Bilingualität bei Übersetzern und Dolmetschern


Diplomarbeit, 2004

66 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zum Problem der Bilingualität
2.1 Bilingualität im Allgemeinen
2.1.1 Definition des Begriffes Bilingualität
2.1.2 Geschichte der Bilingualität
2.1.3 Arten von Bilingualität
2.1.3.1 Kompositionelle und Koordinierte Bilingualität
2.1.3.2 Äquilingualität und Ambilingualität
2.1.3.3 Semilingualität
2.1.4 Sprachen im bilingualen Gehirn
2.1.5 Merkmale von Bilingualen
2.1.5.1 Interferenzen
2.1.5.2 Kodewechsel
2.1.5.3 Sprachübergreifende Fähigkeiten
2.2 Bilingualität in Bezug auf Übersetzer und Dolmetscher
2.2.1 Forschung zu Bilingualität und Translation
2.2.2 Vorurteile über Bilinguale
2.2.3 Hypothesen zu Bilingualen als Übersetzer und Dolmetscher
2.2.3.1 Bilinguale Sprachkompetenz und Translation
2.2.3.2 Interferenzerscheinungen und Translation

3 Datenerhebung
3.1 Herangehensweisen
3.1.1 Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung
3.1.2 Sprachenklassifizierung
3.2 Befragung von Dozenten des Instituts für Angewandte Linguistik und Translatologie
3.2.1 Erkenntnisse aus der Befragung der Dozenten
3.2.2 Schlussfolgerungen aus der Befragung der Dozenten
3.3 Befragung mit Fragebögen
3.3.1 Aufbau der Fragebögen
3.3.1.1 Art der Fragestellung
3.3.1.2 Inhalt
3.3.2 Befragte Personen
3.3.2.1 Freiberufliche Übersetzer und Dolmetscher in Leipzig
3.3.2.2 Dozenten des Instituts für Angewandte Linguistik und Translatologie
3.3.3 Erkenntnisse aus der Befragung mit Fragebögen
3.3.4 Schlussfolgerungen aus der Befragung mit Fragebögen
3.4 Befragung von weiteren Personen
3.4.1 Erkenntnisse aus der Befragung von weiteren Personen
3.4.2 Schlussfolgerungen aus der Befragung von weiteren Personen
3.5 Erkenntnisse aus der gesamten Befragung
3.6 Schlussfolgerungen aus der gesamten Befragung

4 Ausblick

5 Literaturverzeichnis

6 Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

People rarely make a conscious decision to become bilingual; it happens because their interaction with the world around them requires the use of two languages. (Grosjean 1982:VIII)

Diese Aussage von François Grosjean beschreibt den Weg vieler Bilingualer in die Zweisprachigkeit mit wenigen Worten. Verschiedenste Faktoren können ein zweisprachiges Leben erforderlich machen, seien es das Arbeiten im Ausland, Angehörige verschiedener Sprachgruppen im engen Freundeskreis, das Zusammenleben mit einem anderssprachigen Partner oder die Teilnahme an einem Austauschprogramm der Schule oder Universität. Auch ich selbst bin vor drei Jahren durch meinen amerikanischen Ehepartner bilingual geworden. Das Zusammenleben macht es erforderlich, dass ich zu Hause mit meinem Mann englisch spreche und sonst, wie schon vorher, deutsch.

Das plötzliche Vorhandensein von zwei Sprachen in meinem Leben machte sich rasch bemerkbar. Anfangs äußerte es sich vor allem darin, dass ich nicht schnell genug zwischen Englisch und Deutsch wechseln konnte und so gelegentlich Personen in der falschen Sprache ansprach. Dies trat besonders dann auf, wenn Personen beider Sprachgruppen aufeinander trafen und so ein ständiger Sprachwechsel nötig war. Schon nach kurzer Zeit gewöhnte ich mich an das bilinguale Leben und lernte, mit schnellen Sprachwechseln besser umzugehen. Dafür traten dann bald Interferenzerscheinungen auf, also Strukturübertragungen aus der einen in die andere Sprache, die nur schwer kontrollierbar waren. Die Interferenzen waren in beiden Sprachen vorhanden, nicht nur in meiner stärkeren Sprache Deutsch. Seit einiger Zeit bemerke ich nun, dass die Interferenzerscheinungen deutlich nachgelassen haben und besser kontrollierbar sind. So treten sie nur noch auf, wenn ich unaufmerksam, müde oder stark belastet bin oder wenn es nicht wichtig ist, dass etwas sprachlich korrekt ausgedrückt wird. Da der Inhalt meines Studiums das Übersetzen und Dolmetschen ist, ist es wichtig, etwas in Form und Ausdruck korrekt wiedergeben zu können. Doch auch beim Übersetzen und Dolmetschen macht sich meine Bilingualität durch Interferenzerscheinungen bemerkbar. Allerdings treten diese Interferenzen dort wesentlich seltener auf als im Privatleben, da ich sie durch hohe Konzentration in der Regel unterbinden kann.

Natürlich hat das Vorhandensein von zwei Sprachen in meinem Leben nicht nur negative Auswirkungen, sondern in weit überwiegendem Maße positive Seiten. Einer der größten Vorteile ist, dass mein Englisch sich durch den ständigen Gebrauch stetig verbessert. Dies wirkt sich unmittelbar auf mein Studium aus, da eine hohe Sprachkompetenz in allen studierten Sprachen für Übersetzer und Dolmetscher unverzichtbar ist. Die ständige Gegenwart von zwei Sprachen in meiner Umwelt erleichtert es mir, beim Dolmetschen schnell passende Ausdrücke zu finden und nahezu problemlos zwischen beiden Sprachen zu wechseln. Ich bemerke außerdem, dass mein Gefühl für die englische Sprache wesentlich ausgeprägter ist als vor meiner bilingualen Zeit, was für das Übersetzen und Dolmetschen ohne Zweifel von großem Vorteil ist.

