Die digitale Regierungsagenda in Estland

Eine Analyse anhand des Multiple-Stream Ansatzes nach John W. Kingdon


Seminararbeit, 2018

22 Seiten, Note: 1,7

Georg Mastorikou (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Multiple-Stream Ansatz nach John W. Kingdon
2.1 Darstellung des Multiple-Stream Ansatzes
2.1.1 Die Grundannahmen
2.1.2 Entscheidungssituationen in den drei Strömen
2.1.3 Öffnung eines Policy-Fenster und möglicher Agendawandel
2.2 Kritische Auseinandersetzung mit dem Multiple-Streams Ansatz
2.2.1 Zur Unabhängigkeit der Ströme
2.2.2 Falsifizierbarkeit des Ansatzes

3. Anwendung des Multiple-Stream Ansatzes auf das Fallbeispiel Estland
3.1 Die drei Ströme in Estland
3.1.1 Der Problem-Strom am Anwendungsbeispiel Estland
3.1.2 Der Politics-Strom am Anwendungsbeispiel Estland
3.1.3 Der Policy-Strom am Anwendungsbeispiel Estland
3.2 Verknüpfung der Ströme und Entstehung eines Policy-Fenster zur Implementierung der Digitalisierungspolitik im Fallbeispiel Estland

4. Der Fall Estland - Ansatzproblem oder empirische Wirklichkeit: Eine Debatte der Ergebnisse der Anwendung des MSA auf das Fallbeispiel

5. Schlussfolgerung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Vergleich mit Estland liegt Deutschland weit zurück. Genauer gesagt 19 Plätze im Vergleich der Europäischen Union in Sachen digitaler Verwaltung. Auf dem ersten Rang in diesem Vergleich liegt der baltische Staat Estland. Bereits seit den 1990er Jahren wurde dort auf das langfristige Ziel einer digitalisierten Verwaltung hingearbeitet. So ist es heute etwa möglich in Estland elektronisch seine Stimme abzugeben, einen Personalausweis zu beantragen und vieles mehr (Hofmeier & Schwietering, 2017).

Diese Arbeit soll sich aus politikwissenschaftlicher Sicht mit der Frage befassen, warum es in Estland zu der Entscheidung kam die öffentliche Verwaltung zu reformieren und zu digitalisieren. Die Forschungsfrage lautet dementsprechend: Inwiefern kann der Multiple-Stream Ansatz nach John W. Kingdon die Digitalisierung der estnischen Verwaltung und Gesellschaft erklären?

Der Multiple-Streams Ansatz (MSA) ist ein häufig zitierter, wenngleich selten in seiner Gesamtheit angewandter Ansatz. Oft werden nur einzelne Konzepte des Ansatzes verwendet (z.B. (Godwin & Schroedel, 2000; Tallberg, 2003; Guiraudon, 2000; Howlett, 1998; Allen & Zahariadis, 1995). Der Ansatz wurde auch als Ganzes angewandt (z.B. (Zahariadis, 1996; Ackrill & Kay, 2011)). Die untersuchten Politikfelder fassen praktisch die gesamte Bandbreite ab. Die Themen reichen von der Bildungspolitik (z.B. (McLendon, 2003)), Gesundheitspolitik (z.B. (Blankenau, 2001)) bis hin zur Verteidigungspolitik (z.B. (Travis & Zahariadis, 2002)). Die hier untersuchte Thematik der Digitalisierungspolitik in Estland ist in dieser Form noch nicht anhand des MSA erforscht worden. Die empirische Arbeit fußt unter anderem auf Große Starmann (2017), Ernsdorff & Berbec (2007), Kitsing (2011) (2010) und anderen. Die Auswahl an deutsch- und englischsprachigen Texten, die sich mit dem Ablauf des Reformprozesses beschäftigen, ist eher gering. Das Interesse an dem Thema dürfte zukünftig steigen.

