Alltagsprobleme bei von ADHS betroffenen Kindern und ihren Familien

Hilfsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit


Mémoire (de fin d'études), 2005

100 Pages, Note: 2.0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung (Melanie Hoffmann und Christian Hilverling)

2. ADHS im Kindesalter (Christian Hilverling)
2.1 Definition (Christian Hilverling)
2.2 Allgemeine Klassifikation nach der ICD-10 (Christian Hilverling)
2.3 Allgemeine Klassifikation nach der DSM-IV(Christian Hilverling)
2.4 Symptomatik / Klinisches Bild (Christian Hilverling)
2.5 Diagnostikverfahren und Differentialdiagnosen (Christian Hilverling)

3. Ätiologische Faktoren (Melanie Hoffmann)
3.1 Genetische Faktoren (Melanie Hoffmann)
3.2 Prä- und perinatale Faktoren (Melanie Hoffmann)
3.3 Schadstoff- und Nahrungsmittelallergien (Melanie Hoffmann)
3.4 Neuroanatomische Faktoren (Christian Hilverling)
3.5 Neurochemische Faktoren (Christian Hilverling)
3.6 Psychosoziale Faktoren (Melanie Hoffmann)

4. Erklärungshypothesen (Melanie Hoffmann)
4.1 Neurobiologische Hypothesen (Melanie Hoffmann)
4.2 Evolutionstheoretische Hypothesen (Melanie Hoffmann)
4.3 Sozialwissenschaftliche Hypothesen (Melanie Hoffmann)
4.4 Sozialbiologische Hypothesen (Melanie Hoffmann)
4.5 Fazit (Melanie Hoffmann)

5. Therapieformen
5.1 medizinische Ansätze am Beispiel der Stimulanzien (Christian Hilverling)
5.1.1 Geschichte des Ritalins (Christian Hilverling)
5.1.2 Wirkungsweise und Nebenwirkungen (Christian Hilverling)
5.1.3 Kritische Äußerungen (Christian Hilverling)
5.1.4 Fazit (Christian Hilverling)
5.2 verhaltenstherapeutische Ansätze (Christian Hilverling)
5.2.1 Theoretische Grundlagen zu einzelnen Ansätzen (Christian Hilverling)
5.2.2 Fazit (Christian Hilverling)
5.3 diätätische Ansätze (Christian Hilverling)
5.3.1 Theoretische Grundlagen zu einzelnen Ansätzen (Christian Hilverling)
5.3.2 Fazit (Christian Hilverling)

6.Grundlegende Prinzipien des Hilfeverständnisses der Sozialen Arbeit
6.1 Alltagsproblem und die Soziale Arbeit (Melanie Hoffmann)
6.1.1 Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (Melanie Hoffmann)
6.2 Multiperspektivische Fallarbeit (Melanie Hoffmann)

7. Angewandte Unterstützungskonzepte der Sozialen Arbeit bei Alltagsproblemen (Melanie Hoffmann)
7.1 Beratung (Melanie Hoffmann)
7.1.1 sozialpädagogische Beratung nach Thiersch (Melanie Hoffmann)
7.1.2 Erziehungsberatung (Melanie Hoffmann)
7.1.3 Elternarbeit am Beispiel des 71 systemisch-lösungsorientierten Coachings (Melanie Hoffmann)
7.2 Elterntraining nach dem OptiMind-Konzept (Melanie Hoffmann)
7.3 systemische Familientherapie (Christian Hilverling)
7.4 Sozialpädagogische Familienhilfe (Melanie Hofmann)

8.Grunvoraussetzung für einen erfolgreichen Umgang mit dem Kind (Christian Hilverling)
8.1 Unterschiedliche Wahrnehmung der Alltagsprobleme von Eltern und Kind (Melanie Hoffmann)
8.2 Begrenzung des Kindes durch klare Botschaften (Christian Hilverling)
8.3 Gezieltes Loben des Kindes (Christian Hilverling)
8.4 Gezielte Reaktion auf negative Aufmerksamkeit (Christian Hilverling)
8.5 Das Token-System (Christian Hilverling)

9. Alltagsprobleme in der Familie und ihre Lösungsstrategien
9.1 Telefonieren (Melanie Hoffmann)
9.2 Ständig geforderte Aufmerksamkeit (Christian Hilverling)
9.3 Hausaufgaben (Melanie Hoffmann)
9.4 Spielen (Melanie Hoffmann)
9.5 Vergesslichkeit (Melanie Hoffmann)
9.6 Abendessen (Melanie Hoffmann)
9.7 Geschwisterstreit (Melanie Hoffmann)
9.8 Wutausbrüche (Christian Hilverling)

10. Fazit (Melanie Hoffmann und Christian Hilverling)

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In den letzten Jahren werden besonders in den westlichen Industrienationen Familien und deren Umfeld, unterstützt auch durch die TV- und Printmedien, immer häufiger mit dem Begriff des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (im Folgenden kurz als ADHS formuliert) konfrontiert. Parallel gibt es auch noch andere Bezeichnungen für dieses Störungsbild. In der vorliegenden Arbeit wird sich jedoch auf den oben genannten Begriff beschränkt, da dieser in der Regel am häufigsten gebraucht wird.

ADHS ist die häufigste Verhaltensstörung im Kindes- und Jugendalter (Huss, S. 7), es bezeichnet ein klinisches Störungsbild, welches sich durch eine erhebliche Beeinträchtigung der Konzentration und Daueraufmerksamkeit, Störung der Impulskontrolle und der motorischen Hyperaktivität auszeichnet.

Bei cirka drei bis zehn Prozent der Kinder (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 17) wird im Durchschnitt diese Diagnose gestellt, die aber immer noch um ihre Daseinsberechtigung kämpft, da sie oft als „Modeerkrankung“ tituliert wird.

In der Regel sind Jungen sind drei- bis neunmal häufiger betroffen als Mädchen. (Steinhausen, S. 86)

Die primäre Ursache für die Entstehung von ADHS scheint nach heutigem Forschungsstand eine Stoffwechselstörung zu sein, jedoch sind ebenfalls psycho-soziale Faktoren entscheidend dafür verantwortlich, wie sich der Krankheitsverlauf entwickelt.

Von den unmittelbaren Bezugspersonen wird das Verhalten oft nicht als Störung gesehen, sondern als Ungezogenheit, Rücksichtslosigkeit und Disziplinlosigkeit.

