Zucht in Ordnung. Über die Allgegenwärtigkeit der Eugenik


Master's Thesis, 2018

180 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Grundlagen der Eugenik

1.1. Begriff, Ziel und Wesen der Eugenik

1.2. Formen der Eugenik

1.3. Wegbereiter der Eugenik

1.4. Vater der Eugenik

1.5. Geschichte der Eugenik

2. Zeitliche und räumliche Dimension der Eugenik

2.1. Eugenik in Deutschland vor 1933

2.2. Eugenik in Deutschland nach 1945

2.3. Eugenik in Österreich

2.4. Eugenik in der Schweiz

2.5. Eugenik in Großbritannien

2.6. Eugenik in Italien

2.7. Eugenik in Skandinavien

2.8. Eugenik in den USA

2.9. Eugenik in der Sowjetunion

3. Ideologische Dimension der Eugenik

3.1. Sozialistische Eugenik

3.2. Feministische Eugenik

3.3. Katholische Eugenik

4. Aktuelle Dimension der Eugenik

4.1. Reproduktionsmedizin

4.2. Samenspende

4.3. Leihmutterschaft

4.4. IVF und ICSI

4.5. Eizellspende

4.6. Tragemutterschaft

4.7. Präimplantationsdiagnostik

4.8. Pränatale Diagnostik

4.9. Reproduktionsmedizin und Gesellschaft

4.10. Wie eugenisch ist die Reproduktionsmedizin?

Fazit

Quellenverzeichnis

Autor

Einleitung

„Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf.“

(Friedrich Nietzsche)

Das wahrscheinlich bekannteste, mit Sicherheit aber dunkelste Kapitel der Eugenik ist das der Zeit des Nationalsozialismus. Sie ist seither diskreditiert und der Begriff negativ besetzt. Die heute weit verbreitete Gleichsetzung von eugenischen Zielen und NS-Ideologie ist jedoch historisch falsch. Zwar lässt sich die Eugenik perfekt in das Weltbild der Nationalsozialisten integrieren (und vice versa), dennoch kann diese weder zeitlich noch geografisch noch ideologisch auf den Nationalsozialismus beschränkt werden. Dies aufzuzeigen ist Ziel der gegenständlichen Arbeit, die sich auf folgende drei Hypothesen stützt:

1. Zeitliche und räumliche Dimension: Eugenik ist weder ein spezifisch deutsches Phänomen noch ein Phänomen des Zeitraums von 1933 bis 1945. Sie existiert davor, sie existiert danach und man findet sie in unterschiedlichen Ausprägungen in nahezu allen Industrieländern.

2. Ideologische Dimension: Die deutsche Rassenhygiene geht mit dem Nationalsozialismus zwar eine perfekte Symbiose ein, dennoch ist es falsch, sie darauf zu reduzieren. Die Eugenik ist auch gegenüber anderen Weltanschauungen anschlussfähig.

3. Aktuelle Dimension: Eugenik ist kein Phänomen der Vergangenheit. Sie existiert, wenn auch in veränderter Form, noch immer und berührt zahlreiche aktuelle Themen, wie etwa das Beispiel der medizinisch unterstützten Fortpflanzung zeigt.

Im ersten Kapitel werden zunächst Begriff, Wesen, Formen und Geschichte der Eugenik sowie ihre wichtigsten Vertreter vorgestellt. Im Anschluss daran, wird jede der drei Thesen in einem eigenen Kapitel einer kritischen Prüfung unterzogen.

Das Aufzeigen einer Existenz der Eugenik abseits des Nationalsozialismus hat nicht nur wissenschaftlichen Selbstzweck. Es ist auch deshalb dringend erforderlich, da ansonsten eine sachliche Debatte zu eugenischen Fragen erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht wird. Innerhalb dieser Debatten sehen sich Befürworter fortwährend in der Defensive, die Eugenik von den Schatten ihrer NS-Vergangenheit abzugrenzen, indem sie die Unterschiede zwischen alter und neuer Eugenik betonen. Kritikern der Eugenik dient der Verweis auf den Nationalsozialismus hingegen als argumentative Allzweckwaffe, die auch dort gerne eingesetzt wird, wo sie historisch unbegründet ist.[1]

Dass eugenische Fragestellungen nichts von ihrer Aktualität verloren haben, zeigt sich an aktuellen Debatten zu Gentechnik, Stammzellenforschung, Euthanasie oder Migration.[2] Zur Vermeidung von Dogmen, Sprech- und Denkverboten oder der in heiklen Fragen weit verbreiteten Tendenz zu vorauseilender Selbstzensur soll die Arbeit einen kleinen Beitrag leisten, die persönliche Einstellung des Lesers zu diesem kontroversen Thema zu qualifizieren und die Debatte zu versachlichen.

Das in der Arbeit verwendete generische Maskulinum ist ausschließlich dem Lesefluss geschuldet. Selbstverständlich sind damit jedoch Personen jedweder geschlechtlichen, genetischen oder eugenischen Zuteilung gemeint.

1. Grundlagen der Eugenik

„What nature does blindly, slowly and ruthlessly, man may do providently, quickly, and kindly.“ (Francis Galton)

1.1. Begriff, Ziel und Wesen der Eugenik

Motor der Evolution sind Genmutationen sowie die Mischung der elterlichen Erbanlagen durch geschlechtliche Fortpflanzung. [3] Charles Darwin beschreibt das Prinzip der Selektion als natürlichen Mechanismus evolutionärer Entwicklung, weiß aber noch nichts über die physiologischen Prozesse, die eine Anpassung bewirken und wie sich diese Anpassung über Generationen verfestigt. Die Evolutionslehre ist somit nur ein Postulat einer steten Weiterentwicklung, wobei „weiter“ nicht normativ im Sinne von „besser“, sondern nur im Sinne von „besser angepasst“ zu verstehen ist. Die Maxime der Evolution ist Opportunismus und der Gradmesser für das Überleben einer Spezies ist deren Fitness iSe optimalen Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten.[4]

Im Unterschied zur Evolutionstheorie ist die Eugenik normativ. Sie will den Auswahlprozess nicht dem natürlichen Trial-and-error-Prinzip überlassen, sondern bewusst gestalten. Der normative Charakter zeigt sich schon im Begriff selbst: Eugenik bedeutet wörtlich übersetzt „gut Erzeugtes“. [5] Ihr Begründer Francis Galton definiert sie als „die Wissenschaft, die sich mit den Einflüssen befasst, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern und welche diese Eigenschaften zum größtmöglichen Vorteil der Gesamtheit zur Entfaltung bringen.“[6] Eugenik will demnach sowohl das Leben des einzelnen als auch das der Gesellschaft kontrollieren, das Fortpflanzungsverhalten Generationen übergreifend rationalisieren und die Bevölkerung dadurch optimieren. [7]

Die Beziehung zwischen Eugenik und Moderne ist eine doppelte. Zum einen ist die Eugenik eine Antwort auf die durch die Moderne hervorgerufenen Krisen (Krieg, Verelendung, Degeneration), zum anderen ist sie als Sozialtechnologie selbst ein Kind der Moderne. Sie ist demnach eine moderne Antwort auf moderne Fragen. [8] Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit sowie der Ausbau von Gesundheitsvorsorge und sozialer Kontrolle ebnen der Eugenik den Weg. Zahlreiche Errungenschaften in den Bereichen Hygiene und Seuchenbekämpfung bewirken ein nahezu uneingeschränktes Vertrauen in die Möglichkeiten der Humanmedizin. [9] Die Wissenschaft wird zur Ersatzreligion[10] und der Wissenschaftler nimmt die Position einer moralischen Autorität ein. [11] Was der Taylorismus für die Arbeitswelt ist, ist die Eugenik für die Fortpflanzung: eine auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierte Prozesssteuerung zur Effizienzsteigerung. Dazu teilt die Eugenik das Leben in Kategorien (gut/schlecht, normal/anormal) und erstellt anhand dieses Interpretationsschemas eine Kosten-Nutzen-Rechnung: rentable Nachkommenschaft wird gefördert, unrentable Menschen, die mehr kosten als nutzen, sollen im Idealfall erst gar nicht geboren werden. Dieser technokratische Zugang erklärt den Erfolg der Eugenik vor allem in Industrieländern wie England, Deutschland oder den USA. [12]

Treibende Kraft für die Eugenik sind vor allem die demografischen Krisen. In quantitativer Hinsicht sind dies der Geburtenrückgang sowie das damit verbundene Szenario vom Aussterben der Nation. In qualitativer Hinsicht sind es die differentielle Geburtenrate [13] sowie der „survival of the unfit“. Da die Eugenik ebenso pronatalistische wie neomalthusianische Ansätze bedienen kann, ist sie für das linke und rechte politische Spektrum gleichermaßen anschlussfähig. [14] Für die Auswirkungen der Industrialisierung (Armut, Krankheit, Alkoholismus, Kriminalität) liefert die Eugenik sowohl die Erklärung als auch die Lösung: nicht die schlechten Lebensverhältnisse sind für diese Phänomene verantwortlich, sondern die mangelhafte Konstitution der Betroffenen, die diese zudem von Generation zu Generation weitergeben. Zur Lösung des Problems müssen demnach nicht die Lebensbedingungen verbessert, sondern diese Menschen an der Weitergabe ihrer schlechten Erbanlagen gehindert werden. [15]

Da in kapitalistischen Industrieländern die Gesundheit der Bevölkerung zur Erhaltung der Arbeitskraft erforderlich ist, hat die Eugenik stets auch eine gesellschaftliche Dimension und versteht sich deshalb als soziale Bewegung.[16] Sie ist dabei nicht auf den einzelnen Nationalstaat beschränkt, sondern international ausgerichtet. Die Eugenik bedient sich dazu unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen wie Biologie, Anthropologie, Psychologie, Soziologie, Humangenetik oder Bevölkerungswissenschaft und sucht gemäß ihrem Selbstverständnis als angewandte Wissenschaft stets den Schulterschluss mit der Politik. [17] Durch die eugenische Trennung von (triebgesteuerter) Sexualität und (rationaler) Fortpflanzung, werden auch die Machtbeziehungen zwischen diesen getrennt. [18] Vererbung wird nicht mehr durch die Regulierung des Sexualverhaltens gesteuert, sondern durch die kontrollierte Weitergabe der Gene. [19]

Der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) unterscheidet zwischen zwei Machttypen. Die autoritäre und repressive Souveränitätsmacht ist die Macht, zu töten oder leben zu lassen. Ihr Gegenstück ist die mit der Moderne entstehende Biomacht. Sie ist die Macht, Leben zu geben oder sterben zu lassen und organisiert dazu die Prozesse des Daseins nach Wert und Nutzen. Während das Druckmittel der Souveränitätsmacht die Bedrohung mit dem Tod ist, ist das Druckmittel der Biomacht die Verantwortung für das Leben.[20] Die Souveränitätsmacht wird durch die Biomacht nicht abgelöst, sondern nur ergänzt, indem das Tötungsrecht der Souveränitätsmacht in den Dienst der Biomacht gestellt wird, um das Leben zu optimieren. Die Gemeinschaft soll gegen Gefahren von außen (andere Rassen [21]) und innen (Krankheit, Behinderung) geschützt werden. Die Auslese des Minderwertigen gilt im Sinne eines „survival of the fittest“ als Fortschritt, der Tod des einzelnen als Beitrag zum Leben des Kollektivs. Die Tötung wird dabei dem Bereich der Medizin überantwortet, die sich sowohl auf den individuellen Körper als auch auf den gesamten Bevölkerungskörper bezieht. Die Medizin möchte den einzelnen dazu bringen, Verantwortung für sich selbst und das Kollektiv zu übernehmen, wozu auch die Bewertung von Chancen und Risiken zählt. Wer trotz negativer genetischer Disposition Risiken eingeht, überträgt diese auf die Gemeinschaft. Dies legitimiert die Tötung von Embryonen mit ungünstigen Erbanlagen.[22] Indem das reproduktionstechnische Wissen immer mehr wird, steigt die aus der Biomacht resultierende Verantwortung. [23] Die Biomacht geht wiederum aus zwei anderen Machtformen hervor: Disziplinarmacht und Biopolitik. Die Disziplinarmacht [24] kontrolliert den individuellen Körper auf der Mikroebene und will dessen Stärke durch Training steigern, die Biopolitik kontrolliert den Volkskörper auf der Makroebene und erfasst die Fortpflanzungs- und Sterblichkeitsraten. [25] Als Scharnier zwischen beiden dient die Sexualität. [26] Sie ist nämlich einerseits körperliches Verhalten, das diszipliniert werden kann (Disziplinarmacht), andererseits gehen aus ihr Kinder hervor, deren Gesundheit kontrolliert und reguliert wird (Biopolitik). [27]

Im 19. Jahrhundert ändert sich der Blickwinkel der Medizin: nicht mehr die Krankheit des einzelnen, sondern die Krankheit als kollektives Phänomen rückt in den Fokus. Mediziner identifizieren kleinste Abweichungen von der Norm und untersuchen neben dem Sichtbaren auch Chancen und Risiken. Die Behandlung dient dann nicht mehr nur der individuellen Heilung, sondern der Kontrolle der Wirksamkeit der Behandlungsmethode. [28] Durch die kollektive Untersuchung von Krankheiten als Massenphänomen und die Ermittlung statistischer Werte werden körperliche Norm- und Durchschnittswerte zum Maß der Dinge.[29] Die Zugehörigkeit zum Gesellschaftskörper wirkt dabei klassifizierend: Funktionieren ist die Norm, Nicht-Funktionieren ist pathologisch. [30] Um dies zu gewährleisten, ist Vorsorge notwendig, weshalb die Biomacht auch in die Zukunft wirkt, etwa in Form von Hygienevorschriften oder Krankenversicherung.[31]

1.2. Formen der Eugenik

Eugenik kann nach unterschiedlichen Kriterien systematisiert werden. Anhand des wohl wichtigsten Kriteriums, der Methode, lässt sich zwischen positiver und negativer Eugenik unterscheiden. Unter positiver Eugenik versteht man Maßnahmen zur Förderung von erwünschten Erbanlagen, unter negativer Eugenik die Verhinderung von unerwünschten Erbanlagen. Die Eugenik selbst macht jedoch keine Angaben, was unter erwünschten bzw. unerwünschten Anlagen zu verstehen ist und lässt dementsprechend viel Interpretationsspielraum offen.[32] Da die Trennlinie zwischen positiver und negativer Eugenik unscharf verläuft, lassen sich beispielsweise Maßnahmen der Präimplantationsdiagnostik beiden Kategorien zuordnen. Auch kann jede vorenthaltene positive Maßnahme als negative interpretiert werden und umgekehrt. Zudem sei darauf hingewiesen, dass positiv nicht im Sinne von „moralisch gut“, negativ nicht im Sinne von „moralisch schlecht“ zu verstehen ist. Vielfach scheint sogar das Gegenteil der Fall zu sein: negative Eugenik erfolgt meist aus medizinischen Gründen und zielt auf die Beseitigung eines „Übels“, weshalb sie als moralisch zulässiger eingestuft wird als züchtungs-utopische positiv-eugenische Maßnahmen.[33] Zu den Instrumenten positiver Eugenik zählen Zeugungsaufrufe, Ehevermittlung, Auszeichnungen oder finanzielle Anreize [34] für erbgesunde Nachkommenschaft, Siedlungs-[35] und Migrationspolitik, [36] staatliche Zwangsmaßnahmen,[37] Methoden der Reproduktionsmedizin (Samen-, Eizellspende, PID) aber auch Verbote oder sonstige Maßnahmen zur Verhinderung von Empfängnisverhütung oder Abtreibung.[38] Zur negativen Eugenik zählen Ehetauglichkeitszeugnis und Eheverbot, Inzestverbot, Gesundheitsbuch, [39] Sterilisation und Kastration, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Asylierung und Verwahrung, die Tötung „unwerten“ Lebens, natürlicher oder künstliche Selektionsdruck [40] sowie Instrumente der Reproduktionsmedizin (PID, PND). Ein zweites Unterscheidungskriterium ist das angestrebte Ziel. Zumeist werden mit eugenischen Maßnahmen qualitative Ziele im iSe einer Verbesserung der Nachkommenschaft verfolgt. Doch die Eugenik umfasst auch quantitative Ziele wie die Bekämpfung des Geburtenrückganges oder der Säuglingssterblichkeit. Eine entgegengesetzte quantitativ-eugenische Maßnahme ist die in China lange Zeit praktizierte Ein-Kind-Politik. Hinsichtlich der Intensität kann zwischen moderaten Eingriffen (z.B. einer Steigerung des IQ) und radikalen Eingriffen (z.B. der Schaffung neuer Fähigkeiten) unterschieden werden. Entscheidet der Betroffene selbst über den Einsatz eugenischer Maßnahmen, so spricht man von autonomer (liberaler, freiwilliger, dezentraler) Eugenik, entscheidet hingegen jemand anderer, so spricht man von heteronomer (staatlicher, zwangsweiser, zentraler) Eugenik. Weiteres kann ein eugenischer Eingriff aktiv (durch Tun) oder passiv (durch Unterlassen) erfolgen. Ein Beispiel für letzteres wäre es, wenn einem behinderten Neugeborenen erforderliche Maßnahmen des Überlebens vorenthalten werden. Schließlich kann auch noch danach differenziert werden, ob der Einfluss auf die Erbanlagen direkt (z.B. durch Keimtherapie) oder indirekt (z.B. durch Abtreibung aufgrund von PND) erfolgt.[41]

1.3. Wegbereiter der Eugenik

Die Idee zur Verbesserung menschlicher Nachkommenschaft ist nicht neu. Von der Tötung kranker Neugeborener bei den Spartanern über die Züchtungsutopien Platons zieht sich eine Spur eugenischen Gedankenguts bis in die frühe Neuzeit, welches jedoch mangels wissenschaftlicher Kenntnisse nie über den Status spekulativer Annahmen hinausgeht. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liefert die Forschung erste Einblicke in die Mechanismen der Vererbung. [42] Als Begründer der Eugenik gilt Francis Galton, dessen Theorie auf den Erkenntnissen von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen aufbaut, deren wichtigste Vertreter in chronologischer Reihenfolge kurz vorgestellt werden.