Methodisch wurde folgendermaßen vorgegangen: der Zeitraum wird auf den Bereich seit der Unabhängigkeit 1991 bis zum Anfang der 2000er Jahre begrenzt, da die entscheidenden Schritte Richtung e-Government in dieser Zeit bereits durchgeführt wurden. Es wurde eine Sekundäranalyse nach dem Schneeballverfahren betrieben. Die nötigen Informationen für die Beantwortung der Forschungsfrage wurde durch eine Stichwortsuche bei den gängigen Anbietern erforscht.

Die Arbeit setzt sich aus fünf Teilen zusammen. Nach dieser Einleitung (1.) wird im zweiten Teil der Arbeit (2.) die verwendete Theorie besprochen. Zunächst wird in 2.1 der MSA dargestellt. Diese Darstellung teilt sich auf in die Grundannahmen (2.1.1), welche für den Ansatz nötig sind, die Aufteilung politischer Entscheidungssituationen in drei Ströme (2.1.2) und in 2.1.3 die Frage, wann es zu einem Agenda-Wandel kommt. Anschließend wird in 2.2 die (hier relevante) Kritik an Kingdons Ansatz dargestellt. Aufgeteilt ist der Abschnitt der Kritik in zwei Teile: Unabhängigkeit der drei Ströme (2.2.1) und fehlende Falsifizierbarkeit des Ansatzes (2.2.2).

Im dritten Teil der Arbeit erfolgt die Anwendung des MSA auf das Fallbeispiel Estland. In 3.1 werden zunächst die einzelnen Ströme beleuchtet (3.1.1, 3.1.2 und 3.1.3). Anschließend wird in 3.2 die Möglichkeit eines Policy-Fenster und des Policy-Entrepreneurs in Estland besprochen. Im vierten Teil (4.) dieser Arbeit werden die Erkenntnisse aus dem empirischen Fallbeispiel im Hinblick auf die Forschungsfrage und die grundlegende Theorie erörtert. Die Resultate der Arbeit werden im fünften Teil (5.) zusammengefasst.

2. Der Multiple-Stream Ansatz nach John W. Kingdon

Zur Bearbeitung der Forschungsfrage wird in dieser Arbeit - aus Gründen der Stringenz - der MSA nach John W. Kingdon (2014) verwendet. Andere Autoren (etwa Nikolaos Zahariadis (2003) und Nicole Herweg (2013)) haben den MSA weiterentwickelt und für verschiedene politische Systeme angepasst. Diese sollen deshalb nicht außer Acht gelassen werden. Die Forschungsfrage befasst sich allerdings mit dem MSA in seiner „Grundidee“ nach Kingdon.

2.1 Darstellung des Multiple-Stream Ansatzes

Zur sinnvollen Arbeit mit der Theorie ist es unabdingbar diese zunächst darzustellen. Die hier verwendeten Grundannahmen nach Zahariadis entsprechen den wichtigsten Elementen. Seine Grundannahmen bieten einen guten Rahmen innerhalb dessen sich die Theorie bewegt. Bei anderen Autoren finden sich teilweise ausführlichere und weitreichendere Überlegungen zu den Grundlagen. Diese würde allerdings an dieser Stelle zu weit führen und nicht wesentlich zur Beantwortung der Forschungsfrage beitragen.

2.1.1 Die Grundannahmen

Der Multiple-Stream Ansatz basiert auf dem Gedanken, dass Organisationen „organisierte Anarchien“ im Sinne des „garbage can model of choice“ nach Cohen/March/Olsen aus dem Jahr 1972 sind (Kingdon, 2014, S. 84-86). Außerdem gibt es drei weitere Grundannahmen: Erstens, dass Organisationen ihre Aufmerksamkeit (im Gegensatz zu Menschen) aufteilen können; zweitens, dass Entscheidungsträger unter Zeitdruck Entscheidungen fällen müssen; drittens, dass die drei durch das System fließenden Ströme unabhängig voneinander sind (Zahariadis, 2003, S. 5-7).

