George Sand: Un hiver à Majorque. Écriture du voyage au féminin - zwischen Konvention und Subversion


Trabajo, 2001

33 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Reiseliteratur und weibliche Autorschaft
2.1 Forschungslage
2.2 Gattung und Geschlecht: Aspekte einer écriture du voyage au féminin
2.3 Das Spanienbild im 19. Jahrhundert: Frauen und Exotismus

3. George Sand als Reisende und Autorin
3.1 Reisen und Schreiben bei George Sand
3.2 Die Reise nach Mallorca und die Redaktion des Reiseberichts
3.3 Die Rezeption des Reiseberichts in Frankreich und Spanien

4. Un hiver à Majorque
4.1 Die Stilisierung des voyageur
4.2 Fremde Innenwelten
4.3 Fremde Außenwelten : Enthusiasmus und Enttäuschung
4.3.1 Natur und Landschaft
4.3.2 Kultur und Menschen
4.4 Fortschrittsdiskurs

5. Un hiver à Majorque – Konventionen und Subversionen
5.1 Autobiographischer Diskurs und weibliche Subjektivität
5.2 Komposition des Textes

6. Zusammenfassung

7. Literatur

1. Einleitung

Der Reisebericht, den George Sand 1841 unter dem Titel Un hiver à Majorque veröffentlichte, ist heute ein Klassiker der Reiseliteratur. Das Leserinteresse konzentriert sich dabei vielfach auf die Nutzung des Berichts als biographische Informationsquelle – weniger der Mallorcareise, denn der Liebesbeziehung der Autorin zu Chopin. In der vorliegenden Arbeit steht Un hiver à Majorque als literarische Werkstruktur im Mittelpunkt, die im Hinblick auf den Umgang der Autorin mit den literarischen Konventionen des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert analysiert werden soll.

Einleitend werden Forschungsstand und –schwerpunkte der Frauenreiseforschung zusammengefasst (2.1). als Grundlage für die Textanalyse werden zunächst die kulturellen Bedingungen weiblichen Reisens und Schreibens im 19. Jahrhundert und die davon abhängigen Parameter der écriture du voyage au féminin[1] umrissen (2.2). In einem zweiten schritt wird das romantische Spanienbild skizziert, das die Vorstellung der französischen Reisenden und des Lesepublikums prägte, als George Sand nach Mallorca aufbrach (2.3). Um eine erste Einordnung von Autorin und Text vor dem Hintergrund der Tradition literarischer Reiseberichte im 19. Jahrhundert zu ermöglichen, soll das Verhältnis von Reisen und Schreiben bei der Autorin George Sand dargelegt werden (3.1), darüber hinaus die genaueren Umstände der Redaktion und Publikation des Reiseberichts (3.2) sowie die Rezeption des Berichts durch die zeitgenössische Kritik aufgezeigt werden. Das folgende Kapitel ist der Textanalyse gewidmet, wobei die Stilisierung des Reiseberichterstatters den Ausgangspunkt bildet (4.1). Anschließend wird die textliche Gestaltung der kulturellen Fremdwahrnehmung untersucht, ausgehend von der fremden Innenwelt (4.2) zur fremden Außenwelt (4.3), in der die Darstellung Natur und Landschaft (4.3.1) der Darstellung von Kultur und Menschen gegenübergestellt wird (4.3.2). Die Thematisierung von Zivilisation und Fortschritt im Reisebericht durch George Sand rundet die Textanalyse schließlich ab (4.4).

Vor dem Hintergrund der Textanalyse soll abschließend die Praxis der écriture du voyage au féminin durch George Sand genauer bestimmt werden. Hierzu wird zum einen das Spannungsverhältnis von männlichem Erzähler und weiblicher Subjektivität (5.1) und zum anderen das textliche Gesamtarrangement (5.2) beleuchtet.