Als mir zum ersten Mal meine Bilingualität und ihre Auswirkungen auf mein Studium bewusst wurden, begann ich mich zu fragen, wie andere bilinguale Übersetzer und Dolmetscher mit zwei Sprachen in ihrem Leben umgehen und welchen Einfluss diese auf die Ausübung ihres Berufes haben. Diese Diplomarbeit bildet den passenden Rahmen, um eben dies zu erforschen. Die beste Möglichkeit, meine eigenen Erfahrungen mit denen anderer Bilingualer zu vergleichen, war, diese direkt dazu zu befragen. Eine solche Befragung bot auch die Gelegenheit, die Erfahrungen der Bilingualen zu denen der Monolingualen in Beziehung zu setzen und so herauszufinden, ob es für den Beruf des Übersetzers oder Dolmetschers vorteilhaft ist, monolingual oder bilingual zu sein. Des Weiteren lag es nahe, auch die Dozenten des Instituts für Angewandte Linguistik und Translatologie (IALT) der Universität Leipzig in die Forschung einzubinden. Um herauszufinden, wo meine Untersuchung im Vergleich zu schon bestehenden Forschungsprojekten einzuordnen ist, wurde ein großer Teil der Studien zu Bilingualität und Translation analysiert und deren Ergebnisse den von mir gewonnenen Erkenntnissen gegenübergestellt.

Heute wird die Bilingualität weitaus häufiger und umfangreicher erforscht als noch vor 60 Jahren, als Wissenschaftler erstmals begannen, sich eingehend mit dem Thema zu beschäftigen. Außerdem befassen sich die neueren Studien mit zahlreichen Themen aus verschie­denen Fach­bereichen, während die älteren Forschungen haupt­sächlich untersuchen, ob die Bilingualität negative Aus­wirkungen auf die Intelligenz des Menschen hat (vgl. Baker/Jones 1998:62f.). Die Bilingualitätsforschung steht also immer mehr im Interesse der Wissenschaft und wird mehr denn je zu einem multi- und interdisziplinären Thema. Nur durch diese Multi- und Inter­disziplinarität kann sie alle für die Bilingualität relevanten Phänomene beschreiben (vgl. Romaine 1989:7, Hoffmann 1994:6). So beschäftigt sich zum Beispiel die Erziehungswissenschaft unter anderem mit der Frage, welche Rolle die Bilingualität beim Spracherwerb spielt und wie Kindergärten und Schulen mit bilingualen Kindern umgehen können. Mit der stetigen Zunahme an Immigranten tritt diese Problematik immer mehr in den Vordergrund. Die Linguistik und deren Unterdisziplinen wie Neuro-, Psycho- und Soziolinguistik erforschen dagegen die menschliche Sprache und Themen wie Spracherwerb und Kognition. In Bezug auf Mehrsprachigkeit wird also unter anderem untersucht, wie sich die Sprachverarbeitung bei Monolingualen und Bilingualen unterscheidet oder inwiefern sich soziale Faktoren auf die Sprachverwendung auswirken. Das Übersetzen und Dolmetschen, und demnach auch diese Arbeit, gehören in den Bereich der Angewandten Linguistik.

In den letzten zwei Jahrzehnten nahm unter Akademikern das Interesse an bilingualen Personen und Gemeinschaften und damit die Zahl an Publikationen über Bilingualität und Sprachkontakt stark zu (vgl. Wei/Dewaele/Housen 2002:9). Die Kombination von Translation und Bilingualität jedoch hat in der Forschung noch verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden. Vorhandene Bilingualitätsstudien beschäftigen sich hauptsächlich mit spontaner und natürlicher Translation (z.B. Harris 1977) sowie mit Translation im Zusammenhang mit Spracherwerb, unter anderem als Maß für (fremd-)sprachliche Kompetenz (z.B. Swain et al. 1974). Letzteres lässt sich jedoch nur bedingt mit den Forschungsinhalten dieser Arbeit vergleichen, da beim Übersetzen im Fremdsprachenunterricht ein anderes Verhalten gezeigt wird als in einer professionellen Übersetzungssituation. Diese auch als „philologisches Übersetzen“ (Nord 1998a:144) bezeichnete Form der Translation dient zum Beispiel „der Kontrolle des Textverständnisses oder der Beherrschung fremdsprachlicher Strukturen und Ausdrucksformen“ (Nord 1998a:144). Da jedoch beim Übersetzen im Fremdsprachen­unterricht in der Regel keine Übersetzungsaufträge gestellt werden, können sich sowohl die Vorgehensweisen beim Übersetzen als auch die Qualität der Translate erheblich von den auf spezifischen Übersetzungsaufträgen basierenden Übersetzungen unterscheiden (vgl. Nord 1998b:357). Untersuchungen zu den Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf das professionelle Übersetzen sind recht selten zu finden. Eine der wenigen Untersuchungen dazu liefert Gyde Hansen (2003), die den Übersetzungsprozess bei dänischen und deutschen Monolingualen sowie Bilingualen der beiden Sprachen erforschte.

Die Multidisziplinarität der Bilingualitätsforschung hat zur Folge, dass eine Vielzahl an Studien in den verschiedenen Teilbereichen durchgeführt wurde und wird (z.B. Macnamara 1967, Cummins 1978, Thiery 1978, Galambos/Goldin-Meadow 1990). Da das Forschungsfeld so außerordentlich groß ist, gleichen sich die Untersuchungen bezüglich ihres Inhalts und der Durchführung selten. Dies ist zwar üblich, hat jedoch den Nachteil, dass die Ergebnisse dieser Studien nur schwer oder gar nicht vergleichbar sind, da schon kleinste Unterschiede in den angewandten Methoden oder in der Auswahl der teilnehmenden Personen zu vollkommen anderen Erkenntnissen führen können (vgl. Bialystok 2001:143).