Zunächst eine kurze Erläuterung zu der wichtigsten Grundlage: Organisierte Anarchie - also Organisationen wie Universitäten, Verwaltungen oder Regierungen - besteht aus folgenden Elementen: problematische Präferenzen, unklare Technologien und einem wechselnden Teilnehmerkreis (Zahariadis, 2007, S. 67). Unter dem Begriff „Problematische Präferenzen“ versteht man eine durch die Akteure mehrdeutig interpretierbare Entscheidungssituation. Den Akteuren ist das Problem nicht klar ersichtlich und damit ist seine Lösung nicht einfach gegeben. Auch ein mehr an Informationen vermag diesen Zustand nicht zu lösen. Die Vieldeutigkeit der Situation bliebe weiterhin bestehen. (Zahariadis, 2003, S. 3f) Muss beispielsweise darüber entschieden werden, ob die Währung unterschiedlicher Länder zusammengefasst wird ohne eindeutige Informationen über die positiven oder negativen Folgen, handelt es sich um eine solche „ambigue“ Entscheidungssituation (Wu, Zhang, & Gonzalez, 2004). Politische Positionen/Ziele sind also nicht vorher festgelegt, sondern variabel und veränderbar. Allerdings: „[D]urch Manipulation und Framing [lassen sich] unklare Präferenzen in eindeutige Handlungsmotive transformieren.“ (Rüb, 2014, S. 385) Im Gegensatz zu dem in den Wirtschaftswissenschaften gängigen Modell liegen hier also unvollständige und intransitive Präferenzen vor. Vollständige, transitive Präferenzen bilden sich erst aus der Interaktion einzelner Akteure heraus (Herweg, 2013, S. 325).

Unklare Technologien bezieht sich sowohl auf die „eingesetzte Technik […], [als] auch die Organisation von Arbeitsprozessen“ (Miebach, 2012, S. 96). Diese werden als unklar verstanden, wenn die Akteure sich zwar ihrer eigenen Verantwortlichkeit bewusst sind, aber nicht ihre Position innerhalb des Beziehungskomplexes der Organisation kennen.

Der wechselnde Teilnehmerkreis bedeutet schließlich, dass die Teilnehmer nicht bei jeder Fragestellung identisch sind. Die Teilnehmer unterscheiden sie sich abhängig von der Entscheidungssituation, weil sie unterschiedlich stark in den unterschiedlichen Themen, mit denen sich die Organisation beschäftigt, bewandert sind. Rüb (2014, S. 377) spricht in diesem Zusammenhang von „fluktuierenden Teilnehmern und variierender Intensität der Teilnahme am Entscheidungsprozess.“

Laut Kingdon treffen die eben genannten Charakteristika auf politische, in Entscheidungsprozesse eingebundene Organisationen zu (Parteien, Regierung, Verwaltung, Universitäten etc.). Kingdon legt den Fokus auf das „organisiert“, denn Entscheidungssituationen sind trotz aller „Anarchie“ an Prozesse gebunden. Der Prozess kann also nicht frei fließen, sondern ist bestimmten Mustern und Strukturen unterworfen „in the same sense that a river is fluid, but its banks usually restrict its movement. The process cannot flow just anywhere.“ (Kingdon, 2014, S. 223).

Die nächste Grundannahme besagt, dass Individuen ihre Aufmerksamkeit nur einzelnen Sachverhalten widmen können, eine Organisation sich aber mehreren Sachverhalten gleichzeitig widmen kann. Während beispielsweise der Außenminister eines Landes in Asien weilt, verhandeln seine Beamten in Brüssel, Washington etc. Außerdem handeln die Individuen nach den oben beschriebenen mehrdeutigen Präferenzen. Eine Organisation kann im Gegensatz dazu ein rationales Ziel verfolgen. Der Multiple-Streams Ansatz versucht also von dem der Makro- auf die Mikroebene zu schließen quasi in einem Versuch „to uncover rationality“ (Zahariadis, 2003, S. 6).