Der Genfer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge und Naturforscher Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) wendet sich in seinem 1755 erschienenen Werk „Discours sur l´inégalité“ vom vorherrschenden Geschichtsoptimismus ab, indem er den Degenerationsbegriff einführt. Durch die Zivilisation haben sich die Menschen von der Natur abgewandt, erweiterte Bedürfnisse, Müßiggang der Reichen und Überarbeitung der Armen führen beim Menschen zu denselben Degenerationserscheinungen, wie sie auch bei domestizierten Tieren festzustellen sind. [43]

Der französische Botaniker und Zoologe Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) gilt als Begründer der modernen Zoologie der wirbellosen Tiere. Nach seiner Theorie können Organismen Eigenschaften, die sie während ihres Lebens erwerben, an ihre Nachkommen weitergeben. [44] Die Konsequenz aus dem Lamarckismus ist, dass evolutionärer Fortschritt nicht nur durch Selektion, sondern auch durch Medizin, Hygiene, Erziehung oder bessere Lebensbedingungen möglich ist. [45]

Der britische Ökonom Thomas Robert Malthus (1766-1834) geht davon aus, dass die Bevölkerung geometrisch, das Nahrungsangebot jedoch nur arithmetisch wächst.[46] Aufgrund des daraus resultierende Nahrungsmangels fordern Malthusianer präventive Maßnahmen zur Geburtenreduktion wie Heiratsbeschränkungen oder sexuelle Enthaltsamkeit, ihre Nachfolger, die Neomalthusianer, setzen hingegen auf moderate Methoden wie Familienplanung oder Verhütung. [47]

Der französische Psychiater Benedict Augustin Morel (1809-1873) formuliert 1857 seine Degenerationstheorie, [48] der zufolge asoziales Milieu und unmoralischer Lebenswandel Ursache für krankhaftes Verhalten sind. Körperliche und geistige Krankheiten würden demnach nicht nur an die Nachkommen weitergegeben, sondern nehmen von Generation zu Generation sogar zu. Das Morel´sche Gesetz verbreitet sich rasch und scheint durch sichtbare Phänomene wie zunehmenden Alkoholismus, steigende Kriminalität oder überfüllte Nervenheilanstalten bestätigt. [49]

Der britische Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) entwickelt in seinen Hauptwerken[50] Begriffe, die den politischen Diskurs im 19. Jahrhundert bestimmen. [51] Der wohl wichtigste ist der „struggle for life“, [52] zu dem er durch die Studie der Malthusianischen Bevölkerungstheorie kommt, die er auf die Natur überträgt. Neben der natürlichen Auslese gibt es noch ein zweites Selektionskriterium, nämlich den Wettbewerb um das andere Geschlecht. Natürliche und sexuelle Auslese verstärken günstige Mutationen, [53] weshalb sich diese langfristig durchsetzen und so zur Herausbildung neuer Arten führen. [54] Die Veränderungen verlaufen langsam über mehrere Generationen. Die so entwickelten Typen sind zwar nicht starr, aber doch über längere Zeiträume stabil. Erst mit diesem Ansatz wird es möglich, Rassen einerseits als feste Typen zu verstehen und gleichzeitig ihre Veränderbarkeit anzuerkennen. [55] Dadurch weicht die Vorstellung einer Beständigkeit der Spezies einer prozesshaften Sicht des Lebens.[56] Die Natur erhält ihr Gleichgewicht, indem sie alles, was dieses Gleichgewicht stört, durch Tötung oder geringere Fortpflanzung eliminiert. [57] Darwin beschreibt die Evolution als stete Weiterentwicklung, nimmt aber seinen Vetter Galton vorweg, indem er auch eine Rückentwicklung nicht ausschließt. [58]

Der französische Schriftsteller Arthur de Gobineau (1816-1882) publiziert einen Essay,[59] in dem er das Konzept der Rassenmischung einführt und entgegen jeder Wissenschaftlichkeit den Begriff des Ariers auf den Bereich der Rassentheorien überträgt. [60] Er geht von einer arischen Ursprungsrasse aus und will diese erhalten bzw. durch Züchtung wiederherstellen. Die Vermischung von Rassen betrachtet er hingegen als schädlich.[61] Gobineaus Thesen finden zahlreiche Anhänger, [62] was zur Gründung von Gobineau-Vereinen führt. [63] Rassentheoretiker deuten die Bezeichnung „arisch“ später in „germanisch-nordisch“ um. So schreibt etwa der englische Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) in Anlehnung an Gobineaus Thesen seine 1899 erscheinenden „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“, das zu einem antisemitischen Standardwerk wird.[64]

Der österreichische Priester und Naturforscher Gregor Mendel (1822-1884) entdeckt bei seinen Kreuzungsexperimenten mit Erbsen und Bohnen, dass sich bestimmte Merkmale unabhängig voneinander von der Elternpflanze auf die Nachkommen vererben und neu kombinieren lassen. [65] Die Mendel´schen Regeln werden zunächst als falsch erachtet, [66] erst eine Veränderung der Diskursregeln[67] bringt neue Einsichten, welche die von Darwin 1859 publizierte Selektionstheorie untermauern. [68] Die Mendel´schen Gesetze werden später von den Rassehygienikern mit der Rassenanthropologie verbunden.[69]

Der deutsche Biologe und Begründer des Neodarwinismus August Weismann (1834-1914) widerlegt den Lamarckismus, indem er sich der Erkenntnisse Mendels bedient. Nach Weismann bestehen Organismen aus Keimzellen, welche die Erbinformationen enthalten und nicht durch äußere Einflüsse verändert werden können („Weismann-Barriere“). Damit ist eine Weitergabe erworbener Eigenschaften an die nächste Generation (vgl. Lamarckismus) ausgeschlossen. [70] Die Keimzelle selbst ist unsterblich, da sie aus sich heraus ein vollständiges Individuum bilden kann und der Körper dient nur als ihr Träger. [71] Der Selektionskampf findet im Inneren der Zelle (Keimplasma) statt. Auch Organe und die Vererbungssubstanz gehorchen den Prinzipien des Daseinskampfes. [72] Entfällt der Selektionsdruck, so werden die Organe schlechter. [73]

1.4. Vater der Eugenik

Kaum hat die Aufklärung die Menschen in sexuellen Belangen von gesellschaftlichen und kirchlichen Zwängen befreit und freie Partnerwahl ermöglicht, wird diese Freiheit durch die Darwin´sche Evolutionstheorie erneut relativiert. Die Eugenik stellt die Sexualität schließlich in den Dienst der Wissenschaft und macht sich zur Lösung eines durch sie selbst geschaffenen Problems.[74] Als Vater der Eugenik gilt der britische Naturforscher und Schriftsteller Francis Galton (1822-1911), der in seinen Werken Vererbungslehre, Anatomie, Medizin, Anthropologie und Psychiatrie kombiniert. [75] Galton ist ein typischer Amateurwissenschaftler, der seine Forschungen in unterschiedlichsten Themenfeldern [76] aus eigenen Mitteln finanziert.[77] Als Cousin und Anhänger Darwins will er dessen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen und in die Praxis umsetzen, wobei er sich in einigen Punkten von seinem Vetter unterscheidet. So lehnt er etwa Darwins Pangenesistheorie einer Weitergabe erworbener Eigenschaften an die nächste Generation ab. Galton ist der erste, der sich nicht nur allgemein für Vererbung, sondern auch für quantifizierbare und messbare Relationen zwischen den Generationen interessiert. Seine statistische und biometrische Methodik ist zur damaligen Zeit bahnbrechend. [78]

Ausgangspunkt von Galtons Überlegungen, die er 1865 in dem Aufsatz „Hereditary Talent and Character“ veröffentlicht, ist die Feststellung, dass die meisten bekannten Wissenschaftler, Juristen, Künstler und Politiker des viktorianischen Englands miteinander verwandt sind. [79] Intelligenz, Talent oder Eifer kommen in diesen Familien vermehrt vor und sind demnach in der Gesellschaft nicht gleichverteilt. [80] Galton schließt daraus, dass diese geistigen Eigenschaften ebenso vererbt würden wie körperliche.[81] Da Erbanlagen immer eine ihnen gemäße Umwelt „suchen“, könne vom Status eines Menschen auf die Qualität seiner Erbanlagen geschlossen werden. [82] Galton möchte durch Ausnutzung dieser Erkenntnis die Kontrolle über die Evolution erlangen. [83] Er liefert mit seiner Konzeption sowohl eine Erklärung als auch eine Lösung für soziale Probleme: da zivilisatorische Errungenschaften wie Medizin oder Hygiene den natürlichen Selektionsdruck ausschalten, überleben Schwache und Minderbegabte nicht nur, sie vermehren sich zudem überproportional. [84] Der daraus resultierenden Degeneration der Bevölkerung sollte deshalb durch einen künstlichen Selektionsdruck entgegengewirkt werden. [85] Wer durch gesellschaftlichen Status bewiesen hat, über gute Gene zu verfügen, soll durch eine rational gesteuerte Heiratspolitik zur Weitergabe seiner Gene angeregt werden (positive Eugenik), sozial Schwächere sollen hingegen von der Fortpflanzung abgehalten werden, um ihre schlechten Erbanlagen nicht an die nächste Generation zu vererben (negative Eugenik). [86]

Evolutionstheorie

Eugenik

Begründer

Charles Darwin

Francis Galton

Gegenstand

Natur

Mensch

Zeithorizont

Gegenwart

Zukunft

Ziel

Anpassung

Verbesserung

Wert

neutral

normativ

Auslese

natürlich

künstlich

Methode

trial and error

geplant

Abb. 4: Unterschiede zwischen Evolutionstheorie und Eugenik

Zur Verwirklichung seiner Ziele gründet Galton 1907 aus eigenem Vermögen die internationale Gesellschaft „Eugenics Education Society“ und sorgt damit für die organisierte Weiterentwicklung seines Forschungsprogramms auch über Großbritannien hinaus. [87]

1.5. Geschichte der Eugenik

Erste eugenische Ansätze findet man schon bei den Spartanern, den Geschwisterheiraten der ägyptischen Dynastien oder in Platons Politeia. [88] Mangels Wissen über die Mechanismen der Vererbung wird dabei noch auf Erkenntnisse aus der Tierzucht zurückgegriffen. [89] Dies ändert sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es im Zuge der Industrialisierung zu großen gesellschaftlichen Veränderungen kommt: Aufstieg von Industrie und tertiärem Sektor, Urbanisierung, Verarmung der Arbeiterklassen, Kinderarbeit, uvm. Der ursprüngliche Fortschrittsoptimismus weicht einer zunehmenden Degenerationsangst, die durch eine differentielle Geburtenrate (die Unterschicht hat mehr Nachkommen als die Oberschicht) noch verstärkt wird. Gestiegene Selbstmordraten, Rückgang der Militärdiensttauglichkeit, geringere Gebärfähigkeit, Anstieg der Infektionskrankheiten, Verschlechterung des Gebisses, usw. werden als Symptome des Verfalls interpretiert. [90] Da der Versuch misslingt, die Degeneration auch wissenschaftlich nachzuweisen, [91] deuten Eugeniker das Darwin´sche Selektionsprinzip um: der „survival of the fittest“ wird in diesem Sinne nicht mehr nur als opportunistische Anpassung an die Umwelt, sondern als Vervollkommnungsprozess interpretiert. Wenn Selektion Fortschritt bedeutet, dann muss im Umkehrschluss mangelnde Selektion Rückschritt bedeuten.[92] Die Zivilisation ist demnach nur eine Kette von Pyrrhussiegen und ihre kurzfristigen Erfolge sind Ursache eines langfristigen Niedergangs. [93] Umgekehrt werden die Schattenseiten der Industrialisierung, wie Hunger, mangelnde Hygiene und hohe Sterblichkeitsraten, als moderne Formen des natürlichen Ausleseprinzips verstanden, die keinesfalls abgemildert werden sollten. [94]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekommt dieses Konzept des Sozialdarwinismus jedoch Risse, als sich zeigt, dass das freie Spiel der Kräfte zu keinem biologischen Fortschritt führt. [95] Entgegen dem Prinzip des „survival of the fittest“ wird das sogenannte Lumpenproletariat am unteren Rand der sozialen Schichten nicht ausgesondert, sondern besteht fort. In dieser Situation bietet sich die staatlich gelenkte Fortpflanzungspolitik der Eugenik als Lösung an. Parallel zur Produktionssteigerung der Wirtschaft soll auch das Geschlechtsleben rationalisiert werden. Der Malthus´sche Ansatz einer bewussten Steuerung der Quantität der Bevölkerung wird um die qualitative Steuerung Galtons erweitert.[96] Die Eugenik erhält dabei Rückenwind durch die Wiederentdeckung der Mendel´schen Erbgesetze sowie durch die Verbreitung der Theorie Weismanns von der Kontinuität des Keimplasmas. In England, Deutschland und den USA entstehen fast zeitgleich eugenische Gesellschaften. [97]

Aufgrund der Furcht vor Degeneration sowie einem gesteigerten Nationalismus der westlichen Völker veranstaltet die britische Eugenics Education Society 1912 den ersten internationalen eugenischen Kongress in London. [98] Das gemischte Teilnehmerfeld zeigt, wie sehr sich die Eugenik noch in einer Selbstfindungsphase befindet. [99] Die anwesende Presse ist sich unsicher, ob sie der Geburtsstunde einer neuen Wissenschaft oder nur dem Treffen von ein paar hundert Utopisten beiwohnt. [100] Der Kongress gibt jedoch Anstoß zur Gründung des Permanent International Eugenics Committee (PIEC), das die Zusammenarbeit zwischen den Ländern koordinieren und die Eugenik wissenschaftlich und politisch etablieren soll. [101]

Als Triebfeder der Eugenik erweist sich schließlich der Erste Weltkrieg. Vergangenen Kriegen wurde stets eine selektive Wirkung unterstellt, da im Kampf Mann gegen Mann die Schwachen ausgesiebt werden. Darüber hinaus würde der kriegsbedingte Männermangel dazu führen, dass die verbleibenden Männer nur die besten Frauen zur Partnerin nehmen. [102] Ein moderner Krieg, der mit Maschinengewehren, Giftgas und Bomben geführt wird, ist jedoch keineswegs das „reinigende Stahlbad der Nation“ sondern das genaue Gegenteil: die Tauglichen fallen an der Front, während die Untauglichen verschont werden.[103] Aufgrund dieser kontraselektiven Wirkung des ersten industriell geführten Krieges erhält die Eugenik als bevölkerungspolitische Gegenmaßnahme zusätzlichen Auftrieb. Zwar verunmöglicht der Krieg die internationale Zusammenarbeit der eugenischen Gesellschaften, doch seine dysgenische Wirkung bewirkt in den einzelnen Ländern eine Radikalisierung eugenischer Forderungen.[104]

Kurz nach dem Versailler Friedensschluss im Jahr 1919 reetabliert sich das PIEC. Der zweite internationale eugenische Kongress [105] findet 1921 in New York ohne deutsche bzw. österreichische Beteiligung statt. [106] 1925 wird aus dem PIEC die International Federation of Eugenic Organizations (IFEO), der Anfang der 1930er Jahre über 30 eugenische Gesellschaften und wissenschaftliche Institute aus 22 Ländern angehören. Die IFEO wendet sich gegen die von Feministinnen und der Neomalthusianern geforderte Geburtenkontrolle, da sie dadurch eine Abnahme des zur Verbesserung der Rasse erforderlichen Selektionsdrucks befürchtet. [107] Darüber hinaus käme es durch Verhütung zu einer Verschlechterung des Genpools, da gerade geistig und rassisch Minderwertige auf sie verzichten würden. [108]

1932 findet in New York der dritte internationale eugenische Kongress statt, auf welchem die Forderung nach einer eugenischen Geburtenselektion anstatt einer neomalthusianischen Geburtenkontrolle bekräftigt wird. Ebenfalls Sorgen bereitet der IFEO der wachsende Einfluss lamarckistisch ausgerichteter sozialistischer Eugeniker, die sich für eine Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzen und sich dazu am Vorbild der Sowjetunion orientieren.[109] Vieles, auf dem die Eugenik aufbaut, wie die Unterschiedlichkeit der Rassen oder die Mendel´schen Erbgesetze, wird zusehends in Frage gestellt. Auch das Ziel ihrer Verwissenschaftlichung durch Vereinheitlichung der Messmethoden und Erhöhung der Fallzahlen stagniert. Die Eugenik droht ein von Klassen- und Rassenvorurteilen geprägtes Durcheinander unterschiedlichster Disziplinen zu werden, wobei sich nun vor allem ihre Nähe zur Politik nachteilig auswirkt.[110] Parallel dazu etablieren sich Humangenetik und Demografie zunehmend als eigene Wissenschaften, die der Eugenik ihre Monopolstellung in der menschlichen Vererbungsforschung streitig machen. [111]

Als Ausweg aus der Krise versuchen Reformer, die Eugenik neu zu positionieren, indem sie sich von ihren orthodoxen Grundsätzen abwenden. Die Eugenik soll fortan nicht mehr reine Wissenschaft, sondern eine von unterschiedlichen Disziplinen geprägte soziale Bewegung sein, die nicht nur faktenbasiert, sondern auch normativ ausgerichtet ist, was der ursprünglichen Galton´schen Forderung einer Eugenik als Religion entspricht. Trotz ihrer wissenschaftlichen Probleme kann die Eugenik zahlreiche politische Erfolge verbuchen, zumal die aus der Weltwirtschaftskrise von 1929 resultierende Massenarbeitslosigkeit zu einer verstärkten Akzeptanz ihrer Forderungen führt. [112]

Mit dem Nationalsozialismus beginnt das dunkelste Kapitel der Eugenik. Niemals zuvor und niemals danach werden züchtungsutopische Ziele in diesem Ausmaß und mit dieser Brutalität umgesetzt wie im NS-Staat. [113] Die Nationalsozialisten verknüpfen dabei die Eugenik mit ihrem programmatischen Rassismus, der schon in „Mein Kampf“ angedeutet wird. [114] Die NSDAP ist die erste Partei, die Eugenik als Teil ihres politischen Programms versteht und es von einem Tag auf den anderen zur Staatsaufgabe macht, die Gesellschaft nach rassehygienischen Kriterien umzugestalten.