2. Reiseliteratur und weibliche Autorschaft

2.1 Forschungslage

Nachdem die Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts in den vergangenen Jahrzehnten allmählich aus ihrer Randstellung innerhalb der Literaturwissenschaft herausgelöst wurde, und Reiseberichte als besondere Form autobiographischer Texte Eingang in den literarischen Kanon fanden[2], scheint nun die Reiseliteratur aus der Feder von Frauen eine Randstellung innerhalb der Gattung einzunehmen. Trotz der Ansätze der erneuten Rezeption der Reiseliteratur von Frauen aus dem 19. Jahrhundert, steht in ‚allgemeinen’ Werken zur Reiseliteratur vorwiegend die Analyse der Texte kanonisierter Autoren im Mittelpunkt. Autorinnen werden selten berücksichtigt und darüber hinaus die Problematik weiblicher Autorschaft in gattungstheoretische Überlegungen nicht einbezogen.

In Friedrich Wolfzettels Studie Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert (1986)[3], die die Entwicklung des französischen Reiseberichts seit der Romantik als seine parallel zur Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts verlaufende Geschichte des Sehens und der damit verbundenen ästhetischen Reflexion beschreibt, werden mit Ausnahme von George Sand und Flora Tristan keine weiteren Autorinnen berücksichtigt. Ebenso verhält es sich mit der gattungspoetologischen Untersuchung von Christine Montalbetti Le voyage et le livre: Poétique du récit de voyage d’écrivain au XIXe siècle (1996)[4], in deren Zentrum Regeln und Praxis des Autorenreiseberichts in Abgrenzung zu anderen Formen von Reiseliteratur (Brief, Tagebuch etc.) stehen. Neben neun Autoren, darunter Chateaubriand, Lamartine und Hugo, ist George Sand mit zwei Reiseberichten als einzige Autorin vertreten. Sowohl bei Wolfzettel, als auch bei Montalbetti wird der Aspekt der Geschlechterdifferenz nicht für gattungstheoretische Fragestellungen fruchtbar gemacht.

Erst seit wenigen Jahren wird die Frage nach dem Zusammenhang von Gattung und Geschlecht vermehrt in die literaturwissenschaftliche Erforschung von Reiseliteratur einbezogen, wobei sich zwei Schwerpunkte herausgebildet haben: Einerseits wird Reisen und die anschließende Publikation der Reiseerfahrungen als Ausbrechen aus den vorgegebenen Geschlechterrollen und damit als mehrfache Grenzüberschreitung interpretiert. Das Resultat dieser, die emanzipative Wirkung des Reisens betonende, Interpretationsweise sind Studien, in deren Zentrum vornehmlich Texte von Ausnahmefrauen, Abenteurerinnen und Entdeckerinnen stehen. Gegen die einseitige Interpretation der Reisetexte von Frauen unter dem Leitbegriff der Emanzipation, die andere Formen von Literatur ausblendet und darüber hinaus durch eine alternative Kanonisierung weiblicher Texte das Risiko einer erneuten Abseitsstellung birgt, wird vermehrt eine kulturkritische Revision des Emanzipationsdiskurses eingefordert. Beispielhaft ist hier der Beitrag „Frauenreiseforschung als Kulturkritik“ (1994) von Ulla Siebert[5]: Sie fordert die Dezentralisierung der Kategorie Geschlecht, die immer im Zusammenhang mit weiteren Ungleichheitsideologien, wie Ethnizität, sozialer Position und Nationalität, zur kritischen Analyse weiblicher Reisetexte herangezogen werden müsse. Ein solcher kulturkritischer Ansatz könne folgende neue Perspektiven der Interpretation jenseits des Emanzipationsdiskurses zu Tage fördern:

„Einbruch in fremde Lebenswelten (statt Ausbruch aus dem häuslichen Milieu), unkritische Reproduktion herrschender rassistischer Vorurteile (statt Kritik am herrschenden konventionellen Denken über fremde Kulturen), geistige Unbeweglichkeit und Orthodoxie in der Vorverurteilung von Fremden (statt Aufbruch zu neuen Ufern), Anpassung an Schreibkonventionen und Bedienung der Publikumserwartungen (statt Herausforderung an die Lesegewohnheiten des Publikums und an den jeweiligen Verlag)“.[6]