Des Weiteren findet sich eine weit größere Anzahl von Mehrsprachigkeitsstudien an Kindern (z.B. Ben-Zeev 1977, Cummins 1978, Doyle/Champagne/Segalowitz 1978, Ruddat 1991, Kalpakidou 1996) als an Erwachsenen (z.B. Gekoski 1969, Smith 1994, Bialystok/Klein/Craik/Viswanthan 2004). Inhalte dieser Studien sind zum Beispiel das Übersetzen in spielerischer Form bei bilingualen Kindern (z.B. Harris/Sherwood 1978), natürliches (d. h. nicht-trainiertes) Übersetzen in Experimenten zur Erforschung der Sprachenunabhängigkeit bei Bilingualen (z.B. Harris 1977) oder das Agieren des bilingualen Kindes als Dolmetscher in Migrantenfamilien (z.B. Harris/Sherwood 1978). Letzterem liegt zwar aufgrund der Regelmäßigkeit dieser Tätigkeit eine gewisse Professionalität zugrunde, jedoch enthalten diese Untersuchungen meist keine Informationen zum konkreten Übersetzungsprozess, sondern behandeln vornehmlich soziologische Aspekte.

Diese Arbeit unternimmt den Versuch, weitere Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen Bilingualität und professionellem Übersetzen und Dolmetschen zu gewinnen. Im Kapitel 2 sollen zunächst einige Definitionen des Begriffes Bilingualität sowie verschiedene Arten von Bilingualität vorgestellt werden. Des Weiteren wird ein Überblick über verschiedene Aspekte der Bilingualität, wie zum Beispiel Kodewechsel und Interferenzerscheinungen, gegeben. Der darauf folgende Teil der Arbeit befasst sich speziell mit Bilingualität in Bezug auf Übersetzer und Dolmetscher. Die zu dieser Problematik bestehenden Studien werden vorgestellt sowie einige Vorurteile, die viele Menschen über Bilingualität haben, genannt. Danach werden zwei Hypothesen bezüglich der Bilingualität im Beruf des Übersetzers und Dolmetschers aufgestellt, welche am Ende der Arbeit ausgewertet werden. Im Kapitel 3 folgt eine detaillierte Beschreibung der Forschung, die zu dieser Arbeit durchgeführt wurde. Dabei werden die Herangehensweisen erläutert sowie die untersuchten Personengruppen vorgestellt. Die Einzelbeschreibung erfolgte dementsprechend in drei Teilen, an deren Ende die jeweils erlangten Erkenntnisse dargestellt und interpretiert werden. Im Ausblick in Kapitel 4 soll gezeigt werden, wie diese Arbeit und die dazu durchgeführte Untersuchung weitergeführt werden könnte.

2 Zum Problem der Bilingualität

Mit zunehmender Bedeutung der Massenkommunikation, die den Kontakt zwischen Angehörigen verschiedener Sprachgruppen erleichtert, stieg in den vergangenen Jahrzehnten auch die Möglichkeit, bilingual oder multilingual zu werden, enorm an. Gleichzeitig nahm auch das Bewusstsein zu, dass Bilinguale sowohl im internationalen Handel als auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel Tourismus, Journalismus und Regierungs­an­gelegen­heiten, sehr nützlich sind (vgl. Wei/Dewaele/Housen 2002:2). Doch oft reicht es heute nicht mehr aus, einfach nur bilingual zu sein – Bilingualität in den „richtigen“ Sprachen ist gefragt. Während die Kenntnis von Sprachen wie Englisch oder Französisch als nützlich und erstrebenswert angesehen wird, erntet Bilingualität in Einwanderer­sprachen wie Türkisch oder Vietnamesisch weniger Bewunderung (vgl. Hoffmann 1994:4). Dennoch wird in der Gesellschaft Zweisprachigkeit allgemein als Vorteil gesehen, da sie oft mit einem verbesserten professionellen, sozialen oder wirtschaftlichen Status einhergeht (vgl. Wei/Dewaele/Housen 2002:1).

Doch bevor das Phänomen der Bilingualität mit all seinen Facetten diskutiert wird, muss die Frage geklärt werden, wann man überhaupt von Bilingualität sprechen kann. Bilingualität bezeichnet das Beherrschen zweier, Multilingualität das Beherrschen mehrerer Sprachen. Falls nicht ausdrücklich anders angegeben, wird im Folgenden jedoch nur noch die Bezeichnung Bilingualität zusammenfassend für das Beherrschen von zwei oder mehr Sprachen verwendet. Ist eine Person nun dann bilingual, wenn sie zwei Sprachen fließend spricht, also in beiden Sprachen maximale Kompetenz erreicht? Ist es relevant, wie oft eine Person beide Sprachen verwendet? Wenn ja, wer ist dann eher bilingual: jemand, der zwei Sprachen fließend spricht, aber selten verwendet, oder jemand, der zwei Sprachen oft verwendet, aber diese nicht fließend spricht? Bedeutet Bilingualität auch gleichzeitig Biliteralität? Personen, die eine zweite Sprache nicht fließend sprechen, haben oft Hemmungen, sich selbst als bilingual zu bezeichnen. Sollte die Selbsteinschätzung bei der Definitionsfindung trotzdem eine Rolle spielen?