Während die Eugenik im Ausland in Konkurrenz zu anderen Wissenschaften steht, wird sie in Deutschland zur Leitwissenschaft, in die andere Disziplinen wie Humangenetik, Psychiatrie oder Demografie integriert werden.[115] Die gesamte Bevölkerungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik wird nach eugenischen Kriterien ausgerichtet und die Grenzen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft verschwimmen endgültig. [116] So bezeichnet Rudolf Heß den Nationalsozialismus als „angewandte Biologie“ und Rassenhygieniker arbeiten an der Formulierung von Gesetzen mit. [117] Zu deren Umsetzung dient im NS-Staat die Medizin im Sinne Foucaults als soziale Interventionstechnik, wobei die Gesundheitsämter die Rolle einer Gesundheitspolizei einnehmen. [118] Diese agieren als medizinischer Erfassungs- bzw. Selektionsapparat und somit als Vorfeldagenturen physischer Vernichtung. [119] Der eigens geschaffene Berufsstand des Erbarztes erstellt Erbkarteien, Erbgutachten und Erbdiagnosen als Grundlage für eugenische Entscheidungen. [120]

Zunächst befürworten viele auch außerhalb Deutschlands die neue Politik. [121] Erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre werden die Stimmen gegen die NS-Rassendoktrin lauter und es kommt zu einer Zersplitterung der internationalen eugenischen Bewegung.[122] Die IFEO weist auf die kontraselektive Wirkung des drohenden Krieges hin und mahnt deshalb zum Frieden zwischen den zivilisierten Völkern des Abendlandes. Diese Forderung nehmen die Nationalsozialisten zum Anlass, ihre Rassenhygiene als Friedenspolitik darzustellen und den Rassenhygieniker Alfred Ploetz für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. [123]

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kommt es zu einer Verschärfung der Rhetorik sowie zu einer Radikalisierung eugenischer Maßnahmen. [124] Parallel zur Kriegserklärung nach außen spricht Hitler mit dem Euthanasieerlass auch eine Kriegserklärung nach innen aus. [125] Der kontraselektiven Wirkung des Krieges müsse durch eine entsprechende „Ausmerzquote“ etwas entgegengesetzt werden. [126] Die gesamte Bevölkerung wird einem Kampf ums Dasein ausgesetzt, in dem sie entweder unter- oder aus dem sie gestärkt hervorgehen soll. Die Radikalisierung der totalitären Biomacht gipfelt schließlich im industriellen Massenmord. [127]

Auch die breite Öffentlichkeit befürwortet dank propagandistischer Aufbereitung zusehends die Tötung geistig und psychisch Kranker. Diese „Opferung auf dem Altar der Rationalität“ wird schließlich auf alles Nicht-Arische ausgeweitet. [128] Mit Fortdauer des Krieges nehmen die eugenischen Maßnahmen stetig zu. Zur Umsetzung ihrer Vorstellungen bedient sich die NS-Führung des gesamten eugenischen Arsenals.[129] So ist für die Nationalsozialisten in ihrem Anspruch auf Durchdringung aller Lebensbereiche die Ehe keine Privatabgelegenheit mehr. Neben freiwilliger Eheberatung[130] bieten die Gesundheitsämter auch rassisch motivierte Ehevermittlung an. [131] Das in diesem Zusammenhang wichtigste eugenische Instrument ist jedoch das Eheverbot, welches unerwünschte Nachkommen verhindern und wertvolles Erbgut vor Kranken oder Fremdrassigen schützen soll. [132] Weitere negativ-eugenische Instrumente sind die Zwangssterilisation Erbkranker sowie die Tötung aller als minderwertig Erachteten. [133] Aber auch in positiv-eugenischer Hinsicht ist die NS-Politik radikal: Erbgesunden sind Sterilisation oder Abtreibung verboten [134] und es gilt als „völkische Fahnenflucht“, wenn diese ihrer Fortpflanzungspflicht nicht nachkommen.[135]

Himmler fordert neben dem politischen Sieg auch einen Sieg des guten Blutes. Die militärische Niederlage des Ersten Weltkrieges soll durch die „Geburtenschlacht“ kompensiert werden. [136] Für Himmler, für den Menschenzucht genauso möglich ist wie Tierzucht, [137] sind Kinder eine Pflicht gegenüber Ahnen und Volk. Damit rütteln die Nationalsozialisten an der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, nach der die Entscheidung für Nachkommenschaft immer noch Privatangelegenheit ist. [138] Da es für die Nationalsozialisten zudem unerheblich ist, ob es sich um eheliche oder uneheliche Kinder handelt, stehen sie auch im Widerspruch zu christlichen Moralvorstellungen.[139]

Zur Erhöhung der Wirksamkeit der Zeugungsaufrufe gibt es Ehrungen und finanzielle Anreize für erbgesunde Nachkommenschaft. Neben Kinder-, Familien- und Ausbildungsbeihilfen [140] wäre in dem Zusammenhang etwa das Ehestandsdarlehen zu erwähnen. [141] Zusätzlich richtet Himmler mit dem Lebensborn eine ideologisch ausgerichtete Unehelichenfürsorge mit eigenen Entbindungsheimen ein, um ledige Schwangere von einer Abtreibung abzuhalten. [142] Rassisch und erbbiologisch wertvolle uneheliche Frauen können hier anonym [143] und vor gesellschaftlicher Ächtung sicher ihre Kinder zur Welt bringen. [144] Da es ein Ziel Himmlers ist, alle germanischen Völker miteinander in einem großgermanischen Reich zusammenzuführen, [145] werden ausländische Frauen und Kinder, die dem NS-Ideal entsprechen, gewaltsam ins Reich geholt und zwangsgermanisiert. [146] Während im NS-Staat eugenische Maßnahmen in niemals zuvor praktizierter Quantität und Qualität umgesetzt werden, ist Deutschland ab Kriegsbeginn wissenschaftlich isoliert, internationale Kontakte beschränken sich lediglich auf die besetzten Gebiete.[147]

Obwohl nach dem Ende des Krieges die Verbrechen im Namen der Rassenverbesserung publik werden, gelingt es den verantwortlichen Wissenschaftlern relativ problemlos, in leitende Positionen zurückzukehren. [148] Auch die Eugenik verschwindet nicht, nur ihre orthodoxe, rassistisch geprägte Variante ist seither diskreditiert. [149] Dennoch hat sie nach 1945 ein doppeltes Legitimationsproblem: auf der einen Seite stehen die Schrecken der NS-Rassenhygiene, auf der anderen Seite entziehen ihr die Erfolge der Wohlfahrtsstaaten zusehends ihr angestammtes Betätigungsfeld. Als Hoffnungsträger des 19. Jahrhunderts und Horrorbegriff der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sucht die Eugenik nun ihre neue Identität zwischen Wissenschaft und sozialer Bewegung.

Was zuvor unter dem Primat der Eugenik erforscht wird, verteilt sich nun auf zahlreiche Einzeldisziplinen. Vor allem Demografie und Humangenetik etablieren sich dabei immer stärker als eigenständige Wissenschaften. [150] Die Neupositionierung wird auch durch Streichung des negativ besetzten Begriffs „Eugenik“ unterstrichen. [151] Die moderne Variante der Eugenik lebt vor allem in Skandinavien, GB und den USA weiter und setzt dabei auf Freiwilligkeit bzw. indirekten Druck durch Ärzte, Sozialarbeiter und Gesellschaft. Bis Anfang der 1970er Jahre können rund 1.000 Krankheiten auf einen Gendefekt zurückgeführt und erblich belastete Paare entsprechend beraten werden. Neben der durch die Humangenetik realisierbaren individuellen Genetik findet die moderne Eugenik mit dem Kampf gegen die Überbevölkerung ein zweites Betätigungsfeld. Während in den Industriestaaten die Geburtenraten konstant abnehmen, gilt das Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt als Ursache für die dortigen Probleme wie Armut, Kriminalität und Unterernährung. Die in diesen Staaten geleistete Entwicklungshilfe und Gesundheitsversorgung würde die natürliche Beschränkung der Bevölkerungszahl verhindern. Dieses Argumentationsmuster erinnert stark an die Anfänge der Eugenik hundert Jahre zuvor, als Hygiene und Medizin dieselben Wirkungen zugeschrieben wurden. [152]

Mittlerweile hat sich die Fortpflanzung von einer öffentlichen wieder zu einer privaten Angelegenheit entwickelt. Durch liberalere Gesetze (Einführung von Abtreibungsgesetzen ab den 1970er Jahren) auf der einen Seite und technische Errungenschaften (PID, PND, Gentechnik) auf der anderen Seite wird die Eugenik durch moderne Formen wie die Gentechnik abgelöst. Auch wenn sich sowohl der Name als auch die Methoden ändern, so bleiben die angestrebten Ziele doch die gleichen. [153]

Eine völlig neue Sicht auf die Evolution eröffnet der britische Biologe Richard Dawkins (geb. 1941), der davon ausgeht, dass die Selektion ausschließlich auf molekularer Ebene stattfindet. [154] Der evolutionäre Prozess führt zur Entwicklung komplexer Organismen, die Dawkins jedoch nur als Träger ihrer Gene versteht. Die DNA ist das (Zwischen-)Ergebnis der Evolution, der menschliche Organismus nur ein Nebenprodukt im Dienst der DNA.[155] Die Gene programmieren ihren Träger, wobei sich Gene, die erfolgreiche Programme entwickeln, durchsetzen. Überlebt der Wirt und zeugt er Nachkommen, so überleben und vermehren sich auch seine Gene. [156] Alle Auswirkungen, die ein Gen auf den Trägerkörper, auf andere Körper sowie auf unbelebte Objekte hat, bezeichnet Dawkins als „phänotypischen Effekt“. Diese Effekte dienen als Waffen im Daseinskampf. [157] Wie schon viele vor ihm, sieht Dawkins den Wohlfahrtsstaat als eine „unnatürliche Sache“, da er Kinder am Leben erhält, die in der Natur ausselektiert würden. [158] Dieser Kontraselektion möchte Dawkins die Empfängnisverhütung entgegensetzen, um Denormalisierung zu verhindern. Ähnlich argumentiert Dawkins hinsichtlich der Kinder mit geringer Lebenserwartung, die er als „Kümmerlinge“ bezeichnet. Dawkin stellt eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf, in der er den Elternaufwand in Relation zur Wahrscheinlichkeit einer Weitergabe der Gene setzt. Es wäre demnach ineffizient, Zeit und Energie in Kümmerlinge zu investieren, da die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass diese die eigenen Gene an die Enkelgeneration weitergeben. Besser wäre es, sich um die gesunden Geschwister zu kümmern und so die eigenen Gene zu erhalten. [159] Dawkins Sicht beweist, dass eugenisches Gedankengut nach wie vor existent ist.

2. Zeitliche und räumliche Dimension der Eugenik

„Die Erzeugung guter Kinder wird nicht irgendeinem Zufall einer angeheiterten Stunde überlassen, sondern geregelt nach Grundsätzen, die die Wissenschaft für Zeit und sonstige Bedingungen aufgestellt hat.“

(Alfred Ploetz)

These: Eugenik ist weder ein spezifisch deutsches Phänomen noch ein Phänomen des Zeitraums von 1933 bis 1945. Sie existiert davor, sie existiert danach und man findet sie in unterschiedlichen Ausprägungen in nahezu allen Industrieländern.

2.1. Eugenik in Deutschland vor 1933

Die Eugenik wird in Deutschland „Rassenhygiene“ genannt und ihre Anfänge reichen weit zurück.[160] Als ihr direkter Vorläufer kann die ab etwa 1890 aufkommende Lebensreformbewegung bezeichnet werden, die sich als Maßnahme gegen zivilisationsbedingte Degenerationserscheinungen versteht. Naturheilkunde, Freikörperkultur, Leibeserziehung, Ernährungsreform, Gartenarbeit, usw. sollen zu einer Harmonisierung von Körper, Geist und Seele beitragen. Die Rassenhygiene kann nahtlos an dieses Konzept einer Verbesserung des Lebens anschließen und ist somit nicht nur eine wissenschaftliche, sondern vor allem auch eine soziale Bewegung. [161] Sie entwickelt sich zeitversetzt und unabhängig von der englischen Eugenik, eine Rezeption der Arbeiten Galtons ist in Deutschland nicht nachweisbar. [162] Eines ihrer ersten Instrumente ist die Eheberatung auf freiwilliger Basis, doch im Zuge der Weltwirtschaftskrise radikalisiert sich die deutsche Eugenik und die Freiwilligkeit wird zunehmend von Forderungen nach Sterilisationsgesetzen abgelöst.[163] Der Zwickauer Bezirksarzt Gustav Boeters [164] etwa fordert 1923, bestimmten Personen die Eheerlaubnis erst nach vorheriger Sterilisation zu erteilen.[165] Dies löst eine öffentliche und parlamentarische Debatte aus, die zehn Jahre später im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) mündet. [166] Im Folgenden werde die wichtigsten Vertreter und Organisationen deutscher Rassenhygiene in chronologischer Reihenfolge vorgestellt.

Der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel (1834-1919) wird von vielen als wichtigster Wegbereiter von Eugenik und Sozialdarwinismus in Deutschland angesehen.[167] Als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene ist er ein Vertreter der Ansichten Darwins, dessen „struggle for life“ er als „Kampf ums Dasein“ übersetzt. Haeckel teilt zwar die These, Zivilisation würde durch mangelnde Selektion zur Degeneration führen, bleibt dabei aber bei der bloßen Diagnose. Die Angst vor Entartung ist bei ihm noch weitaus weniger ausgeprägt als bei späteren Eugenikern. Anders als sein Schüler Wilhelm Schallmayer oder sein Freund Alfred Ploetz schlägt Haeckel noch keine Gegenmaßnahmen vor, da er an die natürlichen Regulationsmechanismen glaubt. [168]

Der erste Deutsche, der zur Lösung des Degenerationsproblems die Selektionstheorie ins Spiel bringt, ist kein Naturwissenschaftler, sondern der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900). Bereits 1880 fordert er eine strenge Auswahl der zur Fortpflanzung Geeigneten sowie ein „Absterbenmachen“ der Entarteten. Viele Eugeniker berufen sich später auf Nietzsches Thesen, obwohl dieser weder den Begriff Eugenik gebraucht noch ihre Etablierung als Wissenschaft erlebt. [169] Er studiert jedoch die Schriften Darwins und Galtons aufmerksam. [170] Für ihn ist Evolution Ausdruck eines „Willen zur Macht“ und der Mensch nur das Bindeglied zwischen dem Affen und dem Übermenschen. [171] Nietzsche äußert sich positiv zur Sterbehilfe [172] und fordert eine Trennung von Sexualität und Fortpflanzung. [173]

Der Arzt Wilhelm Schallmayer (1857-1919) verfasst 1891 eine Schrift, in der er auf die Entartung durch die moderne Medizin hinweist. [174] Seiner Ansicht nach fördert diese durch Ausschaltung des Selektionsprinzips zwar die Degeneration, andererseits bietet ihre bessere Hälfte, die Hygiene, auch die Chance zur Verbesserung der Zuchtwahl. [175] 1900 belegt er mit seiner Arbeit „Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker“ den ersten Platz bei einem Preisausschreiben von Friedrich Krupp. [176] Schallmayr setzt in seinen Überlegungen auf negative Eugenik und ist darin stark nationalistisch, aber weniger rassistisch geprägt. Das höchste Gut, das es zu schützen gilt, ist für ihn das nationale Erbgut. Hierfür prägt er den Begriff der „Sozialeugenik“ und fordert, die Nationalbiologie müsse das nationale Erbgut ebenso verwalten wie die Nationalökonomie die Sachgüter. Während für Galton vor allem die geistigen Fähigkeiten den Fokus seiner eugenischen Überlegungen darstellen, steht bei Schallmayer der medizinische Aspekt im Vordergrund. [177]

