Die Großstadt als Spiegelbild der Gesellschaft im modernen Roman bei Fontane, Kafka und Kästner


Redacción Científica, 2018

31 Páginas


Extracto


2
1. Einleitung
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer stürmisch einsetzenden
Industrialisierung und als Folge davon zu einem enormen Städtewachstum und einem
stetig anschwellenden Zustrom der Landbevölkerung in die großstädtischen
Ballungszentren. Das führte zu einer zunehmenden Proletarisierung und Verelendung
breiter Bevölkerungsschichten. Die damit zusammenhängenden Probleme von
Wohnungsnot, Alkoholismus, Krankheit, Gewalt und Verbrechen schienen angesichts
einer gleichgültigen und untätigen gesellschaftlichen Oberschicht unlösbar zu sein. In
zeitgenössischen Berichten waren die hässlichen Seiten dieser Wirklichkeit oft nur
Randerscheinungen. Stattdessen stellte man die Leistungsfähigkeit moderner
Industriebetriebe heraus. Anlässlich eines Besuches seiner Heimatstadt Berlin im
Jahre 1854 schrieb Karl Gutzkow:
Die Zunahme Berlins an Straßen, Häusern, Menschen, industriellen Unternehmungen
aller Art ist außerordentlich. [ ... ] Wo sonst die blaue Kornblume im Felde blühte,
stehen jetzt großmächtige Häuser mit himmelhohen geschwärzten Schornsteinen. Die
Fabrik- und Gewerbetätigkeit Berlins ist unglaublich. Bewunderung erregt es z. B.,
einen von der Natur und vom Glück begünstigten Kopf, den Maschinenbauer Borsig,
eine imponierende, behäbige Gestalt, in seinem runden Quäkerhute in einer kleinen
Droschke hin und her fahren zu sehen, um seine drei großen, an entgegengesetzten
Enden der Stadt liegenden Etablissements zu gleicher Zeit zu regieren. Borsig
beschäftigt 3000 Menschen in drei verschiedenen Anstalten, von denen das große
Eisenwalzwerk bei Moabit eine Riesenwerkstatt des Vulkan zu sein scheint. Es kommen
dort Walzen von 120 Pferdekraft vor. Borsig baut gegenwärtig an der fünfhundertsten
Lokomotive. Man berechnet ein Kapital von sechs Millionen Talern, das allein durch
Borsigs Lokomotivbau in Umsatz gekommen ist. Es macht dem reichen Manne Ehre, daß
er sich von den glücklichen Erfolgen seiner Unternehmungen auch zu derjenigen
Förderung der Kunst gedrungen fühlt, die im Geschmack Berlins liegt und dem Könige
in seinen artistischen Unternehmungen sekundiert. Er hat sich eine prächtige Villa
gebaut und pflegt einen Kunstgarten, der schon ganz Berlin einladen könnte, die
Victoria regia in ihm blühen zu sehen.
1
In diesem Bericht stilisierte Gutzkow den Großunternehmer August Borsig mit
unverkennbarer Bewunderung zu einer mächtigen Figur, die sich dem
Repräsentationsbedürfnis des preußischen Monarchen und der Aristokratie anpasste,
während die Arbeiter seines Unternehmens nur als Nebenfiguren erwähnt wurden,
obwohl ihre Zahl mit 3000 Menschen überwältigend groß war. Ganz im Gegensatz dazu
wurden in zeitgenössischen Kunstdarstellungen die Schattenseiten der modernen
Arbeitswelt nicht durch die Faszination für die Leistungen moderner
Industriekapitäne übertönt. Das erkennt man beispielsweise in Gemälden wie Adolph
Menzels ,,Eisenwalzwerk" (1875) mit dem sprechenden Untertitel ,,Moderne Cyclopen"
und später noch in den Bildern von Malern wie Max Liebermann, in denen sich die
wirklichen Verhältnisse dieser Welt offenbaren: die Monotonie im Industriealltag und

3
das Wohnungselend in den Mietskasernen und Hinterhöfen der Großstadt.