Die dritte Annahme lautet, dass politische Entscheidungsträger unter beträchtlichem Zeitdruck agieren. Dadurch sind die realistisch durchführbaren Alternativen eingeschränkt (2003, S. 6). Organisationen müssen unter Zeitdruck „Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen in eindeutige Sachverhalte“ transformieren (Rüb, 2014, S. 376). Dies führt im Zweifel dazu, dass Entscheidungen einen suboptimalen Charakter besitzen und trotzdem die – in Anbetracht der Umstände - bestmögliche Alternative darstellen.

Die vierte Annahme lautet, dass die drei Ströme voneinander unabhängig sind. Die drei Ströme meint hier: der Problem-, Policy- und Politics-Strom (siehe 2.1.2). Unabhängig meint, dass etwa Lösungen zu Problemen andauernd produziert werden. Das politische Klima sich unabhängig davon verändert, ob die Policy-Community darauf vorbereitet ist etc (Kingdon, 2014, S. 6) (Zahariadis, 2003, S. 6). An diese Annahmen setzt auch die Kritik an der Theorie an und bezweifelt diese teilweise (siehe 2.2.).

2.1.2 Entscheidungssituationen in den drei Strömen

Entscheidungssituationen sind im MSA wie oben angedeutet durch drei voneinander unabhängige Ströme charakterisiert: den Problem-, Politics- und Policy-Strom. In der Folge sollen diese dargestellt werden.

Der Problem-Strom enthält Sachverhalte, die als Probleme ausgemacht werden, welche veränderlich sind (real und politisch) und die einer „verbindliche[n] Entscheidung durch Politik“ (Rüb, 2014, S. 379) bedürfen. Kingdon definiert Probleme als „mismatch between the observed conditions and one’s conception of an ideal state“ (2014, S. 110). Diese Definition setzt demnach zwei Bedingungen für ein Problem: Die Beobachtung des Ist-Zustands und der Formulierung eines (möglichen) Idealzustands. Bei Kingdon führen drei Mechanismen zur Wahrnehmung eines Problems im Ist-Zustand: Indikatoren, Katastrophen und Feedback. Der Idealzustand wird entweder an der Leistung anderer im Vergleich zur eigenen oder aufgrund eines neu aufgestellten Kriteriums bestimmt. Bei der Evaluation von Ist- und Soll-Zustand liegt also ein gewisser Interpretationsspielraum vor. (Kingdon, 2014, S. 109-114)

Auch eine Rolle im Problem-Strom spielen die sogenannten Policy-Entrepreneure. Laut Kingdon, sind diese definiert als „advocates who are willing to invest their resources – time, energy, reputation, money – to promote a position in return for anticipated future gain in the form of material, purposive, or solidary benefits“ (2014, S. 179). Die Policy-Entrepreneure versuchen nun die Aufmerksamkeit auf bestimmte Probleme zu lenken und ebenfalls durch eine Neudefinition des Idealzustandes eine Situation im Ist-Zustand zu problematisieren. Mittels beispielsweise einer Rede kann auf das Problem aufmerksam gemacht werden oder ein Kriterium in einem neuen Licht aufgezeigt werden. Von Zahariadis (2007, S. 77), wird in diesem Zusammenhang auf Strategien wie z.B. die Strategie des Framing hingewiesen.

Der Politics-Strom ist aus drei Teilen zusammengesetzt: die öffentliche Meinung („national mood“), Interessengruppen und Kräfte aus dem politisch-administrativem System (Regierung, Verwaltung etc.). Entscheidend ist die Aktualität bestimmter Themen. Die drei eben genannten Teile nehmen Einfluss auf die Wahrnehmung der Themen und deren Aktualität. Die öffentliche Meinung und Kräfte aus dem politisch-administrativem System nehmen dabei eine initiative Stellung ein. Interessengruppen schalten sich laut Kingdon eher bei bereits auf der Agenda stehenden Themen in den Diskurs und die konkrete Ausgestaltung einer Policy ein (Kingdon, 2014, S. 146-153).