Der Begriff der Rassenhygiene wird durch den Arzt Alfred Ploetz (1860-1940) geprägt.[178] Darunter versteht er die Weiterentwicklung der Hygiene als medizinische Teildisziplin zur Verbesserung der Erbanlagen der menschlichen Rasse. [179] Die Hygiene zielt dabei nicht auf die aktuelle, sondern auf zukünftige Generationen. Die Menschen sind in dieser Sicht nur Träger ihres Erbgutes. [180] Rassenhygiene ist für ihn sowohl Wissenschaft als auch soziale Bewegung und sollte sich somit neben Experten auch an soziale Praktiker richten. [181] Wie Schallmayer will auch Ploetz dem Degenerationsprozess begegnen, indem er den medizinischen Fokus von der Gegenwart (Heilung von Krankheiten) in die Zukunft (Verhinderung von Krankheiten) verlegt. [182] Im eugenischen Idealstaat liegt für ihn die Entscheidung über Leben und Tod in den Händen von Ärzten und Wissenschaftlern. Zur Umgehung ethischer Bedenken schlägt er die Keimauslese vor: Keime sollen nach ihrer Qualität selektiert werden, bevor sie sich somatisch umsetzen, womit Ploetz die Gentechnik vorwegnimmt. [183] Ab 1904 gibt Ploetz die eugenische Fachzeitschrift „Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie“ heraus, die seine Ideen in Umlauf bringt und die Ärztegeneration nach der Jahrhundertwende stark beeinflusst. Sie ist zeitweise auch das Publikationsorgan der 1905 ebenfalls von Ploetz gegründeten „Gesellschaft für Rassenhygiene“, die 1916 in „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene“ umbenannt wird. [184] Die Gesellschaft versteht Eugenik ebenso wie ihr britisches Pendant [185] nicht nur als akademische Disziplin sondern als Teil einer sozialreformerischen Bewegung. [186] Ziel ist die Förderung von Theorie und Praxis der Rassenhygiene unter den weißen Völkern.[187] Sie trägt in Deutschland wesentlich zur Institutionalisierung der Rassenhygiene als wissenschaftliches Fach bei, ist dabei jedoch radikaler als andere Gesellschaften, propagiert ein rassistisch geprägtes Ariertum, vermischt genetische Gesundheit mit nordischen Idealen [188] und nimmt Einfluss auf wichtige Gesetzesvorhaben wie das GzVeN. [189]

Der Neurologe Alfred Hoche (1865-1943) und der Jurist Karl Binding (1841-1920) veröffentlichen 1920 die Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Im Mittelpunkt des Werkes steht die Frage, unter welchen Bedingungen Menschen getötet werden dürfen. Obwohl die Autoren die Vernichtung ökonomisch (Kosten-Nutzen-Rechnung) und nicht eugenisch rechtfertigten, werden ihre Ideen zunächst von den Rassenhygienikern aufgegriffen und später von den Nationalsozialisten als Legitimation ihrer Euthanasieprogramme benutzt. [190]

Als Begründer der deutschen Sozialhygiene gilt der sozialdemokratische Arzt Alfred Grotjahn (1869-1931), der im Abschnitt „Sozialistische Eugenik“ noch ausführlicher behandelt wird. Er verweist auf die Notwendigkeit von Reformen und gibt der Sozialhygiene ein eigenständiges Profil. Grotjahn will Gesundheitspflege und Krankheitsverhütung zu einer Disziplin ausbauen, die sich an den Erkenntnissen von Demografie und Bevölkerungsstatistik orientiert. Für ihn muss die Hygiene auch künftige Generationen einschließen, indem sie die menschliche Fortpflanzung quantitativ und qualitativ rationalisiert. In seiner Forderung zur Prophylaxe der Vererbung von Minderwertigkeit vollzieht er den Schulterschluss mit der Eugenik, grenzt sich jedoch von sozialdarwinistischen und antisemitischen Bestrebungen ab.[191] Bei Psychopathen, Epileptikern, Geisteskranken und Alkoholikern spricht sich Grotjahn für Asylierung, Präventivhaft und Zwangssterilisation aus. [192] Seine Rolle zwischen verantwortungsvollem Mediziner und intellektuellem Förderer der Nationalsozialisten ist bis heute umstritten. [193]

Der Arzt und Anthropologe Eugen Fischer (1874-1967) untersucht die Vererbung anatomischer Merkmale bei der Kreuzung von Europäern mit dem südafrikanischen Volk der Nama nach den Mendel´schen Regeln. [194] 1925 wird er Mitherausgeber der Zeitschrift „Volk und Rasse“, von 1927 bis 1942 ist er Direktor des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ in Berlin-Dahlem. [195] 1937 setzt Fischer mit anderen Professoren die (auch damals illegale) Zwangssterilisierung sogenannter „Rheinlandbastarde“ durch. [196] Zusammen mit Erwin Baur[197] und Fritz Lenz [198] schreibt Fischer das Werk „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“. [199]

Wie sich bereits aus der Vorstellung ihrer wichtigsten Vertreter ergibt, lässt sich die deutsche Rassenhygiene in eine individuelle und eine soziale Hygiene einteilen. Ziel der individuellen Hygiene ist die selbstverantwortliche Vermeidung von Gesundheitsrisiken, die soziale Hygiene zielt hingegen auf institutionalisierte Maßnahmen wie die staatliche Lenkung von Fortpflanzung, Ehe und Familie. [200] Die deutsche Eugenik zeichnet sich durch mehrere Besonderheiten aus. Zum einen wird sie als ein Instrument medizinischer bzw. hygienischer Eingriffe verstanden, während in anderen Ländern die Diskussion meist außerhalb des medizinischen Kontexts geführt wird. Im Gegensatz zur englischen Eugenik, die sich als nationale Sozialreformbewegung versteht, ist die deutsche Eugenik (ähnlich wie auch die amerikanische) zudem stark rassistisch geprägt und fordert einen Zusammenschluss der weißen Völker. [201]

2.2. Eugenik in Deutschland nach 1945

Die eugenische Bilanz des NS-Regimes ist erschütternd. Aufgrund des GzVeN werden 400.000 Menschen zwangssterilisiert, [202] wobei viele durch den Eingriff sterben. [203] Wird ein behindertes Kind geboren, so besteht Meldepflicht, was einem Todesurteil gleichkommt. [204] Hunderttausend Menschen werden im Rahmen der Aktion T-4 [205] ermordet, etwa genauso viele verhungern, weil ihnen aufgrund ihrer Einstufung als „lebensunwert“ die Nahrung verweigert wird. [206] Hinzu kommen Millionen Tote in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Möglich wird dies erst durch die Herabstufung des Menschen zum bloßen Träger seiner Erbanlagen. [207]


[1] In den 1950er Jahren wir in Deutschland ein Gesetzesentwurf vorbereitet, der für heterologe Insemination Freiheitsstrafen vorsieht. Noch 1990 will die SPD die heterologe Insemination unter Strafe stellen und selbst die Grünen lehnen IVF und Samenspende ab. Als Begründung dienen die angeblichen Erfahrungen der NS-Medizin mit künstlicher Befruchtung. Historisch betrachtet ist jedoch das genaue Gegenteil der Fall: Obwohl die Nationalsozialisten das gesamte eugenische Arsenal in den Dienst des völkischen Staates stellen, schrecken sie vor den Möglichkeiten der heterologen Insemination zurück. Insemination kommt ausschließlich in der homologen Form vor und das freilich nur bei Paaren, die der Fortpflanzung als würdig erachtet werden. (Vgl. Bernard, Kinder machen, S. 230ff) Selbst als die Verluste an Menschen im Winter 1941/42 immer weiter steigen und Reichsgesundheitsführer Conti zur Erhöhung der Geburtenzahl u.a. künstliche Befruchtung vorschlägt, winkt Himmler ab, da sie für ihn unnatürlich ist und zur Entartung der Nachzucht führt. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 141) Auch viele NS-Ärzte lehnen heterologe Insemination als außereheliche Schwängerung ab. Zwei Gründe können als Erklärung für diesen Widerstand angeführt werden: der mangelnde Wissensstand in der Genetik sowie die unklare Rechtslage (Tatbestand der Kuppelei, Kindsunterschiebung, …) (Vgl. Bernard, Kinder machen, S. 232f) Hierin zeigt sich die Widersprüchlichkeit des NS-Systems: heterologe Insemination wird als Gefährdung der Kernfamilie abgelehnt, während gleichzeitig zu außerehelichen Schwangerschaften aufgerufen wird.

[2] Zum Thema Migration und Eugenik siehe Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, 2010

[3] Wuketits, Evolutionstheorien, Historische Voraussetzungen, Positionen, Kritik, S. 61

[4] Man kann aus der Evolution keinen absoluten Wert, sondern nur einen situationsabhängigen ableiten. Der heute noch lebende Tiger ist nicht per se besser oder schlechter als der ausgestorbene Säbelzahntiger, er ist nur noch da. Mehr kann die Evolution über ihn nicht aussagen. In der Biologie gibt es, im Unterschied zur Ethik, keine objektive, antihegemoniale Bewertung von „gut“ und „schlecht“. Eine evolutionsbiologische Skalierung ist immer nur auf die konkrete Situation bezogen. (Vgl. Breidbach, Eugenik und die Zukunft, S. 105ff)

[5] Eugenik leitet sich vom altgriechischen „eu“ = „gut“, „genos“ = „Erzeugtes“ ab. Andere Bezeichnungen für Eugenik sind „Eugenetik“ und „Eubiotik“. Gegenstücke zur Eugenik sind die „Euphänik“ (von altgr. „phainein“ = „erscheinen“), also die nicht-genetische Steuerung der menschlichen Entwicklung sowie die „Dysgenik“, also die Verbreitung von mangelhaften Genen in einer Population. Der Begriff „Dysgenik“ wird erstmalig 1915 von David Starr Jordan benutzt, um die genetischen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges durch Verschonung der Untauglichen zu beschreiben. Der Wegfall von natürlichen Selektionsmechanismen würde zu einer genetischen Verschlechterung der Bevölkerung führen. Im Zuge der Diskreditierung der Eugenik kommt auch der Begriff der Dysgenik außer Gebrauch. (Vgl. Scholl, Gentechnik in der Reproduktionsmedizin, S. 14)

[6] Galton, Its Definition, Scope and aims, S. 35; An anderer Stelle bezeichnet er sie als die „Wissenschaft der gesellschaftlich kontrollierten Handlungen zur physischen oder mentalen Verbesserung oder Verschlechterung rassischer Qualitäten zukünftiger Generationen. „The study of agencies under social control that may improve or impair the racial qualities of future generations either physically or mentally“ (in Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 54) In dieser Definition kommt bereits die Dichotomie von Eugenik zum Ausdruck: Die Züchtung erwünschter Eigenschaften (positive Eugenik) sowie die Verhinderung unerwünschter Eigenschaften (negative Eugenik).

[7] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 15f

[8] Vgl. Lengwiler, Kommentar, S. 199

[9] Vgl. Manz, Bürgerliche Frauenbewegung und Eugenik in der Weimarer Republik, S. 31

[10] Galton selbst bezeichnete die Eugenik als „Quasi-Religion“. (Vgl. Galton, Essays in eugenics, S.108); Ein vehementer Gegner dieser Ansicht ist der englische Schriftsteller und Autor der Father-Brown-Geschichten Gilbert Keith Chesterton (1874-1936). 1922 veröffentlicht er seinen (wenig beachteten) Essay „Eugenik und andere Übel“, in dem er die Paradoxien der Eugenik aufdeckt und sich damit dem allgemeinen Zeitgeist entgegenstellt. Er hält die Eugenik für eine Zivilreligion („Staatskirche neuer Art“) und eine Bedrohung des christlichen Glaubens. Anstelle der Orientierung am Jenseits wird die Heilung diesseitiger Leiden der nächsten Generation in Aussicht gestellt. Lange vor Michel Foucault bemerkt Chesterton, wie sehr Gesundheit, Körper und Sexualität staatlich reguliert und kontrolliert werden und sieht darin ein Regime der Bevormundung im Namen körperlicher und geistiger Gesundheit. (Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 25ff) Auch der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) kritisiert an der Wissenschaft im Allgemeinen und an der Eugenik im Speziellen ihre totalisierende Logik einer Ersatzreligion. Die „Klugheit“ („Phronesis“) könne nicht mathematisiert werden. Der Versuch unserer Beherrschung der Technik wäre letztlich nur ein Indiz für unser Ausgeliefertsein gegenüber dieser. Erst durch Einbindung der Philosophie in die Wissenschaft, wird diese wahrhaft wissenschaftlich. Wichtig ist die Frage nach dem Sinn der Sache („Frage nach dem Sein“). (Vgl. Sorgner, Eugenik und die Zukunft, S. 5)

[11] Vgl. Breidbach, Eugenik und die Zukunft, S. 113

[12] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 17

[13] Die Unterschicht hat mehr Nachkommen als die Oberschicht.

[14] Vgl. Lengwiler, Kommentar, S. 201

[15] Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 16

[16] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 16

[17] Die thematische Breite und der enge Politikbezug der Eugenik verunmöglichen nach 1945 ihre wissenschaftliche Etablierung. (Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 20)

[18] Für den Eugeniker und Sozialisten Herbert Brewer ist die Rationalisierung der Fortpflanzung und ihre Trennung vom Sexualtrieb eine herausragende zivilisatorische Leistung. „Kinderzeugung wird zu einem sublimen Werk menschlicher Kultur.“ (Vgl. Bernard, Kinder machen, S. 251)

[19] Die Praktiken, die auf eine „Normalisierung“ der Gene zielen, bilden somit im Sinne Foucaults ein neues (genetisches) Dispositiv. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 42f)

[20] Ärzte, Lehrer, Richter,… stellen Wissen bereit, das Normen definiert und in normal und anormal unterscheidet. Das (neutrale) Wissen muss also nicht erst in einem zweiten Schritt instrumentalisiert werden, um diese Funktion auszuüben, es hat sie a priori. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 15)

[21] Der Rassismus übernimmt die Funktion des Selektionsdrucks, indem er Naturgesetze auf die Gesellschaft überträgt und zwischen Leben und Tod eine Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit konstruiert: „Je mehr die minderwertigen Rassen verschwinden, je mehr die anormalen Individuen eliminiert werden, umso weniger Degenerierte wird es im Verhältnis zur Spezies geben, umso mehr werde ich – nicht als Individuum, sondern als Spezies – leben, werde stark sein, werde ich kraftvoll sein, werde ich mich vermehren können.“ (Foucault, Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus, S. 42f)

[22] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 46ff

[23] Vgl. Foucault, Leben machen und sterben lassen, S. 28

[24] „Disziplinarmacht“ nennt Michel Foucault die Unterwerfung des Menschen unter ein durch Staat und Wissenschaft getragenes diskursiv-institutionelles Machtpositiv. (Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 166ff) Zur Erklärung: Unter Diskurs versteht man das Verständnis von Wirklichkeit einer Epoche. Die Regeln des Diskurses definieren, was sagbar ist, was nicht gesagt werden darf und von wem. Alle Vorentscheidungen, innerhalb derer sich Diskurse entfalten können, nennt man Dispositiv.

[25] Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, S. 167

[26] Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 32

[27] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 40

[28] Vgl. Foucault, Die Geburt der Klinik, S. 244

[29] Die Macht per Gesetz wird durch die Biomacht ergänzt. Biomacht klassifiziert und hierarchisiert (nach Normen, die in der Medizin und Pädagogik entwickelt werden) die Menschen in Einheiten („Tableaus“). Diese Tableaus ermöglichen es, die Körperleistungen zu messen, zu vergleichen und – je nach ihrem Abstand zu einem Idealwert – nach ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft zu qualifizieren. (Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S.190) Die Individuen werden so zu Elementen, die nach ihrer genetischen Disposition überprüft, geordnet und kontrolliert werden können. Der Kranke wird zu einem medizinischen Fall. (Vgl. Foucault, Die Geburt der Klinik, S. 239ff)

[30] Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 237

[31] Vgl. Foucault, Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus, S. 28

[32] Als Beleg dafür, wie schwierig es im Einzelfall sein kann, die Trennlinie zwischen „erwünscht“ und „unerwünscht“ zu ziehen, bringt Jürgen Reyer das Beispiel der fiktiven Person Cynthia. Cynthia ist intelligent, hat einen hohen emotionalen IQ und geht sehr strategisch an Aufgaben heran. Sie wäre für viele Berufe geeignet, nur ist sie leider Betrügerin. Das Beispiel zeigt, dass eine Verbesserung der Fähigkeiten von Cynthia, diese nicht moralisch tugendhafter machen würde. (Vgl. Reyer, Eugenik und die Zukunft, S. 194f) Ein anderes Beispiel für die Schwierigkeit der Grenzziehung ist der britische Physiker Stephen Hawking, bei dem sich ein Maximum an kognitiven Fähigkeiten in einem Minimum an physischer Stärke und Gesundheit vereint. Wie wertvoll sind dessen Erbanlagen einzuschätzen? Die führt weiter zu der Frage, ob „Krankheit“ ein neutraler oder ein normativer Begriff ist und was genau darunter zu verstehen ist. (Vgl. Sorgner, Eugenik und die Zukunft, S. 202f)

[33] Vgl. Lenzen, Eugenik und die Zukunft, S. 151f; In dieser Richtung argumentiert beispielsweise der deutsche Philosoph Jürgen Habermas (geb. 1929) in seinem Werk „Die Zukunft der menschlichen Natur - auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“, in welchem er den Versuch unternimmt, Fragen der Eugenik philosophisch sachlich zu beantworten. Für Habermas greift der Staat massiv in die Privatsphäre ein, indem er Schulpflicht vorschreibt, Bildungs- und Erziehungsziele normiert. Damit stellt sich die Frage, ob der Staat noch weiter gehen kann und auch Eugenisches fordern darf. Dieser Forderung widerspricht Habermas, da genetische Manipulation im Unterschied zur Bildung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Habermas kritisiert die liberale Eugenik, weil er sie als Manipulation der „Bedingungen der Naturwüchsigkeit“ versteht. Indem die Forscher die Evolution selbst in die Hand nehmen, verschwimmt die Trennlinie zwischen „Naturwüchsigem“ und „Gemachtem“, wobei Habermas drei Dichotomien ausmacht: Gemachtes vs. Gewachsenes, Diagnose vs. Manipulation, Natur vs. Kultur. Mit der Geburt beginnt nach Habermas eine Differenzierung „zwischen dem Sozialisationsschicksal einer Person und dem Naturschicksal ihres Organismus.“ (S. 103) Genetische Eingriffe würden das Naturschicksal zerstören und das Kind zu einem Produkt machen. Habermas kommt zu dem Ergebnis, dass negativ-eugenische Maßnahmen innerhalb eines bestimmten Rahmens zulässig wären, weil dies eine medizinische Maßnahme im Sinne des Patienten darstellen würde. „Solange der medizinische Eingriff vom klinischen Ziel der Heilung einer Krankheit oder der Vorsorge für ein gesundes Leben dirigiert wird, kann der Behandelnde das Einverständnis des – präventiv behandelten – Patienten unterstellen.“ (S. 91) Der Eugeniker handle in diesem Fall als Arzt und nicht als Programmierer. Positiv-eugenische Maßnahmen lehnt Habermas hingegen mit der Begründung ab, diese würden die genetisch behandelte Person der Möglichkeit zu autonomer Lebensführung berauben und einen egalitären Umgang mit anderen Personen einschränken. (S. 87) Habermas übt an Gegnern und Befürwortern der Eugenik gleichermaßen Kritik. Den Gegner wirft er vor, willkürlich unbegründbare Grenzen gezogen zu haben. Den Befürwortern wirft er vor, nicht akzeptieren zu wollen, dass menschliches Leben auch dann schützenswert sei, wenn es noch nicht den Status einer Rechtsperson hat. (vgl. Breidenmoser, Zur Diskussion über die liberale Eugenik unter besonderer Berücksichtigung von Jürgen Habermas, S. 5) Man muss Habermas bei seiner Kritik an der Eugenik dennoch zugutehalten, dass er sich nicht der sonst üblichen Dammbruchargumente (nach dem Motto „die neue Eugenik ist dieselbe wie die alte nur besser verpackt“) bedient.