Da es in dieser Arbeit immer wieder nötig sein wird, verschieden stark beherrschte Sprachen zu unterscheiden, soll im Folgenden noch festgelegt werden, wie die einzelnen Sprachen zu bezeichnen sind. Da Personen, die mehrere Sprachen beherrschen, diese meist unterschiedlich gut und häufig sprechen, muss es eine Klassifizierung für die verschiedenen Kompetenzgrade und Lernstufen geben. Im linguistischen und translatorischen Umfeld sowie an Einrichtungen zum Lehren von Fremdsprachen wird oft die Einteilung in A, B und C verwendet. Dabei ist A die Muttersprache, B die erste Fremdsprache und C die zweite Fremdsprache. Oft werden die Buchstaben A und B auch gebraucht, um zwei beliebige Sprachen zu bezeichnen. Zwar verwendet diese Arbeit auch eine Einteilung in A und B, jedoch wird deren Bedeutung von anderen Kriterien bestimmt. Grund dafür ist die schwierige Definition des Begriffes „Muttersprache“. In einer Arbeit über Bilingualität kann die Bezeichnung „Muttersprache“ problematisch sein, da es verschiedene Definitionslinien gibt, nämlich Definitionen mit psychologischer beziehungsweise mit soziologischer Sichtweise. Dabei betrachtet der psycho­logische Ansatz die Sprache als Muttersprache, die in der frühen Kindheit erworben wurde, während die eher soziologische Sichtweise die Wichtigkeit der Identität bei der Definitions­findung mit in Betracht zieht (vgl. Davies 1994:2724).

Oberflächlich betrachtet impliziert „Muttersprache“ die Sprache, die eine Mutter mit ihrem Kind spricht. “The ‘mother tongue’ is literally just that, the language of the mother, and is based on the reasonable view that a child’s first ‘significant other’ is the mother” (Davies 1994:2722). Da aber nicht jedes Kind von seiner Mutter aufgezogen wird und Kinder auch von ihrem Vater eine Muttersprache lernen können, ist dieses Konzept nicht in allen Fällen anwendbar (vgl. Baetens Beardsmore 1982:30). Bloomfield (1933) betrachtet allein den Zeitpunkt des Spracherwerbs, womit seine Aussage quasi der psychologischen Definitions­linie folgt: “The first language a human being learns to speak is his native language; he is a native speaker of this language” (Bloomfield 1933:43, Hervorhebungen im Original). Doch auch hier dürfte es viele Ausnahmen geben, die diese Definition widerlegen, denn:

[…] the mother tongue and the first language may be different: it may be that the mother tongue is influenced by peers as well as by parents, or it is more than one language and then it is not easy to decide which one is first; it may be that what is the first language changes over time. (Davies 1994:2722)

Eine Definition des Begriffes „Muttersprache“, die sich den Zeitpunkt des Spracherwerbs beachtet, liefert zum Beispiel Lewandowski (1990):

Die Erst- oder Primärsprache, die von der frühen Kindheit an erworbene Sprache (die nicht die der Mutter zu sein braucht und die nicht die am meisten geläufige Verkehrssprache bleiben muss). (Lewandowski 1990:736)

Diese Arbeit legt sich jedoch nicht auf eine bestimmte Definition des Begriffes „Muttersprache“ fest. Vielmehr wurde für die Befragung eine eigene Klassifizierung erstellt, die das Konzept der Muttersprache überhaupt nicht enthält. So soll in dieser Arbeit A die am besten beherrschte Sprache und B die am zweitbesten beherrschte Sprache bezeichnen.

2.1 Bilingualität im Allgemeinen

Bilingualität kann in gesellschaftliche und individuelle Bilingualität unterteilt werden. Dabei ist die gesellschaftliche Bilingualität, auch Diglossie genannt, die Eigenschaft einer Personengruppe, mehr als eine Sprache zu sprechen, wie dies zum Beispiel in Ländern mit mehreren offiziellen Landessprachen der Fall ist. Die individuelle Bilingualität ist dagegen die Eigenschaft einer Einzelperson, mehr als eine Sprache zu sprechen (vgl. Baker/Jones 1998:3). Da in dieser Arbeit die bilinguale Einzelperson, also die individuelle Bilingualität, im Vordergrund stehen soll, wird im folgenden Kapitel ein Überblick über verschiedene Definitionen dazu gegeben sowie eine Definition speziell für diese Arbeit vorgestellt. Anschließend sollen die Geschichte der Bilingualität kurz dargestellt und verschiedene Arten von Bilingualität beschrieben werden. Außerdem wird erläutert, wie Sprachen im Gehirn von Bilingualen angelegt sind. Zum Abschluss dieses Kapitels über Bilingualität im Allgemeinen werden typische Merkmale von Bilingualen vorgestellt, wie zum Beispiel Interferenzen, Kodewechsel sowie spezifische Fähigkeiten, die Bilinguale von Monolingualen unter­scheiden.

2.1.1 Definition des Begriffes Bilingualität

Auf die Frage, was es bedeutet, bilingual zu sein, haben die meisten Menschen schnell eine Antwort: Bilinguale sind Personen, die zweisprachig aufgewachsen sind. Eine Definition des Begriffes Bilingualität ist jedoch nicht so einfach, wie es scheint, denn viele Fragen müssen bei der Definitionsfindung beantwortet werden. Soll zum Beispiel die Häufigkeit der Verwendung von zwei Sprachen Beachtung finden oder geht es allein darum, wie fließend ein Mensch diese Sprachen spricht? Sind nur die Personen bilingual, die beide Sprachen ebenso gut beherrschen wie ein entsprechender Monolingualer, oder auch solche, die eine zweite Sprache nur verstehen, aber nicht sprechen können?