Fast zeitgleich mit Gutzkes Bericht aus seiner Heimatstadt
hatte der französische
Maler Gustave Courbet (1819 - 1877) bereits im Jahre 1855 in Paris eine Auswahl seiner
Werke gezeigt und sie "le réalisme" genannt. Unter diesem programmatischen Begriff
propagierte er eine in der damaligen Kunstwelt als provozierend empfundene Malweise, mit
der die Wirklichkeit nicht nach den vorformulierten Idealen einer "höheren" Realität und den
Regeln einer normativen Ästhetik dargestellt, sondern als sichtbare Alltagswirklichkeit
ungeschönt, d. h. mit all ihren gewöhnlichen und hässlichen Seiten, gezeigt werden sollte. Mit
Bildern wie "Les casseurs de pierres" ("Die Steinklopfer", 1849) hatte er der konventionellen
bürgerlichen Salonkunst und der idealisierenden Historienmalerei eine eindeutige Absage
erteilt und war auf den erbitterten Widerstand der zeitgenössischen Kunstkritik gestoßen,
die sich sowohl am Thema (das harte Los einfacher Straßenarbeiter) als auch an der Malweise
(ungekünstelte Darstellung der Wirklichkeit) stieß und das Bild als hässlich empfand.
Nach dem Sieg über Frankreich 1871 und angesichts der von Frankreich zu leistenden
Reparationszahlungen in Höhe von 5 Milliarden Francs stand die zweite
Jahrhunderthälfte ganz im Zeichen eines enormen wirtschaftlichen Aufschwungs der
sogenannten ,,Gründerjahre". Dadurch kam es zu einer Welle von
Unternehmensgründungen und zu Finanzspekulationen bisher unbekannten Ausmaßes.
Die wirtschaftliche Entwicklung brachte mächtige Industriemagnaten wie den
Essener Stahlfabrikanten und Kanonenlieferanten Alfred Krupp oder den
,,Eisenbahnkönig" Bethel H. Strousberg und ein reiches Großbürgertum hervor, das
sich am Lebensstil und an den gesellschaftlichen Umgangsformen des Adels
orientierte. Unter Strousberg entwickelte sich die Eisenbahn zu einem Motor des
industriellen Aufschwungs. Deutschland wandelte sich im Laufe weniger Jahre von
einem Agrarstaat zu einer industriellen und politischen Großmacht mit modernen
Verkehrsmitteln (Straßenbahn ab 1881, S-Bahn ab 1882, Eisenbahn schon Jahre
zuvor) und beschleunigten Kommunikationsmöglichkeiten wie drahtlose Telegrafie
(ab 1900) und Telefon (ab 1877).
Während dieser Zeit wurde die Großstadt als Schauplatz und Referenzrahmen mehr
und mehr zum Gegenstand von Literatur. Bereits Gutzkows oben zitierter Bericht
beschreibt eine Reihe von Veränderungen des großstädtischen Raumes und spart auch
die hässlichen Seiten nicht völlig aus. Nach französischen und englischen Vorbildern
wie Victor Hugo, Emile Zola und Charles Dickens entwickelte sich in diesen und den
darauffolgenden Jahren in Deutschland ­ vor allem im Zeichen des Naturalismus ­ ein
Romantypus, in dem großstädtische Schauplätze durch ihre Anonymität,
Unüberschaubarkeit und Schnelllebigkeit geprägt werden. Diese Literatur wurde
stark beeinflusst durch den mehrbändigen Roman ,,Geheimnisse von Paris" (1842 ­
_____________________________
1 www. Spiegel Online.de. Sub: Karl Gutzkow: Berlin? Panorama einer Residenzstadt.