[34] Beispiele: Mutterschutz, eugenisches Kindergeld, Elternschaftsversicherung, Steuervorteile, Ehegattensplitting, Familienlastenausgleich, Ehestandsdarlehen (nur bei Eheeignungszeugnis), nach eugenischen Gesichtspunkten abgestufte Wohlfahrtspflege, nach Familienstand und Kinderanzahl gestaffelte Besoldung öffentlich Bediensteter, Erbrechtsreform, etc.

[35] So sieht beispielsweise Fritz Lenz die Landbevölkerung als „Menschenreservoir“, das er durch Zuteilung bäuerlicher Lehen rassenhygienisch stärken möchte. Grund und Boden sollen nach „Erbwert“ auf die Bevölkerung aufgeteilt und bei genügend Nachkommen an die eugenisch einwandfreie Nachkommenschaft weitervererbt werden. (Vgl. Herlitzius, Frauenbefreiung und Rassenideologie, S. 96)

[36] Die staatliche Migrationslenkung wirkt sowohl nach innen als auch nach außen: Eine restriktive Einwanderungspolitik (Einwanderungsbeschränkung, Beschäftigungsverbote) soll den Zuzug rassisch „Minderwertiger“ verhindern, eine restriktive Auswanderungspolitik soll einen „Aderlass an Volkskraft“ durch Emigration rassisch „Wertvoller“ verhindern (Vgl. Herlitzius, Frauenbefreiung und Rassenideologie, S. 97)

[37] Zu den staatlichen Zwangsmaßnahmen zählt beispielsweise die Verschleppung und Zwangs-Germanisierung rassisch „hochwertiger“ Kinder durch den Lebensborn.

[38] Heinrich Himmler richtete die Lebensborn-Heime vor allem deshalb ein, um Frauen die Möglichkeit zu geben, anonym ihre Kinder zu gebären anstatt sie aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung zu täten. Auch Babyklappen können in dieser Hinsicht als positiv-eugenische Maßnahme zur Verhinderung von Abtreibungen angesehen werden. Eine noch rigidere Maßnahme ist das generelle Verbot von Abtreibungen. In ihren pronatalistischen Bestrebungen führen die Nationalsozialisten 1943 für Abtreibungen sogar die Todesstrafe ein. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 146)

[39] Zwischen der freiwilligen Eheberatung und dem staatlichen Heiratsverbot liegt das gesetzliche Gebot für Verlobte, sich vor der Eheschließung ärztlich untersuchen zu lassen und durch gegenseitige Vorlage dieses Ehezeugnisses ihre Ehefähigkeit zu prüfen. Die Ideen eines Gesundheitsbuchs als Entscheidungsgrundlage zur Partnerwahl findet sich schon bei den Eugenikern Anfang des 20. Jahrhunderts. (Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 41)

[40] Der natürliche Selektionsdruck kann durch Vorenthaltung medizinischer Hilfeleistungen bzw. Sozialhygiene erhalten, ein künstlicher Selektionsdruck durch Krieg oder schlechte Lebensbedingungen geschaffen werden. IdS wäre eine hohe Säuglingssterblichkeitsrate eine negativ-eugenische Maßnahme, da durch sie nur die gesündesten Neugeborenen überleben. Um 1880 sterben in Preußen etwa 20 Prozent der lebendgeborenen, ehelichen Kinder im Säuglingsalter. Bei den unehelich geborenen sterben sogar 40 Prozent. 1914 beträgt die Säuglingssterblichkeit immerhin noch 15 Prozent. (Vgl. Dienel, Kinderzahl und Staatsräson, S. 27)

[41] Vgl. Sorgner, Eugenik und die Zukunft, S. 204ff

[42] Interessant erscheint mir, dass zu diesem Zeitpunkt die Menschen schon seit Jahrtausenden Pflanzen und Tiere züchten. Damit ist nicht nur das Tabu gebrochen, Gott ins Handwerk zu pfuschen, die Menschen verfügen auch über das nötige Knowhow, um bestimmte Eigenschaften zu züchten. Dennoch dauert es bis 1859, um das lange Praktizierte und (zumindest aus heutiger Perspektive) Offensichtliche zu formulieren. Zum Vergleich: Das sich nicht intuitiv erschließende anti-geozentrische Weltbild (subjektiv geht die Sonne auf und nicht die Erde) begründet Kopernikus bereits 300 Jahre vor Darwins anti-anthropozentrischem Weltbild.

[43] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 43ff; Die Entartung des Menschen durch mangelnden Selektionsdruck bezeichnet der österreichische Zoologe und Nobelpreisträger Konrad Lorenz (1903-1989) als „Verhausschweinung des Menschen“.

[44] Auch Charles Darwin geht in seiner Pangenesistheorie noch von der Vererbbarkeit der im Laufe des Lebens erworbenen Eigenschaften aus. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 70)

[45] Anders als vielfach dargestellt ist die Vererbung erworbener Eigenschaften jedoch nur ein Teilaspekt von Lamarcks Theorie.

[46] Geometrisch = 1, 2, 4, 8, 16,… / arithmetisch = 1, 2, 3, 4, 5,…

[47] Malthus steht in seiner Theorie im Gegensatz zu Marx, für den Armut nicht das Resultat von Bevölkerungswachstum, sondern von sozialer Ungerechtigkeit ist. Die Malthusianer beziehen sich ausschließlich auf die quantitative Dimension der Geburts- und Sterberaten und machen sich so zur Zielscheibe der Rassenhygieniker, denen es um die Qualität der Bevölkerung geht. Die Rassenhygieniker werfen den Malthusianern vor, durch ihre Geburtenbeschränkungen den natürlichen Auslesemechanismus zu stören und dadurch zur Degeneration beizutragen. (Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 132f)

[48] Der Begriff der Degeneration taucht im 18. Jahrhundert auf und beschreibt zunächst nur eine wertneutrale Variation. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff negativ besetzt und bedeutet eine pathologische Abweichung. Für den gläubigen Katholiken Morel ist der Begriff nicht medizinisch, sondern religiös: Am Anfang steht der Ursprungsmensch. Nach dem Sündenfall weicht der Mensch von diesem Ursprungsmenschen ab und es entstehen zwei Gruppen. Ein Teil bleibt durch Anpassung gesund, der andere degeneriert. (Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 14)

[49] Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 14f; Die ersten eugenischen Theorien sind eine Kombination aus Morelscher Generationsthese und Darwinistischem Selektionsprinzip. Demnach verhindern Zivilisation und Medizin durch Ausschaltung des Selektionsprinzips den evolutionären Fortschritt. Statt zur Höherentwicklung kommt es zum Verfall. (Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 15)

[50] „Über die Entstehung der Arten“ (Originaltitel: „On the Origin of Species“) aus dem Jahr 1859 und „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ (Originaltitel: „The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex“) aus dem Jahr 1871. Trotzdem seiner Religiosität (er hat einen Abschluss in Theologie) ist Darwin bereit, die Geschichte der Genesis anzuzweifeln und die Wissenschaft ernst zu nehmen. (Vgl. Birx, Eugenik und die Zukunft, S. 86f).

[51] Dieses Ensemble von Begriffen bezeichnet Foucault als „Evolutionismus“

[52] Während Darwin den Ausdruck „struggle for life“ („Kampf ums Dasein“) prägt, stammt der oftmals Darwin zugeschriebene Ausdruck „survival of the fittest“ nicht von Darwin, sondern vom englischen Philosophen Herbert Spencer, der damit den Evolutionismus, einen Vorläufer des Sozialdarwinismus, prägt. Darwin übernimmt den Ausdruck als Ergänzung zu seinem Begriff der „natural selection“.

[53] Darwin bemerkt, dass sich Nachkommen häufig von vorangegangenen Generationen unterscheiden. Die Vererbbarkeit der Abweichung führt zu einer graduellen Veränderung der Art. Diese Divergenz ist das Ergebnis eines Kampfes ums Dasein. Die Abweichung ist für Darwin fixer Bestandteil der Evolution. Alle Individuen sind somit potentiell gefährdet, in den Bereich der Anomalität abzuweichen. (Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 76f)

[54] Vgl. Darwin, Die Entstehung der Arten, S. 131ff

[55] Vgl. Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, S. 142

[56] Vgl. Birx, Eugenik und die Zukunft, S. 85

[57] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 71f

[58] So verringern für Darwin Medizin und Armenfürsorge den Selektionsdruck und führen zur Degeneration: „Wenn (…) Hemmnisse es nicht verhindern, dass die leichtsinnigen, lasterhaften und in anderer Weise niedriger stehenden Glieder der Gesellschaft sich in einem schnelleren Verhältnisse vermehren als die bessere Klasse der Menschen, so wird die Nation rückschreiten, wie es in der Geschichte der Welt nur zu oft vorgekommen ist. Wir müssen uns daran erinnern, dass Fortschritt keine unabänderliche Regel ist.“ (Darwin, Die Abstammung des Menschen, S. 185) Als Ersatz für den Selektionsdruck fordert Darwin die Entwicklung von Instrumenten zur Regulierung der Fortpflanzung. Da ein direkter Eingriff ins Erbgut zur Zeit Darwins noch nicht möglich ist, fordert er Geburtenverbote und Heiratsbeschränkungen. „Beide Geschlechter sollen sich der Heirat enthalten, wenn sie in irgendwelchem ausgesprochenen Grade an Körper und Geist untergeordnet wären.“ (ebd., S. 699)

[59] Der vierbändige Essay „Versuch über die Ungleichheit der menschlichen Rassen“ (Originaltitel: „Sur l’inégalité des raçes humaines“) erscheint erstmals 1853 und gilt als Hauptwerk des Rassismus.

[60] Ursprünglich bezeichnet der völkerkundliche und linguistische Begriff „arisch“ die Verwandtschaft indo-iranischer Sprachen. Diesen verlagert Gobineau nach Westen und macht aus dem sprachwissenschaftlichen Begriff ein anthropologisches Unterscheidungsmerkmal. (Vgl. Schlosser, Die Macht der Worte, S. 87)

[61] Der Begriff „Rasse“ ist zunächst ein rein zoologischer Terminus. Die Schädlichkeit der Rassenmischung ist damals eine verbreitete Hypothese, da man davon ausgeht, dass die Vererbung an das Blut gebunden ist und deshalb bei Mischung wertvolle Anlagen durch Verdünnung verloren gehen würden. Die Erkenntnisse Gregor Mendels, wonach sich das Erbmaterial nicht wie eine Flüssigkeit verhält, sondern aus voneinander unabhängigen Erbanlagen besteht, etabliert sich erst nach 1900. Im Unterschied zu den späteren, von ihm beeinflussten Eugenikern, begnügt sich Gobineau mit der Feststellung und Beschreibung des Degenerationsphänomens, ohne dieses zu bekämpfen. (Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 89)

[62] u.a. Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Cecil Rhodes, Karl Ludwig Schemann, Alldeutscher Verband, Deutschvölkische Partei. Der Rassentheoretiker Ludwig Schemann (1852-1938) übersetzt und interpretiert die Schriften Gobineaus und gibt diesen eine antisemitische Richtung. 1894 gründet Schemann die Gobineau-Vereinigung. (Vgl. Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 94ff)

[63] Vgl. Schlosser, Die Macht der Worte, S. 86

[64] Kaiser Wilhelm II sagt über das Werk, die Lektüre desselben habe ihn erst zum Deutschen gemacht. (Vgl. Schlosser, Die Macht der Worte, S. 88)

[65] Mendel entdeckt, dass rezessive Merkmale in der ersten Generation unterdrückt werden und erst in der Folgegeneration auftreten. Dies bedeutet, dass jemand Träger von Erbanlagen für Krankheiten sein kann, ohne jedoch selbst zu erkranken. Daraus folgt, dass nicht vom Erscheinungsbild auf die Erbanlagen geschlossen werden kann.

[66] Da Mendels Erkenntnis einer konstanten Weitergabe gleicher Erbelemente nicht zu den Untersuchungen der Botaniker des 19. Jahrhunderts, die nach den Ursachen für die Entstehung neuer Arten durch Variation suchen, passt, wird Mendels Theorie für falsch erachtet.

[67] „Es musste der Maßstab gewechselt werden, es musste eine ganz neue Gegenstandsebene in der Biologie entfaltet werden, damit Mendel in das Wahre eintreten und seine Sätze sich bestätigen konnten.“ (Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 24)

[68] Gegen Darwins Theorie wird immer wieder eingewendet, dass neue Merkmale durch „mischende Vererbung“ im Laufe der Generationen ausgedünnt und verschwinden würden und die Selektion somit keinen Angriffspunkt finden würde. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 96f)

[69] In den 1920er Jahren werden die Erkenntnisse Mendels durch Grundlagenforschung relativiert. Der amerikanische Biologe und Genetiker Hermann Joseph Muller (1890-1967) führt Experimente an Fruchtfliegen (drosophila melanogaster) durch, die er auf den Menschen überträgt. Er gelangt zu der Einsicht, dass der zivilisatorisch beschränkte Selektionsdruck künstlich ersetzt werden muss. So finden die Forschungsergebnisse Eingang in die Rassenhygiene. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 97ff)

[70] Selbst Darwin geht noch davon aus, dass es einen Wirkungszusammenhang von den Somazellen (Körperzellen) auf die Keimzellen gibt.

[71] Vgl. Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie, S. 339f

[72] Die daraus resultierende Erkenntnis, wonach evolutionärer Fortschritt nur durch Selektion möglich ist, findet in der Eugenik großen Anklang. Die Rassenhygieniker sehen Spezies und Individuum durch das Keimplasma prädestiniert und verstehen Rassenhygiene als „Hygiene des Keimplasmas“. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 91)

[73] Gemäß der Theorie Darwins führt der Selektionsdruck durch stete Anpassung zu einer Höherentwicklung. Der Umkehrschluss, wonach mangelnder Selektionsdruck automatisch zur Degeneration führt, gilt dadurch noch nicht. Dennoch besitzt der in unterirdischen Gewässern lebende Olm nur mehr Rudimente der bei seinen Vorfahren noch voll ausgebildeten Augen. Mangelnder Selektionsdruck kann dies nicht erklären, da gute Augen im Dunkeln zwar kein Vorteil, aber eben auch kein Nachteil sind. Die Rückentwicklung erklärt sich erst durch Allgemein-Kreuzung (Panmixie): Olme mit guten Augen und Olme mit schlechten Augen zeugen Nachkommen mit durchschnittlichen Augen. Dieser Prozess der Verschlechterung hält so lange an, bis dadurch ein Nachteil entsteht. (Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 79ff) Auch die Sehleistung der Menschen nimmt durch Zivilisation von Generation zu Generation ab. Weismann fordert deshalb die Schaffung einer künstlichen Selektion, um die erreichte Organhöhe zumindest zu halten. (Vgl. Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie, S. 123)

[74] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 136

[75] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 15

[76] Galton ist Geograf und Afrikaforscher, entwickelt die erste Wetterkarte, entdeckt die Einmaligkeit menschlicher Fingerabdrücke, prägt Begriffe wie „Regression“ und „Korrelationskoeffizient“ und gilt als Begründer der Zwillingsforschung, der Daktyloskopie und der Differenzialpsychologie. Ferner entwickelt er das „Galtonbrett“ zur Demonstration der Binomialverteilung sowie die „Galtonpfeife“ zur Erzeugung von Tönen bis in den Ultraschallbereich.