Eine Erklärung für die Schwierigkeiten bei der Definitionsfindung zum Begriff Bilingualität könnte das multidisziplinäre Wesen der Bilingualität sein, denn jede der einzelnen Disziplinen, wie zum Beispiel Psycholinguistik, Soziolinguistik oder auch Pädagogik, betrachtet das Phänomen von einem anderen Standpunkt aus (vgl. Baetens Beardsmore 1982:3). Wie unter anderem Baetens Beardsmore (1982) und Grosjean (1982) zeigen, haben zahlreiche Wissenschaftler aus unterschiedlichen Forschungsgebieten versucht, den Begriff Bilingualität zu erklären, so dass es derzeit eine Vielzahl verschiedenartiger Definitionen gibt. Diese Vielfalt an Definitionen muss aber nicht grundsätzlich negativ sein, sondern hat durchaus auch den Vorteil, dass man in der Regel eine seinem Zweck entsprechende Definition finden kann. Nicht alle der bekannten Definitionen können jedoch kritiklos hingenommen werden. So sind zum Beispiel die Definitionen problematisch, in denen Extreme vertreten werden. Eine solch extreme Definition zu Bilingualität hat Leonard Bloomfield 1933 geprägt:

In the extreme case of foreign-language learning the speaker becomes so proficient as to be indistinguishable from the native speakers around him. […] In the cases where this perfect foreign-language learning is not accompanied by loss of the native language, it results in bilingualism, native-like control of two languages. […] Of course, one cannot define a degree of perfection at which a good foreign speaker becomes a bilingual: the distinction is relative. (Bloomfield 1984:55f., Hervorhebungen im Original)

Bei genauer Betrachtung der Definition ist zu erkennen, dass sie einen Widerspruch enthält, denn Bloomfield spricht von “perfect foreign-language learning”, räumt dann aber ein, dass ein “degree of perfection” nicht definiert werden kann (vgl. Hoffmann 1994:15). Das Gegenteil zu Bloomfields Definition bildet die von William Mackey. Auch in dieser Definition wird ein Extrem vertreten, jedoch ist sie nicht wie Bloomfields Definition zu streng, sondern zu frei:

It seems obvious that if we are to study the phenomenon of bilingualism we are forced to consider it as something entirely relative. We must moreover include the use not only of two languages, but of any number of languages. We shall therefore consider bilingualism as the alternate use of two or more languages by the same individual. (Mackey 1957:51)

Ähnlich drückt auch Uriel Weinreich seine Vorstellung von Bilingualität aus:

The practice of alternately using two languages will be called BILINGUALISM, and the persons involved BILINGUAL. (Weinreich 1979:1, Hervorhebungen im Original)

Auch die Definitionen von Mackey und Weinreich müssen kritisiert werden, denn zum einen legen sie nur sehr vage fest, wer bilingual ist, und lassen den Aspekt der Sprachkompetenz vollkommen außer Acht. Zum anderen schließen derart freie Definitionen fast die gesamte Menschheit mit ein, so dass eine Definition des Begriffes Bilingualität fast schon unnötig wird. Auch jemand, der einige Stunden eines Fremdsprachenkurses belegt hat, könnte nach Weinreich und Mackey als bilingual bezeichnet werden, da er auch dort zwei Sprachen abwechselnd gebraucht.

Auch John Macnamara hat eine sehr freie Definition vorgeschlagen, bei der die vier grundlegenden Sprachfertigkeiten – Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben – mit einbezogen werden sollen (vgl. Macnamara 1967:59). Seiner Meinung nach zählen die Personen als Bilinguale, “who possess at least one of the language skills even to a minimal degree in their second language” (Macnamara 1967:59f.).

Eine Definition, die nicht den Sprachstand einer Person beschreibt, sondern handlungs­orientiert ist, schlagen Peter Graf und Helmut Tellmann vor: „Zweisprachigkeit besteht in der Fähigkeit, spontan eine zweite Sprache erfolgreich zu gebrauchen, wenn die Handlungs­situation es empfiehlt“ (Graf/Tellmann 1997:245). Der Schwerpunkt dieser Definition ist also die erfolgreiche Kommunikation als Ziel der Zweisprachigkeit. Für das Erreichen dieses Ziels sind kleinere Fehler sowie eine eingeschränkte Grammatik und Lexik jedoch nicht zwingend hinderlich. Betont wird stattdessen besonders die Fähigkeit, „spontan auf den fließenden und eindeutigen Gebrauch einer zweiten Sprache übergehen zu können“ (Graf/Tellmann 1997:245). Graf/Tellmann (1997) unterstreichen, dass allein die Fähigkeiten des Hörens und Lesens, also passive Fähigkeiten, in einer zweiten Sprache noch keine Bilingualität aus­machen. (Vgl. Graf/Tellmann 1997:245)

Einar Haugen sieht nicht ein unendlich großes Feld von Definitionen des Begriffes Bilingualität, sondern nur zwei Definitionslinien, nämlich enge und weite Definitionen. Dabei reduzieren enge Definitionen die Zahl der Bilingualen auf fast null, während die weiten Definitionen sie so weit ausdehnt, dass wiederum eine Definition bedeutungslos wird (vgl. Haugen 1987:14). Im Vergleich zu den bisher vorgestellten Definitionen vertritt Haugen, indem er das Hauptaugenmerk auf den Verwendungszweck der Sprachen legt, eine ungewöhnliche Sichtweise auf Bilingualität:

Any learning of a language for “tool” purpose should be excluded from the concept of bilingualism. Only if the language becomes a medium for the user’s own personality in relation to other members of the community can he be said to enter into a truly bilingual relationship. (Haugen 1987:18)

Keine der genannten Definitionen legt gleichzeitig fest, wie oft und wie gut jemand eine Sprache sprechen muss, um als bilingual zu gelten. Die folgende Definition von Bilingualität im Routledge Dictionary of Language and Linguistics erfasst zwar die beiden Konzepte der Kompetenz und der Verwendung, geht aber dabei auf den Grad der Kompetenz nicht genauer ein. Demnach ist Bilingualität “[a] speaker’s competence in two or more languages and their use in everyday communication” (Bussmann 1996:52). Beide Gesichtspunkte müssen meiner Meinung nach aber nicht nur unbedingt erfasst sein, sondern auch jeweils definiert werden. Für die vorliegende Arbeit schlage ich deshalb folgende Definition vor:

Eine Person ist dann als bilingual zu bezeichnen, wenn sie zwei oder mehr Sprachen aktiv beherrscht und in der Regel täglich spricht.[1]