Kapitel 11., ohne Seitenangabe

4
1843) des französischen Autors Eugène Sue, der in einer für die damalige Zeit
schockierenden Weise das Elend der Unterprivilegierten und sozial Benachteiligten
bloßgelegte. Das Geschehen in solchen Romanen spielt sich zum Beispiel auf Straßen,
Gassen, Hinterhöfen und in unansehnlichen Stadtvierteln und Industrielandschaften
ab. Moderne Transportmittel wie Straßenbahn, S-Bahn und Autos bewegen sich
rastlos zwischen scheinbar ziel- und planlos dahin eilenden Menschenmassen hin und
her. Durch dieses hektische Treiben und Getriebenwerden und eine unüberschaubare
Fülle ständig wechselnder Sinneseindrücke, die sich nicht mehr zu übersichtlich
geordneten Wahrnehmungsbildern zusammensetzen lassen, werden die Menschen
verunsichert und überfordert
In solcher Art von Literatur wächst die Großstadt bald zum Moloch, zum Dämon, zur
Inkarnation eines menschenfressenden heidnischen Gottes heran oder wird zum
,,steinernen Meer", wie es sich 1910 in den Gedichten Georg Heyms widerspiegelt. Der
Großstadtroman der Moderne, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen
Anfang nahm und mit Theodor Fontane einen bedeutenden Vertreter hat, wird im 20.
Jahrhundert beispielsweise von Rainer Maria Rilke (,,Die Aufzeichnungen des Malte
Laurids Brigge", 1910) und von Autoren wie Kafka, Kästner und Döblin weiter
entwickelt. Darüberhinaus wären aber auch einige internationale Vertreter wie James
Joyce (,,Ulysses", 1922) und John Dos Passos (,,Manhattan Transfer", 1925) zu
nennen, die hier nicht weiter berücksichtigt werden, mit ihrer polyphonen Erzählweise
und Begriffen wie ,,Stream of Consciousness" jedoch großen Einfluss auf deutsche
Autoren des 20. Jahrhunderts gehabt haben.
2. Theodor Fontanes ,,Fontanopolis" und ihre Darstellung in
,,Irrungen, Wirrungen"
Mehr als zwei Drittel seines Lebens hat Fontane in Berlin zugebracht. ,,Von seinen 17
Romanen und Erzählungen spielen elf ganz oder teilweise in Berlin ..." (Fontane-
Lexikon, sub: Berlin, S. 55) Während dieser Jahre wandelte sich Berlin zur
Regierungshauptstadt des neu gegründeten Kaiserreiches und zur führenden
Industriemetropole in Deutschland. In seinen Berlin-Romanen entwirft der Autor der
,,Fontanopolis" (Heilborn: Fontanopolis ..., S. 580) eine so detaillierte und
wirklichkeitsgetreue Topographie dieser Stadt, dass der Leser anhand eines
Stadtplans ohne weiteres die Orte des Geschehens lokalisieren und aufsuchen könnte.
Die genauen Angaben hinsichtlich Stadtteilen, Straßennamen, Plätzen, Gebäuden,
Parks, Friedhöfen und sonstigen Örtlichkeiten bilden zugleich eine soziale
Topographie der Fontanezeit, die sich an der Milieu- und Standeszugehörigkeit der
Figuren orientiert und die Räume markiert, in denen sie leben, wohnen und arbeiten.
Als Fontanes Roman ,,Irrungen, Wirrungen" - der im Folgenden näher behandelt wird ­
1888 erschien, lebten in Berlin etwa 1,8 Millionen Menschen. Damit hatte sich die
Einwohnerzahl seit der Reichsgründung 1871 nahezu verdoppelt ­ ein Beleg dafür, wie
rasant die Bevölkerung in dieser relativ kurzen Zeit angewachsen war.

