Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Der Fähigkeitenansatz nach Martha Nussbaum
2.1 Zielsetzung und allgemeine Definitionen
2.2 Eine Sammlung von Fähigkeiten
2.3 Die Definition des Bürgers
2.4 Die Förderung von Behinderten
3 Integration von Behinderten im deutschen Bildungssystem
4 Die Umsetzung des Ansatzes im aktuellen Bildungssystem
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Ein gerechter Umgang und eine gerechte Gesellschaft ist wohl die Wunsch- und Idealvorstellung eines jeden Menschen. Doch was ist eine Gerechte Gesellschaft? Was zeichnet sie aus? Diese Fragen versucht Martha Nussbaum in ihrem Buch „Die Grenzen der Gerechtigkeit“ zu erläutern. Dabei geht sie auch stark auf den Umgang mit Behinderten ein. Wie sollten diese Menschen gerechter Weise in einer Gesellschaft behandelt werden? Was zeichnet überhaupt einen Menschen aus?
Ich möchte vor allem die Herausforderungen der Integration von Behinderten für das deutsche Bildungssystem erläutern und untersuchen, inwiefern Nussbaums Theorie dabei hilfreich sein und Anwendung finden kann. Da dies natürlich ein sehr weites Untersuchungsfeld ist, werde ich mich innerhalb dieser Arbeit auf die Kerninhalte der Theorie beschränken und herausarbeiten, ob bzw. in wie weit diese mit den Zielsetzungen und Möglichkeiten der Institution Schule zu vereinbaren sind. Neben den Schwierigkeiten für die Umsetzung im Bildungssystem werde ich auch einige andere z.T. inhärente Probleme der Theorie erörtern.
2 Der Fähigkeitenansatz nach Martha Nussbaum
2.1 Zielsetzung und allgemeine Definitionen
Der von Martha Nussbaum vorgestellte Fähigkeitenansatz ist weniger die Beschreibung einer Gesellschaft als vielmehr eine Forderung nach Grundrechten, die von allen Gesellschaften und Regierungen anerkannt werden sollten. Martha Nussbaum versteht ihre Theorie eher als eine Auflistung „grundlegender menschlicher Ansprüche“[1] mit ähnlicher Relevanz wie die Menschenrechte. Sie führt dabei aus, dass ihr Fähigkeitenansatz ein grundlegendes Minimum der Menschenwürde definieren soll, die für jedes menschliche Leben Geltung haben sollte ohne jedoch verpflichtenden Charakter zu haben, wenngleich ausgeführt wird, dass jede „achtbare und anständige Regierung“[2] sich um die Erfüllung des Ansatzes bemühen sollte. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind menschliche Fähigkeiten, das heißt „was die Menschen tatsächlich zu tun und zu sein in der Lage sind“[3]. Daraus wird versucht eine Liste von grundlegenden menschlichen Fähigkeiten mit bereits ausgeführter Relevanz und Bedeutung zu erarbeiten. Diese sollte aber auch als Grundlage für die Ausarbeitung politischer Entscheidungen, Prinzipien und Systeme dienen. Martha Nussbaum betont dabei, dass diese Liste ihrer Überzeugung nach keiner weiteren (metaphysischen) Begründung bedarf.
In Hinblick auf meinen Untersuchungsgegenstand scheint es mir an dieser Stelle wichtig zu sein zu erwähnen, dass ihre Theorie weder zur Anwendung auf eine bestimmte Gesellschaftsform (in diese Fall einer Leistungsgesellschaft), noch als Grundlage für ein Bildungssystem verfasst wurde. Dennoch sollte eine allgemeine Gerechtigkeitstheorie, so meine Meinung, auch in der Lage sein diese Felder des menschlichen Zusammenlebens zu berücksichtigen. Dass Frau Nussbaum eine allgemeine Gültigkeit postuliert wird, in den ersten Kapiteln ihres Buches sehr deutlich und im Laufe dieser Arbeit auch noch mehrfach ausgeführt werden.
Doch zunächst soll die eigentliche Theorie genauer vorgestellt werden. Dafür wurden grundlegende Fähigkeiten eines menschlichen Lebens auf einer “Fähigkeitenliste“ zusammengetragen. Woraufhin jeweils ein Schwellenwert „einer jeden Fähigkeit [definiert werden muss], unterhalb dessen ein wirkliches menschliches Tätig sein der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr möglich ist, das gesellschaftliche Ziel sollte deshalb darin bestehen, die Bürgerinnen und Bürger über diesen Schwellenwert zu heben.“[4] An dieser Aussage wird bereits deutlich, dass der Ausgleich von Defiziten eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft ist, auch wenn sich die Betrachtung der allgemeinen Lebensqualität nicht auf die gesamte Gesellschaft bezieht. So ist es beispielsweise üblich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu betrachten um den allgemeinen Entwicklungsstand einer Gesellschaft zu beurteilen und anhand dieses Wertes die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger zu bewerten. Ein Kritikpunkt von Nussbaum ist dabei, dass obwohl dieser Wert einen groben Eindruck vom allgemeinen Entwicklungsstand einer Gesellschaft gibt, dabei keine Aussage über die Verteilung wesentlicher Lebensbestandteile gemacht werden kann. Auch werden einige Aspekte wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Ausbildung, politische Freiheit, Beziehungen zwischen einzelnen Menschen und emotionale Gesundheit überhaupt nicht berücksichtigt. Dieses Defizit wird beim Fähigkeitenansatz dadurch ausgeglichen, dass alle Elemente der Liste der Fähigkeiten gleichwertig sind und bei Nichterfüllung auch nur eines Aspektes nicht mehr von einer gerechten Gesellschaft gesprochen werden kann.