Die Kinder werden als störend wahrgenommen.

Aufgrund dieser Reaktionen Anderer werden betroffene Kinder stark verunsichert, wodurch das zumeist schon geringe Selbstwertgefühl weiter eingeschränkt wird.

Die betreuenden Eltern sind in der Folgesituation mit der weiteren Erziehung in den meisten Fällen überfordert. Dadurch werden ungeeignete Erziehungseinstellungen und -praktiken begünstigt. Durch diese Überforderungen können die dringend benötigten Strukturen für das Kind nicht mehr aufrechterhalten werden, was zu einer Verstärkung der ADHS-Symptome führen könnte. Diese Erziehungsfehler verursachen ADHS zwar nicht primär, jedoch müssen auch sie bearbeitet werden, um die Symptome im Alltag zu kompensieren.

Oft klagen betroffene Eltern über allgemeine Erziehungsschwierigkeiten, wie Wutausbrüche, Trotzverhalten, Geschwisterrivalitäten et cetere, wodurch sich nicht selten Beziehungsschwierigkeiten mit einzelnen Elternteilen oder Geschwistern ergeben. (Lauth, Schlottke, S. 6) Außerdem beeinträchtigt ADHS das Lernen, die Entwicklung sowie das Spielen mit Freunden.

Es beeinflusst also massiv den Alltag der betroffenen Kinder. Da alle Bereiche des täglichen Lebens beeinflusst werden. Die Familie leidet im Besonderen mit. Sämtliche alltägliche Aktivitäten werden durch ADHS wesentlich zeitaufwändiger und sind nicht selten mit Konflikten behaftet. Oft beginnt dies schon beim morgendlichen Aufstehen, zieht sich dann durch den Tag z.B. beim Essen, Hausaufgaben machen, Spielen und Fernsehen und endet dann schließlich beim zu Bett gehen. Selten können die betreuenden Eltern einmal an Entspannung denken, da sie von morgens bis abends mit der Beaufsichtigung ihrer Kinder beschäftigt sind. (ÄP Pädiatrie, 6 / November-Dezember 2004, S. 47) Der Alltag mit einem ADHS-Kind ist demnach sehr anstrengend und zeitintensiv und erfordert ein hohes Maß an Geduld.

Bislang wurden die Alltagssituationen dieser Familien nur in einzelnen Studien untersucht. (D. Breuer, M. Döpfner: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 1997;46: S. 583 - 596)

In Berlin wurde eine internationale Befragung von betroffenen Familien über die negativen Auswirkungen von ADHS auf den Alltag, vorgestellt, was im Folgenden kurz zusammengestellt werden soll. Die Familien berichteten über erhebliche Belastungen im Alltag, Auswirkungen auf das Familienleben und über Sorgen und Ängste um die Zukunft der von ADHS betroffenen Kinder. (Without Boundaries-Internationaler Survey ADHS, vorgestellt bei 16. IACAPAP, 24. August 2004, Berlin.)

In dieser Arbeit soll erklärt werden, wie sich ADHS bei Kindern im Grundschulalter äußert und mit welchen Alltagsproblemen das Kind und dessen Familie belastet werden. Thematisch wird sich auf die Phase bis hin zum Grundschulalter beschränkt, weil ADHS hauptsächlich zu Beginn der Schulzeit auffällt, da die Anforderungen die dann an die Kinder gestellt werden, erheblich größer sind. Des Weiteren werden sich die Lösungsansätze auf das familiäre Umfeld beschränken, weil sich hier, die Basis für einen konstruktiven und heilenden Umgang aller Beteiligten mit der Erkrankung bilden kann.

Kinder, die von ADHS betroffen sind können lernen ihre Handlungen eigenständig zu steuern, zu organisieren und zu planen. Sie können lernen ihr Verhalten positiv zu verändern um einen stabilen Platz in der Familie und der Gesellschaft zu erhalten. Dies gelingt jedoch nur mit Hilfe der Unterstützung durch die Eltern. Diese brauchen allerdings ebenfalls Unterstützung bei der Umsetzung und Verwirklichung der gesetzten Ziele. Hier wäre eine sozialarbeiterische Begleitung, mit Beratungsgesprächen und konkreter Anleitung wichtiger Bestandteil einer erfolgsversprechenden Entwicklung.

Ausgehend von einer ganzheitlichen Perspektive der Erkrankung, ihrer Ursachen und Folgen für die betroffenen Kinder und deren Familien, soll in der vorliegenden Arbeit versucht werden aus Sicht der Sozialen Arbeit eine neue Betrachtungsmöglichkeit für die betreuenden Eltern zu schaffen.

Auf der Ebene sozialarbeiterischer Unterstützungskonzepte werden Lösungsstrategien aufgezeigt, die den Alltag für Kind und Familie maßgeblich erleichtern können, so dass das Zusammenleben für alle wieder erträglich wird.

Die interdisziplinäre Betrachtungsweise soll den betroffenen Eltern die Möglichkeit geben, mit fundierterem Wissen, neuen Mut für die Bewältigung des Alltags zusammen mit dem Kind zu geben.

Anfänglich erklären wir das Krankheitsbild von „ADHS im Kindesalter“ im Allgemeinen und führen die gängigen Diagnostikverfahren auf.

Daraufhin gehen wir auf die verschiedenen ätiologischen Faktoren und andere bestehende Erklärungshypothesen ein.

Man kann davon ausgehen, dass die Erkrankung multifaktoriell bedingt ist und deshalb unbedingt aus diesen verschiedenen, interdisziplinären Blickwinkeln betrachtet werden sollte um einen wirkungsvollen Therapieerfolg zu erzielen.

Anschließend gehen wir auf die bei ADHS am häufigsten angewandten Therapieformen genauer ein da der Alltag der betroffenen Familien nicht selten von Therapien beeinflusst wird.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Sichtweise der Sozialen Arbeit. Es soll aufgezeigt werden, warum es gerade aus sozialarbeiterischer Sicht wichtig ist, auf das immer mehr zunehmende Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitäts-Syndrom zu reagieren.

Die Unterstützungskonzepte der sozialen Arbeit, welche eine sinnvolle Intervention bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, in Verbindung mit ADHS, sein könnten, um die Lebensqualität der Familien zu verbessern sollen im weiteren Verlauf erläutert werden.

Abschließend daran werden die meist genannten und aus Elternsicht häufigst auftretenden Probleme erörtert, sowie hierfür angewandte Lösungsstrategien für deren Bewältigung aufgezeigt.