Öffentliche Meinung definiert Kingdon als „the notion that a rather large number of people out in the country are thinking along certain common lines“ (2014, S. 146). Die öffentliche Meinung wird nicht anhand von Umfragen gemessen, sondern hat mit der Wahrnehmung gewählter Entscheidungsträger zu tun. Diese spüren durch „such communications as mail, town meetings, smaller gatherings, and delegations of people or even individuals coming to them during office hours“ (Kingdon, 2014, S. 149) wo die öffentliche Meinung steht. Rüb verwendet für den „national mood“ den treffenden Begriff Zeitgeist (Rüb, 2014, S. 382).

Der Policy-Strom schließlich besteht aus verschiedenen Policy-Alternativen, die in Policy Communities ausgearbeitet wurden. Policy Communities setzen sich aus Spezialisten auf einem politischen Gebiet zusammen, die ein gemeinsames Interesse an einem Sachverhalt eint und die miteinander in Kontakt stehen. Aufgrund der Interaktion kommt es zum sogenannten Softening Up, d.h. der Prozess der Änderung und Neuaufstellung von Ideen um die restlichen Mitglieder der Policy Community argumentativ zu überzeugen. Kingdon vergleicht diesen Prozess mit dem Ausleseprozess der Evolution. Er verwendet die Bezeichnung „policy primeval soup“ (Kingdon, 2014, S. 116) im Zusammenhang mit dem Policy-Strom. Dabei setzen sich nur die Ideen aus dieser „Ursuppe“ durch, die folgende Kriterien erfüllen: antizipierte Zustimmung, Finanzierbarkeit, normative Akzeptanz, technische Machbarkeit und Empfänglichkeit der gewählten Entscheidungsträger. Es sind also sowohl eine reale Implementierbarkeit, als auch eine erwartete Unterstützung für die Alternative nötig (Kingdon, 2014, S. 131-143).

2.1.3 Öffnung eines Policy-Fenster und möglicher Agendawandel

Für einen Agenda-Wandel müssen laut Kingdons Ansatz folgende Bedingungen gegeben sein: die Reife der drei oben genannten Ströme, die generelle Existenz eines Policy-Fensterns und die Aktivität eines Policy-Entrepreneurs. Was bedeuten diese drei Voraussetzungen im Einzelnen?

Der Problem-, Politics- und Policy-Strom müssen reif sein. Für einen reifen Problem-Strom muss ein Problem definiert und als solches erkannt werden. Der Politics-Strom ist reif, wenn ein Agenda-Wandel im Bereich des politisch Möglichen liegt. Dies ist der Fall, wenn die politischen Kräfte im Politics-Strom so beschaffen sind, dass die Entscheidungsträger diese bündeln können und “arrive at a balance, or a notion of the preponderance of pressure“ (Kingdon, 2014, S. 163). Der Policy-Strom ist reif, wenn die Policy Community mindestens eine akzeptierte Policy-Alternative vorlegt.

Die zweite Bedingung ist ein offenes Policy-Fenster. Dieses definiert Kingdon, als eine „opportunity for advocates of proposals to push their pet solutions, or to push attention to their special problems“ (Kingdon, 2014, S. 165). Ein Policy-Fenster kann sich auf unterschiedliche Art und Weise ergeben. Beispielsweise, weil eine neue Erkenntnis oder eine neue Problemdefinition zum Handeln anleitet. Oder etwa, weil eine neue Regierung an die Macht gelangt und neue Gesetze in Aussicht gestellt hat. Dabei unterscheidet Kingdon zusätzlich noch zwischen vorhersehbaren und unvorhersehbaren Policy-Fenstern (Kingdon, 2014, S. 186-190). So sind beispielsweise Veränderungen nach Wahlterminen ein vorhersehbares Policy-Fenster. Eine Naturkatastrophe andererseits ist in der Regel nicht ex-ante erkennbar und bietet somit die Möglichkeit eines unvorhersehbaren Policy-Fensters. In jedem Fall führt ein offenes Policy-Fenster dazu, dass der entsprechende Sachverhalt auf die Regierungsagenda gelangt. Diese definiert Kingdon als „list of subjects or problems to which governmental officials, and people outside of government closely associated with those officials, are paying some serious attention at any given time“ (Kingdon, 2014, S. 3).