Die Definition enthält also eine Festlegung zur Sprachkompetenz einer Person, indem sie fordert, dass jemand aktiv zwei Sprachen sprechen muss, um bilingual zu sein. Eine Sprache aktiv zu beherrschen bedeutet hier, dass die vier grundlegenden Sprachfähigkeiten Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben ausgeprägt sein müssen. Im Gegensatz dazu würde eine Person, die ihre zweite Sprache nur verstehen und lesen kann, diese nur passiv gebrauchen können. Des Weiteren enthält die Definition das Konzept der Sprachverwendung, also wie oft jemand eine Sprache spricht. Auch viele Fremdsprachenlerner gebrauchen ihre zweite Sprache zusätzlich zu ihrer A-Sprache sehr häufig. Dennoch glaube ich, dass diese von Bilingualen abgegrenzt werden sollten. Meine Definition setzt diese Abgrenzung genau an dem Punkt, an dem eine Person beginnt, täglich eine zweite Sprache zu sprechen. Des Weiteren schließe ich mich der Aussage von Einar Haugen an, dass Personen, die mehrere Sprachen “for ‘tool’ purpose” (Haugen 1987:18) beherrschen lernen, nicht als Bilinguale zu zählen sind. Wie Kapitel 3.3 zeigen wird, wurden die Befragten auf den Fragebögen darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich nur dann zu den Bilingualen zählen sollten, wenn sie zwei oder mehr Sprachen auch außerhalb ihres Berufes sprechen. Natürlich ist für den Beruf des Übersetzers und Dolmetschers die Kenntnis von zwei oder mehreren Sprachen nötig, jedoch machen noch weitere Faktoren die Bilingualität aus, so unter anderem oft auch eine emotionale Bindung an die Sprachen.

Mit meiner Auffassung möchte ich mich von denen distanzieren, die das Hauptaugenmerk auf das fließende Sprechen einer Sprache legen, denn Bilingualität kann meiner Meinung nach nicht an einem einzigen Faktor gemessen werden. Eine häufige Verwendung einer Sprache kann, muss aber nicht zu fließendem Sprechen führen. François Grosjean sieht die Problematik der Definition von Bilingualität ähnlich:

[…] far too much weight has been put on fluency, to the detriment of other factors such as the regular use of two languages, their domains of use, and the bilingual’s need to have certain skills (reading and writing, for instance) in one language but not in the other. A linguistic description of the bilingual that takes into account such factors is more complex than a simple index of fluency, but it is also more valid. (Grosjean 1982:231)

Die von mir vorgeschlagene Definition erhebt nicht den Anspruch, allgemeingültig zu sein, sondern soll lediglich für diese Arbeit und die dazugehörige Forschung festlegen, wie der Begriff Bilingualität zu verstehen ist.

2.1.2 Geschichte der Bilingualität

Solange es verschiedensprachige Völker auf der Erde gibt, hat es Kontakte zwischen diesen Völkern gegeben. Ganz gleich, ob diese Kontakte freundlicher oder feindlicher Natur waren, hatten sie einen regen Austausch zwischen den Angehörigen der verschiedenen Sprach­gruppen zur Folge. Einige der ältesten Möglichkeiten, Sprachen in der Welt zu verbreiten, sind zum Beispiel militärische Eroberungen und Besetzungen sowie Kolonisierung (vgl. Hoffmann 1994:158f.). Die Entwicklung von dörflichen, familienorientierten Gesellschaften hin zu städtischen, mobilen und komplexen Sozialstrukturen hatte zur Folge, dass Menschen polysozial wurden, also mehr als einer Gruppe angehörten. Da die einzelnen Gruppen (z.B. Arbeit, Schule, Freizeit, Religion) verschiedenen Sprachgruppen angehören können, wurden manche Menschen aus Notwendigkeit bilingual. Dieser kulturelle Austausch und somit auch das Phänomen Bilingualität werden durch die immer einfacher werdenden Möglichkeiten zur interpersonellen Kommunikation noch verstärkt (vgl. Mackey 2002:330ff.). Besonders mit der Entwicklung und dem Ausbau des internationalen Transportsystems wurde ein häufiger Kontakt zwischen Personen verschiedener Sprachgruppen vereinfacht. Auch die starke Zunahme an Mitteln zur Massenkommunikation in den vergangenen 100 Jahren erleichterte einen noch regeren Sprachkontakt zwischen den Völkern (vgl. Baker/Jones 1998:133). Die internationale Orientierung vieler Unternehmen macht heute die Entsendung ihrer Arbeits­kräfte in andere Länder erforderlich und verstärkt so die Bilingualität. Besonders große Unter­nehmen werden sich zunehmend der Nützlichkeit bilingualer Angestellter auf dem Weltmarkt bewusst (vgl. Wei/Dewaele/Housen 2002:2). Wie Wei/Dewaele/Housen in wenigen Worten beschreiben, ist die Bilingualität

[...] the result of a variety of factors, including, globalisation of business, commerce and entertainment, massive population shifts of people from different ethnolinguistic backgrounds, rapid urbanisation, and cheaper and faster means of international travel and communication. (Wei/Dewaele/Housen 2002:1)

Aber auch bilinguale Bildungsbewegungen, wie zum Beispiel internationale Schulen, mehrsprachige Schulen und Immersionsprogramme[2], oder das Erlernen von Fremdsprachen mit Hilfe des Internets fördern die Verbreitung von Bilingualität. Sehr verstärkt wird Bilingualität unter anderem auch durch Trends, wie sie zum Beispiel in Amerika und Europa zu beobachten sind, wo die Regierungen Einwanderer ermutigen und teilweise auch zwingen, die Mehrheitssprache zu erlernen, um so eine bessere Eingliederung in die neue Gesellschaft zu erreichen (vgl. Baker/Jones 1998:134).

