Wenn Zwänge das Leben von Kindern und Jugendlichen bestimmen

Gilles de la Tourette aus der Sicht von Betroffenen


Trabajo de Seminario, 2003

34 Páginas, Calificación: 5.5 (entspricht 1,5 in D)


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Problemzusammenhang
1.2 Hauptfragestellung

2. Historischer Rückblick

3. Diagnostik und Klinik von Tic-Störungen
3.1 Definitionen 3.2 Klassifikation
3.3 Erscheinungsformen und Häufigkeit
3.4 Ursachen und Verlauf
3.5 Therapie

4. Gilles de la Tourette
4.1 Bericht eines 15-jährigen Mädchens
4.2 Beschreibung des Tourette-Syndroms

5. „Mit dem Tourette-Syndrom leben“ aus verschiedenen Perspektiven
5.1 Betroffene
5.2 Familienangehörige
5.3 Die Schule

6. Sozialpädagogische Interventionsmöglichkeiten
6.1 Kinder- und Jugendpsychiatrie
6.2 Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulanz
6.3 Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen
6.3.1 Erziehungsberatung
6.3.2 Tagesgruppe
6.5 Fazit

7. Schlusswort

8. Bibliographie

1. Einleitung

1.1 Problemzusammenhang

„Wenn einer aus der Reihe tanzt, ist die Reihe besser zu sehen. Das Aussergewöhnliche, Andersartige und Besondere gehört zum Leben unabdingbar und macht es erst lebbar- erst lebendig!“ ( C. Hempel)

Ich habe deshalb dieses Thema ausgesucht, weil Menschen, die am Tourette-Syndrom (TS) leiden, zu diesem Aussergewöhnlichen, Andersartigen und Besonderen zählen. In einer Gesellschaft, die an Leistung und Ästhetik orientiert ist, fällt es besonders TS-Betroffenen schwer, sich einzugliedern und somit akzeptiert und respektiert zu werden. Aus eigenen Erlebnissen kann ich sagen, dass mein Unwissen über das Andersartige, mich unsicher macht. Bei meinen zwei mal wöchentlichem Einkauf in den Coop, treffe ich an der Kasse auf einen TS-Betroffenen. Unsicher wie auf seine Ticstörungen zu reagieren, schaute ich jeweils beschämt auf die andere Seite. Forschungsresultate zeigen auf, dass wie der junge Kassier im Coop ca. 5 bis 24% Kinder und Jugendliche in der Schweiz unter Ticstörungen leiden, darunter fallen ca. 300, die an einem Tourette-Syndrom erkrankt sind. Die meisten TS-Betroffenen leben zurückgezogen in der Isolation. Ich bin der festen Überzeugung, die Isolation kann nur aufgehoben werden, wenn das TS in der Gesellschaft thematisiert wird. Deshalb versuche ich dazu, anhand dieser Seminararbeit, einen kleinen Beitrag zu leisten.

Die Arbeit beschäftigt sich vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Ich möchte das Tourette-Syndrom aus drei verschiedenen Blickwinkeln darstellen. Erstens aus der psychopathologischen Sicht, zweitens aus der Sicht der Betroffenen und drittens aus der Sicht der sozialpädagogischen Arbeit. Deshalb habe ich die Arbeit in drei Interessensschwerpunkte gegliedert. Ich werde mit einem historischen Rückblick beginnen. Seit wann ist die Krankheit bekannt und wer gab dieser Krankheit den Namen „Gilles de la Tourette“? Das Tourette-Syndrom ist eine Sonderform von Ticstörungen. Es ist deshalb wichtig zuerst die Ticstörungen aus der psychopathologischen Sicht zu beschreiben und zusammen zu fassen. Ich habe mich gefragt, wie ein solches Krankheitsbild aussieht? Der erste Interessensschwerpunkt liegt darum in den Definitionen, Erscheinungsbild, Klassifikation, Häufigkeit, Ursachen, Therapie und Verlauf von Ticstörungen. Anschliessend und für den Rest der Arbeit möchte ich mich nur noch mit dem TS beschäftigen. Wie ich schon oben erwähnt habe, ist das Tourette-Syndrom eine Sonderform von Ticstörungen. Ich werde deshalb in einem separaten Kapitel das „Gilles de la Tourette“ vorstellen. Ich frage mich, wie sich die Zwänge physiologisch äussern? Es interessiert mich, welche Eigenschaften dieses Krankheitsbild aufweist. In einem ersten Teil möchte ich einen Erfahrungsbericht eines 15-jährigen Mädchens vorstellen. Im zweiten Teil des Kapitels versuche ich, aufbauend auf den Erfahrungsbericht, das Tourette-Syndrom mit seinen Zwängen zu beschreiben.