[77] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 26

[78] Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 12

[79] Dazu analysiert Galton die Biografien berühmter Männer, die er nach Berufsgruppen auswählt und bildet deren Stammbäume ab. Er erstellt eine Skala mit den Endpunkten „Genialität“ und „Idiotie“ und ordnet die Individuen in die Skala ein. Als Normalwert gilt der Durchschnitt, wobei Galton eine stete Weiterentwicklung fordert. Die Vertreter einer Berufsgruppe repräsentieren für Galton bestimmte Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten bezeichnet Galton als „reine Typen“. Je ähnlicher sich die Eltern physisch, psychisch und charakterlich sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ihre Nachkommen zu einem reinen Typus ordnen. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 80ff; Vgl. Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, S. 157)

[80] Vgl. Galton, Genie und Vererbung, S. 68; Galton kommt zu dem Schluss, dass Umwelt und Erziehung weniger Einfluss haben als die Anlagen und macht sich damit zum Feindbild der Pädagogen. Die Pädagogik zeigt seither gegenüber der Biologie eine Abwehrhaltung, da sie diese mit biologischem Determinismus gleichsetzt. Viele Pädagogen sind der Meinung, die Biowissenschaft dürfe den Menschen nur erforschen, nicht aber verbessern. Die Verbesserung des Menschen wäre alleinige Aufgabe der Pädagogik. (Nature/nurture-Dichotomie: Veranlagung oder Umwelt) Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Pädagogik und Eugenik keine Gegensätze sind. Auch verbesserte Gene bedürfen zu ihrer Entfaltung einer entsprechenden Umwelt. Niemand wird in die Genetik investieren und gleichzeitig die Umweltbedingungen vernachlässigen. (Vgl. Reyer, Eugenik und die Zukunft, S. 177ff; Vgl. Herzog, Verhältnisse von Natur und Kultur, S. 97

[81] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 26

[82] Vgl. Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, S. 39

[83] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 36

[84] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 16

[85] Langbestehende Rassen müssen spezielle Fähigkeiten entwickeln, um dem Auslesedruck Stand zu halten. (Vgl. Galton, Genie und Vererbung, S. 359) Die hohe Zivilisationsstufe, die der Mensch erreicht hat, macht viele der im Laufe der Evolution herausgebildeten menschlichen Fähigkeiten überflüssig bzw. hinderlich. Die Zivilisation selbst ist für Galton eine neue Umweltbedingung, an die sich der Mensch anpassen muss. Zivilisationsrelevante Fähigkeiten müssen entwickelt werden, da bei Nicht-Anpassung Auslöschung drohe. Die generationenübergreifende Diskrepanz zwischen zivilisatorischen Anforderungen und tatsächlichen Fähigkeiten der Rasse nennt er Degeneration. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 77f)

[86] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 84

[87] In der Hoffnung, für seine Ideen ein breiteres Publikum anzusprechen, schreibt Galton knapp vor seinem Tod im Jahr 1910 den Roman „The Eugenic College of Kantsaywhere“, doch der Verlag verweigert die Veröffentlichung. (Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 32)

[88] Weitere bekannte literarische Werke, die sich mit Eugenik und der Degenerationsproblematik befassen, sind Utopia (1516) von Thomas Morus (1478-1535), Sonnenstadt (1602) von Tommaso Campanella (1568-1639), Nova Atlantis (1627) von Francis Bacon (1561-1626), Vor Sonnenaufgang (1889) von Gerhart Hauptmann (1862-1946), Fruchtbarkeit (1899) von Emile Zola (1840-1902), Buddenbrooks (1901) von Thomas Mann (1875-1955), Mittgart (1904) von Willibald Hentschel (1858-1947), Out of the night (1925) von Hermann Muller (1890-1967) und Brave new world (1932) von Aldous Huxley (1894-1963).

[89] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 27ff

[90] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 51ff und S. 73ff

[91] Noch 1962 räumt der englische Eugeniker Julian Huxley auf dem Ciba-Symposium ein, dass der Beweis des genetischen Abstiegs primär deduktiv geführt wird. (Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 79)

[92] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 75

[93] Vgl. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 357

[94] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 27f

[95] Der gleichzeitig mit der Eugenik entstehende Sozialdarwinismus bewirkt einen Rechtsruck innerhalb der Evolutionstheoretiker. Da für die Sozialdarwinisten die zivilisatorische Ausschaltung des Selektionsprinzips unnatürlich ist, deuten sie die soziale Auslese als biologische um: wenn das Selektionsprinzip auch in der Gesellschaft gilt, müssen demnach die unteren Gesellschaftsschichten auch die Untüchtigen sein. Soziale Probleme werden biologisiert und somit sozialen Lösungsstrategien entzogen. Die biologisierten Probleme müssen demnach auch auf biologischer Ebene durch sozialdarwinistischen Selektionsdruck gelöst werden. Der gebräuchliche Terminus „Sozialbiologie“ zielt auf diesen Umstand ab. (Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S 114ff, S. 143)

[96] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 32

[97] Während englische Eugeniker sozialreformerisch aktiv werden und die Verarmung weiter Bevölkerungsschichten in den Fokus ihrer Arbeit richten, ist die deutsche Variante der Eugenik, die Rassenhygiene, stärker medizinisch ausgerichtet und möchte Krankheiten bekämpfen. In den USA wiederum verbindet sich der Kampf gegen die Schwachsinnigen mit dem Rassismus gegenüber Einwanderern. (Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 29f)

[98] Der verschärfte ökonomische Wettbewerb um Absatzmärkte, Arbeitskräfte und Rohstoffe auf dem entstehenden Weltmarkt führt zu imperialistischen Expansionsbestrebungen und schürt in den Industriestaaten den Nationalismus. Nationen werden mit Rassen gleichgesetzt, die sich in einem Kampf ums Dasein mit anderen Rassen befinden. Die hohen Geburtenziffern der schwarzen und asiatischen Rassen drohen die wertvolle weiße Rasse zu überrollen und führen zu einer Angst vor Überfremdung. (Vgl. Herlitzius, Frauenbefreiung und Rassenideologie, S. 67f)

[99] Unter den 700 Teilnehmern befinden sich Biologen, Statistiker, Soziologen, Anthropologen, Mediziner, Ahnenforscher, Sozialreformer, Politiker, Militärs, Kirchenführer und Feministinnen.

[100] Die Eugeniker verstehen sich sowohl als Wissenschaftler in der Bevölkerungs- und Vererbungsforschung als auch als Teil einer sozialen und politischen Bewegung. Die wissenschaftliche Komponente soll der Unterstreichung der Objektivität dienen, die politische Komponente dient der Generierung von Forschungsgeldern. (Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 37ff)

[101] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 45ff

[102] Vgl. Macfie, The Selective Effects of War, S. 442

[103] Alfred Ploetz plädiert dafür, sich das selektive Moment des Krieges zu Nutzen zu machen: Nicht die Gesunden, sondern die Gebrechlichen sollen als Kanonenfutter an die Front geschickt werden.

[104] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 55ff

[105] Von diesem stammt das Coverbild

[106] Deutsche Eugeniker nehmen erst wieder 1927 an einem internationalen Treffen teil. Um nicht den Anschein eines Laienkongresses wie 1912 in London aufkommen zu lassen werden die Vorträge im Vorfeld überprüft. (Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 72ff)

[107] Zu den führenden Geburtenkontrollaktivistinnen zählen Margaret Sanger in den USA, Marie Stopes in Großbritannien, Thit Jensen in Dänemark, Henriette Fürth und Helene Stöcker in Deutschland

[108] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 118f

[109] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 124f

[110] Während Wissenschaftler ihre Erkenntnisse stets hinterfragen, suchen Politiker nach allgemeingültigen Wahrheiten als Entscheidungsgrundlage. (Vgl. Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, S. 96)

[111] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 128ff

[112] In den protestantischen Ländern Deutschland, Estland, Island, Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark werden Sterilisationsgesetze erlassen, in den USA steigt die Anzahl der Sterilisationen bis 1948 auf über 50.000. In den katholischen Ländern scheitern diesbezügliche Bemühungen an der von Papst Pius XI erlassenen Enzyklika Casti connubii. (Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 137)

[113] Foucault bezeichnet den Nationalsozialismus als auf die Spitze getriebenen Machtmechanismus der Moderne. Nie davor oder danach gab es je einen Staat, der disziplinärer und biologisch regulierter war. (Vgl. Foucault, Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus, S. 51ff)

[114] Hitler übernimmt seine rassenhygienischen Vorstellungen, die er schon in „Mein Kampf“ beschreibt, von Alfred Ploetz. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 102) Der anthropologische Rassismus richtete sich gegen die nicht-arischen Völker, der eugenische Rassismus richtet sich auch gegen Deutsche, die den diesbezüglichen Kriterien nicht genügen. (Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 345) Für die Nationalsozialisten ist Rassenmischung ein „Kardinalproblem der Kulturvölker und der arischen Herrenrasse“, weshalb sie Eugenik nicht nur als Erbpflege, sondern vor allem als Rassenpflege verstehen. (Peter, Der Einbruch der Rassenhygiene in die Medizin, S. 176) Hitlers Ziel ist die Errichtung einer deutschen Weltherrschaft unter Anwendung von konventioneller Macht- und Rassenpolitik, wobei sich diese beiden Instrumente gegenseitig verstärken. Rassische Gegner (Juden, Bolschewiki, Sinti, Roma) sollen vernichtet, das eigene Volk höhergezüchtet werden. Als wissenschaftliche Grundlage hierfür dient das Darwin´sche Selektionsprinzip, welches die Nationalsozialisten auf den Menschen übertragen („Sozialdarwinismus“) und in Anlehnung an Gobineau und Chamberlain um Rassismus und Antisemitismus erweitern. Eine Mischung der höherwertigen nordisch-germanischen Rasse mit anderen Rassen führe zu einem Absinken der rassischen Qualität. Dieser Entwicklung müsse durch Rassenreinheit entgegengewirkt werden, wobei die Rassenpfleger Kriterien der Tierzucht auf den Menschen übertragen. Für Hitler ist „Fitness“ jedoch nicht nur eine Frage des Erbgutes allein, sondern hängt auch von der Fähigkeit zur Kulturschöpfung ab. Die arische Rasse hätte sich hierbei als am erfolgreichsten erwiesen. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 14ff)

[115] Den Rassehygienikern werden neben Geld auch menschliche Forschungsobjekte aus Krankenhäusern, Anstalten, Kriegsgefangenenlagern und KZs zur Verfügung gestellt. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 102f)

[116] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 17

[117] Die wichtigsten eugenischen Gesetze im NS-Staat sind das G. zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN, Erbgesundheitsg.) vom 14.7.1933 (in D. in Kraft ab 1.1.1934, in Ö. ab 1.1.1940), das G. über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3.7.1934 (in D. in Kraft ab 1.4.1935, in Ö. ab Dezember 1938), das G. zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (Blutschutzg., Teil der Nürnberger G.) vom 15.9.1935 (in D. in Kraft ab 16.9.1935, in Ö. ab 24.5.1938), das Reichsbürgerg. (Teil der Nürnberger G.) vom 15.9.1935 (in D. in Kraft ab 30.9.1935, in Ö. ab 28.5.1938), das G. zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsg., EGG) vom 18.10.1935 (in D. in Kraft ab 19.10.1935, in Ö. ab 1.1.1940)

[118] Vgl. Weß, Eugenik im Zeitalter der Gentechnologie, S. 71

[119] Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 346

[120] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 104

[121] Zu erwähnen wären etwa Jon Alfred Mjöens (NOR), George Pitt-Rivers (GB), Herman Nilsson-Ehle (SWE), Leon F. Whitnex (USA), Herman Lundborg (SWE), Harry H. Laughlin (USA)

[122] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 163ff

[123] Alfred Ploetz (1860-1940) begründet sein Engagement in der Friedenspolitik eugenisch: Krieg wäre deshalb schlecht, weil von dessen kontraselektiven Wirkung vor allem die Juden profitieren würden, da diese schwächer wären und eine Abneigung gegen das Soldatentum hätten. (Vgl. Kühl, die Internationale der Rassisten, S. 218f)

[124] Behinderte werden mit militärischen Ausdrücken wie „Feind Nummer Eins“, „Armee der Minderwertigen“ oder „Menschenkehricht“ stigmatisiert. Es brauche einen „Krieg gegen die Defekten“ bzw. einen „Weltkrieg gegen die Idioten, Kretins und Schwachsinnigen, Gewohnheitsverbrecher und sonst wie Degenerierten und Verseuchten.“ (Vgl. Dörner, Nationalsozialismus und Lebensvernichtung, S. 131)

[125] Hitler lässt sogar den erst im Oktober ausgesprochenen Euthanasieerlass auf den 1. September 1939 (= Einmarsch der deutschen Truppen in Polen) rückdatieren, um die Verbindung zwischen dem inneren und dem äußeren Krieg zu unterstreichen.

[126] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, S. 164

[127] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 107

[128] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 17

[129] In welchem Ausnahmezustand sich Deutschland mittlerweile befindet lässt sich u.a. daran erkennen, dass „Fernehe“, „Leichentrauung“ und „Totenscheidung“ eingeführt werden. (Vgl. Essner / Conte, Fernehe, Leichentrauung und Totenscheidung, S. 201ff)

[130] Das Interesse an dieser ist jedoch u.a. deshalb gering, weil die negativen Folgen des Untersuchungsergebnisses für die Ratsuchenden nicht abschätzbar sind. (Vgl. Czarnowski, Eheeignung und Ehetauglichkeit, S. 325)

[131] Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 351f

[132] Bei Zweifeln an der Ehetauglichkeit können Standesbeamte ein ärztliches Ehetauglichkeitszeugnis (ETZ) einfordern. Ab Dezember 1941 müssen Verlobte vor der Heirat eine Eheunbedenklichkeitsbescheinigung (EU) beim Gesundheitsamt anfordern. Bei Vorliegen von Erbkrankheiten wird die Ehe gem. EGG untersagt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass „Mischehen“ zwischen Erbkranken und Erbgesunden erlaubt sind, sofern der Erbgesunde unfruchtbar ist. Diese Ausnahmeregelung ist sowohl negativ- als auch positiv-eugenischer Natur: Die aufgrund ihrer Erkrankung für die Fortpflanzung Ungeeigneten sollen durch Heirat mit Unfruchtbaren „neutralisiert“ werden. Gleichzeitig wird so sichergestellt, dass dem Staat an anderer Stelle wertvolles Erbgut nicht durch Heirat mit Unfruchtbaren verloren geht. Insgesamt werden in Deutschland vier Mio., in Österreich 180.000 Personen auf Ehetauglichkeit hin untersucht. Die Untersuchungen sind jedoch mehr als nur ein Test zur Ehetauglichkeit. Sie sind auch ein eugenisches Erziehungsprogramm, bei dem die künftige Generation in Fragen der Sexualität und Fortpflanzung geschult werden soll. (Vgl. Czarnowski, Eheeignung und Ehetauglichkeit, S. 324 ff)

[133] Alle im Gesundheitswesen Beschäftigten müssen Personen, die sie für erbkrank halten, beim Gesundheitsamt melden. Dieses führt Ermittlungen durch, für die sogar die ärztliche Schweigepflicht aufgehoben wird. Bei begründetem Verdacht wird die Person vorgeladen und untersucht. Ist das Untersuchungsergebnis Schwachsinn, Schizophrenie, Epilepsie oder manisch-depressives Irresein, wird die Person zwangssterilisiert. Die Entscheidung fällen Erbgesundheitsgerichte auf Antrag der Amtsärzte. Im gesamten Deutschen Reich wird in etwa 85% aller Fälle dem amtsärztlichen Antrag auf Sterilisation entsprochen. (Vgl. Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, S. 233) Wie schon in den Anfängen der Eugenik ist vor allem die Unterschicht betroffen. Nicht nur eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung, sondern vor allem ein Dasein am Rande der Gesellschaft gilt als Erbkrankheit und somit als Grund für eine Sterilisation, die mit der Allzweck-Diagnose „angeborener Schwachsinn“ formal legitimiert wird. (Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 356) Als schwachsinnig gilt sogar derjenige, dessen Ehepartner schwachsinnig ist, weil schon die Entscheidung für diesen Partner als Indiz für Schwachsinn gilt. (Vgl. dazu den Fall des 39-jährigen Stefan L. in Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 360f)

[134] Himmler führt den Geburtenrückgang auf drei Ursachen zurück: Einem Trend zur Kleinfamilie, Homosexualität und Abtreibungen. Für letztere macht er christlich-bürgerliche Moralvorstellungen verantwortlich. Himmler schätzt die Zahl der jährlichen Abtreibungen auf 600.000 bis 800.000. Die Zahl der Frauen, die an den Folgen einer Abtreibung sterben würden, schätzt er auf 30.000 bis 40.000. Zudem würden rund 300.000 Frauen durch unsachgemäße Abtreibungen dauerhaft unfruchtbar. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 25f) Hebammen, die Abtreibungen durchführen, wird die Niederlassungsbewilligung entzogen. 1943 wird die Abtreibung unter Todesstrafe gestellt. (Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 351f)

[135] Vgl. Burgdörfer, Kinder des Vertrauens. Bevölkerungspolitische Erfolge und Aufgaben im Großdeutschen Reich, S. 29; Vgl. Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, S. 94f

[136] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 106

[137] Vgl. Kersten, Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform, S. 99

[138] Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 134; Ein erster Schritt in diese Richtung ist der Heirats- und Verlobungsbefehl vom Dezember 1931: SS-Männer sollen als gutes Beispiel vorangehen und je Familie mindestens vier Kinder zeugen oder, falls die eigene Ehe kinderlos bleibt, erbgesunde Kinder annehmen und im Sinne des Nationalsozialismus erziehen. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 44).

