Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Figur des Kreons bei Sophokles und Hochhuth


Dossier / Travail, 2015

22 Pages


Extrait


1. Einleitung"

Hochhuths Novelle erschien 1963 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und beruht als dokumentarische Erzählung auf dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 und seiner Folgen; sie ist mit Handlungsaufbau und Personenkonstellation an die Antigone des Sophokles angelehnt. Es handelt sich um eine Novelle mit den gattungstypischen Merkmalen nach Gero von Wilpert: Die Thematik ist eine unerhörte Begebenheit, der Stil ein objektiver Bericht ohne Erzählreflexion und die Handlungskonstruktion eine gedrängt und gradlinig auf ein Ziel hinführende Konfliktgestaltung; ebenso gehören raffende Erzähleinschübe auf verschiedenen Zeitebenen dazu, die die Erzählgegenwart immer wieder unterbrechen.1 "

Einen besonderen Anreiz zu dieser Arbeit gab die Tatsache, dass nach meinem Wissen bisher noch niemand den Fokus auf die Kreon-Figuren in Rolf Hochhuths Novelle gesetzt hat; stattdessen lag das Augenmerk wissenschaftlicher Beiträge stets auf der Antigone-Figur, die in der Novelle Anne heißt. Hauptgrund dafür ist, dass „[d]ie Novelle (…) keine Zwei-Personen Novelle“2 ist und „alle Szenen (…) Anne-Szenen“3 sind. "

Dennoch sollte auch ein Blick auf die Kreon-Figuren geworfen werden, zumal Kreon in der antiken Vorlage mit Antigone zusammen die Hauptperson ist. "

In der vorliegenden Arbeit werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Kreon-Figuren aus der „Antigone“ des Sophokles und Rolf Hochhuths Novelle „Die Berliner Antigone“ herausgearbeitet. Zu diesem Zweck werden im ersten Abschnitt Kreons Eigenschaften aufgezeigt. Um den Vergleich mit den aufgeteil- ten Kreon-Figuren bei Hochhuth zugänglicher zu gestalten, wird diese Analyse in besonderen Unterpunkten erfolgen, die jeweils einem Teil-Kreon zugeschrieben werden können. Daran schließt sich die Auseinandersetzung mit den Teil-Kreon- Charakteren aus der Novelle an. In diesem Zusammenhang soll untersucht wer- den, ob - entgegen dem allgemeinen Konsens einer Aufspaltung in nur zwei Splitter-Kreon-Figuren - der nur flüchtig auftretende Admiral als dritter Unterteil gesehen werden kann und somit den Hochhuth-Kreon vervollständigt. Dies kön- nte eine neue Erkenntnis im Verständnis der Novelle bedeuten, sich aber auch als falsch erweisen."

Auch wenn „Hochhuth auf Anne Züge der Kreon-Figur übertragen hat“4 - so unterliegt z.B nicht mehr Kreon, sondern Anne der Peripetie5 - werden diese Aspekte außen vor gelassen, da sich der Vergleich tatsächlich nur auf die Eigenschaften der Kreon-Figuren beschränken und sich nicht mit den literarischen Veränderungen in Hochhuths Werk befassen soll."

Im Anschluss daran werden die markanten Differenzen und Übereinstimmungen der Kreon-Figuren zusammengefasst."

2. Kurze Inhaltsangabe der bearbeiteten Werke"

2.1 Inhaltsangabe: Sophokles „Antigone“"

In dem Kampf um die Herrschaft in Theben töten sich die Brüder Antigones, Polyneikes und Eteokles, gegenseitig; da Polyneikes gegen die Stadt Krieg führte, spricht König Kreon - als nächster männlicher Verwandter nun neuer Ge- bieter Thebens - ein Bestattungsverbot unter Todesstrafe für dessen Leichnam aus. Antigone aber, die das göttliche Gebot der Totenehre über das positive Recht Kreons setzt, führt an der Leiche die geforderten Rituale der Bestattung in voller Kenntnis der juristischen Konsequenz für sich aus. Sie wird von den Wächtern bei ihrer Tat entdeckt, Kreon vorgeführt und zum Tode verurteilt. Hai- mon, der Sohn Kreons und Verlobter Antigones, versucht, seinen Vater von dem Unwillen in der Bevölkerung über die Bestrafung der jungen Frau zu unterrichten und ihn von dem Vollzug derselben abzubringen. Dennoch wird Antigone in ein unterirdisches Gefängnis gebracht, in dem sie den Hungertod erleiden soll. In- zwischen tritt der Seher Teiresias an Kreon heran und berichtet ihm auf Grund- lage seiner Beobachtung der göttlichen Zeichen von dem bevorstehenden Niedergang der Stadt und des gesamten königlichen Geschlechts, wenn der König nicht rechtzeitig sein falsches Handeln erkennt. Als Kreon endlich Demut beweist und seine Fehler einsieht, ist es bereits zu spät: Antigone hat Suizid be- gangen. Nachdem Haimon den Tod seiner Verlobten bemerkt, wählt auch er in seiner Verzweiflung den Freitod. Schließlich nimmt sich auch noch Eurydike, die Gattin Kreons und Mutter Haimons, aus Trauer über den Tod ihres Sohnes das Leben. "