Mein zweiter Interessensschwerpunkt liegt auf den verschiedenen Sichtweisen, wie Betroffene, Angehörige und LehrerInnen mit dem TS umgehen. Ebenso möchte ich genauer aufzeigen, was es heisst, mit dem TS zu leben und wo Ausgrenzungen aus der Gesellschaft stattfinden. So frage ich mich: Wie findet die Ausgrenzung aus der Gesellschaft statt und wie gehen Betroffene und Angehörige damit um? Die Schule bzw. die LehrerInnen spielen ebenso eine wichtige Rolle. Deshalb ist es wichtig sich zu fragen, wie verhalten sich die LehrerInnen mit TS-Schülern und wie können sie den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, dass sie in der Schule integriert werden?

Die sozialpädagogischen Interventionsmöglichkeiten bilden den dritten und letzten Hauptschwerpunkt dieser Arbeit. Es ist leider im Rahmen dieser Seminararbeit nicht möglich auf alle Interventionsmöglichkeiten einzugehen, deshalb stelle ich nur eine Auswahl davon vor. Es interessiert mich hauptsächlich, welche Interventionsmöglichkeiten sich für Sozialpädagogen innerhalb einer Kinder- und Jugendpsychiatrie ergeben und in welchem Rahmen eine beratende Betreuung auch in der heimischen Umgebung des Kindes und der Familie möglich ist. Als eine sehr wichtige Frage erachte ich: Kann die Sozialpädagogik den Betroffenen helfen, sich in die Gesellschaft zu (re)integrieren. Ebenso möchte ich untersuchen, welche Formen der Eingliederungshilfen sowie Erziehungshilfen für Tourette-erkrankte Kinder und Jugendliche existieren.

Das Tourette-Syndrom und seine Problematik soll anhand verschiedener kurzer Fallbeispiele in der Arbeit verdeutlicht werden. Die Beispiele geben Einblick in das Leben der Betroffenen.

Die Literatur, die für diese Arbeit verwendet wird, ist hauptsächlich aus Deutschland. Es gibt leider nicht sehr viele Bücher, die sich mich dem Tourette-Syndrom befassen - meistens sind es Bücher von Betroffenen selbst, die sich über ihre Krankheit äussern. Ich möchte ergänzend zu den Büchern, verschiedene Artikel aus dem Internet sowie Zeitschriften hinzuziehen. Dabei war mir die Internetseite www.tourette.de (und ch.) sehr hilfreich. Ansonsten versuche ich möglichst viel Literatur aus allen Bereichen wie Psychologie, Medizin, Forschung, Soziale Arbeit und Autobiographien in die Arbeit einfliessen zu lassen. Somit kann das Tourette-Syndrom aus verschiedenen Winkeln beleuchtet und diskutiert werden.

1.2 Hauptfragestellung

- Was ist Gilles de la Tourette? Wie sieht ein solches Krankheitsbild aus ?
- Welche Probleme und Grenzen entstehen für TS-Betroffene, Angehörige und LehrerInnen und wie kann diese Krankheit frühzeitig erkannt werden?
- Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es für die Sozialpädagogik? Hilft die Sozialpädagogik den Betroffenen, sich in die Gesellschaft zu integrieren?

2. Historischer Rückblick

Das folgende Kapitel gibt einen kurzen Überblick über das TS in der Vergangenheit. Es werden verschiedene Ansichten der Krankheit aufgezeigt sowohl auch auf ein paar berühmte Persönlichkeiten eingegangen. Die verwendete Literatur findet sich meistens nur im Internet und kaum in Monographien.