Jüngere Arbeiten der deutschen und französischen Romanistik integrieren diesen Ansatz in unterschiedlicher Akzentuierung. Einen Einstieg bot bereits Brunhilde Wehingers Beitrag „Reisen und Schreiben. Weibliche Grenzüberschreitungen in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts“ (1986)[7], in dem die Organisationsprinzipien der literarischen Ästhetisierung der Reisetexte von George Sand, Flora Tristan und Suzanne Voilquin vor dem Hintergrund ihrer biographischen und gesellschaftlichen Dispositionen untersucht werden. Einen wichtigen Beitrag in gattungstheoretischer Hinsicht stellt Bénédicte Monicats Studie Itinéraires de l’écriture au féminin. Voyageuses du 19e siècle (1996)[8] dar. Monicat veranschaulicht die komplexen kulturellen und geschlechtsspezifischen Bedingungen weiblichen Reisens im 19. Jahrhundert und verdeutlicht darüber hinaus, dass sowohl das Reisen, als auch die sich daran anschließende Textproduktion, eine Überschreitung ideologischer Grenzen bedeutete. Im aktuellsten Beitrag einer kulturkritischen Frauenreiseforschung untersucht Natascha Ueckmann in Frauen und Orientalismus. Reisetexte französischsprachiger Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts (2001)[9] die Mitwirkung von Frauen an der kolonialen Imagination des Orients durch ihre Reisetexte.

Die Ergebnisse dieser Arbeiten können eine Grundlage bilden für – noch zu schreibende – Standardwerke, die der Reiseliteratur von Frauen den ihr angemessenen Platz einräumt.

2.2 Gattung und Geschlecht: Aspekte einer écriture du voyage au féminin

Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert unterliegt der Reisebericht einem konzeptionellen Wandel, vom ‚objektiven’ Sachbericht hin zur Perspektivierung des Wissens durch das reisende Subjekt. Diesem Paradigmenwechsel, den Friedrich Wolfzettel als „Autobiographisierung“[10] begreift, liegt ein verändertes Verständnis vom Reisen allgemein zugrunde: Nach den Entdeckungsreisen des 15.-18. Jahrhunderts ist die Welt größtenteils entdeckt und beschrieben. So geht es den Reisenden des 19. Jahrhunderts weniger um das Entdecken und Kennenlernen fremder Länder, als um die Wiederentdeckung bereits entdeckter und beschriebener Orte für sich. Die persönliche Motivation der Reise findet ihre Entsprechung in der literarischen Ästhetisierung der Reiseerlebnisse: Nicht mehr das besuchte Land und die Vermittlung von Fakten über Geographie, Landschaft, Wirtschaft und Klima stehen im Mittelpunkt der Berichte, sondern die Perspektive des Schreibenden auf das, was er auf der Reise sieht und an seine Leser weitergibt. Das reisende Subjekt wird in selbem Maße Objekt des Berichts wie das besuchte Land, oder anders ausgedrückt: „Dans le récit de voyage, le mot tend à supplanter la matière“[11]. Für diesen konzeptionellen Wandel der Reise- und Schreibpraxis im 19. Jahrhundert prägte Michel Butor die Formulierung: „je voyage pour écrire“[12].

Für die reisenden und schreibenden Frauen des 19. Jahrhunderts stellt sich dieser konzeptionelle Wandel differenzierter dar, da sich ihre Reise- und Publikationspraxis von der ihrer männlichen Kollegen unterschied. Zwar ist das Reisen und Schreiben für Frauen unter bestimmten Voraussetzungen möglich und üblich – etwa für die Frauen der Aristokratie – für die ‚Frau des Bürgers’ bedeutet es jedoch in zweifacher Hinsicht eine Grenzüberschreitung: Zum einen stellt Reisen – auch in Begleitung des Ehemannes – ein Heraustreten aus dem der Frau zugewiesenen Raum (das Haus, die Familie) dar. Zum anderen stellt die anschließende Publikation der Reiseerlebnisse einen weiteren Ausbruch aus der Geschlechterrolle und das Eindringen in eine männliche Domäne dar. Die Geringschätzung und die moralische Ruchbarkeit, die weiblichem Schreiben und Publizieren anhaftet, kommt in einem Ausspruch Stendhals deutlich zum Ausdruck: „Ein Buch herauszugeben, kann nur für eine Kokotte ohne Nachteil sein“[13]. Berücksichtigt man die Autobiographisierung der Gattung Reisebericht, wird deutlich, dass es für Frauen bei der Publikation ihrer Reisetexte darüber hinaus darum ging, eine neue, für sie ‚unmögliche’ Textform zu erobern: Zum einen sprach man Frauen die für die Autobiographie erforderliche Fähigkeit des Autors ab, sich selbst als Subjekt seiner Geschichte zu reflektieren[14]. Darüber hinaus bedeutete weibliche Selbstrepräsentation, einen Diskurs jenseits der stereotypisierten Rollenzuschreibung von männlicher Seite zu führen. Der autobiographische Diskurs ist für Frauen somit „au coeur de l’interdit attaché à l’écriture féminin“[15].