2.2 Inhaltsangabe: Hochhuth „Die Berliner Antigone“"

Der Bruder der Hauptperson Anne wird aufgrund seiner Äußerung, dass nicht die rote Armee, sondern vielmehr Hitler die sechste Armee in Stalingrad ermordet habe, hingerichtet. Weil Staatsfeinden eine Bestattung verwehrt wird, soll der Leichnam des Bruders der Anatomie der medizinischen Fakultät, an der auch Anne studiert, für Forschungs- oder Übungszwecke zur Verfügung gestellt wer- den. Um ihrem Bruder dennoch ein Begräbnis im christlichen Sinne zu er- möglichen, macht sich Anne das Chaos während eines Bombardements der Alli- ierten auf Berlin zu Nutze, entwendet den Leichnam aus dem Universitätsge- bäude und bestattet ihn auf einem stillgelegten Friedhof an der Marienkirche im ältesten Stadtteil Berlins. "

Eine Kommilitonin beobachtet sie dabei, meldet den Gesetzesbruch und denun- ziert so Anne. Diese kommt daraufhin in Haft und muss sich vor Gericht verant- worten."

Weil Anne mit dem Sohn des Generalrichters, Bodo, verlobt ist, lässt der Gene- ralrichter vorerst Milde walten, indem er den Führerbefehl „die Angeklagte solle ,in eigener Person der Anatomie die Leiche (gemeint ist damit ihre) zurück- erstatten’“6 anders auslegt und versucht, Anne ein Geständnis und die Nennung des Bestattungsortes im Gegenzug für eine Strafmilderung anstelle der Hinrich- tung zu entlocken. Anne bleibt unzugänglich und wird deshalb zum Tode verurteilt."

Als sie von dem Selbstmord ihres Verlobten erfährt, nachdem sich nach der Hin- richtung des Bruders auch die Mutter das Leben nahm und sie somit ganz allein da steht, stirbt in ihr der letzte Funken Hoffnung und auch der Gedanke, den Be- stattungsort ihres Bruders vielleicht doch noch preiszugeben, um sich selber vor dem Tod zu bewahren. So lässt sie die Exekution ohne Widerstand über sich ergehen."

3. Die Kreon-Figur"

3.1 Kreon bei Sophokles"

Um den Vergleich des sophokleischen Kreons mit den Kreon-Figuren von Hochhuth zu erleichtern, wird im Folgenden versucht - im Anschluss an eine Klä- rung der Begriffe Hybris und Ate - Ersteren anhand seiner unterschiedlichen Rol- len, die durch jeweils eigene Protagonisten in Hochhuths Novelle auftreten, zu analysieren. "

3.1.1 Ate und Hybris"

Ate (von griechisch ἄτη, Verblendung, Unheil) führt letztendlich zur Hybris. „Sie stürzt Menschen und Götter ins Verderben; indem sie die Opfer betört und verblendet, werden diese zu unüberlegten, leidenschaftlichen Handlungen ver- leitet.“7 Der Chor sagt im zweiten Stasimon „Nichts zu Großes tritt in das Leben / Der Sterblichen ein und bringt nicht Verblendung (Ate) mit sich“8. Für Kreon ist dieses „zu Große“ seine Position als Alleinherrscher der Stadt."