2.1.3 Arten von Bilingualität

Mit dem Versuch, Bilingualität zu beschreiben und zu definieren, entstand im Laufe der Zeit eine Vielzahl von Bezeichnungen für verschiedene Arten von Bilingualität. Diese beschreiben hauptsächlich Qualitäten von Bilingualen, vor allem in Bezug auf den Grad der Sprach­kompetenz oder auf bestimmte Fähigkeiten wie das Übersetzen und Dolmetschen. Da das eigentliche Thema dieser Arbeit die Bilingualität in Zusammenhang mit Translation ist, kann der große Komplex der Bilingualität nur als Überblick dargestellt werden. Aus diesem Grund werden im Folgenden auch nur drei Arten von Bilingualität vorgestellt, die hier ausreichen sollen, um verschiedene Sichtweisen auf Bilinguale zu zeigen.[3]

2.1.3.1 Kompositionelle und Koordinierte Bilingualität

Im Jahr 1953 stellte Uriel Weinreich in seinem Buch “Languages in Contact” eine Aufteilung in drei Typen von Bilingualen vor. Diese drei Typen – A, B und C – unterscheiden sich danach, wie Zeichen in den einzelnen Sprachen verstanden werden. Dabei wird A auch als koordinierter Bilingualer, B als kompositioneller und C als subordinierter Bilingualer bezeichnet. Weinreich erklärte seine Unterscheidung am Beispiel des Wortes „Buch“ im Englischen (book) und Russischen (книґа). Ein Bilingualer des Typs A sieht book und книґа als zwei separate Zeichen, koordiniert diese also. Ein Bilingualer des Typs B dagegen versteht book und книґа kompositionell, nämlich als ein einziges Zeichen. Der subordinierte Typ oder Typ C tritt laut Weinreich wahrscheinlich dann auf, wenn eine neue Sprache indirekt, nämlich mit Hilfe einer schon bestehenden Sprache gelernt wird. So verbindet der Englischsprachige, der Russisch lernt, unter Umständen das ihm neue Wort книґа nicht gleich mit dem eigentlichen Objekt, sondern zuerst mit dem englischen book. (Vgl. Weinreich 1979:9f.)

Ein Jahr später modifizierten Susan Ervin und Charles Osgood diese Klassifizierung, indem sie den Typ des subordinierten Bilingualen dem des kompositionellen mit unterordneten (vgl. Grosjean 1982:241). Außerdem ergänzten sie die Beschreibungen der beiden Typen durch Angaben zu den Umständen, die die Entstehung eines bestimmten Bilingualitätstyps begünstigen. So stellten sie fest, dass die Entstehung eines kompositionellen Sprachsystems charakteristisch für den Zweitspracherwerb in Schulsituationen ist, da dort das Lernen von Vokabellisten und dementsprechend das Assoziieren von mehreren Benennungen mit einem Begriff gefördert wird. Auch Kinder, die in bilingualen Familien aufwachsen und dort mehrere Sprachen austauschbar mit denselben Personen und in denselben Situationen anwenden, entwickeln sich mit großer Wahrscheinlichkeit zu kompositionellen Bilingualen (vgl. Ervin/Osgood 1954:140). Das koordinierte Sprachsystem hingegen ist typisch für die Bilingualen, die jede ihrer beiden Sprachen in sehr unterschiedlichen Situationen sprechen, und auch für so genannte „wahre“ Bilinguale (vgl. Ervin/Osgood 1954:140), eine besondere Art von Bilingualen, auf die in Kapitel 2.1.3.2 genauer eingegangen wird. Wenn zwei Sprachen in sehr verschiedenen Umfeldern gesprochen werden, wie zum Beispiel zu Hause und in der Schule oder am Arbeitsplatz, dann werden einzelnen Objekten und Vorstellungen in beiden Sprachen nicht immer die gleichen Bedeutungen zugeordnet (vgl. Ervin/Osgood 1954:140).

Um zu untersuchen, wie sinnvoll eine Einteilung in kompositionelle und koordinierte (und eventuell subordinierte) Bilinguale ist, führten Wissenschaftler in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Studien verschiedener Art durch (vgl. Baetens Beardsmore 1982:22ff., Grosjean 1982:241ff.). Die Resultate aus diesen Untersuchungen waren jedoch so unterschiedlich, dass die Hypothese weder bewiesen noch widerlegt werden konnte (vgl. Macnamara 1967:64f.). Ab diesem Zeitpunkt begannen die Wissenschaftler, insbesondere Linguisten und Psycholinguisten, sich von der Einteilung in koordinierte und kompositionelle Bilingualität zu distanzieren (vgl. Grosjean 1982:242f.). Da nicht nur Ervin/Osgood (1954), sondern auch andere Forscher Weinreichs ursprüngliche Klassifizierung im Laufe der Jahre modifizierten, wurde diese zu einem mehrdeutigen und verwirrendem Konzept, welches nicht mehr bedenkenlos angewandt werden konnte (vgl. Grosjean 1982:244). Auch Karl Diller kritisierte 1986 die Klassifizierung massiv. Seine Einwände bezogen sich hauptsächlich auf fehlende Belege für die Existenz verschiedener Bilingualitätstypen sowie die unzureichende Definition der beiden Begriffe (vgl. Diller 1986:19). Er wies darauf hin, dass „kompositionelle und koordinierte Zweisprachigkeit [...] nicht in identifizierbarer Form bei Zweisprachigen [existieren], die in ihrer Zweitsprache kompetent sind“ (Diller 1986:25), und dass die Einteilung in koordinierte und kompositionelle Bilinguale nie mehr als eine „Erarbeitung einer Terminologie“ (Diller 1986:25) sein wird.