Wie lange es das rätselhafte Tourette-Syndrom (TS) schon gibt, weiss niemand, doch obwohl die moderne Medizin diese Tic-Erkrankung scheinbar jetzt erst entdeckt, finden sich Beschreibungen Betroffener in fast allen geschichtlichen Epochen. Die älteste Erwähnung stammt von dem griechischen Gelehrten, Arzt und Hippokrates Schüler Aretios von Kapadokien, der schon vor etwa 2000 Jahren Fälle von Zuckungen, Grimassenschneiden, Gebell, plötzlichen Flüchen und unvermittelten blasphemischen Äusserungen beschreibt[1]. Er fand keine wissenschaftliche Erklärungen dafür und machte die Götter für diese Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich.

Als einzige Rettung für Menschen mit Tics galt im Mittelalter der Exorzismus, um die Dämonen wieder auszutreiben. Änderte sich auch danach nichts, blieb oft nur die „reinigende Kraft des Feuers“, um die angeblichen Hexen und Dämonen auf ewig zu verbannen und die Seele der Besessenen zu retten. Viele TS-Kranke starben so sicherlich einen grausamen Flammentod oder mussten in ständiger Angst leben, wegen ihrer Tics, bei der Inquisition denunziert zu werden. Der intolerante und menschenverachtende Umgang mit Tic-Betroffenen zu dieser Zeit hat bestimmt auch den tourett-kranken Prince de Conde, einen Adligen am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig dem XIV (1638-1715), dazu bewogen, sich einen Vorhang oder andere schnell greifbare Gegenstände in den Mund zu stopfen, damit er seine unfreiwilligen Bellgeräusche und Schreie am Hofe unterdrücken konnte und nicht unangenehm auffiel[2].

Die eigentliche Erstbeschreibung des TS entstand anhand eines Fallberichts über die adlige Madame de Dampierre, welcher von Jacques Itard im Jahre 1825 verfasst wurde. Madame de Dampierre litt zunächst unter krampfhaften Kontraktionen der Hand- und Armmuskeln. Im weiteren Verlauf ihrer Erkrankung stellten sich jedoch zusätzlich Körperverdrehungen, ausserordentliche Grimassen, bizarre Schreie, sowohl das sinnlose Aussprechen von Worten ein. Nach einer Milchkur auf Anraten eines Arztes verschwanden ihre Symptome bis auf kleinere Zuckungen im Mund- und Halsbereich. Nach einigen Jahren jedoch traten ihre vokalen Symptome erneut auf und wurden durch eine zusätzlich auftretende Koprolalie zunehmend schlimmer. Madame de Dampierre verstarb 1884 einundachtzigjährig, ohne ihre gesellschaftliche Stellung durch ihre Tics verloren zu haben[3]. Aufgrund ihrer Lebensgeschichte schrieben französische Zeitungen noch lange Zeit nach ihrem Tod Berichte über ihre Tics und ähnliche Symptome.

Trotz einer unbefriedigenden Quellenlage ist die Liste historischer Persönlichkeiten, denen Wissenschaftler heute nachträglich eine Tic-Erkrankung attestieren, lang und hochkarätig besetzt: Napoleon, Molière und Peter der Grosse gehören genauso dazu wie der grosse, jung verstorbene Komponist Wolfang Amadeus Mozart. Vor allem schliessen neueste Untersuchungen das aus den Briefen des musikalischen Genies an das „liebe Bäsle“. In den unflätigen, heute wie damals unverhältnismässigen Kraftausdrücken, die er der jungen Frau schreibt, sieht die Forschung heute Anzeichen für eine vorhandene Koprolalie, ein zwanghaftes Ausstosses von Obszönitäten:

„... jetzt wünsch ich eine gute nacht, scheissen sie ins Bett, dass es kracht; schlafens gesund, reckens den Arsch zum Mund... leben sie recht wohl, ich küsse sie 1000 mal und bin wie allzeit der alte junge Sauschwanz Wolfgang Amadè Rosenkranz“[4].