Seine durch Verblendung verursachte Überheblichkeit gegenüber dem Göttlichen ist ein grundlegender Charakterzug Kreons. Der Grieche nennt das Hybris (von griechisch ὕβρις, Hochmut, Stolz, frevelhafte Tat); es ist das „Hinausgehen über die den Menschen gesetzten Schranken, übermütige Gewalttätigkeit, Verletzung göttlicher und menschlicher Rechte“9 und ein wichtiger Bestandteil und „Leitmotiv der griechischen Tragödie“10. Sie ist etwas Urmenschliches, denn jeder Mensch kann in seinem Streben nach ἀρετή (griechisch für Tugend, vgl. lateinisch virtus)

- oder moderner gesagt: bei dem Versuch ein bestimmtes Ziel zu erreichen - mit Blick auf seine Leistungen dem übertriebenen Stolz (Hybris) verfallen. Die Über- heblichkeit einer Person anderen Menschen oder dem Übermenschlichen gegen- über ist dadurch eine zeitlose Thematik und in der Antike genau so aktuell gewe- sen wie heute. "

Kreons Selbstüberschätzung im Bestattungsverbot für Polyneikes ist die Verlet- zung göttlichen Rechts. Hybris ist Teil jedes Kreons (im Grunde auch jedes Men- schen) und fundamental für sein Handeln. All seine Rollen verlieren im Verlauf des Dramas ihre Bedeutung und spitzen sich unter dem Einfluss seiner Verblen- dung und seiner Hybris zu dem „herrschsüchtige[n] Tyrann“11 zu. " title=Ate_(Mythologie)&oldid=142849017 (Abgerufen: 8. November 2015, 10:50 UTC)

3.1.2 Kreons Charaktereigenschaften"

3.1.2.1 Kreons Bezug zu Eteokles"

Kreons wertende Einteilung des Polyneikes als den Ungerechten und Eteokles als den Gerechten - ohne jegliches Eingehen auf die Beweggründe für den Kampf des Polyneikes gegen die Vaterstadt - kann auf seinen ersten Charak- terzug schließen lassen: entweder eine Voreingenommenheit, in diesem Falle zu Gunsten des Eteokles, oder eine „Kurzsichtigkeit“12. Dem muss aber entgegen- gehalten werden, dass im ganzen Stück nie Bezug auf das ungerechte Verhalten von Eteokles gegenüber Polyneikes genommen wird. Sophokles verzichtet be- wusst darauf, denn für das Handeln der Antigone soll tatsächlich nur die gött- liche Weisung eine Rolle spielen und alle weiteren Gründe, die mit zu ihrer Hand- lung geführt haben, sollen außen vor bleiben; „der todte Bruder muss von der Schwester begraben werden, weil er todt und weil er ihr Bruder ist, warum und wofür er auch gefallen seyn mag.“.13 Und genauso muss Kreon sich seinerseits vollkommen im Recht sehen, um vor den Lesern vollends als Sinnbild für das menschliche Gesetz gelten zu können. Polyneikes soll wirklich als der „Unge- rechte“ oder der „Böse“ auftreten. Somit lässt sich dem Charakter des Kreons keine Parteilichkeit zuschreiben; Kreon versucht sogar gerade durch das harte Durchgreifen auch gegen Angehörige seiner Familie, seine Neutralität zum Aus- druck zu bringen. 14 "

Doch seinem Grundsatz, mit Familienmitgliedern wie mit jedem anderen Bürger der Polis umzugehen, handelt er zuwider. Obwohl er vom Wächter als auch von Antigone selber („Ich sage, da[ss] ich’s tat, und leugne nicht“ V. 444 15 ) erfahren hat, dass sie gegen sein Gesetz verstoßen hat, fragt er Antigone, ob sie von dem Verbot gewusst habe (V. 446f), und gibt ihr damit die Möglichkeit, ungestraft da- vonzukommen. Nur der Trotz Antigones („Ich wu[ss]t’ es, es war doch klar!“ " Bayreuth 1842, S. 5 - digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek am 14. Dezember 2010. (Neuauflage bei Hardpress Publishing - Classics Series - als Taschenbuch, 2013) V. 448; „Sie ist des trotzigen Vaters trotzig Kind“ V. 47116 dennoch zu verurteilen.17 "

3.1.2.2 Kreons Religionsdeutung"

) zwingt ihn dazu, sie

Nun stellt sich die Frage, wie es mit Kreons Glauben an das Göttliche steht, da er doch offensichtlich in Sphären eindringt, die über das normale menschliche Han- deln hinausgehen, indem er Polyneikes die Bestattung und damit das Seelenheil verwehrt.18 "