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Nach Fontanes Meinung soll der moderne Roman
ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen ... schildern, der ein
unverzerrtes Widerspiel des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman
sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß
wir ... nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren ... (Zit.
nach Hugo Aust: Realismus: Lehrbuch der Germanistik. Stuttgart: Metzler 2006,
S. 102)
In anderen programmatischen Verlautbarungen setzt der Autor andere Akzente und
bekennt sich zu einem ,,poetischen Realismus", durch den das in der Wirklichkeit
Vorgefundene geläutert, verklärt und idealisiert wird. Mit diesem Verfahren soll die
Realität von allem Nicht-Schönen, Nebensächlichen und Störenden befreit und
gleichsam mit einer glänzenden Patina überzogen werden, um das Schöne noch besser
zur Geltung zu bringen. Man dürfe also keinesfalls ,,Misere mit Realismus"
verwechseln, denn ,,die Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde
Kinder umstehen ..., verhält sich zum Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die
Läuterung fehlt." (Zit. nach: Max Bucher u. a. (Hrsg.): Realismus und Gründerzeit.
Stuttgart: Metzler: 1976. Hier: Band 2, S. 100)
Was die Wirklichkeit der Reichshauptstadt Berlin angeht, scheint Fontane im
Unterschied zu anderen Autoren seiner Zeit für sich zu beanspruchen, dass er sie
besser kennt und darzustellen vermag als diese. Das geht aus Äußerungen im Hinblick
auf Max Kretzers Roman ,,Meister Timpe" (1888) hervor, der zur Fontanezeit
vonmanchen Lesern und Kritikern für einen deutschen Zola gehalten wird, weil er ohne
jede Patina den Konkurrenzkampf des kleinen Drechslermeisters Johann Timpe mit
einem kapitalistischen Großunternehmer darstellt, der auf industrielle
Massenproduktion setzt, woran Timpe schließlich zugrunde geht. Fontane findet
dieses Buch ,,trostlos und langweilig" und fügt hinzu:
Ich lebe jetzt 55 Jahre in Berlin und habe nicht bloß beim Prinzen Friedrich Karl zu
Mittag gegessen ; ich habe auch Volk kennengelernt und kann nur sagen: mein Berliner
Volk sieht anders aus. Was er gibt, sind mehr angelesene als erlebte Figuren.
(Brief an Moritz Lazarus vom 09. August 1888. In: Briefe, 1879 ­ 1889, S. 630)
Seine Berliner Romanfiguren sprechen natürlich auch eine andere Sprache als der
einfache Drechslermeister Timpe. Und Fontane weiß, ,,wie sie wirklich sprechen", weil
er sie besser kennt als Kretzer. In Berlin leben seine Freunde und Bekannte, dort sind
die Zeitungen, für die er schreibt und sein Arbeitsplatz. Welcher Autor könnte von
sich behaupten, er kenne Berlin besser als der Nachkomme hugenottischer
Einwanderer, die dort Ende des 17. Jahrhunderts Zuflucht gefunden und Fuß gefasst
hatten? Wer könnte für sich beanspruchen, er habe Berlin zum ,,Thema seines
Lebens" gemacht? (Vgl. Lühe, Isabell von der: Fontanes Berlin. S. 195)

6
Seit dem Beginn seiner Gewerbeschulzeit als Vierzehnjähriger (1833) wechselt
Fontane häufig die Wohnungen in Berlin
2
und lernt auf diese Weise ganz
unterschiedliche Stadtteile und soziale Milieus kennen. Sein Umzug in die Hamburger
Straße im Stadtteil Spandau (1835) gleicht beispielsweise einem sozialen Absturz.
Dort landet er in einem heruntergekommenen Wohnblock inmitten einer Schar
mittelloser Künstler, Schriftsteller und Bankrotteure, unweit des Vogtlands, ,,die
berüchtigste Elendsgegend der Stadt und ein Sammelplatz dunkler Existenzen".