2. ADHS im Kindesalter

2.1 Definition

Die Abkürzung ADHS steht im deutschen für „Aufmerksamkeits-Defizit / Hyperaktivität-Syndrom“. Es kennzeichnet einen Symptomkomplex, der heute sehr häufig im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert wird. Die Krankheit zeichnet sich durch folgende Verhaltensweisen aus:

- Konzentrationsschwäche und Unaufmerksamkeit
- Fehlende Impulskontrolle
- Hyperaktivität

Dieses Verhalten entspricht nicht dem normalen altersgemäßen Entwicklungsstand des Kindes.

Der Begriff Syndrom bedeutet, dass eine bestimmte mitlaufende Gruppe von Krankheitszeichen, die für ein bestimmtes Krankheitsbild mit meist uneinheitlicher oder unbekannter Entstehungsursache oder -entwicklung charakteristisch ist. (Pschyrembel, S. 1534)

Schon vor über 150 Jahren wurde dieses Syndrom erstmals in der Literatur beschrieben. Damals prägte in diesem Zusammenhang der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann den bis in das 20.Jahrhundert gebräuchlichen Begriff des „Zappelphillip“.

Später folgten Begrifflichkeiten wie das p sycho- o rganisches -S yndrom (POS), die m inimale c erebrale D ysfunktion (MCD) oder das h yper k inetisches S yndrom (HKS) nach ICD Klassifikation, sowie das A ufmerksamkeits d efizit s yndrom (ADS). Da die Wissenschaft heute davon ausgeht, dass die Defizite in der Aufmerksamkeitsfokussierung prägnanter sind als die motorische Unruhe, daher gilt heute die Begrifflichkeit ADHS in Deutschland als gängige Beschreibung der Erkrankung.

„ADHS kann Kinder von den ersten Lebensmonaten bis ins Erwachsenenalter in vielen Lebensbereichen beeinträchtigen.“ (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 12)

Wie bereits erwähnt sind nach empirischen Forschungen Jungen drei- bis neunmal häufiger betroffen als Mädchen. (Steinhausen, S.86), wobei die Ausprägung der einzelnen Symptome bei den Geschlechtern unterschiedlich gewichtet ist.

Mädchen scheinen im Gegensatz zu Jungen häufiger unter stärker ausgeprägten Aufmerksamkeitsproblemen zu leiden. Bei Jungen stehen hingegen die Hyperaktivität und unkontrollierte Gefühlsausbrüche im Vordergrund der Symptome. (Brandau, S. 26)

Die Erkrankung wird nach unterschiedlichen internationalen Klassifikationssystemen eingestuft. Das weit verbreitete Einstufungssystem für Erkrankungen, die ICD-10 (International Classification of Disease), benennt die Erkrankung noch heute Hyperkinetisches Syndrom (HKS) und hat im Gegensatz zum amerikanischen Klassifikationssystem für psychiatrische Erkrankungen DSM-IV eine andere Gewichtung der Kardinalsymptome Hyperaktivität und Impulskontrollenverlust.

Nach dem DSM-IV System, in dem die Erkrankung ADD (Attention Deficit Disorder) genannt wird, ist die Hyperaktivität ein Hauptmerkmal und ist nicht, wie im ICD-10, unabdingbar ein Kardinalsymptom. Im ICD-10 kann ohne das Auftreten der Hyperaktivität die Erkrankung nicht diagnostiziert werden. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 15)

Aufgrund dieser unterschiedlichen Gewichtung, unterscheidet zum Beispiel das DSM-IV die Erkrankung ADD (zu Deutsch: ADHS) in drei Subtypen:

- Der vorwiegend unaufmerksame Typus mit prägnanter Unaufmerksamkeit, aber fehlender Impulsivität und Hyperaktivität
- Der hyperaktive und impulsive Typ, bei dem jedoch die Unaufmerksamkeit nicht vorhanden ist
- Der Mischtyp, bei dem Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit vorhanden sind (Reimann-Höhn, S.17)

Bei einer Unterscheidung in einen der Subtypen, die das DSM-IV vorgibt sollte beachtet werden, dass der Subtyp anhand des vorherrschenden Symptommusters der letzten sechs Monate eingestuft werden muss.

2.2 Allgemeine Klassifikation nach der ICD-10

Die internationale Klassifikation von Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die ICD-10, kategorisiert das Störungsbild der ADHS unter dem Namen Hyperkinetisches Syndrom (kurz: HKS) ein.

Unter dem Kapitel Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend (F 90) wird die Erkrankung beschrieben. Folgende Merkmale kennzeichnen hiernach die zugrunde liegende Symptomatik:

- früher Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren
- die Symptome sollten in mindestens zwei Lebensbereichen / Situationen (z.B. Schule und Familie oder in Untersuchungssituation) konstant auftreten. (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, S.1 aus www. Dokument)
- Aufmerksamkeitsstörung und Tendenz zum schnellen Reizwechsel
- Mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität
- Impulsivität

Nach ICD-10 müssen sowohl Unaufmerksamkeit, Impulsivität als auch Überaktivität vorliegen. (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, S.1 aus www. Dokument)

Es sollte jedoch beachtet werden, „(...) dass die Aktivitäten im Verhältnis zu dem, was in der gleichen Situation von gleichaltrigen Kindern mit gleicher Intelligenz zu erwarten wäre, extrem ausgeprägt ist.“ (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 14)

Zusätzlich können folgende Auffälligkeiten vorliegen:

- Achtlosigkeit und fehlende Impulskontrolle
- Wegen Achtlosigkeit erhöhte Unfallgefahr
- Regelverstöße
- Distanzstörungen in Beziehung zu den Eltern
- Mangel an Vorsicht
- Isolation durch die Gruppe
- Kognitive Beeinträchtigung
- Motorische und sprachliche Fehlentwicklungen

Sekundäre Komplikationen, die auch beobachtet werden, sind:

- Dissoziales Verhalten
- Niedriges Selbstwertgefühl

Weiter unterscheidet die ICD-10 in der Erkrankung noch unter den folgenden Codierungen:

Bei der so genannten Einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F 90.0) kann das Aufmerksamkeitsdefizit einzeln vorkommen.

Unter dem Code F 90.1 wird die Hyperkinetische Störung in Verbindung mit einem gestörten Sozialverhalten erfasst. Sonstige hyperkinetische Störungen sind in der Codierung F 90.8 verschlüsselt und die Bezeichnung F 90.9 steht für Hyperkinetische Störungen, die nicht näher bezeichnet sind.

