Die Rolle der Familie im Bildungsroman am Beispiel des "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz


Trabajo, 2014

18 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der Bildungsroman
2.1 Anton Reiser als Bildungsroman

3 Anton und seine Familie
3.1 Inkonsistente Familienpädagogik als Auslöser für die Flucht in die Fantasie
3.2 Vernachlässigung in Zeiten der Krankheit
3.3 Religiöse Einflüsse in die Erziehung
3.4 Antons Beziehung zu seiner Mutter
3.5 Antons Geschwister
3.6 Zusammenfassung

4 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Ein Bildungsroman schildert die individuelle Entwicklung einer zentralen Figur durch Krisen bis hin zur Integration in die Gesellschaft und zu einem harmonischen Ende. Mit der Tendenz zu diesem harmonischem Ende unterscheidet sich der Bildungsroman vom 'Desillusionsroman', der eine scheiternde Bildungsgeschichte erzählt, und vom 'Erzie­hungsroman', der sich auf pädagogische Probleme einer durch Erziehung gesteuerten Bildungsgeschichte konzentriert1.

Karl Philipp Moritz' Roman Anton Reiser erscheint mit dem Zusatz „psychologischer Roman“ und ist, wie Schrimpf prägnant formuliert, „der Rechenschaftsbericht eines scharfsichtigen Diagnostikers, eine in pädagogisch-therapeutischer Absicht geschriebe­ne, sozialpsychologisch orientierte „Anamnese“: Autobiographie als Pathographie“2. Mit einer an eine psychologische Fallgeschichte erinnernde Genauigkeit analysiert der Erzähler die Entwicklung des jungen Anton Reisers und sieht dessen Probleme in seiner Kindheit verankert: Anton wird „von Kindheit auf, aus der wirklichen Welt verdrängt“3. Diese Verdrängung aus der Wirklichkeit führt bei Anton dazu, dass kein Ausgleich zwi­schen Innen und Außen, zwischen Fantasie und Realität stattfinden kann.

Die Ursachen der Probleme in Antons Kindheit sind in seiner Familienkonstellation zu suchen. Das Ziel dieser Arbeit ist es, festzustellen, inwieweit Antons Kindheit als Ursa­che für das spätere Scheitern seines Versuches, sich in die Gesellschaft zu integrieren, anzusehen ist. Hierzu wird zunächst der Begriff 'Bildungsroman' näher erläutert, um an­schließend Anton Reiser in diese Gattung einzuordnen. Eine Darstellung der Familien­konstellation ist notwendig, um die Ursachen der gescheiterten Sozialisierung Antons herauszustellen.

2 Der Bildungsroman

Der Begriff'Bildungsroman' ist ein seit der ersten Nennung viel diskutierter Begriff Ich werde mich in dieser Arbeit auf die wesentlichen Merkmale eines solchen Romans be­schränken.

Schon 1774 verwies Christian Friedrich von Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman auf Merkmale einer Bildungsgeschichte. Im Zentrum eines Romans stünde die Darstellung des „Innre [ท] des Menschen“ und dessen zielgerichtete Entwicklung in all ihren Einzelheiten. Die erste Nennung als Gattungsbegriff erfolgte im Jahr 1819 von Karl Morgenstern in seinen akademischen Festvorträgen. Er fasste unter dem Begriff 'Bildungsroman' Romane zusammen, die die Bildung des Autors dokumentieren, die sich auf die Bildung des Lesers auswirken und inhaltlich „des Helden Bildung“ ins Zen­trum rücken. Mit Johann Wolfgang von Goethes Willhelm Meister (1795/96) - auf den sich auch Morgenstern bei seiner Begriffserläuterung stützte - wurde dann ein traditi­onsbildendes Werk geschaffen, so พ. Dilthey4.

Wie oben bereits genannt, handelt es sich bei einem 'Bildungsroman' um einen Roman, der die innere Bildung und Entwicklung einer zentralen Figur schildert und meist ein harmonisches Ende - „Selbstfindung“ und „Ausgleich zwischen Subjekt und Welt“5 - anstrebt. Als solcher nimmt er häufig biografische Stilelemente auf und ist darum be­müht, die Entwicklung des Protagonisten möglichst detailgenau zu beschreiben. Die Differenzierung der Begriffe 'Bildungsroman', 'Desillusionsroman' und 'Erziehungsro­man', die Jacobs aufführt, scheint gerade im Falle Anton Reisers notwendig, da hier kei­ne Integration des Helden in die Gesellschaft stattfindet.

2.1 Anton Reiser als Bildungsroman

In der Vorrede zum ersten Teil des Romans bezeichnet Karl Philipp Moritz Anton Rei­ser als „psychologischen Roman“6. Moritz präzisiert diese Bezeichnung und die Absicht des Romans in den Vorreden der vier Romanteile weiter. So merkt er an, dass der Ro­man „vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll“7 und „den Blick der Seele in sich selber schärfen“8 solle. Es geht also um mehr als die erzählerische Darstellung der Entwicklungsgeschichte eines Menschen: Moritz möchte mit Anton Reiser eine solche Entwicklungsgeschichte in den „kleinsten Nüancen“9 darstellen, es handele sich bei dem psychologischen Roman um eine Biographie „im eigentlichsten Verstande“10 11.