Zentrales Element der Reiseberichte von Frauen wird daher einerseits das Bemühen um Anpassung, da sich unterschiedliche rhetorische Wege der Negation, Abschwächung oder Abwertung weiblicher Subjektivität in den Reisetexten sucht. Abhängig von der Reisemotivation oder –form und den gesellschaftlich-biographischen Dispositionen der jeweiligen Autorin, führen diese Wege von einer anonymen über eine versteckte Autorschaft unter männlichem Pseudonym oder nicht ausgeschriebenem Vornamen, von einer vom Ehemann autorisierten Co-Autorschaft hin zur Publikation unter eigenem Namen, in der Regel jeweils verknüpft mit einer Rechtfertigungsrhetorik, die sich in den Berichten ausführlich mit der Frage – warum reisen? warum darüber schreiben? - auseinandersetzt[16]. In ihrem Bestreben, sich der männlichen Norm anzupassen, sehen sich die Autorinnen andererseits mit dem Problem konfrontiert, dass alle Reisen bereits gemacht waren und die Literatur dazu schon geschrieben war. Um ihre ‚ungewöhnliche’ Unternehmung zu rechtfertigen und darüber hinaus das Lesepublikum für ihre Berichte zu interessieren, besteht für sie die Notwendigkeit, das singuläre der eigenen Berichte zu unterstreichen. Die Autorinnen befinden sich also in der paradoxen Situation, sich einerseits in die literarische Tradition der Reiseberichte einordnen zu müssen und dabei gleichzeitig ihre Originalität in diesem Bereich zur Geltung zu bringen oder wie Bénédicte Monicat es umschreibt: „se rapprocher du centre pour être assimilées au Même et produire un texte de référence, et s’en écarter dans un même temps pour se maintenir Autre.“[17]

Im Balanceakt zwischen den Polen von Anpassung an die Konvention und Individualität machen schreibende Frauen einen spezifisch weiblichen Erfahrungshintergrund fruchtbar, den Bénédicte Monicat als den Kern der écriture du voyage au féminin betrachtet und mit dem Eindringen des ‚anderen’ Geschlechts in eine literarische Gattung, die sich zur Entdeckung des Anderen aufmacht, umschreibt:

„C’est l’Autre qui regarde l’Autre. C’est aussi l’Autre qui se voit dans l’Autre, qui s’identifie à l’Autre. C’est encore l’Autre qui rejette sa propre image, c’est le miroir brisé, c’est l’être opprimé qui opprime en retour. C’est la prise de pouvoir de celle qui en a souvent peu sur les êtres que la ‚civilisation’ engouffre dans sa conquête du monde. Mais c’est aussi l’affirmation du soi à l’extérieur du stéréotype, c’est l’émergence d’un sujet féminin autre. “[18]

Die Einbindung in einen komplexen Kontext zwischen Ohnmacht in der eigenen und Macht in der fremden Gesellschaft, lässt die reisende und schreibende Frau die fremde Welt auf andere Weise wahrnehmen und mündet, so Monicat, zwangsläufig in einem qualitativ anderen Diskurs über das kulturelle Andere, der sich in den Texten in einer anderen Schwerpunktsetzung niederschlägt: Während die reisenden Frauen ihren männlichen Kollegen häufig das Feld der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Ausbeutung der fremden Länder überlassen, richtet sich ihr Blick in der fremden Welt vornehmlich, aber nicht ausschließlich, auf Bereiche des weiblichen Lebenszusammenhangs, die zumeist ihren Betätigungsfeldern zu Hause entsprechen, wie Haushalt, Erziehung und weibliche Lebensräume (Interieurs) allgemein. So spielen in den Berichten auch fremde Orte und Innenräume, die ihnen nicht ohne weiteres und ihren männlichen Kollegen gar nicht zugänglich sind – wie etwa Frauenklöster oder im Fall von Orientreisen Harems und Frauenbäder – eine besondere Rolle. Das Gesehene reflektieren und beurteilen sie auf der Grundlage der eigenen weiblichen Sozialisation, die die Erfahrung der Ungleichheit der Geschlechter beinhaltet. Auf diese Weise kreieren Frauen zwangsläufig individuelle Texte, auch wenn sie im Bemühen um Anpassung unterschiedliche Strategien wählen, den Diskurs der Geschlechterdifferenz in ihren Texten zu umgehen.