2.3 Allgemeine Klassifikation nach dem DSM-IV

Das amerikanische Klassifizierungssystem für psychiatrische Erkrankungen DSM-IV (ausgeschrieben: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) führt die Erkrankung, im Gegensatz zum Namen des hyperkinetischen Syndroms (kurz: HKS) im ICD-10, unter dem in, dieser Ausarbeitung, benutzten Begriff Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität (kurz: ADHS / ADS).

Beide Systeme gehen von der grundlegenden Annahme aus, dass die Kardinalsymptome in verschiedenen Lebenssituationen auftreten können, jedoch unterschiedlich gewichtet beziehungsweise ausgeprägt sein können. (Döpfner, S. 152) Deshalb ist es bei der Diagnosestellung wichtig, Beurteilungen über das Verhalten des Kindes aus mehreren Lebensbereichen zusammenzutragen.

In beiden operationalisierten Kriteriensystemen müssen die Symptome über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten bestehen und gemessen an dem normalen Entwicklungsstand einer Gruppe Gleichaltriger herausragen. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 12)

Es gibt eine Auflistung von beispielhaften, auffälligen Verhaltensmerkmalen, so genannte diagnostische Leitlinien der drei Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Sie dienen der vereinfachten Diagnosefindung. Hier gibt es nur geringfügige Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationssystemen.

Jedoch gibt es ein wichtiges Kriterium im DSM-IV, in dem sich die Erkrankung bei der Diagnosestellung im Gegensatz zur Eingruppierung über das ICD-10 unterscheidet. (Döpfner, Frölich, Lehmkuhl, S. 48)

Während die ICD-10 für eine manifestierte Diagnose neben einer prägnanten Aufmerksamkeitsstörung auch eine vorliegende Hyperaktivität und Impulsivität fordert, kann die Erkrankung nach dem DSM-IV System auch ohne die Aktivitätsstörung auftreten. Das bedeutet, dass DSM-IV sieht die Symptome Hyperaktivität und Impulsivität als eigenständig an. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 15)

Aufgrund dieser verschiedenartigen Gewichtung der Symptome ist es nun auch nachvollziehbar, warum wir in der Vorstellung der Definition von den drei im DSM-IV existenten Subtypen geschrieben haben.

Es ist noch interessant anzumerken, das in der Praxis bei der Diagnosestellung die DSM-IV Kriterien aufgrund der differenzierten Subtypen empfohlen werden, da sie den Bedürfnissen der Praxis eher entsprechen. (Döpfner, Frölich, Lehmkuhl, S. 49)

2.4 Symptomatik / Klinisches Bild

Die klinische Entwicklung deutet sich bereits oft im frühen Kindesalter oder auch im Säuglingsalter an. Beim Säugling wird hohe Erregbarkeit und Irritierbarkeit beobachtet sowie eine sehr früh einsetzende motorische Entwicklung als Vorläufer der Hyperaktivität. (Steinhausen, S. 86)

Im Kindergartenalter manifestiert sich die Umtriebigkeit in Form von Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität. Die Kinder driften sehr schnell mit der Aufmerksamkeit von einer Reizquelle auf eine neue. Ihr Verhalten wirkt ziellos und unberechenbar. (Aust-Claus, Hammer 2002, S. 65) Sie vermeiden es sich in Situationen aufzuhalten, die von ihnen längere geistige Anstrengungen erfordern. Ihnen fehlt auch das Geschick Aufgaben zu planen. Die fehlende Fähigkeit zur konstanten Aufmerksamkeit zeichnet sich ebenfalls durch mangelndes Durchhaltevermögen bei der Bewältigung von gestellten Aufgaben oder Pflichten aus. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 12)

Auch fallen zu diesem Zeitpunkt, der oftmals den ersten richtigen Kontakt zu Gleichaltrigen darstellt, Störungen im Sozialverhalten auf. Es fällt den Kindern schwer Kontrolle über ihre Impulsivität zu halten. Sie können sich in Situationen, in denen Ruhe gefordert wird schlecht zurückhalten und reden beispielsweise unkontrolliert in den laufenden Unterricht in der Schule oder im Kindergarten. Die Kinder können sich nur schwer an festgesetzte Regeln halten und versuchen stattdessen in erster Linie ihren eigenen Willen durchzusetzen. (Aust-Claus, Hammer 2002, S. 65)

Eine mangelnde Selbsteinschätzung, kombiniert mit der Hyperaktivität, erhöht besonders im Vorschulalter die Unfallgefahr. (Reimann-Höhn, S. 72)

Die Erkrankten hinterlassen, aufgrund der zugrunde liegenden Hyperaktivität, im nahen Umfeld oft den subjektiven Eindruck sie wären „getrieben“. Ihnen fehlt offensichtlich die Ruhe sich über einen längeren Zeitraum mit einer Aktivität zu beschäftigen oder ruhig an einem Platz sitzen zu bleiben. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 13)

In diesem Lebensabschnitt beginnt das später noch stärker ausgeprägte mangelnde Sozialverhalten. Daraus folgt die Konsequenz, dass die Kinder sich sehr schlecht in eine bestehende Gruppe integrieren können. Mit dieser Problematik wird die, von vielen Autoren beschriebene, beginnende soziale Isolation gefördert.

Die Integration in den normalen Schulalltag und die angestrebte schulische Entwicklung wird durch die Aufmerksamkeitsstörung erschwert. Hinzu kommen nun weitere, mit der körperlichen und geistigen Entwicklung der Kinder verbundenen, Symptomen. Es fallen leichte Reizbarkeit und ein sich manifestierendes geringes Selbstwertgefühl auf. Außerdem verschlimmern sich die Störungen im sozialen Verhalten und Stimmungsschwankungen treten immer mehr in den Blickpunkt. (Steinhausen, S.86) Dies fördert die zunehmende Isolation innerhalb der Gruppe.

Des Weiteren werden noch Wahrnehmungsstörungen in Form von Sehwahrnehmungsstörungen beschrieben, die sich als Lese- und Schreibproblematik äußern können. Es kann auch eine Einschränkung in der Hörwahrnehmung vorliegen, die die Entwicklung der Sprache oder der Sprachverarbeitung beeinträchtigt, woraus in vielen Fällen eine Rechtschreibschwäche resultiert. (Aust-Claus, Hammer 2002, S. 66)

2.5 Diagnostikverfahren und Differenzialdiagnosen

Kaum eine Diagnosefindung in der klinischen Psychologie scheint so umstritten zu sein wie die der ADHS.

