Taugenichts, Schelm oder Angeber? Der Held in "Schelmuffsky" von Christian Reuter


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2001

25 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Charakterisierung des Protagonisten
2.1. Das Selbstverständnis von Schelmuffsky und eine Beschreibung seiner Fähigkeiten, bzw. wo er an seine Grenzen st öß t
2.2. Neutralisierung der verschiedenen Charakterbezeichnungen und die Widersprüchlichkeit im Wesen Schelmuffskys

3. Die Beziehung des Protagonisten zur Außenwelt
3.1. Die Beziehung zwischen Umwelt und Schelmuffsky und die Sichtweise der anderen Handlungsträger auf Schelmuffsky
3.2. Veränderung der Umwelt gegenüber der Statik des Protagonisten

4. Die Funktion der Widersprüche und komischen Widersinnigkeiten im breiteren Kontext

5. Zusammenfassung und Diskussion

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die folgende Untersuchung soll zunächst Schelmuffsky in seinem Selbstbild- nis beschreiben. Dabei wird neben seinem interdisziplinären Rekordgehabe, als angeberisches Mittel gesellschaftlicher Anerkennung, auch auf seine überraschenden Einschübe menschlicher Schwächen eingegangen. Denn an ihnen soll ein für Schelmuffsky typisches Merkmal, Schwächen oder Niederlagen in Triumphe zu verwandeln, aufgezeigt werden.

Desweiteren wird das klare Bekenntnis des Protagonisten zur Lüge veranschaulicht, so dass der gesamte Handlungsablauf als bewusster Betrug am Leser identifiziert und die Reisebeschreibung als imaginative Bewegung eines Pseudo-Hel- den abqualifiziert werden kann.

Weiterhin wird darauf hingewiesen, dass Charakterisierungen wie Held, Angeber, Egoist oder Taugenichts nur im Gesamtkontext richtig gedeutet werden können, da erst dann Bezeichnungen des Protagonisten durch Widersprüchlichkeiten neu- tralisiert werden. Die Neutralisierung soll u.a. am Beispiel von Schelmuffskys Angewohnheit, eigene Leistungsmaßstäbe zu setzen, aufgezeigt werden. Dadurch werden Niederlagen mittels widersinniger Übertreibungen in Siege verwandelt.

Die innneren Gegensätze dienen weiterhin der bewussten Bloßstellung als Rüpel, der sich am Beispiel unkontrollierbarer Wutausbrüche regelmäßig selbst entlarvt und damit offen zeigt, dass er seinem angemaßten Anspruch der Adelszugehörig- keit nicht gerecht werden kann. Aber auch auf innere Widersprüche, wie gesell- schaftlicher Stand und derbe Ausdrucksweise, unverhältnismäßige Reaktionen im Bezug auf die dramatische Logik und widersinnig geschilderte Fähigkeiten, die trotz ihres zweifelhaften Charakters zu gesellschaftlicher Anerkennung führen, wird eingegangen.

Eine Ausweitung auf den Bezug zum Umfeld bezweckt eine Vertiefung der Kon- traste in Schelmuffsky, so dass selbst alle übrigen Handlungsträger als Spiegelung seiner Gegensätzlichkeit erscheinen, wie z.B. im Bezug auf das weibliche Ge- schlecht, wo Schelmuffsky geschlechterspezifische Rollenverteilungen umkehrt und den Frauen die Initiative überlässt, aber auch im Falle von direkten Gegen- überstellungen mit anderen Personen, wo sein Dominanzanspruch durch wider- sinnige Übertreibungen parodiert wird und im Falle des Hochzeitsgedichts indi- rekte Forderungen nach einer Ablösung barocker Kultur stellt.

Darüberhinaus lässt eine Gegenüberstellung von statischem Held und dynami- scher Welt wiederum erkennen, dass der Roman auf das Prinzip der Kontrastie- rung angelegt ist, da Schelmuffsky in seiner starren Formelhaftigkeit von Sprache und Verhalten von äußeren Einwirkungen unbeeinflusst bleibt. Die Untersuchung der Funktionalität der Gegensätze und komischen Widersinnig- keiten eröffnet einen breiteren Hintergrund, an dem ersichtlich wird, dass Schel- muffsky mit seinen Widersprüchen Gesellschaftskritik üben will. Die Schilderung übertriebener Rekordleistungen soll der Verspottung des Adels dienen. Außerdem wird verdeutlicht, dass die Kontraste auch die Forderung nach einem Natürlich- keitsideal enthalten, welches künstlerische Konventionen kritisiert und zu Freiheit aufruft.