(Wruck: Fontanes Berlin. 1. Teil, S. 291) Massenquartiere dieser Art bilden eine
Vorform der bereits erwähnten düsteren Mietskasernen, die Gutzkow bei seinem
Besuch in Berlin zwanzig Jahre später aufgefallen waren. In solchen Umgebungen
wird der junge Fontane mit sozialen Gegensätzen und dem Los gesellschaftlicher
Randexistenzen konfrontiert, durch die er sich als Sohn eines Apothekers in seiner
eigenen Existenz und seinem gesellschaftlichen Status bedroht fühlen musste.
Während seiner Londonaufenthalte ­ 1852 und vor allem 1855 bis 1859 als
Presseagent für die Propagierung der preußischen Politik in Großbritannien -
entwickelt er, analog zu seiner Heimatstadt Berlin, eine zweigeteilte soziale
Topographie. Er schwärmt vom Warenreichtum der Einkaufszentren in der Oxford
und Regent Street und von den Palästen und noblen Quartieren der Wohlhabenden im
Westend. Ihm bleiben aber auch die Hunderttausende armer Leute in den östlichen
Vorstädten in ihren elenden Massenquartieren nicht verborgen. Er wettert gegen die
korrupte Mentalität der ,,money-making people" und fühlt sich angesichts hastig dahin
eilender Menschenströme abgestoßen und überwältigt. Dennoch wird London ­ im
Unterschied zu Paris, das er weit weniger bewunderte ­ für ihn zum Musterbeispiel
einer modernen Großstadt und zum eigentlichen Maßstab einer Weltstadt, an dem man
Berlin freilich nicht messen kann, wenngleich diese Bezeichnung von einigen seiner
Romanfiguren hier und da verwendet wird. Nach seiner Rückkehr ins vertraute Berlin
ist er schließlich doch davon überzeugt, ,,daß das, was hier geschieht und nicht
geschieht, direkt eingreift in die großen Weltbegebenheiten." (Brief an Paul Heyse
vom 28. Juni 1860. In: Briefe 1833 ­ 1860, S. 709) Rund zwanzig Jahre später heißt
es bei ihm sogar bewundernd: ,,Berlin hat sich ganz außerordentlich verändert und ist
jetzt eine schöne und vornehme Stadt ... Alles ist Leben, Frische, Wohlgekleidetheit.
Ich freue mich, diese vernobelte Zeit, an die ich kaum glaubte, noch erlebt zu haben."
(Brief an Hermann Wichmann vom 02. Juni 1881. In: Briefe 1879 ­ 1889, S. 136)
Aus solchen Äußerungen kann man schließen, dass Fontane sich in seinen Romanen
weniger den Elendsquartieren und den Problemen der sozial Benachteiligten seines
Zeitalters zugewandt hat und dass die Konflikte, die er darstellt daher in erster Linie
________________________________
2 Nach Peter Wruck handelt es sich um achtzehn verschiedene Wohnungen insgesamt. (Vgl.
Wruck: Fontanes Berlin, 1. Teil, Anm. 18)

7
gesellschaftliche, und nicht soziale Konflikte sind. Dies gilt vor allem für seinen
Roman ,,Irrungen, Wirrungen". Den hier behandelten gesellschaftlichen Schichten
(Adel, wohlhabendes Bürgertum, Kleinbürgertum, Arbeiter) werden bestimmte
Schauplätze und Handlungsräume zugeordnet, wobei die Welt der Arbeiter nur
vorübergehend und peripher ins Blickfeld gerät. Als handelnde Figuren bleiben sie im
Grunde ausgespart. Ihr Auftreten ist episodenhaft, hat für den Fortgang der
Handlung keine Bedeutung und stimmt den aufmerksamen Leser nachdenklich.
2.1.