Erst 1885 gelang es George Gilles de la Tourette (1857-1904), einem französischen Neurologen und Freund Sigmund Freuds, diese historischen Beobachtungen mit seinen Studien und Ergebnissen zu verknüpfen. Es wurde damit erstmals versucht, das rätselhafte Leiden von anderen neurologischen Erkrankungen zu unterscheiden und eine charakteristische Symptomatik zu entdecken. Neun tourette-kranke Patienten beobachtete er mit seinen Kollegen in einem Zeitraum von bis zu 60 Jahren. Die bekannteste von ihnen war die adlige Madame de Dampierre, deren Fall George Gilles de la Tourette von seinem berühmten Vorgänger und Lehrer Charcot übernahm. George Gilles de la Tourette wurde durch seine umfangreiche Fallstudie schnell in der Fachwelt berühmt. Als charakteristisch für das Syndrom beschrieb er detailliert verschiedene Zuckungen, unfreiwilliges Wiederholen von Wörtern oder Handlungen (Echolalie und Echopraxie) sowie das zwanghafte Ausstossen von Obszönitäten oder Flüchen (Koprolalie). Auch fand Tourette heraus, dass mehr Männer als Frauen von dieser Krankheit betroffen sind und viele Patienten überdurchschnittlich intelligent waren. Zudem stellte er fest, dass die untersuchten Betroffenen sich immer ihres Zustandes bewusst waren und grenzte das TS deutlich von der Epilepsie ab, mit der die Krankheit in der Vergangenheit immer wieder verwechselt worden war. Er entdeckte schliesslich, dass keiner seiner Patienten identische Symptome aufwiesen. Bei den meisten der Betroffenen treten Fälle von TS in ihrem nahen Verwandtschaftskreis auf. Damit zeichnete er den Weg der genetischen Forschung vor, welcher jedoch erst viele Jahre später aufgegriffen wurde. Nur in einem Punkt irrte der französische Neurologe. Da er nur Erwachsene untersuchte, ging er davon aus, dass es sich beim TS um ein chronisches, lebenslanges Leiden handelt[5].

Trotzdem haben viele Beobachtungen und Erkenntnisse George Gilles de la Tourettes bis heute Gültigkeit und zu Recht wurde die „Maladie des tics“ (die Krankheit der Tics) nach ihm umbenannt. Seine Leidenschaft für die verborgenen Seiten menschlichen Daseins wurden dem talentierten Neurologen und Spezialisten für Hysterien später dann allerdings zum Verhängnis. Eine seiner Patientinnen schoss ihm mit einer Pistole in den Kopf. Er konnte sich nie von dem Anschlag erholen. Zeitlebens litt er an Depressionen und vielen Manien und starb schliesslich 1904 in geistiger Umnachtung.

Nach dem Tod George Gilles de la Tourettes und seiner Entdeckung des Syndroms setzte eine Phase wildester wissenschaftlicher Spekulationen und Deutungsmöglichkeiten der Krankheit ein. Zunächst manifestierte sich die Sichtweise einer moralischen Erkrankung als Ausdruck von Willensschwäche oder Boshaftigkeit, die man versuchte erzieherisch, z.B. mit der Lektüre des Strubelpeter`s, zu bekämpfen. Mit dem Einzug der Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderten sich später zugleich auch die Erklärungsmodelle für das TS. Gehemmte Aggressionen, analer Sadismus, narzisstischer Onalismus, Abwehrtendenzen gegenüber lustbetonten Daumenlutschen, unbewusster muskulärer Erotizismus gegenüber dem Vater, waren zu dieser Zeit Erklärungsmodelle. Doch selbst Sigmund Freud stand diesen tiefenpsychologischen Ansätzen seiner Kollegen kritisch gegenüber und war davon überzeugt, dass es sich um eine organische Krankheit handelt[6].

Einen wichtigen Vorstoss im Umgang mit Tourette-Patienten machte in den 80er und 90er Jahren der New Yorker Neurologe Oliver Sacks. Durch seine Forschungen versucht die moderne Forschung heute das TS in seiner gesamten Komplexität zu begreifen. Man versucht das Leiden gegenwärtig als kombinierte „biopsychosoziale“ Funktionsstörung, für deren weitere Erforschung eine enge Zusammenarbeit unterschiedlichster medizinischer Fachgebiete unabdingbar ist.