Seit Jahrzehnten werden beispielsweise Kinder aufgrund von Auffälligkeiten in Kommunikation, Interaktion und Emotion behandelt. Durch die vermehrte Medienpräsenz des Krankheitsbegriffs werden diese Verhaltensauffälligkeiten unter der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit/ ohne Hyperaktivität zusammengefasst. (Fröhlich, von Voss, S. 28)

Hier liegt die Gefahr einer zu schnellen Diagnosefindung, mit eventuell negativen Auswirkungen für das Kind. Daraus ergibt sich eine negative Stigmatisierung, die erhebliche Folgen für die Kinder und deren Umfeld nach sich ziehen können. Deshalb erscheint eine gründliche anamnestische Exploration von allen an der Diagnosefindung beteiligten Professionen von großer Bedeutung. Um eine abgesicherte Diagnose gewährleisten zu können müssen apparative oder labortechnische Diagnostik und andere Verfahren miteinbezogen werden. Denn: „In zwei Dritteln der Verdachtsdiagnosen handelt es sich nicht um ADHS, sondern um vorübergehende Anpassungsprobleme, persönliche Verhaltensmuster in speziellen Umgebungen (z.B. immer wenn die Großmutter anwesend ist) oder einfach das Temperament des Kindes.“ (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 14)

Die Erkrankung kann zurzeit weder mit technischen Geräten, wie einer Elektroenzephalografie (EEG) oder mit einer Magnetischen Resonanzspektroskopie (NMR), noch mit eindeutigen Laborparametern und standardisierten Tests, gesichert diagnostiziert werden. (Fröhlich, von Voss, S. 27)

In diesem Abschnitt sollen die gängigen Untersuchungsabläufe genannt werden.

Die apparative Diagnostik und die Labordiagnostik spielen im Gegensatz zu einer ausführlichen Anamnese untergeordnete Rollen. Um eine Über- oder Unterforderung in der Schule als Symptomauslöser ausschließen zu können, macht man sich ein Bild von der vorhandenen Intelligenz des Kindes.

Bei Vorschulkindern gibt es noch keine vertretbaren Einschätzungen zum Entwicklungsstand und man bedient sich dort meist einer ausführlichen Entwicklungsdiagnostik um differentialdiagnostisch Krankheiten, die die normale Entwicklung beeinträchtigen, auszuschließen.

Des Weiteren werden Laborparameter untersucht die auf einen pathogenen Schilddrüsenstoffwechsel hinweisen oder ausschlussdiagnostisch ein EEG gemacht, um cerebrale Dysfunktionen festzustellen. (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, S. 6 aus www. Dokument)

Der normale Untersuchungsablauf sieht ein ausführliches Familiengespräch vor, in das je nach Alter und Situation auch die betroffenen Kinder miteinbezogen werden können. In diesen Gesprächen werden folgende Themen behandelt:

- Fragebögen zur häuslichen Situation
- Situatives Hinterfragen des Auftretens der Symptomatik (Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung)
- Intensität der vorliegenden Symptome
- Selbstbeurteilungsbögen mit Fragen zur vorliegenden Erkrankung werden gegebenenfalls an anwesende Kinder verteilt
- Anamnestisch wird eine eventuell vorliegende Disposition der Erkrankung oder anderer Sozialverhaltensstörungen untersucht
- Verlauf der Symptomatik (z.B. bei belastenden äußeren Faktoren)
- Beginn der Erkrankung
- Fragen bezüglich abnormen und somit auch negativen Familienverhältnissen (Mangelnde Nähe in Beziehungen, kritische Erziehungssituationen)

Weiterhin gibt es mit dem Einverständnis der Eltern auch Gespräche mit anderen Bezugspersonen aus dem Bereich Lehrer- und Kindergartenpersonal. Hier werden unter anderem hinterfragt:

- Das Auftreten der Symptomatik
- Die Häufigkeit und Intensität
- Das Verhalten des Kindes in der Gruppe
- Belastende Situationen im Kindergarten / Schule
- vorliegende Ressourcen

Die Kinder selbst werden auf Hör- und Sehschäden untersucht. Gängige Diagnosestandards verlangen zudem eine umfassende internistische und neuropsychologische Untersuchung. (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, S. 5 aus www. Dokument)

Die Bewertung von beobachteter Symptomatik seitens behandelnder Ärzte und Psychologen während der Exploration mit den Eltern und dem Kind selbst ist umstritten. Es wird kritisch angemerkt, dass beispielsweise die Zuwendung einer Bezugsperson verhaltensregulierend wirkt und jeder Situation jegliche Authentizität nimmt. (Steinhausen, S. 88)

Abschließend werden die diagnostischen Ergebnisse ausgewertet und die Kardinalsymptomatik nochmals auf ihr kontinuierliches Vorliegen hin überprüft. (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, S. 6 aus www. Dokument)

Um die Gefahr einer eventuellen Fehldiagnose weiter verringern zu können, wird versucht seitens der Ärzte und Psychologen differentialdiagnostisch folgende, vom Symptomkomplex ähnlich verlaufende, Erkrankungen auszuschließen:

- Die entwicklungsbedingte Hyperaktivität, die in dieser Phase der Entwicklung mit erhöhter Aktivität und Expansivität existent ist und sich nicht gut von einem pathologischen Niveau abgrenzen lässt.
- So genannte Störungen des Sozialverhaltens, Angst und Affektstörungen.
- Eine psychogene Hyperaktivität, bedingt durch emotionale Spannungen in Familie oder in speziellen Situationen.
- Bindungsstörungen (Deprivationsstörungen), die die typischen Kardinalsymptome von ADHS (Unruhe,Konzentrationsstörungen und mangelnde Kontrolle über das eigene Verhalten) aufweisen.
- Organische, exogen bedingte Psychosyndrome bei Schädel-Hirntraumata, Entzündungen des Zentralen Nervensystems oder Kontusionspsychosen.
- Geistige Behinderung mit schwerer motorischer Unruhe.
- Ein eventuell vorhandener frühkindlicher Autismus.
- Psychosen des Kinder- und Jugendalters.