Der Roman als ,,soziale Psychographie"
Bei der Lektüre von ,,Irrungen, Wirrungen" zeigt sich, dass die im Roman
thematisierten Konflikte zu den Bewegungen der Protagonisten innerhalb bestimmter
städtischer Räume in Beziehung gesetzt werden, aber auch zu Handlungsorten, die
sich an der Peripherie oder außerhalb der Stadtgrenzen befinden. Die genaue
Lokalisierung dieser Räume verleiht den Darstellungen nicht nur größere
Authentizität, sondern sie ist auch Teil einer Erzählstrategie, durch die bestimmte
Merkmale, Eigenarten oder Charakterzüge der Protagonisten verdeutlicht und
hervorgehoben werden, die sich in einer Fülle von Andeutungen, Anspielungen und
versteckten Hinweisen verbergen. In Ortsnamen, Beschreibungen der jeweiligen
Umgebungen oder plötzlich eintretenden Ereignissen, spiegeln sich die von den
Protagonisten erlebten Konflikte. In diesem Sinne bildet der Roman eine ,,soziale
Psychographie", dessen Autor ,,die Topographie als Instrument der
Wirklichkeitssimulation und als Mittel der Chiffrierung" nutzt. (Lühe, Isabell von der:
Fontanes Berlin, S. 204)
2.2.
Die Bedeutung von Milieu- und Standeszugehörigkeit:
gesellschaftlich sanktionierte und tabuisierte städtische
Räume
Nach dieser Strategie wird den Vertretern des jungen Adels ­ Botho von Rienäcker
und seiner Frau Käthe, geb. von Sellenthin ­ eine bevorzugte Wohngegend in der
Landgrafenstraße (Tiergarten) zugewiesen, während Lene mit ihrem Ehemann Gideon
Franke am weit weniger repräsentativen Luisenufer ,,drei Treppen hoch" (IW, 17.
Kapitel, S. 120) Quartier bezieht. Lenes ursprüngliche ,,paradiesische" Wohnumgebung
auf dem Gelände der Dörrschen Gärtnerei (vgl. 1. Kapitel, S. 5), in unmittelbarer Nähe
des ,,Zoologischen Gartens", verweist auf einen ungestörten Naturraum, in dem es
sich angenehm leben lässt. Aber der Erzähler deutet hier schon an, dass dieses Idyll
nicht von Dauer sein wird, da sich dieser Ort zum Zeitpunkt der Erzählung
offensichtlich nicht mehr dort befindet. (Vgl. ebd.) Im alten Teil Berlins, innerhalb
der bis 1860 geltenden Stadtgrenzen, werden nur solche Verbindungen angesiedelt,
die nach den geltenden Konventionen nicht zu beanstanden sind. Ein Liebesverhältnis
zwischen einem Adeligen (Botho von Rienäcker) und einer Repräsentantin des
Kleinbürgertums (Lene Nimptsch) ist davon ausgeschlossen. Für ein solches Verhältnis
ist kein gesellschaftlich sanktionierter Raum vorgesehen.

8
Mit großer Eindringlichkeit wird der Konflikt zwischen Botho und Lene auf ihrem
Ausflug nach ,,Hankels Ablage", in einem scheinbar naturnahen, idyllischen Raum
außerhalb des Stadtgebietes, thematisiert. Diese Szene bildet den Höhepunkt und
Wendepunkt einer Entwicklung, an der dieses Liebesverhältnis schließlich scheitert.
Bereits ihr Ausflug nach Wilmersdorf in Begleitung von Fau Dörr (9. Kapitel), der sie
an Schutthaufen vorbei in ein sumpfiges Wiesengebiet und zu einem ,,aus Peden und
Nesseln zusammengekarrten Unkrauthaufen" (IW, S. 57) führt, verheißt durch seine
düstere Symbolik nichts Gutes für eine gemeinsame Zukunft. Aber dieses noch mit
aufgesetzter Fröhlichkeit überspielte, desillusionierende Erlebnis wird von der
unwiderruflichen Gewissheit des Scheiterns auf der Landpartie nach ,,Hankels
Ablage" (11. - 13. Kapitel) weit übertroffen, wobei dieses Scheitern durch den
Kontrast zwischen einem hoffnungsvollen Beginn im 11. Kapitel und dem unglücklichen
Ausgang im 13. Kapitel noch erheblich verschärft wird.