Des weiteren präzisiert Moritz, die Absicht des Romans sei es, dem Leser „Lehre und Warnung“แ zu sein und hofft, für Lehrer und Erzieher Veranlassung zu geben, ihre „Zöglinge behutsamer“ zu behandeln und „in ihrem Urteil über dieselben gerechter und billiger zu sein“12. Moritz zeigt die pädagogische und erzieherische Absicht seines Ro­mans auf und legt Wert auf eine möglichst präzise Darstellung von Antons Entwick­lungsgeschichte.

In der Vorrede zum vierten und letzten Teil des Romans problematisiert Moritz Antons Flucht aus der realen Welt in eine fiktive Romanwelt, die er im Theater zu finden glaubt:

Aus den vorigen Teilen dieser Geschichte erhellet deutlich: daß Reisers unwidersteh­liche Leidenschaft für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale war, wodurch er von Kindheit auf, aus der wirklichen Welt verdrängt wurde, und da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in Phantasien, als in der Wirklichkeit lebte - das Theater als die eigentliche Phantasienwelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen sein13.

Die für einen 'Bildungsroman' typische Problematik eines Ungleichgewichts von Innen­und Außenwelt, hier die romanhafte Fantasiewelt im Gegensatz zu Leid und Be­drückung in der Realität, weist auch Anton Reiser auf. Anton wurde jedoch durch die Umstände in seiner Kindheit von Beginn an zu einer Flucht in die Fantasiewelt gezwun­gen. Er gerät dadurch immer weiter in eine Zwiespältigkeit, ist hin- und hergerissen zwischen Traum und Wirklichkeit. Moritz nennt als Ziel des Romans das Auflösen die­ser Diskrepanzen: „Es kömmt darauf an, wie diese Widersprüche sich lösen werden“14. Diese Auflösung bleibt jedoch offen: Anton entschließt sich dazu, sein Studium in Er­furt abzubrechen und sich dem Theater hinzugeben, indem er einer Schauspielgruppe nach Leipzig folgt. Doch diese löst sich infolge der Veruntreuung des Theaterfundus' durch den Schauspielleiter auf. Anton steht vor dem Nichts und hiermit endet der Ro­man.

Mit diesem abrupten Ende bricht auch Antons Versuch, ein Gleichgewicht zwischen sei­nem Leben in der Realität und der Flucht vor ebendieser zu schaffen, ab. Er entscheidet sich, seiner Neigung, im Theater der Wirklichkeit zu entfliehen, nachzugehen und scheitert dabei. Hier lässt sich Jacobs Begriff eines 'Desillusionsromans' anbringen: Die auf dem Entwicklungsweg auftretenden Krisen und Widersprüche zwischen Innerem und Äußerem bleiben bestehen, es wird kein Gleichgewicht geschaffen. Dieser stete Konflikt und das Scheitern bei dem Versuch, ein Gleichgewicht zu schaffen, stehen im Gegensatz zu dem Konzept eines Bildungsromans, es lässt sich hier vielmehr von ei­nem 'psychologischem Anti-Bildungsroman' sprechen.

Die Ursachen der psychischen Probleme Antons sind in seiner Kindheit und der famili­ären Situation zu suchen. Die ersten Eindrücke eines Kindes von der Welt können es ein Leben lang prägen und auch bei Anton ist dies der Fall:

Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplätze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte“15.

3 Anton und seine Familie

Anton Reiser wird in eine arme, kleinbürgerliche Familie hineingeboren, die von Be­ginn an von starken Differenzen geprägt ist. Seine Eltern sind mehr an ihren ehelichen Streitereien interessiert, als ihrem Sohn eine stabile Grundlage für die Entwicklung ei­nes konsistenten Selbsts zu bieten. So steht Anton von Beginn an zwischen den Fronten seiner Eltern, die ihm keine klare Richtung weisen können.

Antons Vater ist der Anhänger einer quietistischen Sekte16, die auf die Schriften einer Madame Guyon17 zurückgeht und von einem Hm. V. F. geleitet wird18. Die Lehren die­ser Sekte streben auf das „völlige Ausgehen aus sich selbst, und Eingehen in seliges Nichts“19, um so eine größere Nähe zu Gott zu erreichen. Antons Vater, der „ohne ei­gentliche Erziehung aufgewachsen“20 ist, wird nach dem Tod seiner ersten Frau tiefsin­nig und ist in sich gekehrt. Bald trifft er auf die Sekte, wird „erklärter Anhänger des Hm. V. F.“21 und macht Bekanntschaft mit Antons Mutter, die er schließlich heiratet.