3. Ätiologische Faktoren

Bis heute gibt es für ADHS noch keine klare, allgemeingültig definierte Ursache. In den letzten 15 Jahren wurden überwiegend die biologischen Faktoren erforscht. Die Annahme, dass ein Dopaminmangel im Frontallappen die alleinige Ursache von ADHS ist, wurde in vielen Studien widerlegt. Man muss also von einer multifaktoriellen Verursachung ausgehen.

„Wie bei den meisten psychischen Auffälligkeiten handelt es sich bei ADHS um ein bio-psycho-soziales Wechselspiel von vier Faktoren. Nämlich Risikofaktoren, Vulnerabilitätsfaktoren, kompensatorischen Faktoren und Schutzfaktoren, die sowohl intern als auch außerhalb der Person ihre Wirksamkeit entfalten.“ (Brandau, S. 25)

Im Folgenden sollen die vielen verschiedenen Entstehungsfaktoren von ADHS erläutert werden.

3.1 Genetische Faktoren

ADHS ist mit 95- prozentiger Wahrscheinlichkeit eine genetisch bedingte Störung. (Reihmann-Höhn, S. 31)

Neurobiologische Forschungen haben ergeben, dass Eltern bzw. ein Elternteil eines hyperaktiven Kindes ebenfalls zu 57 % die Symptome zeigen. (Neuhaus, S. 56)

Die Anlagen werden also von Generation zu Generation weitergegeben, dies belegt auch die Zwillingsforschung.

Eine Studie ergab, dass bei eineiigen Zwillingen beide Kinder zu 80-90 % und bei zweieiigen Zwillingen beide nur etwa zu 30 % die Störung haben. Eine andere Studie widerlegt dies jedoch. Diese ergab, dass bei nur etwa 60 % der eineiigen Zwillinge beide von ADHS betroffen sind. Dieses spricht für einen hinzukommenden Umwelteinfluss der Störung. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 24) Kritisch an diesen Zwillingsstudien sollte man jedoch sehen, dass man hier davon ausgeht, dass Erfahrungen vor oder während der Geburt keine Rolle spielten (Brandau, S. 27)

Der überwiegend männliche Anteil an ADHS Erkrankten lässt auch auf eine genetische Ursache schließen. Man geht davon aus, dass Jungen drei- bis neunmal häufiger an ADHS erkranken als Mädchen. (Steinhausen, S.86) Studien haben zusätzlich ergeben, dass sich auch das Erscheinungsbild der Krankheit unterscheidet. Man stellte fest, dass Mädchen eher Probleme im Bereich der Aufmerksamkeit haben und weniger hyperaktiv und aggressiv sind. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 26)

Weitere Forschungen weisen auf einen veränderten Gencode der Dopaminrezeptoren hin. Dopamin ist ein wichtiger Neurotransmitter im zentralen Nervensystem, welcher im Zusammenhang mit verschiedenen psychologischen Prozessen, wie zum Beispiel der Wahrnehmung, dem Denken, dem Fühlen und der motorischen Steuerung steht. „Dopamin stellt das letzte Stoffwechselprodukt von Noradrenalin dar und basiert auf Rezeptoren, wobei mehrere Subgruppen unterschieden werden können. (D1-D4)“ (Branda, Pretis, Kaschnitz, S. 24)

Die Verbindung von Dopamin und einem D2-Rezeptor löst Wohlbefinden und Ruhe aus und gleichzeitig wird die Aufmerksamkeit verbessert. (Brandau 2004, S. 27)

Die Hypothese ist also, dass der veränderte Gencode bei dem D2-Rezeptor liegt, welcher es den Neuronen im Belohnungssystem erschwert auf Dopamin zu reagieren. ADHS-Erkrankte haben daher Schwierigkeiten zur Ruhe zu finden und dauerhaft aufmerksam zu sein. (Brandau, S. 27)

Die vermutete genetische Ursache von ADHS bedeutet für Eltern und Fachkräfte, dass sie das Verhalten des Kindes besser akzeptieren können, da das Kind nicht bösartig handelt. Es ist also nicht das böse unerzogene Kind, sondern ein Kind mit einem Neurotransmitterproblem. Dies heißt natürlich nicht, dass jegliches Verhalten der Kinder damit zu erklären ist.

„Für Pädagogen/Innen und Eltern bedeutet dies, vorhersehbare Stressfaktoren für das Kind zu portionieren und nicht von falschen Vorstellungen einer entwicklungsgemäßen Normalität auszugehen.“ (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 25)

3.2 Prä- und perinatale Faktoren

Wie schon erwähnt, zeigen zahlreiche Studien, dass ein starker Umwelteinfluss an der Entstehung von ADHS beteiligt ist.

Komplikationen während der Schwangerschaft und der Geburt werden auch für die Entstehung verantwortlich gemacht. So ergab eine Studie von 1996, dass bei 22 % der an ADHS erkrankten Kinder die Mütter für mindestens drei Monate während der Schwangerschaft eine Schachtel Zigaretten am Tag rauchten, während bei der Kontrollgruppe von normalen Kindern dies nur bei acht Prozent der Fall war. Dies weist darauf hin, dass Rauchen während der Schwangerschaft das Risiko von ADHS erhöht. Tierexperimente zeigen, dass Nikotin nicht nur einen Sauerstoffmangel bei Ungeborenen auslöst, sondern dass es auch den Dopaminstoffwechsel beeinflusst.

Leider kann man bei diesen Studien keinen Zusammenhang mit der Persönlichkeit der Mutter sehen, z.B. inwieweit Stress eine Rolle spielt, welcher ja durchaus den Zigarettenkonsum beeinflusst. (Brandau, S. 29)

Ebenfalls konnte Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft konnte mit ADHS in Verbindung gebracht werden. (Steinhausen, S. 89)

Weitere begünstigende Faktoren sind Sauerstoffmangel während der Geburt, Frühgeburten und ein niedriges Geburtsgewicht der Kinder. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 26)

Zu beachten ist bei diesen prä- und perinatalen Einflüssen, dass es sich lediglich um mögliche Risikofaktoren handelt. Es besteht die Gefahr, dass eine zu schnelle Schuldzuweisung z.B. an die Mutter gerichtet wird, die während der Schwangerschaft geraucht hat. Aus der „armen Mutter“ wird die Mutter, die „selber schuld“ ist, und aus dem „bösen Kind“ das „arme Kind“. Es ist jedoch niemals nur eine Ursache, die ADHS auslöst, sondern immer mehrere Ursachen und Risikofaktoren, die zusammentreffen. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 26)

3.3 Schadstoff- und Nahrungsmittelallergien

Schon vor über 50 Jahren konnte man einen Zusammenhang zwischen Bleiintoxikation und Verhaltensstörungen bei Kindern feststellen.