Es gibt also offensichtlich keine Räume ­ weder innerhalb noch außerhalb der
Stadtgrenzen -, in denen das ungleiche Liebespaar dauerhaft eine Bleibe finden und
ihre Liebe sich verwirklichen könnte. Die Instabilität dieses Verhältnisses zeigt sich
nicht erst in ,,Hankels Ablage", sondern schon bei der Erstbegegnung, über die Lene
im Gespräch mit Frau Dörr rückblickend im dritten Kapitel berichtet. Während eines
Ausflugs nach Stralau hat der junge Adelige Lene aus einem schwankenden Boot ans
rettende Ufer geholfen und bietet ihr seine Begleitung an. Aber Lenes Zuhause liegt
nach ihrer eigenen Einschätzung ,,so gut wie am Ende der Welt" (IW, S. 18), ein
deutlicher Hinweis, dass es sich außerhalb der Sphäre eines ,,feinen Herrn" (vgl. IW,
S. 17) wie Botho befindet. Deshalb ­ so meint Frau Dörr ­ dürfe sich Lene nur nichts
,,einbilden" (IW, S. 19), zumal ihr ,,Cavalier" (IW, S. 18) keinen christlichen Namen
trage. Bald zeigen sich weitere Symptome dieser Instabilität, die dem Idyll in Stralau
einiges von seiner Strahlkraft zu nehmen scheinen. Denn der hilfsbereite ,,feine
Herr" und ,,Cavalier", als der Botho sich auf der Bootsfahrt erwies, taucht wenig
später angeheitert bei Lene auf (vgl. IW, S. 21), wo er von seinen Clubkameraden
erzählt, die nicht gerade vertrauenerweckend wirken. Von Anfang an ist ihr
Verhältnis also Störungen ausgesetzt, durch die Lene sich zunehmend bloßgestellt und
erniedrigt fühlt, obwohl sie sich keinen Illusionen hingibt.
2.3.
Lärm und Hektik als bedrohliche Erscheinungsformen der
modernen Großstadt
Durch das zufällige Aufeinandertreffen mit Botho und seiner Frau Käthe gerät Lene
sogar zeitweilig in Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die neue Wohnung
des jungen Ehepaars liegt nämlich ,,keine tausend Schritt" (IW, 16. Kapitel, S. 111) von
dem Paradies ,,am Ende der Welt" entfernt, in dem Lene mit ihrer Ziehmutter zu
diesem Zeitpunkt noch lebt. Diese unerwartete Begegnung wird in gedehntem
Erzähltempo und mit großer Detailgenauigkeit beschrieben. Nachdem sie ihre ,,kleine
stille Wohnung" verlassen hat, wird Lene durch den ,,ungeheuren Lärm" der
vorbeirasselnden Feuerwehr mit ihrem schrillen ,,Gebimmel und Geklingel"

9
aufgeschreckt. (Ebd. S. 112) Das bunte Durcheinander und der Lärm versetzen sie in
einen Zustand großer innerer Anspannung. Unbemerkt verfolgt sie das Gespräch des
jungen Ehepaars und erleidet einen Schwächeanfall. Mit solchen Szenen und ihrer
überwältigenden Fülle von Sinneseindrücken erweist Fontane sich als Wegweiser für
den modernen Großstadtroman wie Kästners ,,Fabian" oder Döblins ,,Berlin
Alexanderplatz".