Eine abschließende Diskussion stellt neue Forschungsaspekte vor, die alte Thesen von der beschränkten Bildung des Protagonisten ablösen und Schelmuffsky, den bewussten Lügner, durch unbewusste Halbbildungshinweise auf anderer Ebene vollends als anmaßenden Rüpel erscheinen lassen, womit die Kritik auf das Bürgertum ausgeweitet werden soll.

2. Charakterisierung des Protagonisten

2.1. Das Selbstverständnis von Schelmuffsky und eine Beschreibung seiner Fäh- igkeiten, bzw. wo er an seine Grenzen stößt

Schelmuffsky wird als ein mit überirdischen Fähigkeiten ausgestatteter Mensch dargestellt. Er erweist sich als Rekordhalter in den verschiedensten Disziplinen, so z.B. beherrscht er bereits in seinen Jugendjahren das Blasrohrschießen mit ei- ner Perfektion, dass er den als Zielscheibe ausgewählten Vögeln das Fürchten lehrt1. Doch bereits als Säugling sind ihm Qualitäten zu eigen, die sonst erst in späteren Lebensjahren Ausprägung erfahren. So ist er unmittelbar nach der Geburt fähig zur sprachlichen Kommunikation2, aber auch das Bewusstsein seiner Nacktheit und das daraus resultierende Schamgefühl3 zeichnen ihn in diesem Früstadium aus. Desweiteren weist sein Verhalten unnatürliche Züge auf, die ihn da - zu veranlassen, sich bis zum 13. Lebensjahr ausschließlich von Ziegenmilch zu ernähren, da er sich vor Muttermilch ekelt4.

Diese Rekordleistungen auf zahlreichen Gebieten finden ihre Fortsetzung, als Schelmuffsky seine Reise antritt und überall in der Welt mit derartigen Spitzen- leistungen auftrumpft. Als er am Beginn seiner Reise mit Bruder Graf in ein Gast- haus einkehrt, wird Schelmuffsky vom Bruder zum Trinken verführt, in der An- nahme, er könne allein wegen schlechterer körperlicher Voraussetzungen nicht mit ihm mithalten, doch Schelmuffsky setzt sich über seine körperlichen Grenzen hinweg und trinkt zu Bruder Grafs Verwunderung ein Glas Branntweinessig auf einen Schluck aus.5

In der Hamburg-Episode erweist er sich als meisterlicher Fechter, als er in einem Duell Charmantes Begleiter in seine Schranken verweist und damit sogar die Be- wunderung der gegnerischen Partei auf sich zieht. Seine außerordentlichen Fecht- künste verhelfen ihm sogar zu einer Hilfsanstellung als inoffizieller Polizist zur Verhinderung von Schlägereien und anderen Ausschreitungen.6

Diese Rekordleistungen werden begleitet von Ausweisungen hoher Allgemeinbil- dung, als Schelmuffsky beispielsweise mit Charmante eine Stadtrundfahrt durch Hamburg unternimmt und dem Bürgermeister aus seinem großen Fundus an Ingenieur-Kenntnissen Ratschläge für eine perspektivische Reparatur der Stadt- mauer gibt.7 Eine weitere Rekordleistung zeigt Schelmuffsky, als er von einem Tanzmeister in Hamburg zusammen mit Charmante zu einem Ball eingeladen wird. Als er zum Tanz aufgerufen wird, stellt sich heraus, dass er ein meisterlicher Tänzer ist und über Sprungqualitäten verfügt, die ihresgleichen suchen.8 In der O- pernszene der Hamburg-Episode wird wiederum Schelmuffskys hohe Allgemein- bildung herausgestellt, da er in der Rolle eines Opernkritikers und Kunstkenners keine Zweifel über sein kulturelles Verständnis aufkommen lässt.9

Bei einer Auseinandersetzung mit Studenten wird ersichtlich, dass Schelmuffsky nicht jener unmenschlich harte Kämpfer ist, als welcher er den Eindruck machte, sondern wie jeder andere normale Mensch vor Angst und Tränen nicht gefeit ist, da er nach erfolgreicher Abwehr der provozierenden Studenten wie ein kleiner Junge „Rotz und Wasser heult“ .10 Auch auf der Schiffsreise nach Schweden wer- den Schelmuffsky seine Grenzen aufgezeigt. Da er offensichtlich ein ungeübter Schiffsfahrer ist, wird er von der Seekrankheit heimgesucht und von heftigen Brechanfällen gequält11, welchen er sich jedoch, ihrer widersinnig geschilderten Ausprägung gemäß, auf angeberische Art und Weise zu rühmen weiß. Diese für Schelmuffsky typische Eigenschaft der Umkehrung von menschlichen Schwächen in unmenschliche Stärken wird unter 2.2. näher untersucht.