Antons Mutter, die über eine „starke Belesenheit in der Bibel“22 verfügt, befürchtet, von ihrem Glauben abgebracht zu werden, sobald ihr Mann aus den Guyonschen Schriften vorliest. Die Situation spitzt sich soweit zu, dass Antons Mutter „vieles von der Kälte und dem lieblosen Wesen ihres Mannes auf Rechnung der Guionschen Lehren“23 schreibt. Antons Vater beginnt, seine Frau für das Unverständnis für die Guyonschen Lehre zu verachten und diese „Verachtung erstreckte sich nachher auch auf ihre übrigen Einsichten“24.

In dieser von Zwietracht und gegenseitiger Verachtung geprägten Situation wächst An­ton auf, „die ersten Töne, die sein Ohr vernahm, und sein aufdämmemder Verstand be­griff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes“25. Die ersten Eindrücke seines Lebens sind von Vernachlässigung und Lieb­losigkeit geprägt und bilden die erste Grundlage für seine Versuche, von der Realität in eine Fantasiewelt zu flüchten.

3.1 Inkonsistente Familienpädagogik als Auslöser für die Flucht in die Fantasie

Für Neugeborene ist die Familie die erste soziale Instanz, mit der sie in Kontakt treten. Sie übernimmt eine Vorbildfunktion auf dem Weg zur Integration in die Gesellschaft. Von Geburt an hat die Familie Einfluss auf die Entwicklung einer konsistenten Identität und soll hierfür eine stabile Grundlage bieten.

Im Anton Reiser ist es genau das, was die Eltern ihrem Sohn nicht bieten können, viel­mehr wird die Unsicherheit Antons gefördert:

Antons Herz zerfloß in Wehmut, wenn er einem von seinen Eltern Unrecht geben sollte, und doch schien es ihm sehr oft, als wenn sein Vater, den er bloß fürchtete, mehr Recht habe, als seine Mutter, die er liebte26.

So ist das Hinwenden zu einem Eltemteil immer an das Abwenden von dem anderen Eltemteil gekoppelt27. Der junge Anton schwankt stets „zwischen Haß und Liebe, zwi­schen Furcht und Zutrauen, zu seinen Eltern“28.

Die Zwiespältigkeit und Inkonsistenz der Erziehung zieht sich durch Antons Kindheit. Beispielsweise gibt ihm sein Vater zwei Bücher, mit denen Anton das Lesen lernen soll. Das eine ist ein Buch, das Anweisungen zum Buchstabieren gibt und Anton lernt mit diesem das Lesen. Das andere Buch ist eine Abhandlung gegen das Buchstabieren. Es stiftet bei Anton Verwirrung, da es besagt, „daß es schädlich, ja seelenverderbend sei,

[...]


1 Vgl. Jacobs, Jürgen c. : Bildungsroman. Handbuch der literarischen Gattungen (Hrsg. Dieter Lam­ping). Stuttgart: Kroner 2009. ร. 56.

2 Schrimpf, Hans-Joachim: Karl-Philipp Moritz. Stuttgart: Metzler 1980. ร. 49.

3 Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Frankfurt/М: Deutscher Klassiker Verlag 2006. ร. 414.

4 Vgl. Jacobs. ร. 57.

5 Jacobs ร. 56.

6 Moritz ร. 86.

7 Moritz ร. 86.

8 Ebd. ร. 86.

9 Ebd. ร. 186.

10 Ebd. ร. 186.

11 Ebd. ร. 286.

12 Ebd. ร. 286.

13 Moritz ร. 415.

14 Ebd. ร. 415.

15 Ebd. ร. 91.

16 Vgl. Moritz ร. 990: Quietismus strebt das Verwerfen des eigenen Willen des Gläubigen zugunsten der Vereinigung mit Gott an.

17 Vgl. Ebd. ร. 991: Jeanne-Marie Guyon du Chesnoy, geb. Bouvier de La Motte, franz. Mystikerin, Hauptvertreterin des franz. Quietismus.

18 Vgl. Ebd. ร. 991: Johann Friedrich von Fleischbein.

19 Ebd. ร. 88.

20 Ebd. ร. 89.

21 Ebd. ร. 90.

22 Ebd. ร. 90.

23 Ebd. ร. 91.

24 Ebd. ร. 90.

25 Moritz ร. 91.

26 Ebd. ร. 92

27 Vgl. KimS. 107.

28 Moritz ร. 92.

Final del extracto de 18 páginas

Detalles

Título
Die Rolle der Familie im Bildungsroman am Beispiel des "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz
Universidad
Ernst Moritz Arndt University of Greifswald  (Institut für deutsche Philologie)
Curso
Von Träumern und Titanen. Bildungsromane (Moritz – Jean Paul)
Calificación
1,7
Autor
Año
2014
Páginas
18
No. de catálogo
V413573
ISBN (Ebook)
9783668650428
ISBN (Libro)
9783668650435
Tamaño de fichero
440 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Bildungsroman, Anton Reiser, Familie, Karl Philipp Moritz, Motiv
Citar trabajo
Lisa Bläse (Autor), 2014, Die Rolle der Familie im Bildungsroman am Beispiel des "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/413573

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