Kreon scheint durchaus an die griechischen Göttern zu glauben, allerdings auf eine sehr engstirnige und ich-bezogene Weise. Als der Chor, nachdem ein Wäch- ter von der Bestattung des Leichnams berichtet hatte, vorsichtig die Meinung äußerte, dass womöglich die Götter ihre Hände im Spiel gehabt haben könnten, verliert Kreon zum ersten Mal im Stück die Fassung. In seinem Glauben an das Göttliche geht er davon aus, dass die Götter allein ihm und seinem Volk nützlich und wohl gesonnen sein können, niemals aber den Feinden. So denkt er, seine irdische Gerechtigkeit sei in puncto der Bestrafung des Polyneikes kongruent mit der göttlichen Gerechtigkeit, was wiederum Ausdruck seiner Hybris ist. Doch im Verlauf des Dramas nimmt durch seine Verblendung (Ate) die Hybris überhand und er will nicht mehr nur im Einklang mit den göttlichen Geboten handeln, son- dern stellt seine Gesetzte über diese; in seiner Überheblichkeit beleidigt er sogar den Vater der Götter, Zeus (V. 1040f). "

3.1.2.3 Kreons Rolle als Vater und Onkel"

Kreon hat mit Eurydike vier Kinder: Megara, Menoikeus, Megareus und Haimon. Als Bruder der Iokaste ist er Onkel von Oidipus, Eteokles, Polyneikes, Ismene und Antigone.19 "

[...]


1 Margret Behringer, Sch ö ningh Unterrichtsmodell „ Antigone - in Vergangenheit und Gegenwart “, Bildungshaus Schulbuchverlage, Darmstadt 2006, S. 93

2 Lutz Lenz, Eine moderne Antigone. Zu Hochhuths tragischer Novelle, Antike und Abend- land, Vol.22, Walter de Gruyter Verlag, Berlin 1976, S. 160

3 ebd.

4 Lenz, a.a.O., S. 167

5 vgl. ebd.

6 Hochhuth, Die Berliner Antigone. Erz ä hlungen und Gedichte, Reclam Verlag, Stuttgart 2013 S.7

7 Seite „Ate (Mythologie)“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 7. November 2015, 12:11 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?

8 Kurt Roeske, Antigones t ö dlicher Ungehorsam, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009, S. 87

9 Hans Poeschel, Die Griechische Sprache, Ernst Heimeran Verlag, München 1968, S. 306

10 Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Band 10, Bibliographisches Institut & F.

A. Brockhaus Ag, Mannheim 2006, Stichwort: Hybris

11 Julia Peidli, Der Antigone-Mythos. Vergleich der Trag ö die von Sophokles und Rolf Hochhuths „ Die Berliner Antigone “, GRIN Verlag, Norderstedt 2011, S. 6

12 Johann Christoph Held, Ü ber den Charakter Kreon ’ s in der Antigone des Sophokles,

13 Held, a.a.O., S. 5f

14 vgl. ebd.

15 Übersetzung von Wilhelm Kuchenmüller, Sophokles Antigone, Reclam Verlag, Stuttgart 1955

16 Übersetzung von Kuchenmüller, a.a.O.

17 vgl. Thomas Möbius, K ö nigs Erl ä uterungen Sophokles Antigone, Bange Verlag, Hollfeld 2010, S. 48

18 vgl. Andreas Wagner, Unterrichtsstunde am Ignaz-Günther-Gymnasium, Rosenheim, Q12, Schuljahr 2015/2016

19 vgl. Stammbaum der Labdakiden aus Hayo, Martin/ Walther, Lutz, Hrsg., Mythos Antigone. Texte von Sophokles bis Hochhuth, Leipzig 2004, S. 9

Fin de l'extrait de 22 pages

Résumé des informations

Titre
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Figur des Kreons bei Sophokles und Hochhuth
Auteur
Année
2015
Pages
22
N° de catalogue
V415496
ISBN (ebook)
9783668653863
ISBN (Livre)
9783668653870
Taille d'un fichier
635 KB
Langue
allemand
Mots clés
unterschiede, gemeinsamkeiten, figur, kreons, sophokles, hochhuth
Citation du texte
Harry Franke (Auteur), 2015, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Figur des Kreons bei Sophokles und Hochhuth, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/415496

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