David (1974) fand heraus, dass bis zu 50 % der an ADHS erkrankten Kinder einen erhöhten Bleiblutspiegel hatten.

Auch der Amalgangehalt in den Zähnen wurde mit ADHS in Verbindung gebracht. (Brandau, S. 30)

Die Hypothese, dass Nahrungsmittelzusätze wie künstliche Farbstoffe und Zucker an den Symptomen beteiligt sind, konnten zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen bis heute nicht bestätigen.(Steinhausen, S.89)

Hafer (1978) ging davon aus, dass eine zu hohe Phosphatbelastung in Nahrungsmitteln verantwortlich sei. Ein empirischer Nachweis dieser Hypothese fehlt jedoch.

Man kann also davon ausgehen, dass nur bei einem sehr kleinen Teil der Kinder eine Schadstoff- oder Nahrungsmittelallergie eine Ursache von ADHS ist.

3.4 Neuroanatomische Faktoren

In den frühen 90er Jahren standen in der Ursachenforschung immer wieder Vermutungen im Raum, die ADHS als Folge einer minimalen cerebralen Dysfunktion ansahen. Jedoch konnten diese Thesen bei näherer Untersuchung auf auffällige neurologische Merkmale, Hirnverletzungen in der prä- oder perinatalen Phase oder gar anderen Komplikationen nicht gehalten werden.

Mit Hilfe neuer diagnostischer Möglichkeiten wurde das Forschungsfeld erweitert. Die Magnetresonanztechnik (MRT) zeigte bei Untersuchungen gesunder und erkrankter Kinder unterschiedliche Volumenmessungen verschiedener Hirnareale auf. Manche Teilbereiche des Gehirns waren bei den an ADHS erkrankten Patienten kleiner als die Norm. So gab es zum Beispiel unterschiedliche Volumenausprägungen im sogenannten „caudatius nucleus“, der mit willentlichen Bewegungen in Verbindung stehen soll. Daraufhin wurde zusätzlich angenommen, dass dieser Größenunterschied folglich auch das Nervenbündel „striatum“ in seiner ihm zugesprochenen Funktion, der Verhaltenskontrollen und der Daueraufmerksamkeit, beeinflussen würde. (Brandau, S. 31) Im „striatum“ und im präfrontalen Cortex, von dem man vermutet, dass es für Handlungsplanung und die kognitive Steuerung emotionaler Signale zuständig ist, konnten eine Minderdurchblutung nachgewiesen werden. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 29)

„Diese Ergebnisse, die auch durch zahlreiche andere Studien bestätigt werden konnten, deuten auf einen dominant rechtshemisphärischen Unterschied in der frontalen und striatalen Hirnregion bei Kindern mit ADHS hin.“ ( Brandau, S. 31)

Jedoch wird in den Forschungsergebnissen deutlich darauf hingewiesen, dass diese Thesen lediglich als Stand der Dinge angesehen werden sollten und noch viel Spielraum für widerlegende oder aufbauende Forschung bleibt. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 29)

3.5 Neurochemische Aspekte

Neben neuroanatomischen Aspekten in der Ursachenforschung diskutieren auch viele Forscher, ob ein intrazellulärer Metabolisierungsdefekt, also eine Stoffwechselstörung innerhalb der cerebralen Zellen, als Ursache für die Erkrankung in Frage kommen könnte. (Steinhausen, S. 89)

Für den Stoffwechsel und eine reibungslose Kommunikation im Gehirn sorgen die sogenannten Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und das Noadrenalin. Sie fungieren praktisch als Botenstoffe unter den einzelnen Zellen. In das Visier der Forscher gelangte hier vor allem das Hirnareal des Frontallappens, das unterstützt durch das Dopamin für die Motorik, sowie den anderen dysfunktionalen Verhaltensmerkmalen der Erkrankung, der Aufmerksamkeit und Impulskontrolle, zuständig ist.

Die symptomkompensierenden Medikamente, wie zum Beispiel Ritalin, werden oft bei der Behandlung der Krankheit eingesetzt. Die Forschung geht davon aus, dass diese Medikamentengruppe eine erhöhte Dopamin- und Noadrenalinauschüttung verursacht.

Aufgrund dieser beiden Aspekte folgern einige Mediziner, dass: „ADHS durch eine Unterproduktion und schlechte Verwertung jener Neurotransmitter in bestimmten Hirnregionen wie dem Frontallappenbereich verursacht sein könnte.“ (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 30)

Jedoch konnte diese These und somit die weiterreichende Annahme, ADHS sei auf einen Metabolisierungsdefekt zurückzuführen, noch nicht eindeutig bei Erkrankten nachgewiesen werden. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 31)

3.6 Psychosoziale Faktoren

Lange war man der Ansicht, dass ADHS die Folge einer fehlerhaften Erziehung und eine Störung der Eltern-Kind-Beziehung sei. Zahlreiche Studien konnten diese alleinige Ursache jedoch widerlegen. Derartige Umweltfaktoren haben aber Einfluss auf die Entwicklung und Intensität von ADHS.

Prekop und Schweizer (1993) unterscheiden zwischen einer angeborenen und einer erworbenen Hyperaktivität. Ihrer Meinung nach wird Hyperaktivität erworben, wenn Kinder von ihren Eltern zu wenig Struktur erhalten und nicht konsequent erzogen werden.

Viele Kinder lernen nicht mehr ihre eigenen Körpersinne richtig zu erfahren. (Brandau S. 47 und Ruppert, S. 8) „Nach der Theorie des Verstärkerlernens wird hyperaktives Verhalten durch soziale Beachtung belohnt (...)“ (Ruppert, S.8) Durch sein Verhalten kontrolliert das Kind also seine Umwelt und erzieht seine Eltern selbst. (Ruppert, S. 8)

Untersuchungen zeigen, dass ADHS häufig von zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten begleitet wird. „Dabei stellt sich die Frage, ob ADHS das Risiko dieser Verhaltensweisen fördert oder psycho-soziale Faktoren diese Symptome sekundär bedingen.“ (Brandau, S. 47)

Breznitz und Friedmann (1988) fanden heraus, dass besonders bei depressiven Müttern frühe Bindungsstörungen zur Entstehung von ADHS beitragen. (Brandau, S. 47) Man fand auch heraus, dass diese Bindungsstörungen einen Einfluss auf das Neuro-Transmittergleichgewicht nehmen.