[139] Während eine kinderlose Ehe für Himmler bloß als „Verhältnis“ gilt, sind ledige Kinder für die Nationalsozialisten kein Problem. (Vgl. Kersten, Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform, S. 93) Hitler selbst äußert sich zwar nie öffentlich, sehr wohl aber in kleinerem Kreis mehrfach positiv zur unehelichen Geburt. So meint Hitler, schon nach dem Dreißigjährigen Krieg sei die Nation durch das „illegitime Kind“ wieder in die Höhe gekommen. Solange noch zwei Mio. Männer fehlen, sei es besser, ein unverheiratetes Mädchen habe ein Kind anstatt als „alte Jungfer“ zu verkümmern. Die Natur sorge sich nämlich nicht darum, ob zuvor in Gegenwart von Zeugen eine Erklärung abgegeben wurde. Die Natur will, dass eine Frau ein Kind bekommt. Andernfalls werde sie hysterisch und krank. (Vgl. Jochmann, Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944, S. 310) An anderer Stelle erregt sich Hitler über die verlogene Moral der oberen Zehntausend, die einen preußischen Prinzen, der sich mehrere Maitressen hält, als Ehrenmann ansehen, während der einfache Mann, der die Frau, die von ihm ein Kind erwarte, heiraten will, mit Vorwürfen überschüttet würde. Die Folge seien Abtreibungen und Kinderlosigkeit. Die am Lande übliche „Probier“, bei der eine Frau vor der Eheschließung erst ihre Fruchtbarkeit beweisen müsse, sei eine gesündere Moral. Auch die mittelalterlichen Findelhäuser, die uneheliche Mütter vor gesellschaftlicher Ächtung bewahrt hätten, seien eine segensreiche Einrichtung gewesen, ihre Abschaffung im 19. Jahrhundert wäre moralische Heuchelei. (Vgl. Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, S. 240, 289 und 311) In die gleiche Kerbe wie Hitler schlagen auch andere führende Nationalsozialisten, die sogar bereit sind, Begünstigung zum Ehebruch zu begehen. Für Landwirtschaftsminister Richard Darré ist die Unterscheidung in ehelich und unehelich eine neuzeitliche Schöpfung der Kirche. Für die Aufnordung entscheidend wäre nicht die Ehelichkeit, sondern die Abstammung. (Darre, Neuadel aus Blut und Boden, S. 171f) NS-Chefideologe Alfred Rosenberg betrachtet die Frage der unehelichen Geburt quantitativ: Dem Geburtenüberschuss der Ostvölker stünden sinkende Geburtenraten in Deutschland gegenüber, weshalb uneheliche Geburten begrüßenswert wären. (Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, S. 594) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Lebensborn zwar verheiratete Männer zur außerehelichen Zeugung mit dem Vereis auf strenge Diskretion animiert, andererseits jedoch nicht bereit ist, eine verheiratete Frau aufzunehmen, die ein uneheliches Kind erwartet. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 149); Nach dem Krieg planen die Nationalsozialisten aufgrund des Männermangels sogar die Einführung der Mehrfachehe für erbgesunde Männer.

[140] Das Mutterkreuz wird verliehen in Bronze für 4-5 Kinder, in Silber für 6-7 Kinder, in Gold für 8 oder mehr Kinder. Selbstverständlich nur, wenn alle Kinder arisch und gesund sind. Es darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass auch positiv-eugenische Maßnahmen dazu dienen, Daten zu erheben, die im Sinne negativer Eugenik (Sterilisation) auszuwerten. So werden beispielsweise im Zuge von Mutterkreuz-Anträgen auch nach Totgeburten, Todesursachen und Erbkrankheiten gefragt. (Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 351ff)

[141] Voraussetzung für ein Ehestandsdarlehen ist ein ärztliches Eheeignungszeugnis. (Vgl. Mezynski, Der Gesundheitszustand der Ehestandsdarlehensbewerber in der Ostmark im Jahr 1938, S. 101ff) Die Höhe des Darlehens ist nach rassenspezifischem Wert gestaffelt. Das Darlehen beträgt max. 1000 RM. Es wird jedoch nicht in Geld, sondern in „Bedarfsdeckungsscheinen“ ausbezahlt, die in Handwerksbetrieben und Verkaufsstellen für Möbel und Haushaltegeräte eingelöst werden können. Neben dem qualitativ-eugenischen Aspekt kommt bei den Darlehen auch ein quantitativ-eugenischer dazu: Die Darlehen sollen nicht zurückbezahlt, sondern „abgekindert“ werden. Jeweils ein Viertel des Darlehensbetrages wird bei Geburt eines gesunden Kindes erlassen. (Vgl. Czarnowski, Eheeignung und Ehetauglichkeit, S. 317f) Darüber hinaus haben die Ehestandsdarlehen auch eine arbeitsmarktpolitische Bedeutung. Sie werden nämlich nur gewährt, wenn Frauen ihre Erwerbstätigkeit aufgeben und somit Arbeitsstellen für Männer frei machen. (Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 351f) Ehestandsdarlehen sind die erste eugenische Maßnahme der Nationalsozialisten in Österreich nach dem Anschluss und auch eine der erfolgreichsten. Zwischen April 1938 und Dezember 1943 erhalten in Österreich 91174 Paare ein Ehestandsdarlehen, 3.000 werden abgelehnt (Vgl. Czarnowski, Eheeignung und Ehetauglichkeit, S. 341f). Ende 1944 wird die Ehestandsdarlehen-Vergabe eingestellt, da aufgrund des Krieges kein Hausrat erwerbbar ist. (Vgl. Mezynski, Der Gesundheitszustand der Ehestandsdarlehensbewerber in der Ostmark im Jahr 1938, S. 101ff)

[142] Das erste Entbindungsheim wird 1936 in Steinhöring bei Ebersberg in Oberbayern unter dem Namen „Heim Hochland“ eröffnet. Bis 1944 folgen 30 weitere Heime, wobei sich die meisten in Deutschland, Polen und Norwegen befinden. In Österreich gibt es das Heim „Ostmark“ (später „Wienerwald“) in Feichtenbach sowie das Heim „Alpenland“ in Laakirchen. Der Lebensborn ist keine autonome Institution. Er ist eingebunden in die NS-Rassenpolitik und steht in Konkurrenz zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 12, 21, 49ff)

[143] Zur Geheimhaltung außerehelicher Schwangerschaft werden die Frauen mit Vornamen angesprochen. Zur Umgehung der Meldepflicht werden in den Heimen eigene Meldestellen eingerichtet. Auch Deckadressen oder die Empfehlung sich „als auf Reisen befindlich abzumelden“ dienen der Geheimhaltung. Manchen Frauen wird eine gänzlich neue Identität gegeben. Auch die Vaterschaft wird teilweise unter Brechung gültigen Rechts geheim gehalten. Die Geheimhaltung dient nicht nur dem Schutz der Mütter. Durch sie können auch uneheliche Kinder deutscher Eltern im besetzen Ausland beurkundet werden. Zudem wird die systematische Verschleppung ausländischer Kinder so erleichtert. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 63, 80, 82, 88)

[144] Satzung des Lebensborn e.V. vom 12.12.1935; Kind und Mutter stehen unter ärztlicher Kontrolle, die Mütter erhalten Unterhalt und werden in Säuglingspflege und Haushaltsführung unterrichtet, bei Bedarf werden auch Arbeitsplätze vermittelt. Dennoch ist der Lebensborn keine Wohlfahrtseinrichtung, da das Aufnahmekriterium nicht individueller Bedarf, sondern rassische Reinheit ist. Die mit Fortdauer des Krieges steigenden Menschenverluste bewegen Himmler jedoch, die Aufnahmekriterien immer weiter zu lockern. Für die Kinder übernimmt der Lebensborn die Vormundschaft, organisiert die Unterbringung in Pflegefamilien oder vermittelt die Adoption. Die Öffentlichkeit erfährt erst im Rahmen des Nürnberger Prozesses von der Institution, was Anlass für zahlreiche Spekulationen bietet. Der Lebensborn wäre eine „staatliche Bordellorganisation“ (Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, S. 368) bzw. eine „Zuchtanstalt“, in der fanatische Nationalsozialistinnen ihrem Führer Kinder schenken. SS-Männer würden Frauen, die sich ein Kind wünschen, zur Verfügung stehen. Der Lebensborn wird auch medial ausgeschlachtet: Artikelserie in der Illustrierten „Revue“, Film „Lebensborn“ (1961), Bücher: „Die Schande“ (1965), „Lebensborn e.V. im Namen der Rasse“ (1975), „Die Nächte der langen Messer“ (1975), TV-Beitrag „…dem Führer ein Kind schenken.“ (1975) Die historische Bedeutung des Lebensborns ist jedoch weitaus geringer als seine mediale. Während sich Himmler durch den Lebensborn 100.000 Kinder durch Nicht-Abtreibung jährlich erwartet, liegt die tatsächliche Zahl der in den neun Jahren seines Bestehens geborenen Kinder zwischen 7000 und 8000 Kinder. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 230)

[145] Die „Landgermanen“ sollen zusammen mit den „Seegermanen“ (= Engländer) die Welt beherrschen.

[146] Dies hat einen doppelten Effekt: den Gewinn guten Blutes und den Verlust desselben auf Seite des Gegners. So verkündet Himmler in einer Rede vor SS-Gruppenführern am 8.11.1938 seine Absicht, „germanisches Blut in der ganzen Welt zu holen, zu rauben und zu stehlen.“ (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 35) In den Dienst dieser Idee stellt Himmler den Lebensborn. Als arisch geltende Kinder werden verschleppt und in Lebensborn-Heimen im Reich oder den besetzten Gebieten im Sinne des Nationalsozialismus erzogen. Ziel ist die Adoption durch deutsche Familien. (Vgl. Lilienthal, Der Lebensborn e.V., S. 160ff) Gehen aus sexuellen Verbindungen zwischen Deutschen und rassisch Minderwertigen Nachkommen hervor („Rassenschande“), so reicht das Sanktionsspektrum von der Hinrichtung bis zur „Rettung deutschen Blutes“ durch Heirat und/oder Geburt eines eugenisch wertvollen Kindes. (Vgl. Czarnowski, Zwischen Germanisierung und Vernichtung, S. 295ff)

[147] Vgl. Kühl, die Internationale der Rassisten, S. 215ff

[148] Fritz Lenz (1887-1976) erhält eine Professur für Humangenetik in Göttingen, Otmar Freiherr von Verschuer (1896-1969) wird Ordinarius für Humangenetik in Münster, Hans Nachtsheim (1890-1979) erhält einen Lehrstuhl für Humangenetik in Berlin, usw. Auch die zweite Riege der deutschen Rassenhygieniker kann ihre Karriere ohne Bruch fortsetzen. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen distanzieren sich die Rassenhygieniker von den eugenischen Praktiken des NS-Regimes und bemühen sich, mit Hilfe ihrer ausländischen Kollegen ihren Ruf wieder herzustellen. Zum anderen gibt es kaum eine personelle Alternative. Im NS-Staat sind alle Wissenschaftler gleichgeschaltet und vertriebene Wissenschaftler wollen nicht nach Deutschland zurückkehren. Somit bleibt den Alliierten nur, die Möglichkeit, die Fachrichtungen entweder aufzulösen oder die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen (Genetik, Bevölkerungswissenschaft, Anthropologie, …) mit dem NS-Stammpersonal zu besetzen. Schließlich beschleunigt auch der aufziehende „Kalte Krieg“ mit der Sowjetunion den Prozess der Entnazifizierung. (Vgl. Kühl, die Internationale der Rassisten, S. 236ff)

[149] Die 1946 gegründete UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) veröffentlicht 1950 ein „Statement on Race“, der zu Folge es keine Rechtfertigung für Rassendiskriminierung gibt und schlägt vor, den Begriff „Rasse“ durch „Ethnie“ zu ersetzen. Erster Generalsekretär der UNESCO ist übrigens der Eugeniker Julian Huxley, der auch maßgeblich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beiträgt. (Vgl. Kühl, die Internationale der Rassisten, S. 248ff)

[150] Julian Huxley bezeichnet die Eugenik als „angewandte Humangenetik“.

[151] Die „Eugenics Society“ benennt sich 1988 in „Galton Institute“ um. Ihre Zeitschrift „The Eugenics Review“ wird bereits 1969 in „Journal of Biosocial Science“ umbenannt. Die „American Eugenics Society“ ändert 1972 ihren Namen zu „Society for the Study of Social Biology“. Ihre Zeitschrift „Eugenics Quarterly“ wird bereits 1969 in „Journal of Social Biology“ geändert. (Vgl. Kühl, die Internationale der Rassisten, S. 264)

[152] Vgl. Kühl, die Internationale der Rassisten, S. 271

[153] Vgl. Kühl, die Internationale der Rassisten, S. 265, 323ff

[154] Als Selektionskriterien gelten Langlebigkeit, Reproduktionsgeschwindigkeit und Kopiergenauigkeit. Die Auslese führt dazu, dass sich bei Beginn des Lebens in der Ursuppe die stabilen Molekülvarianten durchsetzen. (Vgl. Dawkins, Das egoistische Gen, S. 50ff)

[155] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 129

[156] Vgl. Dawkins, Das egoistische Gen, S. 372

[157] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 120; Dawkins steigert seinen Ansatz so weit, zu behaupten, dass wenn Gene einen Weg fänden, sich anders als über die sexuelle Fortpflanzung ihrer Vehikel auszubreiten, sie diesen Weg bestreiten würden. Der Mensch wäre damit überflüssig. Als praktisches Beispiel hierfür nennt er Viren. (Vgl. Dawkins, Das egoistische Gen, S. 419); Dawkins prägt 1976 den Begriff „Mem“. Darunter versteht man einen Bewusstseinsinhalt (z.B. Gedanke, Idee, Überzeugung, Verhaltensmuster). Dieses kulturelle Pendant zum biologischen Gen wird durch Kommunikation weitergegeben und vervielfältigt (kulturelle Evolution). Der Vorgang ist analog zur Theorie des Lamarckismus, der zufolge erworbene Eigenschaften an die Nachkommen weitergegeben werden. Im Unterschied hierzu werden durch Gene körperliche Eigenschaften weitergegeben (biologische Evolution). Analog zum Begriffspaar „Genotyp“ und „Phänotyp“ aus der Genetik gibt es den „Memotyp“ (z.B. eine Partitur) und den „Phämotyp“ (z.B. gespielte Musik im Konzertsaal). Wie die Gene unterliegen die Meme einem Kampf ums Dasein, also einem Kampf um Aufmerksamkeit und Verbreitung. Manche Meme sind dabei sehr erfolgreich, z.B. die Idee von Gott. Der Mensch dient bei den Memen ebenso wie bei den Genen als Vehikel. Der Mensch wird als Genmaschine gebaut und als Memmaschine erzogen. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 124ff)

[158] Dawkins, Das egoistische Gen, S. 197

[159] Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 126f

[160] Ihr Aufstieg ist eng verbunden mit der Einführung von Grundrechten. Die Aufhebung gesetzlicher Ehebeschränkungen sowie die Durchsetzung der Niederlassungsfreiheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Ländern beraubt die Städte und Gemeinden bürger- und eherechtlicher Diskriminierungsinstrumente. Diese Lücke soll durch die Rassenhygiene geschlossen werden. (Vgl. Lengwiler, Kommentar, S. 200)

[161] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 68f

[162] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 39

[163] Sterilisation ist im Reichsgesetz von 1871 nur aus medizinischen Gründen erlaubt. Außerhalb des Gesetzes vorgenommene Sterilisationen gelten als Körperverletzung. (Vgl. Herlitzius, Frauenbefreiung uns Rassenideologie, S. 84)

[164] Gustav Boeters (1869-1942) führt nach US-Vorbild Sterilisationen an „Minderwertigen“ durch. Er setzt sich für eine gesetzliche Regelung dieser Praxis bei Blinden, Tauben, Epileptikern, Geisteskranken, Verbrechern, Homosexuellen und Frauen mit mehreren unehelichen Kindern ohne anerkannte Vaterschaft ein. 1925 legt er dem Reichstag einen Gesetzentwurf über „Die Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen“ vor, den er „Lex Zwickau“ nennt. Durch Veröffentlichung seiner Ideen in diversen Fachzeitschriften löst er eine öffentliche Debatte aus. (Vgl. Richter, Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, S. 253)

[165] Vgl. Vossen, Johannes, Die Umsetzung der Politik der Eugenik bzw. Rassenhygiene durch die öffentliche Gesundheitsverwaltung im Deutschen Reich (1923-1939), S. 93ff

[166] Ergebnis der Weimarer Strafrechtsreformdebatte ist, dass eine Sterilisation aus eugenischen Gründen nicht als Verstoß gegen die guten Sitten gilt, solange diese freiwillig erfolgt. Endpunkt der Weimarer Eugenik-Debatte ist die am 2.7.1932 abgehaltene Sitzung des Preußischen Landgesundheitsrats zum Thema „Die Eugenik im Dienste der Volkswirtschaft“. Nun schlägt die Stimmung angesichts wirtschaftlicher Not und einem ansteigenden Bevölkerungsanteil, der unfähig ist, sein Leben selbst zu meistern, um von primär positiv-eugenischen Maßnahmen zu Gunsten eines eugenischen Sterilisationsgesetzes, welches schließlich am 14.7.1933 als GzVeN beschlossen wird. (Vgl. Vossen, Johannes, Die Umsetzung der Politik der Eugenik bzw. Rassenhygiene durch die öffentliche Gesundheitsverwaltung im Deutschen Reich (1923-1939), S. 98ff)

[167] Der Soziologe Fritz Corner etwa bezeichnete Haeckel als den „Vater des deutschen Sozialdarwinismus“.