Auf dem Wege zum Grab der alten Frau Nimptsch erlebt Botho eine ähnlich
aufwühlende Szenerie. Mit ihrer lärmenden Unruhe bildet sie ein beeindruckendes
Beispiel dynamisierter Stadtbeschreibung, die wie ein nach außen gekehrtes
Spiegelbild die innere Zerrissenheit des Protagonisten veranschaulicht. Als Fahrgast
einer Pferdedroschke vom äußeren Geschehen scheinbar abgeschirmt, verfolgt Botho
auf seinem Weg das hektische Getriebe eines städtischen Rummelplatzes mit ,,Buden,
Pavillons und Lampenportalen", passiert ,,Vergnügungslokale", ,,Bildhauer und
Steinmetze", hört die ,,Anpreisungen" der Geschäftsleute, sieht ,,Rosella, das
Wundermädchen", kommt an den Schießständen des Vergnügungsparks ,,Hasenheide"
vorbei, bleibt schließlich in einem Verkehrsstau stecken, erkennt die vielsagende
Inschrift auf einem vor ihm haltenden Wagen: ,,Glasbruch-Ein-und Verkauf" mit
,,einem Berg von Scherben", der sich dahinter auftürmt, und hat das Gefühl ,,als
schnitten ihn die Scherben" in seine Finger. (Alle Zitate IW, 21. Kapitel, S. 151 f.)
2.4.
Rückzug in traditionelle Ordnungsmuster der herkömmlichen
Ständegesellschaft
Was sich hier als schmerzhaft und bedrohlich erweist, wurde schon im 14. Kapitel
vorbereitet, und zwar im Anschluss an die Lektüre eines Briefes seiner Mutter, die
Botho mit der schwachen Finanzlage des Hauses Rienäcker konfrontiert und ihm
unmissverständlich klarmacht, dass nur eine Heirat mit der vermögenden Käthe von
Sellenthin ihn vor dem finanziellen Ruin und dem gesellschaftlichen Prestigeverlust
retten könne. Um mit sich ins Reine zu kommen, beschließt er auszureiten und seinem
Pferd freie Zügel zu lassen. Dieser Entschluss hat aber nichts Befreiendes an sich,
sondern bewirkt eher das Gegenteil. Durch Zufall kommt Botho am Grabmal des
ehemaligen Berliner Polizeipräsidenten Ludwig Hinckeldey vorbei, der im Jahre 1856
an dieser Stelle bei einem Duell erschossen wurde. Ihm wird nun klar, dass er sich den
ungeschriebenen Gesetzen seines Standes nicht entziehen kann, ,,die mächtiger
war[en] als alle Vernunft". (IW, S. 101) Gleich darauf fühlt er sich in seiner
Erkenntnis, dass sein Leben nur in den geordneten Verhältnissen seines Standes eine
Zukunft habe, durch den Anblick von Fabrikarbeitern und ihren Frauen während der
Mittagspause bestätigt ­ eine der wenigen Szenen des Romans, in denen die Vertreter
des Vierten Standes auftauchen, und zwar in dem idyllischen Arrangement einer
,,Gruppe glücklicher Menschen", deren Leben, wie das von Lene, durch ,,Arbeit und
Ordnung" (IW, S. 102) bestimmt wird. In diesem Moment ist Botho sich sicher, dass
es seine Aufgabe nicht sein kann, dieses Ordnungsgefüge in Frage zu stellen und zu
durchbrechen.
Final del extracto de 31 páginas

Detalles

Título
Die Großstadt als Spiegelbild der Gesellschaft im modernen Roman bei Fontane, Kafka und Kästner
Universidad
University of Hannover  (Deutsches Seminar)
Autor
Año
2018
Páginas
31
No. de catálogo
V387334
ISBN (Ebook)
9783668624825
ISBN (Libro)
9783668624832
Tamaño de fichero
584 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
---------------------------------
Citar trabajo
Hans-Georg Wendland (Autor), 2018, Die Großstadt als Spiegelbild der Gesellschaft im modernen Roman bei Fontane, Kafka und Kästner, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/387334

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