Die Aufgabe eines Policy-Entrepreneurs liegt darin, einen Sachverhalt auf die Ebene der Regierungsagenda zu heben. Diese Regierungsagenda enthält Sachverhalte, die reif sind für eine Entscheidung. Um dies zu erreichen, müssen die Problem-, Politics-, und Policy-Ströme vom Policy-Entrepreneur verknüpft werden. Die Verbindung stellt der Policy-Entrepreneur abhängig davon her, ob es sich um ein Problem- oder ein Politics-Fenster handelt. Bei ersterem wird der Policy-Entrepreneur versuchen, die eigene Lösung als die ideale Lösung bei den politischen Entscheidungsträgern vorzustellen. Bei einem Politics-Fenster dagegen, versucht der Policy-Entrepreneur das günstige politische Klima zu seinen Gunsten zu nutzen um seine Lösungsvorschläge unterzubringen (Kingdon, 2014, S. 173-179).

Das Fenster bleibt in jedem Fall nur kurzzeitig offen und schließt sich aus verschiedenen Gründen wieder. Ein Problem kann beispielsweise gelöst worden sein, bevor es die politischen Entscheidungsträger auf die Agenda nehmen. Außerdem kann es sein, dass es nicht möglich ist eine Policy durchzusetzen oder dass es keine sinnvolle Alternative gibt, in der Zeit in der das Fenster offen ist (Kingdon, 2014, S. 169f).

Es gibt laut Kingdon Faktoren, welche einen Agenda-Wandel begünstigen können. Policy-Entrepreneure haben eine höhere Chance ihr Anliegen durchzusetzen, wenn sie politisch gut vernetzt sind, den Anspruch haben, von den Entscheidungsträgern gehört zu werden, beharrlich auftreten und über Verhandlungsgeschick verfügen. Dies trifft vor allem auf Experten in ihrem Gebiet oder Vertreter einer Interessensgruppe zu (Kingdon, 2014, S. 180f).

Der Integrationsgrad von Policy Communities hat ebenfalls einen positiven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines Agenda-Wandels. Dieser Integrationsgrad zeichnet sich durch gemeinsame Anschauungen, Orientierungen und Denkweisen aus. Letztendlich führt dies zu mehr oder weniger Policy-Alternativen aus der Policy Community, je nachdem wie stark diese Integriert sind. In wenig integrierten Policy-Communities, in welchen also mehr Diskussion herrscht, werden mehr Policy-Alternativen ausgearbeitet. Mithin gibt es eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen Agenda-Wandel (Kingdon, 2014, S. 119f). (Rüb, Multiple-Streams-Ansatz: Grundlagen, Probleme und Kritik, 2009)

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Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die digitale Regierungsagenda in Estland
Untertitel
Eine Analyse anhand des Multiple-Stream Ansatzes nach John W. Kingdon
Hochschule
Universität Passau
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
22
Katalognummer
V439359
ISBN (eBook)
9783668791329
ISBN (Buch)
9783668791336
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kingdon, Estland, Digitalisierung, Multiple-Stream Ansatz, Regierungsagenda, Agendasetting, Politik
Arbeit zitieren
Georg Mastorikou (Autor:in), 2018, Die digitale Regierungsagenda in Estland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/439359

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