[168] Dennoch bedient sich Haeckel einer eindeutigen Sprache, wenn er beispielsweise schreibt: „…es kann daher auch die Tötung von neugeborenen verkrüppelten Kindern, wie sie z.B. die Spartaner behufs der Selektion des Tüchtigsten übten, vernünftiger Weise gar nicht unter den Begriff des Mordes fallen, wie es noch in unseren modernen Gesetzbüchern geschieht. Vielmehr müssen wir dieselbe als eine zweckmäßige, sowohl für die Beteiligten wie für die Gesellschaft nützliche Maßregel billigen.“ (Vgl. Haeckel, Die Lebenswunder, S. 23) Haeckel versteht die natürliche Züchtung als Motor einer kulturellen Weiterentwicklung. Seiner Ansicht nach verdanke die weiße Rasse ihre Dominanz der natürlichen Züchtung im Kampf ums Dasein. Endergebnis dieses Kampfes ist der Fortschritt zur Vervollkommnung und Befreiung des Menschen. (Vgl. Haeckel, Gemeinverständliche Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre, S. 12f) Nachdem August Weismann die Vererbung erworbener Eigenschaft widerlegt, wird Haeckel noch mehr in seiner Überzeugung einer „Allmacht der Selektion“ bestärkt. (Vgl. Baader, Eugenische Programme in der sozialistischen Parteienlandschaft in D und Ö im Vergleich, S. 69)

[169] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 70ff

[170] Nietzsche studiert vor allem „Inquiries into Human Faculty and its Development“ (1883). Durch Darwin erkennt Nietzsche, dass die Evolution einen neuen Rahmen bietet, innerhalb dessen die Stellung des Menschen untersucht werden kann. Als Atheist („Gott ist tot“) fordert er die Menschen auf, neue Werte abseits der Religion zu schaffen, denn alte Werte und Moral wären angesichts der wissenschaftlichen Möglichkeiten unbrauchbar. Wer glaubt moralisch zu handeln, handelt blind. Eugenik ist dann verdächtig, wenn sie in den Dienst einer normierenden Moral gestellt wird und Menschen andere Menschen nach ihren Vorstellungen gestalten. Sie ist nicht verdächtig, wenn sie auf Moral verzichtet. (Vgl. Stegmaier, Eugenik und die Zukunft, S. 28, 35f)

[171] Vgl. Birx, Eugenik und die Zukunft, S. 91f

[172] „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefer Verachtung nach sich ziehen. Die Ärzte hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein.“ (Schank, Rasse und Züchtung bei Nietzsche, S. 400)

[173] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, S. 70f; Allerdings ist anzumerken, dass Nietzsche schwer zu fassen ist. Er widerspricht gerne der öffentlichen Meinung (so bezeichnet er beispielsweise damals populäre Strömungen wie Sozialismus, Nationalismus oder Antisemitismus als Defizite der „Schlechtweggekommenen“) und schreibt in Metaphern im Stil politischer Manifeste, die entsprechend viel Interpretationsspielraum lassen. (Vgl. Stegmaier, Eugenik und die Zukunft, S. 31f)

[174] Der Titel der Arbeit lautet „Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes“. Die öffentlichen Reaktionen darauf sind jedoch gering.

[175] Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 22

[176] Die von Ernst Haeckel gestellte Forschungsfrage des Preisausschreibens lautet: „Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?“ Schallmayer gewinnt den Preis zusammen mit dem Anthropologen und Zoologen Ludwig Woltmann (1871-1907). Woltmann lehnt die Ehrung jedoch ab und veröffentlicht das Buch selbst. Ab 1902 gibt Woltmann die „Politisch-Anthropologische Revue“ heraus. In Anlehnung an Gobineau und Chamberlain erklärt er die gesellschaftliche Entwicklung als Folge von Rassenunterschieden. Die höchste Entwicklungsform wären die Arier, deren Erbgut vor Vermischung mit niederen Rassen geschützt werden müsse. (Vgl. Baader, Eugenische Programme in der sozialistischen Parteienlandschaft in D und Ö im Vergleich, S. 70)

[177] Vgl. Scholl, Gentechnik in der Reproduktionsmedizin, S. 15

[178] Ploetz prägt den Begriff mit seinem Buch „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“ aus dem Jahr 1895. Unter Rassenhygiene versteht Ploetz die „Lehre von den Bedingungen der optimalen Erhaltung und Vervollkommnung der menschlichen Rasse“. Rasse versteht er dabei im Sinne von „Art“ oder „Gattung“ bzw. als „Vitalrasse“, also die jeweils gesunden Exemplare jeder nach Hautfarbe und anderen Merkmalen unterschiedenen „Systemrasse“ im Sinne Gobineaus.

[179] Vgl. Baader, Eugenische Programme in der sozialistischen Parteienlandschaft in D und Ö im Vergleich, S. 70

[180] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 41; Für Ploetz ist Konkurrenz um den Lebensunterhalt das Prinzip biologischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Im Verdrängungswettbewerb setzen sich vorteilhafte Eigenschaften durch. Ploetz schließt dabei einen Einfluss der Umwelt auf die Erbanlagen nicht aus. (Vgl. Ploetz, Grundlinien einer Rassen-Hygiene, S. 27ff) Für Ploetz ist die Milieutheorie zumindest denkbar, wenn er schreibt: „Es stehen sich unter den Biologen zwei Parteien ziemlich schroff gegenüber, so dass ein gänzlich Unparteiischer auf eine befriedigende Lösung verzichten muss, wenn auch mit schwerem Herzen.“ Und an anderer Stelle: „So wenig wie die Vererbung erworbener Eigenschaften exact bewiesen ist, so wenig ist sie exact widerlegt.“ (Ploetz, Grundlinien einer Rassen-Hygiene, S. 214)

[181] Die entscheidende Rolle bei der Entwicklung ist für Ploetz die Fortpflanzung, bei der durch Zeugung und Gebären über das Überleben des Individuums entschieden wird. Die Zivilisation hat aus dem Kampf ums Dasein einen Sozialkampf gemacht, der erforderlich ist, um die Art auf ihrer Höhe zu halten. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 91f)

[182] Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 23

[183] Da Ploetz die Methoden der Gentechnik noch nicht zur Verfügung stehen, schlägt er vor, dass sich nur die Paare mit dem besten Keimplasma fortpflanzen sollen. Das beste Keimplasma haben die Menschen mit den höchsten moralischen und intellektuellen Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten sollen über Heiratsmöglichkeiten, Fortpflanzung und Kinderzahl entscheiden. Unerlaubt gezeugte Kinder, Kranke und Schwache sollen abgetrieben werden: „Stellt es sich heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Ärzte-Collegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir, durch eine kleine Dosis Morphium. Die Eltern, erzogen in strenger Achtung vor dem Wohle der Rasse, (…) versuchen es frisch und fröhlich ein zweites Mal, wenn ihnen dies nach ihrem Zeugnis über Fortpflanzungsfähigkeit erlaubt ist.“ Erst in späteren Werken rückt Ploetz von der Ausleseidee ab. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 95)

[184] Neben Berlin gründen sich weitere Ortsgruppen in München, Freiburg und Stuttgart. Am Ende des Jahres der Gründung hat die Gesellschaft 31 Mitglieder, darunter Alfred Ploetz, Ernst Rüdin, Gerhart Hauptmann, Wilhelm Schallmayer, Erwin Baur und Alfred Grotjahn. Ehrenmitglieder sind Ernst Haeckel und August Weismann. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 91f)

[185] Die 1907 gegründete „Eugenics Education Society“ und spätere „Eugenics Society“.

[186] Vgl. Baader, Eugenische Programme in der sozialistischen Parteienlandschaft in D und Ö im Vergleich, S. 70f

[187] Aus den durch Selbstuntersuchungen erlangten Daten sollen die Wissenschaftler durch die Sammlung von biologisch und rassenhygienisch wichtigen, normalen und krankhaften, körperlichen und geistigen Eigenschaften einen Grundstock von wissenschaftlichem Material schaffen, aus dem später Gesetze und Regeln gefolgert und praktische Maßnahmen und Empfehlungen abgeleitet werden können.

[188] In der Verbreitung rassehygienischer Ansichten und in der Bekämpfung zur Rassenmischung sind mehrere Vereinigungen in Deutschland tätig: der 1891 gegründete Alldeutsche Verband, der 1894 von Friedrich Lange (1852-1917) gegründete Deutschbund, der 1912 gegründete Germanen-Orden, der 1912 von Theodor Fritsch (1852-1933) gegründete Reichshammerbund, die 1918 von Rudolf von Sebottendorf (1875-1945) gegründete Thule-Gesellschaft, der 1925 gegründete Deutsche Bund für Volksaufartung und Erbkunde, der 1926 gegründete Artamanenbund der deutschen Jugendbewegung, der 1928 von Alfred Rosenberg (1892-1946) gegründete Kampfbund für deutsche Kultur, der Werkbund für deutsche Volks- und Rassenforschung, der Deutsche Bund für rassische Siedlungen, der Paul-de-Lagarde-Verein, der Verein für Menschenzüchtung, die Ostara-Gesellschaft, die Germanische Gesellschaft Edda, der Nordische Bund, der All-Arierbund, uvm. (Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 98). 1910 wird die „Deutsche Gesellschaft für Soziologie“ gegründet. Auf ihrem ersten Kongress spricht Alfred Ploetz als Hauptredner über die Beziehung zwischen Soziologie und Rassenbiologie. Während Max Weber diese Beziehung vehement zurückweist, zeigen andere Soziologen großes Interesse an rassebiologischen Fragen. (Vgl. Baader, Eugenische Programme in der sozialistischen Parteienlandschaft in D und Ö im Vergleich, S. 71f)

[189] Vgl. Baader / Hofer / Mayer, Einleitung, S. 18

[190] Das Werk baut auf der Broschüre „Das Recht auf den Tod“ des österreichischen Psychologen Adolf Jost (1847-1908) aus dem Jahr 1895 auf. In der damals kaum beachteten Schrift billigt Adolf Jost unheilbar Kranken und Geisteskranken einen Rechtsanspruch auf den Tod zu, ohne jedoch ihre Fremdtötung ausdrücklich zu bejahen.

[191] Vgl. Ferdinand, Der „faustische Pakt“ in der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869-1931), Sozialhygiene und ihre Beziehung zur Eugenik und Demografie, S. 173ff

[192] Vgl. Baader, Eugenische Programme in der sozialistischen Parteienlandschaft in D und Ö im Vergleich, S. 79f

[193] Vgl. Ferdinand, Der „faustische Pakt“ in der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869-1931), Sozialhygiene und ihre Beziehung zur Eugenik und Demografie, S. 184

[194] Eugen Fischer veröffentlicht 1913 eine Studie über die „Rehobother Baster“, ein Mischvolk aus Buren und Nama (Hottentotten) im heutigen Namibia. (Rehoboth ist ein Ort in der Nähe von Windhuk, Baster steht für Bastard.) Die Rehobother Baster sind nach Ansicht Fischers intellektuell und wirtschaftlich umso leistungsfähiger, je größer ihr europäisch-weißer Anteil ist. (Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 100f)

[195] 1927 errichtet die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Die weit verbreitete Degenerationsangst bewirkt hierfür eine breite Basis von Sozialdemokraten über das katholische Zentrum bis zum rechten Rand des Parteienspektrums. Das Institut ist zunächst in drei Abteilungen gegliedert: Eugen Fischer leitet die Abteilung für Anthropologie, Otmar Freiherr von Verschuer die für menschliche Erblehre und Hermann Muckermann die für Eugenik. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten scheidet Muckermann auf politischen Druck aus, sein Nachfolger wird Fritz Lenz, der die Eugenik-Abteilung in „Abteilung für Rassenhygiene“ umbenennt. Das Institut versteht sich als institutionsübergreifend und ist im Unterschied zum Münchner Flügel der Rassenhygiene, der von einer Überlegenheit der nordischen Rasse ausgeht, weniger völkisch. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten stellt sich das Institut jedoch in den Dienst des Systems und liefert die wissenschaftliche Legitimitätsgrundlage für die Erbgesundheits- und Rassenpolitik. Als Gutachter nehmen die Institutsmitarbeiter an der Erfassung und Aussonderung von Juden, Sinti und Roma, „Rheinlandbastarden“, „Fremdvölkischen“ und „Erbkranken“ teil. Auch an Planungen im Rahmen des „Generalplans Ost“ und eines beabsichtigten Kolonialreichs im Norden Afrikas ist das Institut beteiligt. Anfang 1943 arbeitet Josef Mengele, der bei Verschuer promoviert hat, am Institut mit. Während seiner Tätigkeit als Lagerarzt im Konzentrationslager Auschwitz sendet Mengele Blutproben und Leichenteile zur Untersuchung nach Berlin. Nach 1945 wird das Institut nicht weitergeführt.

[196] Fischers Assistent Wolfgang Abel (1905-1997) untersucht die als „Rheinlandbastarde“ diffamierten Kinder deutscher Frauen und afrikanischer Väter, die mit der französischen Armee ins Rheinland kommen. Die Kinder werden sterilisiert. (Vgl. Obermann-Jeschke, Eugenik im Wandel, S. 103);

[197] Der Arzt und Botaniker Erwin Baur (1875-1933) gilt als Vertreter des Neodarwinismus. 1917 wird er Vorsitzender der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene. Baur ist Mitherausgeber der Zeitschriften Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie und Volk und Rasse. Seine Rolle als Eugeniker ist bis heute umstritten.

[198] Der Anthropologe und Humangenetiker Fritz Lenz (1887-1976) ist der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Rassenhygiene und tritt offen für negative Eugenik in Form von Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation ein. Lenz vertritt wie Ploetz das Idealbild der nordischen Rasse.

[199] Das Werk hat großen Einfluss auf die nationalsozialistische Rassentheorie und die Aktion T-4. Es ist unter dem Kurztitel „Baur-Fischer-Lenz“ bis in die 1960er Jahre ein Standardwerk an den Universitäten.

[200] Vgl. Ujkanovic, Eugenik und die Frauenbewegung, S. 8; Herlitzius, Frauenbefreiung und Rassenideologie, S. 75

[201] Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 27; Vgl. Lemke, Eugenik und andere Übel, S. 25

[202] Damit werden in Deutschland in einem Jahr viermal so viele Zwangssterilisationen durchgeführt wie in allen anderen Ländern in 25 Jahren davor. (Vgl. Vossen, Johannes, Die Umsetzung der Politik der Eugenik bzw. Rassenhygiene durch die öffentliche Gesundheitsverwaltung im Deutschen Reich (1923-1939), S. 102, 106)

[203] Vgl. Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, S. 12f und 238; Neben der körperlichen und seelischen Verstümmelung droht vielen Patienten auch soziale Diskriminierung. (Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 364) Ist eine für die Sterilisation vorgesehene Frau schwanger, so wird zusammen mit der Sterilisation auch eine Abtreibung durchgeführt. (Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 362)

[204] Vgl. Goldberger, Erb- und Rassenpflege in Oberdonau, S. 353ff

[205] „T-4“ ist die Abkürzung für die Adresse der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin

[206] Dies ist eine Ausweitung der Forderungen von Rassenhygienikern, die Behinderte lediglich durch Sterilisation von der Fortpflanzung abhalten, jedoch nicht töten wollen. Auch wenn die Rassenhygieniker kritisch zur Euthanasie Stellung nehmen und auch nicht unmittelbar in die Aktion T-4 involviert sind, darf nicht übersehen werden, dass ihre Rhetorik dazu beiträgt, die Hemmschwelle gegenüber einer Ausmerzung von „unwertem“ Leben zu senken. (Vgl. Weingart, Peter / Kroll, Jürgen / Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene, S. 524)

[207] Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, S. 562f

Excerpt out of 180 pages

Details

Title
Zucht in Ordnung. Über die Allgegenwärtigkeit der Eugenik
College
University of Linz  (Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik)
Grade
1,0
Author
Year
2018
Pages
180
Catalog Number
V412506
ISBN (eBook)
9783668640221
ISBN (Book)
9783668640238
File size
1193 KB
Language
German
Keywords
Zucht, Ordnung, Eugenik, eugenisch, Rainer, Krottenthaler, Nationalsozialismus, Rassenhygiene, Erbhygiene, Genetik, Humangenetik, genetisch, Gen, Gene, Evolution, Erbanlagen, Selektion, Selektionsdruck, Rasse, Blut, Francis Galton, Fortpflanzung, Generation, Bevölkerung, Dysgenik, Hygiene, Sex, Sexualität, Nachkommen, Nation, Demografie, Biomacht, Bevölkerungskörper, Medizin, Biopolitik, Krankheit, Reproduktionsmedizin, Vererbungslehre, Vererbung
Quote paper
Rainer Krottenthaler (Author), 2018, Zucht in Ordnung. Über die Allgegenwärtigkeit der Eugenik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412506

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