Zu betonen ist dabei jedoch, dass die Autorin hier versucht einen Mindeststandard zu erarbeiten, der erfüllt sein muss, damit eine Gesellschaft als gerecht gelten kann. Es wird betont, dass Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die sich “oberhalb“ dieser Liste ergeben nicht betrachtet werden. Wenn also allen Menschen einer Gesellschaft diese Liste vollumfänglich erfüllen, so würde Nussbaum diese Gesellschaft als grundsätzlich gerecht ansehen. Entscheidend ist jedoch, dass die Liste für sämtliche Bürgerinnen und Bürger in vollem Umfang erfüllt sein muss, da diese sonst, wie bereits beschrieben nicht als wirkliche Menschen, genauer nicht als menschlich tätige Bürgerinnen und Bürger verstanden werden können. Bei diesen Formulierungen stellt sich die Frage, wie genau der Bürger bzw. die Bürgerin definiert wird und was einen Menschen auszeichnet. Während ersteres nicht geklärt wird, versucht Frau Nussbaum später noch eine grobe Definition für menschliches Leben zu geben. Nussbaum führt dazu aus, dass ein menschliches Leben dann gegeben ist, wenn ein gewisses Mindestmaß an Fähigkeiten, die im Weiteren noch ausgeführt werden, gegeben ist. An anderer Stelle lehnt sie es jedoch ab, (menschlichen) Lebewesen die dieses Fähigkeiten nicht besitzen das Mensch-sein abzusprechen.[5]
Was die Frage der Definition des Bürgers und der Bürgerin angeht, so könnte man vielleicht sagen, dass er bzw. sie einem bestimmten Staat bzw. einer bestimmten Regierung angehört. Wobei mir auch diese Unterscheidung einigermaßen fragwürdig erscheint, da Frau Nussbaum für ihre Theorie einerseits eine Allgemeingültigkeit ähnlich der Menschenrechte in Anspruch nimmt und andererseits aber einräumt, dass die Umsetzung von Regierung zu Regierung unterschiedlich sein kann. Wenn doch für alle Menschen die gleichen Gerechtigkeitsprinzipien gelten sollen, unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit, so bleibt doch kein Interpretationsspielraum, was die Anerkennung bzw. Umsetzung dieser Prinzipien bzw. Fähigkeiten angeht. Entweder sie werden wie in der Liste definiert (mit sämtlichen Schwellwerten) anerkannt oder eben nicht. So könnte also noch die Möglichkeit bestehen, dass vielleicht einzelne Punkte von einzelnen Regierungen gar nicht anerkannt werden, was Nussbaum jedoch durch die Aussage ausschließt, dass in dem Fall, dass auch nur ein Punkt der Liste nicht erfüllt ist auch nicht von einer Gerechten Gesellschaft gesprochen werden kann. Sicherlich kann die Priorität einzelner Punkte je nach Kulturkreis, Regierung und Wertevorstellungen variieren, was jedoch von der grundsätzlichen Anerkennung der Inhalte nicht befreit – so die jeweilige Regierung denn als gerecht gelten möchte.
2.2 Eine Sammlung von Fähigkeiten
Bei der konkreten Anwendung des Fähigkeitenansatzes werden ausschließlich die individuellen Möglichkeiten des Tätig seins betrachtet, unabhängig von der Ressourcenverteilung. Das heißt es ist nicht entscheidend, dass jede Bürgerin und jeder Bürger gleich viele Mittel zu Verfügung gestellt bekommt, sondern mit den (unter Umständen ungleich) verteilten Mitteln der gleiche Grad an Tätig sein ermöglicht wird. Sämtliche Fähigkeiten des Ansatzes sollten also allen „Bürgerinnen und Bürgern auf angemessenem Niveau garantiert“[6] werden. Die zu garantierenden Fähigkeiten werden von Nussbaum wie folg aufgeführt:
„Die zentralen menschlichen Fähigkeiten
1. Leben: Die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben; nicht frühzeitig zu sterben und nicht zu sterben, bevor dieses Leben so eingeschränkt ist, daß es nicht mehr lebenswert ist.
2. Körperliche Gesundheit: Die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene Unterkunft gehören.
3. Körperliche Integrität: Die Fähigkeit, sich frei von einem Ort zum anderen zu bewegen; vor gewaltsamen Übergriffen sicher zu sein, sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt eingeschlossen; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung und zur freien Entscheidung im Bereich der Fortpflanzung zu haben.