Angeberische Seiten werden auch deutlich auf dieser und anderen Schiffsfahrten. So z.B. prahlt er auf der Schiffsreise nach Schweden überirdisch große Fische ge- sehen zu haben12 oder auf der Abfahrt aus Indien auf wunderschön singende Sire- nen getroffen zu sein.13 Aber auch die Beschreibung des Kenterns und der darauf- folgenden Rettungsflucht „und musten wohl über hundert Meilen schwimmen“14 enthält neben einer weiteren Rekordleistung auch ein hohes Maß an angeberi- schem Potential. Schelmuffskys interdisziplinäres Rekordgehabe macht auch vor dem Verschlingen übermäßig großer Nahrungsmengen nicht Halt, als er nach erfolgreicher Rettung im Hause des Amsterdammer Bürgermeisters nach tagelanger Hungersnot enormen Appetit entwickelt und anschließend wiederum seinem Ruf als „Wetmeister im Kotzen“ alle Ehre macht.15

Gefolgt werden diese Auszeichnungen ein weiteres Mal von Einschüben men- schlicher Schwäche, als er in der Amsterdam-Episode zu einer Hochzeit eingela- den wird und aus diesem Anlaß ein Gedicht verfasst. Jedoch mangelt es Schel- muffsky an Einfallsgabe und Kreativität. Diese Schwäche wird aber, wie in einem ähnlichen Fall zuvor, unmittelbar in eine Stärke verwandelt. Wie bereits erwähnt, soll dieser Sachverhalt unter 2.2. nähere Berücksichtigung erfahren.

Heldenhafte Züge erstrecken sich über den gesamten übrigen Handlungsverlauf, als er beispielsweise den Seeräuber Barth bekämpft16 oder in der Padua-Episode den heimkehrenden Fremden in einem Duell auf einer Bergspitze besiegt.17 Ebenso verhält es sich mit seinen Schwächen, ersichtlich an für den ortskundigen Leser offensichtlich fehlenden geographischen Kenntnissen von Schelmuffsky, denn der Tiber fließt nicht durch Rom und Stockholm ist auch nicht von Wiesen, sondern Wasser umgeben.

Diese klare Andeutung, dass dieser Reisebeschreibung eine imaginative Bewe- gung eines Pseudo-Helden zugrunde liegt, weicht an der Stelle „Endlich dachte ich, du must doch wieder Wunderdinge erzehlen, dass sie Maul und Nasen brav aufsperren und dich wacker ansehen“18 einem offenen Zugeständnis an die Lüge. In diesem Zusammenhang erfährt der Hauptdarsteller, auch durch die Namensge- bung des Protagonisten, eine erweiterte Dimension. In Texten des 17.Jahrhunderts erklärte sich Schelmery in der Bedeutung von Betrügerei.19 Im Angesicht dieser offensichtlichen Betrügerei am Leser von Schelmuffsky, können all seine Helden- taten und Angebereien als Taten eines Schelms abqualifiziert werden, zumal er mit der Aussage „so hatte ich immer andere Schelmstücken in Gedanken“20 be- reits in seiner Jugendzeit keinen Hehl aus seiner Vorliebe für schelmenhafte Ta- ten machte.

Eine für diesen Teil abschließende Betrachtung auf den facettenreichen Charakter von Schelmuffsky darf auch nicht den Taugenichts Schemuffsky außer Acht las- lasen, da er sich insbesondere in seiner Jugendzeit oft als ein solcher erweist, als er beispielsweise an der Schule scheitert, weil ihm das Blasrohrschießen mehr Freude bereitet oder die Kaufmannslehre aus selbigem Grund abbricht, wobei das Lustprinzip als weiteres Merkmal von Schelmuffsky ins Licht gerückt wird.21 Die Bezeichnung des Taugenichts trifft im weiteren Handlungsverlauf auch immer dann zu, wenn er von seinen Reisen nach Schelmerode jedesmal als bettelarmer Mann zurückkehrt.