2.1.3.2 Äquilingualität und Ambilingualität

Hugo Baetens Beardsmore definiert Äquilingualität folgendermaßen:

Equilingualism, alternatively called balanced bilingualism, occurs when a speaker’s mastery of two languages is roughly equivalent and where this ability may match that of monoglot speakers of the respective languages if looked at in broad terms of reference. (Baetens Beardsmore 1982:9)

Als Äquilinguale werden auch die Personen bezeichnet, die in beiden Sprachen ungefähr gleiche Kenntnisse haben, aber nicht, wie im obigen Zitat dargestellt, die Kompetenz von Monolingualen erreichen, sondern sich von ihnen zum Beispiel durch das Auftreten von Interferenzen unterscheiden. Gemessen an monolingualen Standards weisen diese Äquilingualen also in beiden Sprachen deutliche Mängel auf. (Vgl. Baetens Beardsmore 1982:9)

Ambilingual ist dagegen “the person who is capable of functioning equally well in either of his languages in all domains of activity and without traces of the one language in his use of the other” (Baetens Beardsmore 1982:7). Das Konzept der Ambilingualität entspricht auch ungefähr Christopher Thierys Vorstellung von der „wahren“ Bilingualität, die unter bilingualen Kindern recht häufig, unter Erwachsenen jedoch eher selten zu finden ist: “a true bilingual is someone who is taken to be one of themselves by the members of two different linguistic communities, at roughly the same social and cultural level” (Thiery 1978:146). Folgt man dieser Definition jedoch bis ins Detail, so gibt es nur sehr wenige „wahre“ Bilinguale oder Ambilinguale, da impliziert wird, dass die betreffende Person ein Doppel­leben führt, in dem alle Tätigkeiten in der einen Sprache genauso auch in der anderen Sprache stattfanden oder stattfinden könnten. Da Sprache jedoch eng an bestimmte Erfahrungen und Tätigkeiten im Leben des Sprechers gebunden ist, ist es unwahrscheinlich, dass eine Person die Gelegenheit hat, die in einer Sprache gemachten Erfahrungen in der gleichen Art für die andere Sprache zu wiederholen (vgl. Baetens Beardsmore 1982:7). Hochkompetente Sprecher von zwei Sprachen, wie zum Beispiel manche professionellen Dolmetscher, scheinen zwar auf den ersten Blick „wahre“ Bilinguale oder Ambilinguale zu sein, da sie keinerlei Interferenzerscheinungen zeigen, jedoch ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die lexikalische Verfügbarkeit auf manchen Gebieten in einer der beiden Sprachen höher. Professionelle Dolmetscher sind zwar in der Regel so ausgebildet, dass sie dieses Problem überwinden können, jedoch fällt auch ihnen oft bei bestimmten Themen das Dolmetschen aus einer ihrer Sprachen leichter als aus der oder den anderen (vgl. Baetens Beardsmore 1982:8).

Sowohl Äquilingualität als auch Ambilingualität sind jedoch idealisierte Konzepte, die wenig Bezug zur bilingualen Realität haben (vgl. Baker/Jones 1998:12). Das Problematische an diesen Konzepten ist, wie eben schon erwähnt, die Tatsache, dass es nahezu unmöglich ist, zwei Sprachen auf allen Gebieten gleich gut zu beherrschen, da Menschen selten im Laufe ihres Lebens alle linguistischen Erfahrungen mehrmals machen können. Die Annahme, dass die meisten Bilingualen so genannte “balanced bilinguals” sind, entsteht zu einem großen Teil nur aus den kompensatorischen Maßnahmen, die viele Bilinguale ergreifen, um Defizite in ihren Sprachen zu verbergen. Auch wenn aufgrund vieler Bilingualer, die beide Sprachen sehr gut beherrschen, der Eindruck entsteht, dass diese die Regel sind, ist “[t]he nonbalanced bilingual […] much more typical of the present world than the balanced one” (Dornic 1978:259). Des Weiteren schließt die wörtliche Auslegung der Begriffe Äquilingualität und Ambilingualität solche Personen mit ein, die beide Sprachen nur sehr schwach beherrschen, also eher als Semilinguale zu bezeichnen sind (Genaueres zur Semilingualität in Kapitel 2.1.3.3). Tatsächlich geht ein Großteil der Fachliteratur zu dieser Thematik jedoch von einer, verglichen mit Monolingualen, altersgerechten Kompetenz in diesen Sprachen aus (vgl. Baker/Jones 1998:12).

Es muss auch angemerkt werden, dass, wie die meisten anderen Arten von Bilingualität, weder Äquilingualität noch Ambilingualität unveränderliche Zustände sind. Verschiedene Faktoren, wie zum Beispiel ein anderer Wohnort oder ein neuer Arbeitgeber, können dazu führen, dass eine der Sprachen dominanter im Leben des Bilingualen wird. (Vgl. Baker/Jones 1998:12)

[...]


[1] Auch hier soll wieder die Bezeichnung „bilingual“ zusammenfassend für das Beherrschen von zwei oder mehr Sprachen gelten.

[2] “Immersion (programs): A type of bilingual education in which a group of learners is taught through the medium of a language different from their mother tongue, the latter being introduced later.” (Hamers/Blanc 1989:267)

[3] Einen umfangreichen Überblick über verschiedene Definitionen und Typologien bietet zum Beispiel Baetens Beardsmore (1982).

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Bilingualität bei Übersetzern und Dolmetschern
Hochschule
Universität Leipzig  (Angewandte Linguistik und Translatologie)
Veranstaltung
Fach Englisch (Übersetzen)
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
66
Katalognummer
V43085
ISBN (eBook)
9783638409643
ISBN (Buch)
9783638706940
Dateigröße
749 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bilingualität, Dolmetschern, Fach, Englisch, bilingual, zweisprachig, Zweisprachigkeit, Übersetzer, Übersetzen, translator, translation, uebersetzen, Uebersetzer, Dolmetscher, Dolmetschen, bilingualism, linguistics, Linguistik, linguistic, interpreter, interpreters, interpreting, translating
Arbeit zitieren
Anja Green (Autor:in), 2004, Bilingualität bei Übersetzern und Dolmetschern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43085

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