3. Diagnostik und Klinik von Tic-Störungen

3.1 Definitionen

H.C. Steinhausen definiert Tics folgendermassen: „Tics sind plötzlich einschiessende, sich wiederholende Bewegungen, die nicht vom Willen gesteuert sind, nicht rhythmisch sind und auf einige umschriebene Muskelgruppen beschränkt sind. Zu den Tics zählen ferner ebenso plötzlich einsetzende und zwecklose Lautproduktionen (Vokalisationen). Wenngleich Tics als willkürlich nicht beeinflussbar erlebt werden, können sie vorübergehend unterdrückt werden; sie treten nicht im Schlaf auf. Tics beginnen typischerweise im Kindes- oder Jugendalter“[7].

3.2 Klassifikation

Es handelt sich um Syndrome, bei denen das vorwiegende Symptom ein Tic ist. Sowohl motorische als auch vokale Tics können entweder als einfach oder komplex klassifiziert werden, die Abgrenzungen sind jedoch schlecht definiert. Es gibt eine grosse Variationsbreite des Schweregrades von Tics. An einem Extrem ist das Phänomen fast normal, da vielleicht 1 von 5 bis 10 Kindern zu irgendeiner Zeit passagere Tics zeigen. Am anderen Extrem steht das Tourette-Syndrom als eine seltene chronische, behindernde Störung. Es besteht Unsicherheit darüber, ob diese Extreme verschiedene Störungen oder Pole desselben Kontinuums repräsentieren. Viele Fachleute halten letzteres für wahrscheinlicher[8].

Das ICD-10 gibt diagnostische Leitlinien vor, die im Folgenden kurz erläutert werden: Die Hauptmerkmale, die Tics von anderen motorischen Störungen unterscheiden, sind die plötzliche, rasche, vorübergehende und umschriebene Art der Bewegungen, zusammen mit dem Fehlen von Hinweisen auf eine zugrundeliegende neurologische Störung; ihre Wiederholungstendenz; (üblicherweise) das Nichtauftreten während des Schlafs und die Leichtigkeit, mit der sie willkürlich unterdrückt oder produziert werden können. Das Fehlen von Rhythmizität unterscheidet Tics von stereotypen repetitiven Bewegungen, wie sie manchmal bei Autismus oder Intelligenzminderung gesehen werden. Motorische Aktivitäten, die bei diesen Störungen beobachtet werden, zeigen meist komplexere und variablere Bewegungen, als sie üblicherweise bei Tics gesehen werden. Zwangshandlungen gleichen manchmal komplexen Tics, unterscheiden sich jedoch dadurch, dass ihre Ausgestaltung eher durch den Zweck (etwa ein Objekt in einer bestimmten Häufigkeit zu berühren oder umzudrehen) als durch die betroffene Muskelgruppe definiert wird; dennoch ist die Unterscheidung manchmal schwierig.

Tics treten oft als isoliertes Phänomen auf, sind jedoch nicht selten von verschiedensten emotionalen Störungen begleitet, insbesondere von Zwangsphänomenen und hypochondrischen Symptomen. Spezifische Entwicklungsstörungen können ebenfalls mit Tics einhergehen. Es gibt keine klare Trennungslinie zwischen Ticerkrankungen mit emotionalen Störungen und emotionalen Störungen mit Tics. Die Diagnose soll nach dem vorherrschenden Teil der Störung gestellt werden.

Im letzten Abschnitt werden die Ticstörung nach ICD-10 in drei Hauptformen klassifiziert[9]:

Die erste Form von Ticstörungen ist die vorübergehende Ticstörung nach F95.0. Sie erfüllt die allgemeinen Kriterien für eine Ticstörung. Die Tics halten nicht länger als 12 Monate an. Die häufigsten Ticformen treten vor allem im Alter von 4 oder 5 Jahren auf. Sie haben meist die Form von Blinzeln, Grimassieren oder Kopfschütteln. In einigen Fällen treten die Tics als einmalige Episode auf, jedoch gibt es in anderen Fällen einen Verlauf mit Besserung und Rückfällen über einige Monate.

Die chronischen motorischen oder vokalen Ticstörungen nach F95.1 bilden die zweite Form von Ticstörungen. Sie erfüllt die allgemeinen Kriterien für eine Ticstörung mit motorischen oder vokalen (jedoch nicht beiden Tics), die einzeln oder multipel (gewöhnlich jedoch multipel) auftreten und länger als ein Jahr andauern.