Zwischen sozialem Status, Familiengröße und weiteren üblichen sozialen Indikatoren konnten bis jetzt keine Zusammenhänge zu ADHS gefunden werden. Untersuchungen ergaben lediglich, dass ein Zusammenhang zwischen ADHS und sozial benachteiligten Schichten besteht. Möglicherweise ist dies ein Grund dafür, dass hier auch deutlich mehr Mütter zu finden sind, die während der Schwangerschaft rauchen und es in dieser Schicht auch vermehrt zu Frühgeburten kommt. (Brandau, S. 47)

Auch das Umfeld, in dem ein Kind aufwächst, könnte mit der Entstehung von ADHS zusammenhängen. Sindler (1999) stellte in einer Untersuchung fest, dass ihre ADHS Patienten zu fast 90 % aus städtischen Bereichen kamen.

„Die Rolle elterlicher psychiatrischer Krankheiten als wichtiger Einfluss auf ADHS wurde in einigen Studien nachgewiesen“ (Brandau, S. 48) Besonders bedeutsam scheint hier die Depression mütterlicherseits zu sein. Häufig haben Familien mit ADHS mehr Probleme, als Kontrollgruppen von nichtbetroffenen Familien. Die Eltern finden ihre Kinder „anstrengend“, bestrafen diese häufiger und geben ihnen weniger Zuneigung und Bestärkung. Es handelt sich also oft um ein gegenseitiges „hochschaukeln“, an dem nicht alleine das Verhalten des Kindes Schuld trägt. Durch eine medikamentöse Behandlung nimmt diese Spannung innerhalb der Familie häufig ab, da das Medikament die Situation zunächst einmal entspannt. (Brandau,S. 48 und Ruppert,S. 8)

Oft wird ADHS zu schnell als rein organisches Problem diagnostiziert. Dies ist oft für Angehörige und auch für Lehrer leichter anzunehmen, als sich mit den psychisch sozialen Einflüssen zu beschäftigen, die die Verhaltensweisen jedoch mitbestimmen . (Brandau, S. 46)

Das heißt also für Eltern und Pädagogen, dass nach heutigem Forschungsstand psycho-soziale Faktoren nicht alleine für die Entstehung von ADHS verantwortlich sind, wohl aber für die Ausprägung und die Entwicklung von zusätzlichen Störungen. Auch eine Eskalation der Symptome kann begünstigt werden.

Frühe Bindungsstörungen scheinen einen sehr großen Einfluss auf die Entstehung von ADHS zu haben, da diese wie bereits erwähnt, Einfluss auf die Entwicklung des Neuro-Transmitterstoffwechsels nehmen. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 35)

4. Erklärungshypothesen

Wie man im vorherigen Kapitel sieht, gibt es eine Menge an möglichen Ursachen und Risikofaktoren die für die Entstehung von ADHS verantwortlich gemacht werden. Man muss also von einem multifaktoriellen Geschehen ausgehen.

Als pädagogische Fachkraft ist es wichtig, hypothesengesteuert vorzugehen, d.h. eigene Annahmen über die Wirklichkeit zu machen und diese Annahmen anhand von Beobachtungen zu prüfen.

Dies soll helfen ADHS auch aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Man kann davon ausgehen, dass es hier ebenfalls keine allgemeingültige Hypothese gibt, sondern diese für jedes Kind individuell sein kann.

Aufgrund dessen sollten unterschiedliche Hypothesen und deren mögliches Zusammenwirken geprüft werden. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S.36)

4.1 Neurobiologische Hypothesen

Als Hauptursache für ADHS wird von einer Erkrankung des Stoffwechsels ausgegangen, welche eine Fehlsteuerung der „Dopamin-Noradrenalin-Seratonin-Achse“ ist.

Kornetsky ging davon aus, dass Hyperaktivität durch eine Unterproduktion dieser Neurotransmitter verursacht wird. Er wollte diese Hypothese mit der Wirksamkeit der Stimulanzien, die als Medikament eingesetzt werden, beweisen. Jedoch wirken Stimulanzien bei fast allen Menschen leistungssteigernd. „Aus der Folge eines Medikaments auf die Ursache einer Störung zu schließen wäre außerdem genau so, als ob man bei Kopfwehpatienten auf einen Aspirindefizit schließen würde, weil dieses Medikament wirkt.“ (Brandau, S. 69)

Dass ein Ungleichgewicht im Neurotransmittersystem bei ADHS-Patienten besteht ist belegt. Es ist allerdings nicht geklärt, ob es die Ursache oder nur eine Begleiterscheinung der Symptome von ADHS ist. (Brandau, Pretis, Kaschnitz, S. 37)

Bei der Aktivierungshypothese nach Wender, geht man von einer Unteraktivierung des Zentralnervensystems und von einem Belohnungsdefizit aus.

„Wender (1971) vermutet, dass ADHS von einem zu niedrigen Aktivierungsniveau im Belohnungssystem des Gehirns bedingt wird. Damit verbunden ist die mangelnde Fähigkeit, aus unangenehmen Erlebnissen eine bleibende Lernerfahrung zu konditionieren.“ (Brandau,S. 38)

Es wird davon ausgegangen, dass Menschen mit ADHS einen defekten Gencode für Dopaminrezeptoren haben, was Untersuchungen bereits empirisch belegen konnten.

[...]

Fin de l'extrait de 100 pages

Résumé des informations

Titre
Alltagsprobleme bei von ADHS betroffenen Kindern und ihren Familien
Sous-titre
Hilfsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit
Université
University of Duisburg-Essen
Note
2.0
Auteurs
Année
2005
Pages
100
N° de catalogue
V42280
ISBN (ebook)
9783638403535
ISBN (Livre)
9783656872962
Taille d'un fichier
648 KB
Langue
allemand
Annotations
Diplomarbeit wurde ebenfalls für das Fach Sozialpädagogik konzipiert!
Mots clés
Alltagsprobleme, ADHS, Kindern, Familien, Hilfsmöglichkeiten, Soziale, Arbeit
Citation du texte
Christian Hilverling (Auteur)Melanie Hoffmann (Auteur), 2005, Alltagsprobleme bei von ADHS betroffenen Kindern und ihren Familien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42280

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