit des Lebens, das mir geblieben wäre. Es schaute mich aus leeren Augen scheußlich an und war unendlich viel häßlicher und furchtbarer als die dunkle, ziemlich gleichgültige Vorstellung des Sterbens.“ (II, 118)

Kuhn sieht denn Sinn seines Lebens offensichtlich in seiner Liebe zu Gertrud, selbst wenn er diese nur sublimiert in Freundschaft und Kunst leben darf. Er glaubt, sie zu seiner Selbstfindung und seinem Glück zu brauchen, da sie Antwort gibt auf sein Innerstes und somit als Spiegel seines Selbst fungiert, ohne den er sich nicht mehr angemessen wahrnimmt.

Es kommt nicht zu dem Selbstmord, da Kuhns Vater im Sterben liegt und er sich entscheidet, seiner Mutter beizustehen. In seiner Heimatstadt versucht er, ähnlich wie Camenzind zuvor, in der Fürsorge für seine Mutter sein eigenes Liebesleid zu vergessen, da ihm ein ehemaliger Lehrer, der ihm seine Leiden als Symptom einer egoistisch gewordenen Gesellschaft deutet, den Rat gibt, durch Altruismus seinen Ich-bezogenen Tendenzen entgegenzuwirken (Vgl. II, 130). Parallel zu Camenzind schlägt auch dieser Versuch fehl und Kuhn erkennt, dass es „nutzlos sei, den Zusammenhang mit dem Gewesenen abbrechen und sich vor dem eigenen Schicksal flüchten zu wollen“ (II, 136). Er benützt sein bekanntes Verhaltensmuster und stürzt sich in die Arbeit an seiner Oper, die ihm nach wie vor ein Erlebnis der Einheit seines Seins bringt und ihm hilft, seine innere Zerrissenheit zeitweise zu vergessen:

„Aufgelöst und schmerzlich glühend floß mir die lange verhaltene und betragene Pein in Takte und Töne, von dem Liede weg fand ich den verlorenen Faden der Oper wieder und wühlte mich nach so langer Öde wieder tief in den fiebernden Rausch hinströmenden Ergusses bis zu der freien Höhe des Gefühls, wo Schmerz und Wonne nicht mehr voneinander unterschieden sind und alle Glut und Kraft der Seele sich ungeteilt in einer einzigen steilen Flamme empordrängt.“ (II, 137)

Hier gelingt ihm ansatzweise, was er sich von Gertrud erhoffte, er nimmt sich als Ganzes wahr, und vereint so die Pole in sich, die er sonst so quälend auseinanderklaffen fühlt. Wie auch später Veraguth, erlaubt ihm die Kunst, sich in Momenten höchster Konzentration als Einheit zu fühlen. In dieser Arbeit erfährt er auch den Sinn, den seine Liebe für den Rest der Erzählung beibehalten wird, ihre Annahmen und das Auskosten auch des Leidens, das sie verursacht: „Ach, es war besser, um sie zu leiden und den Stachel tiefer in die Wunde zu drücken, als fern von ihr und fern von meinem wahren Leben gespensterhafte Zeiten hinzudämmern“ (II, 137f). Da ihm der Versuch, sich von seinem Leiden zu lösen, auch von Gertrud entfernen würde, nimmt er es als notwendigen Teil seines Lebens an, das er als Aspekt seiner Liebe hinnehmen und gutheißen will.

Mit dieser Annahme seines Leides akzeptiert er gleichzeitig die Stagnation in seiner persönlichen Entwicklung und sein Bemühen um die Liebe lässt nach. In einem Gespräch mit Muoth macht ihm dieser den grundlegenden Fehler seines Umgangs mit Gertrud klar:

„Du bist in allem der Typus des Künstlers. Ein Künstler ist ja nicht, wie die Philister meinen, ein fideler Herr, der aus lauter Übermut hie und da Kunstwerke hinschmeißt, sondern leider meistens ein armer Tropf, der an einem unnützen Reichtum erstickt und darum was von sich geben muß. […] Ein anständiger Künstler hat im Leben unglücklich zu sein.“ (II, 147)

Muoth sieht das Leiden Kuhns und kennt den Grund dafür. In seinem Inneren hat Kuhn einen Überfluss an Gefühl und Eindrücken, die er jedoch im Leben nicht ausdrücken kann und daher in der Kunst verarbeitet. In der Liebe lässt ihn diese Tendenz keine Erfüllung finden, auch wenn sie möglich wäre. Denn traut sich Kuhn nur, seine Liebe zu bekunden und lässt keine Handlungen folgen, die erst zeigen würden, wie Gertrud tatsächlich zu ihm steht.