Die dritte Form ist der kombinierte vokale und multiple motorische Tic (Tourette-Syndrom) nach F95.2. Dies ist eine Form der Ticstörung, bei der es gegenwärtig oder in der Vergangenheit multiple motorische Tics und einen oder mehrere vokale Tics gibt oder gegeben hat, nicht notwendigerweise gleichzeitig. So gut wie immer liegt der Beginn in der Kindheit oder Adoleszenz. Gewöhnlich gibt es eine Vorgeschichte motorischer Tics, bevor sich vokale Tics entwickeln; die Symptome verschlechtern sich häufig während der Adoleszenz, und üblicherweise persistiert die Erkrankung bis ins Erwachsenenalter. Die vokalen Tics sind oft multipel mit explosiven repetitiven Vokalisationen, Räuspern, Grunzen und Gebrauch von obszönen Wörtern oder Phrasen. Manchmal besteht eine begleitende gestische Echopraxie, die ebenfalls obszöner Natur sein kann (Kopropraxie). Wie die motorischen Tics können die vokalen für kurze Zeiträume willkürlich unterdrückt und durch Stress verstärkt werden. Sie verschwinden während des Schlafs.

Die kurz erläuterten drei Hauptformen von Ticstörungen werden im folgenden Kapitel 3.3 noch genauer beschrieben und diskutiert.

3.3 Erscheinungsformen und Häufigkeit

In diesem Kapitel werden die drei Hauptformen „vorübergehende, motorische oder vokale sowie kombinierte motorische und vokale Tics“ im Einzelnen genauer beschrieben. Es wird davon ausgegangen, dass die Jungen drei mal mehr Ticstörungen aller Formen haben als Mädchen. Zuerst wird auf die vorübergehenden Ticstörungen eingegangen. In den Veröffentlichungen, die sich mit Ticstörungen befasst haben, wird der kurzdauernden Ticstörung des Kindesalters nur wenig Beachtung geschenkt. Vielfach werden die Abgrenzungen zwischen vorübergehenden und chronischen vokalen bzw. motorischen Tics und dem TS nicht ausreichend klar dargestellt. Dies liegt sicher mit daran, dass bezüglich des einfachen kurzdauernden Tics des Kindesalters, nicht zuletzt wegen mangelnder empirisch überprüfbarer definitorischer Klarheit, wenig sorgfältig erhobene Daten vorliegen. Vielmehr wurde und wird immer noch in Lehrbüchern deutscher Sprache von nicht belegten Annahmen ausgegangen[10].

[...]


[1] Vgl. Baumann 1998, S. 1ff..

[2] Vgl. www.tourette.de/forschung/gesch.shtml

[3] Vgl. www.tourette.de/forschung/gesch.shtml

[4] Hildesheimer 1977, S. 128.

[5] Vgl. www.tourette.de/forschung/gesch.shtml

[6] Vgl. www.tourette.de/forschung/gesch.shtml

[7] Steinhausen 2000, S. 93.

[8] Vgl. ICD-10 2000, S. 315ff..

[9] Vgl. ICD-10 2000, S. 316.

[10] Vgl. Rothenberger 1991, S. 10f..

Final del extracto de 34 páginas

Detalles

Título
Wenn Zwänge das Leben von Kindern und Jugendlichen bestimmen
Subtítulo
Gilles de la Tourette aus der Sicht von Betroffenen
Universidad
University of Zurich
Calificación
5.5 (entspricht 1,5 in D)
Autor
Año
2003
Páginas
34
No. de catálogo
V39919
ISBN (Ebook)
9783638385688
ISBN (Libro)
9783656246930
Tamaño de fichero
643 KB
Idioma
Alemán
Notas
Note in Deutschland: 1,5
Palabras clave
Wenn, Zwänge, Leben, Kindern, Jugendlichen, Gilles, Tourette, Sicht, Betroffenen
Citar trabajo
Lic phil I Fränzi Meili (Autor), 2003, Wenn Zwänge das Leben von Kindern und Jugendlichen bestimmen , Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39919

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