Vor dem Hintergrund der Charakteristika der weiblichen Reiseberichtspraxis im 19. Jahrhundert soll im folgenden auf die in französischen (Reise)Texten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts typisierte Vorstellung von Spanien eingegangen werden, die auch die Vorstellung der Autorin George Sand als aufmerksame Leserin der vorgängigen Reiseliteratur prägte, als sie nach Spanien aufbrach.

2.3 Das Spanienbild im 19. Jahrhundert: Frauen und Exotismus

Eingebettet in einen ästhetischen und sozialhistorischen Kontext, in dem zum einen die klassische Ästhetik des Allgemeinen von der romantischen Ästhetik des Besonderen abgelöst wird und zum anderen Gesellschaft und Umwelt durch das Aufstreben des Bürgertums, die fortschreitende Industrialisierung und die koloniale Expansion gekennzeichnet sind, bildet sich der Exotismus als konstitutives Element der Reiseberichte im 19. Jahrhunderts heraus: Der Duktus des Reisens und die Art zu sehen sind in der Romantik geprägt von der unstillbaren Suche nach dem Anderen und Fremdartigen, das noch nicht von Vernunft, Ordnung und Fortschritt vereinnahmt ist, sondern Unregelmäßiges, Bizarres und wunderbares birgt. Die geheime Anziehung zum Anderen findet in den Reiseberichten ihren Ausdruck in der Idealisierung vergangener Epochen und vor allem in der Verklärung der unberührten Natur, die nicht dem Regelhaften der klassischen Ästhetik unterworfen ist und eine Fluchtmöglichkeit vor den Auswirkungen der gesellschaftlichen Transformationsprozesse im eigenen Land bietet. Das Fremdheitserlebnis beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf die Natur: Im Gegensatz zum Reisebericht der Aufklärung, der in einer Reisekultur der gesellschaftlichen Nähe verankert ist, die durch das System von Empfehlungsschreiben und gesellschaftlicher Protektion eine Atmosphäre der Geborgenheit in der Fremde herzustellen versucht, werden im romantischen Reisebericht auch Momente gesellschaftlicher Begegnung in den Bereich des Fremden gerückt und Gegenstand der Interpretation. Das entfremdete Sehen umfasst also sowohl Landschaft und Natur, als auch Menschen und Sitten, der Reisende vollzieht gleichermaßen ein „dépaysement dans la nature“[19] und ein „dépaysement dans l’humain“[20].

Bilden vor allem die Länder des Orients, des Nahen und Fernen Ostens, die Projektionsfläche exotistischer Sehnsüchte, muss die Einordnung Spaniens durch die Franzosen als exotisch – in direkter geographischer Nachbarschaft gelegen und über Jahrhunderte mit Frankreich durch kulturelle und politische Beziehungen verbunden – paradox erscheinen. Dennoch konstituiert Spanien „dans l’esprit d’un Français au XIXe siècle, … bel et bien un pays exotique“[21]. Die von Spanien ausgehende Faszination, wie sie sich in französischen Reiseberichten der Romantik widerspiegelt, speist sich aus den Kontrasten, die die Landschaften Spaniens, sowie Sitten und Charakter der dort lebenden Menschen prägen. So ist die Natur des nördlichen Kastiliens charakterisiert durch eine karge, raue Berglandschaft, die Landschaft Andalusiens im Süden dagegen durch fruchtbare Ebenen und eine vielfältige, unbekannte Vegetation. Beide Regionen üben auf die französischen Reiseberichterstatter einen exotischen Reiz aus, weil sie noch keine Spuren der industriellen Revolution tragen und wenig bevölkert sind. Ebenso ist das Brauchtum des westlichen Nachbarn in der Vorstellung der Franzosen vom Kontrast geprägt, zwischen der Grausamkeit einerseits, für die die Inquisition und der Stierkampf als Beleg herhalten und der Sinnlichkeit andererseits, welche durch die spanische Frau, ihren Tanz und ihre Musik verkörpert wird. ‚Den’ Charakter der Spanier macht, so die gängige Ansicht, unabhängig von seiner sozialen Stellung, vor allem Individualität, stolz und persönliche Würde aus. Insgesamt wird Spanien als Grenzland – zwischen Zivilisation und Wildnis, Europa und Afrika, Rationalität und Instinkt – stilisiert und dadurch zur „prolongation du mystérieux Orient“[22], der für die Franzosen im 19. Jahrhundert das Andere schlechthin repräsentiert[23]. Die französischen Schriftsteller der Romantik propagieren ein Spanienbild, das für die Franzosen die Dimension eines „rêve espagnol“[24] annimmt, der sich fern einer realistischen Abbildung zu einem „tissu d’erreurs et de contresens“[25] verdichtet.