In der Erfahrung, dass er nicht allein an der Liebe leidet, sieht er schließlich sein Leiden relativiert und kommt zu einer versöhnlichen Perspektive auf das menschliche Dasein und die Rolle der Kunst darin. Das erste Geschehnis, das ihn dorthin beeinflusst, ist das Geständnis des befreundeten Geigers Teiser, dass seine Schwester Brigitte sich in Kuhn verliebt habe, dem dies aber nicht auffällt, da er zu sehr an seiner Liebe zu Gertrud hängt, die mittlerweile Muoths Frau ist:

[...]


[1] Decker, Gunnar, Hesse-ABC, Leipzig, Reclam 2002, S.190f.

[2] Vgl. Ebd. S.188.

[3] Vgl.Ebd.

[4] Vgl. Ebd. S.189.

[5] Baumann, Günter, Hermann Hesses Erzählungen im Lichte der Psychologie C.G. Jungs, Rheinfelden-Freiburg-Berlin, Schäuble 1989, S.2.

[6] Vgl. [6] Baumann, Günter, Hermann Hesses Erzählungen im Lichte der Psychologie C.G. Jungs, S. 2.

[7] Vgl. Ebd.

[8] Vgl. Ebd.

[9] Vgl. Baumann, Günter, Der archetypische Heilsweg. Hermann Hesse, C.G. Jung und die Weltreligionen, Rheinfelden, Schäuble 1990, S.7.

[10] Vgl. Ebd.

[11] Vgl. Tusken, Lewis W., Understanding Hermann Hesse. The Man, His Myth, His Metapho r, Columbia, University of South Carolina Press 1998, S. 87.

[12] Vgl. Ebd.

[13] Baumann, Günter, Hermann Hesses Erzählungen im Lichte der Psychologie C.G. Jungs, S. 3.

[14] Baumann, Der archetypische Heilsweg, S. 9.

[15] Vgl. Ebd. S.5.

[16]. Baumann, Der archetypische Heilsweg, S.2.

[17] Hermann Hesse, Gesammelte Brief,. Hrsg. Von Ursula und Volker Michels. 4 Bde. Frankfurt a.M. 1973-1986. Hier: Band I, S.105.

[18] Vgl. Singh, Sikander, Hermann Hesse, Stuttgart, Reclam 2006, S.69.

[19] Ich werde im Folgenden diese Textausgabe verwenden: Hermann Hesse, Gesammelte Dichtungen, in 6 Bänden, Berlin, Suhrkamp 1952. Dabei kürze ich die Bandnummer in Römischen Zahlen ab und nenne dahinter die Seitenzahl.

[20] Vgl. Singh, Hermann Hesse, S. 74.

[21] Hier würde ich auch Lüthi widersprechen, der die beschrieben franziskanische Liebe in Camenzind verwirklicht sieht. Nach meiner Lesart ist sie nur eine Möglichkeit mit seinen unterdrückten Trieben zu leben, aber jedes Mal, wenn sie aus ihm herausbrechen oder wenn er sein ganzes Leben im Nachhinein als „Donquichotterie“ (siehe oben, S. ….dieser Arbeit) bezeichnet, scheint mir diese Liebe nicht überzeugend. Vgl. Lüthi, Hans Jürg, Hermann Hesse. Natur und Geist, Stuttgart, Kohlhammer 1970, S. 15.

[22] Dennoch würde ich hier nicht Singh folgen, der die unglücklichen Liebesbeziehungen als ein „Ausdruck der Entfremdung vom natürlichen Lebensraum“ liest (Singh, Hermann Hesse, S. 77). Denn auch in seiner Heimat gelingt es Camenzind nicht, in der Liebe glücklich zu werden. Seine Unfähigkeit, mit seiner Libido umzugehen, ist nicht an den städtische oder dörflichen Raum gebunden, sie manifestiert sich eben nur in der Stadt, weil er dort den Frauen begegnet und bei seiner Rückkehr nach Nimikon die Aussicht auf eine Liebe schon aufgegeben hat.

[23] Die „große Musik“ schafft Kuhn ähnliche Erlebnisse, wie später im Steppenwolf Harry Haller haben wird, wenn er sich ausschnittsweise Zugang zu dem Reich der „Unsterblichen“ verschaffen kann. Siehe hierfür S. 57 dieser Arbeit.

Excerpt out of 94 pages

Details

Title
Die Rolle der Liebe im Kontext der Selbstwerdung in ausgewählten Erzählungen Hermann Hesses
College
University of Freiburg  (Germanistik)
Grade
2,0
Author
Year
2010
Pages
94
Catalog Number
V386167
ISBN (eBook)
9783668606234
ISBN (Book)
9783668606241
File size
1010 KB
Language
German
Keywords
Hermann Hesse, Selbstwerdung, Tiefenpsychologie, Archetypen, Liebe, Carl Gustav Jung, Romane
Quote paper
Daniel Much (Author), 2010, Die Rolle der Liebe im Kontext der Selbstwerdung in ausgewählten Erzählungen Hermann Hesses, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/386167

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