Diese und weitere Charakterisierungen, wie z.B. diktatorische Züge mit Hang zum Größenwahn22 oder egoistisches Handeln, erkennbar an der Tatsache, dass bei der Schiffskatasrophe vor Amsterdam die eigene Rettung Schelmuffsky davon abhält, Charmante vor dem Tode zu bewahren, können nur im Gesamtzusammenhang richtig gedeutet werden. Erst im Kontext kann die Widersprüchlichkeit der Typisierungen und Neutralisierung der Charakterbezeichnungen aufgezeigt werden. Dies ist Gegenstand der nun folgenden Untersuchung.

2.2. Neutralisierung der verschiedenen Charakterbezeichnungen und die Wider- sprüchlichkeiten im Wesen Schelmuffskys

Die im vorigen Abschnitt angeführten Charakterisierungen von Schelmuffsky erfahren im Gesamtzusammenhang bereits Widersprüchlichkeit, wenn man sich nur seine Frühgeburt vor Augen führt.23 Eine um vier Monate verfrühte Geburt ist wohl kaum realistisch und stellt insofern den gesamten Handlungsablauf von vornherein in Frage. Bei dem angesprochenen typischen Charakterzug, mensch- liche Schwächen mittels maßloser Übertreibung in unmenschliche Stärken zu verwandeln, wird die Neutralisierung von Bezeichnungen ersichtlich. Die Schiffs- reise nach Schweden offenbart zwar den menschlichen Zug der Seekrankheit, doch übersteigert er dies durch einen unmenschlich anmutenden Brechanfall, der durch seine übertiebene und prahlerische Darstellung die inoffiziellen Leistungs- maßstäbe von Schelmuffsky geltend machen soll, um die Schwäche in einen Sieg zu verwandeln. Eigene, inoffizielle Leistungsmaßstäbe dienen der Abkehr von Normen und Konventionen, wie es z.B. auch sein Tanz auf dem Hochzeitsball ausdrücken soll.

[...]


1 Vgl. Reuter, Christian: Schelmuffsky. Hg. Ilse-Marie Barth. Stuttgart: Reclam, 1964, S.17.

2 Vgl. Ebd., S.13.

3 Vgl. Ebd., S.12.

4 Vgl. Ebd., S.15.

5 Vgl. Ebd., S.23.

6 Vgl. Ebd., S.40.

7 Vgl. Ebd., S 42.

8 Vgl. Ebd., S.46.

9 Vgl. Ebd., S.48.

10 Vgl. Ebd., S.51.

11 Vgl. Ebd., S.53-54.

12 Vgl. Ebd., S. 55.

13 Vgl. Ebd., S.107.

14 Ebd., S.74.

15 Vgl. Ebd., S.75-76.

16 Vgl. Ebd., S. 114-115.

17 Vgl. Ebd., S.176.

18 Ebd., S.86.

19 Vgl. Fechner, Jörg-Ulrich: Schelmuffskys Masken und Me

20 Reuter: Schelmuffsky; a.a.O., S.17.

21 Vgl. Ebd., S.16.

22 Vgl. Ebd., S.62.

23 Vgl. Ebd., S.11.

Fin de l'extrait de 25 pages

Résumé des informations

Titre
Taugenichts, Schelm oder Angeber? Der Held in "Schelmuffsky" von Christian Reuter
Université
Ruhr-University of Bochum  (Germanistisches Institut der Ruhr-Universität-Bochum)
Cours
"Von Schelmuffsky bis Belphegor-Abenteuerromane des 18. Jahrhunderts"
Note
1,7
Auteur
Année
2001
Pages
25
N° de catalogue
V39912
ISBN (ebook)
9783638385657
ISBN (Livre)
9783668171381
Taille d'un fichier
416 KB
Langue
allemand
Mots clés
Taugenichts, Schelm, Angeber, Held, Reuters, Schelmuffsky, Belphegor-Abenteuerromane, Jahrhunderts
Citation du texte
Marco Antonic (Auteur), 2001, Taugenichts, Schelm oder Angeber? Der Held in "Schelmuffsky" von Christian Reuter, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39912

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