Das exotistische Spanienbild im 19. Jahrhundert ist nicht nur realitätsfern und widersprüchlich, sondern auch Ausdruck eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Reisendem und Bereistem, das Daniel Henri Pageaux in seinem Beitrag zu Inhalt und Funktionsweise des exotisme ibérique[26] näher beleuchtet. Pageaux Modell soll an dieser Stelle in kurzen Zügen skizziert werden, da sich hier ein Anknüpfungspunkt bietet, um differenzierter nach der Position schreibender Frauen im Diskurs über Spanien zu fragen. Pageaux begreift den exotisme ibérique als eine auf Exteriorität und Stereotypisierung beruhende Form der Wahrnehmung der als fremd empfundenen spanischen Kultur, in der das Nachbarland nach eigenen Vorstellungen konstruiert wird[27]. Die Wahrnehmung und Aneignung der spanischen Kultur vollziehe sich in einem dreistufigen Mechanismus: Der Zugang zur fremden Wirklichkeit erfolge über die Feminisierung der anderen Kultur, im Fall Spaniens durch die sinnliche Begegnung mit einer schönen Frau, einer Tänzerin oder Sängerin.[28]. Darüber hinaus werde, statt eine globale Vision des Anderen zu erarbeiten, das Andere kulturell fragmentiert, indem willkürlich einzelne Aspekte – die Musik, die Kleidung, die Landschaft – zuungunsten anderer hervorgehoben und als pittoresk definiert werden. Schließlich werde das fremde Land durch die Theatralisierung mithilfe der fragmentierten Attribute auf einer irrealisierenden Bühne inszeniert, das fremde Land als malerische Kulisse instrumentalisiert. Die drei Operationen zielten in eine gemeinsame Richtung: das andere zu unterwerfen (Feminisierung), es besser zu beherrschen (Fragmentierung), es leichter zu konsumieren (Theatralisierung)[29].

[...]


[1] Bénédicte Monicat: Itinéraires de l’écriture au féminin. Voyageuses du 19e siècle, Rodopi Amsterdam – Atlanta 1996, S. 4.

[2] Friedrich Wolfzettel: Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert, Tübingen 1986, S.1 ff.

[3] Wolfzettel: a.a.O.

[4] Christine Montalbetti: Le voyage et le livre: Poétique du récit de voyage d’écrivain au XIXe siècle, Thèse de Doctorat sous la Direction de Béatrice Didier, Paris 1996.

[5] Ulla Siebert: „Frauenreiseforschung als Kulturkritik“, in: Doris Jedamski, Hiltgund Jehle, Ulla Siebert (Hgg.): „Und täte das Reisen wählen!“ Frauenreisen – Reisefrauen, Dokumentation des interdisziplinären Symposiums zur Frauenreiseforschung, Bremen 21.-24. Juni 1993, Zürich – Dortmund 1994, S. 148-173.

[6] Ulla Siebert, a.a.O., S. 157.

[7] Brunhilde Wehinger: „Reisen und Schreiben. Weibliche Grenzüberschreitungen in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts“, in: RZLG Heidelberg 1986, S. 360 – 380.

[8] Bénédicte Monicat: a.a.O.

[9] Natascha Ueckmann: Frauen und Orientalismus: Reisetexte französischsprachiger Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart – Weimar (Ergebnisse der Frauenforschung, Bd. 56), 2001.