4. Sinne, Vorstellungskraft, und Denken: Die Fähigkeit, die Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu schlußfolgern – und dies alles auf jene „wahrhaft menschliche“ Weise, die von einer angemessenen Erziehung und Ausbildung geprägt und kultiviert wird, die Lese- und Schreibfähigkeiten sowie basale mathematische und wissenschaftliche Kenntnisse einschließt, aber keineswegs auf sie beschränkt ist. Die Fähigkeit, im Zusammenhang mit dem Erleben und Herstellen von selbstgewählten religiösen, literarischen, musikalischen etc. Werken und Ereignissen die Vorstellungskraft und das Denkvermögen zu erproben. Die Fähigkeit, sich seines Verstandes auf Weisen zu bedienen, die durch die Garantie der politischen und künstlerischen Meinungsfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung geschützt werden. Die Fähigkeit, angenehme Erfahrungen zu machen uns unnötigen Schmerz zu vermeiden.
5. Gefühle: Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst aufzubauen; die Fähigkeit, auf Liebe und Sorge mit Zuneigung zu reagieren und auf die Abwesenheit dieser Wesen mit Trauer; ganz allgemein zu lieben, zu trauern, Sehnsucht Dankbarkeit und berechtigten Zorn zu fühlen, Die Fähigkeit, an der eigenen emotionalen Entwicklung nicht durch Furcht und Ängste gehindert zu werden. (Diese Fähigkeit zu unterstützen heißt auch, jene Arten der menschlichen Gemeinschaft zu fördern, die erwiesenermaßen für diese Entwicklung entscheidend sind.)
6. Praktische Vernunft: Die Fähigkeit, selbst eine persönliche Auffassung des Guten zu bilden und uns über die eigene Lebensplanung auf kritische Weise nachzudenken. (Hierzu gehört der Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit.)
7. Zugehörigkeit:
A. Die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen anzuerkennen und Interesse an ihnen zu zeigen, sich auf verschiedene Formen der sozialen Interaktion einzulassen; sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen. (Der Schutz dieser Fähigkeit erfordert den Schutz jener Institutionen, die diese Formen der Zugehörigkeit konstituieren und fördern, sowie, der Versammlungs- und Redefreiheit.)
B. Über die sozialen Grundlagen der Selbstachtung und der Nichtdemütigung zu verfügen; die Fähigkeit, als Wesen mit Würde behandelt zu werden, dessen Wert dem anderer gleich ist. Hierzu gehören Maßnahmen gegen die Diskriminierung auf der Grundlage von ethischer Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Kaste, Religion und nationaler Herkunft.
8. Andere Spezies: Die Fähigkeit, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben.
9. Spiel: Die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.
10. Kontrolle über die eigene Umwelt:
A. Politisch: Die Fähigkeit, wirksam an den politischen Entscheidungen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen; ein Recht auf politische Partizipation, auf Schutz der freien Rede und auf politische Vereinigung zu haben.
B. Politische: Die Fähigkeit, Eigentum (an Land und an beweglichen Gütern) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie andere zu haben; das Recht zu haben, eine Beschäftigung auf der gleichen Grundlage wie andere zu suchen; vor ungerechtfertigter Durchsuchung und Festnahme geschützt zu sein. Die Fähigkeit, als Mensch zu arbeiten die praktische Vernunft am Arbeitsplatz ausüben zu können und in sinnvolle Beziehung der wechselseitigen Anerkennung mit anderen Arbeitern treten zu können.“[7]
Bei der Art der Umsetzung bzw. Ermöglichung dieser Fähigkeiten entstehen nun einige Probleme. So wird in diesem Kapitel betont, dass diese Fähigkeiten grundsätzlich für alle Menschen umzusetzen sind. Diese allgemeine Formulierung, wie auch die (absichtlich) recht offene Formulierung der Liste lässt jedoch einige Frage unbeantwortet: So bleibt beispielsweise schon bei der ersten aufgeführten Fähigkeit die Frage offen, wie diese für Menschen mit unheilbaren Krankheiten garantiert werden sollen, denn nach wie vor gibt es Krankheiten, die nicht heilbar sind. Beispiele dafür sind Erb- oder Nervenkrankheiten, wie die Neuronale Ceroid Lipofuszinose (eine Form: Jansky-Bielschowsky-Krankheit), bei dieser Erbkrankheit liegt ein Stoffwechseldefekt vor, was, je nach Intensität der Erkrankung, relativ schnell zum Tod führt. Da die Krankheit meist zwischen dem 2. und 7. Lebensjahr ausbricht ist bei den Betroffenen von einem normalen menschlichen Leben herkömmlicher Dauer wohl kaum zu sprechen.[8]
[...]
[1] Nussbaum, Martha Craven: Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 104 [5]
[2] Ebd., S. 141
[3] Ebd., S. 104
[4] Ebd., S. 105
[5] Vgl. Ebd. S. 260 f.
[6] Ebd., S. 111
[7] Ebd. S. 112
[8] Kohlschütter, Alfried: Ceroid-Lipofuszinose, neuronale, spät-infantile (2010) [4]