[10] Wolfzettel, a.a.O., S. 1.

[11] Bénédicte Monicat: a.a.O., S. 1.

[12] Michel Butor: „Le voyage et l’écriture, in : Romantisme 4 (1972), S. 4 – 21, S. 4.

[13] Stendhal, zitiert nach Gisela Schlientz: „George Sand: Eros und weibliche Maskerade. Rollentausch und weibliche Autorschaft“ in: Gislinde Seybert / Gisela Schlientz (Hgg.): George Sand – jenseits des Identischen – au-delà de l’identique, Bielefeld 2000, S. 43-63.

[14] Natascha Ueckmann, a.a.O., S. 49 f.

[15] Bénédicte Monicat: a.a.O., S. 114.

[16] Natascha Ueckmann, a.a.O., S. 63.

[17] Bénédicte Monicat: a.a.O., S. 78.

[18] Bénédicte Monicat: a.a.O., S. 5.

[19] Léon-françois Hoffmann: Romantique Espagne. L’image de l’Espagne en France entre 1800 et 1850, Princeton, Paris 1961, S. 80.

[20] Ebenda. Vgl. Wolfzettel: a.a.O., S. 18.

[21] Léon-François Hoffmann, a.a.O., S. 77.

[22] Léon-François Hoffmann, a.a.O., S. 82.

[23] Natascha Ueckmann, a.a.O., S. 68.

[24] Léon-François Hoffmann, a.a.O., S. 70.

[25] Léon-François Hoffmann, a.a.O., S. 136.

[26] Daniel-Henri Pageaux: „Un aspect des relations culturelles entre la France et la péninsule ibérique : réflexions sur l’exotisme ibérique“ in : France – Europe, Annuaire d’études européennes hrsg. Von J.Th. Leerssen und M. van Montfrans, Amsterdam, Atlanta 2 1989, S. 1 – 14.

[27] Diese Wahrnehmungsweise betrachtet Pageaux als eine Konstante französisch-spanischer Kulturbeziehungen über die Romantik hinaus seit der frühen Neuzeit, die in Abhängigkeit der gesellschaftlich-politischen und ästhetischen Entwicklungen die Tendenz einer ablehnenden, negativen (hispanophobie) oder positiven Projektion (hispanomanie) annehmen könne. So sei beispielsweise die Aufklärung in Frankreich eine Periode der hispanophobie gewesen, in der das Spanien der Aristokratie und der Inquisition gegenüber dem aufgeklärten, fortschrittlichen Frankreich im negativen Sinne als rückständig interpretiert wurde. Im Gegensatz dazu deutet Pageaux die Romantik als Phase begeisterter Spanienverklärung bzw. hispanomanie, in der die Attribute Aristokratie und Tradition positiv interpretiert werden, weil sie einen Mangel in der eigenen Kultur kompensieren. Beide Sichtweisen seien Ausdruck klischeehafter Wahrnehmung und fehlender Bereitschaft zu interkulturellem Lernen, d.h. der Reflexion und Relativierung des Eigenen in der Begegnung mit dem Anderen.

[28] Wolfzettel nennt dies das erotische Begegnungsmotiv, das dem Reisenden die ‚Aufnahme’ in die fremde Gesellschaft erleichtert, wobei diese Bezeichnung die in diesem Schritt implizierten Machtverhältnisse zwischen Mann (Reisender) und Frau (Bereiste) verschleiert. Vgl. Wolfzettel, a.a.O., S. 41 ff.

[29] Daniel-Henri Pageaux, a.a.O., S. 9 f.

Final del extracto de 33 páginas

Detalles

Título
George Sand: Un hiver à Majorque. Écriture du voyage au féminin - zwischen Konvention und Subversion
Universidad
Free University of Berlin
Curso
HS 17 054 Écrire le voyage (Literaturwissenschaft)
Calificación
1,0
Autor
Año
2001
Páginas
33
No. de catálogo
V43489
ISBN (Ebook)
9783638412650
Tamaño de fichero
782 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
George, Sand, Majorque, Konvention, Subversion
Citar trabajo
Jessica Holldack (Autor), 2001, George Sand: Un hiver à Majorque. Écriture du voyage au féminin - zwischen Konvention und Subversion, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43489

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