Die Traumkonzeption in Jan Weiss "Dům o tisici patrech"


Bachelorarbeit, 2011

65 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Traumgesetze und ihre literarische Disposition
1. Traumbildung nach Sigmund Freud
2. Psychoanalyse und Literatur
Rucksicht auf Darstellbarkeit
Symbolisierung
Verdichtung
Verschiebung
S ekundare B earb eitung

III. Die Traumkonzeption in Dum o tisicipatrech
1. Narrativ und Traumkonzeption
2. Raumsemantik: Topik und Psyche
3. Mullerton: der psychologische Diskurs
Beim jungen Greis oder der moralische Verfall
Solium: Die Fluchtigkeit der Realitat
West-Wester: „Das Vorbewusste“
Orsag oder was ist Wirklichkeit?
Babylon: Hochmut kommt vor dem Fall
Vesmfr: Alles ist „nur“ ein Traum
Die Borse ein Tempel
Gedonien
Der Traum im Traum: Eigentliche und uneigentliche Realitat
Im Saal der Hohlspiegel
4. Stockwerk 100: „Das Unbewusste“

IV. Resumee

I. Einleitung

Dum o tisici patrech (1929) ist nach einigen Kurzgeschichten der erste Roman des tschechi- schen Autors und Journalisten Jan Weiss (1892-1972). Der Entstehungszeit nach ist der Titel gerade noch in die Epoche der Fruhen Moderne (1890-1930) einzuordnen und tragt als Litera- tur mit dem Anspruch ein sekundares modellbildendes System zu sein durch seine Konzeption als Traum, der sich als eine Form von Realitat ausgeben will, ein entsprechendes Merkmal fur die „programmatische“ Desorientierung dieser Zeit. Was diese weiterhin kennzeichnet ist ihre Wahrnehmung als Inbegriff von Dekadenz und Zerfall infolge des kulturellen Wandels, der bereits mit dem Niedergang der Monarchien 1789 begonnen hat. Die zunehmende Infragestel- lung einer Realitat, die auBerlich im Begriff ist, sich in ihren traditionellen kompositorischen Elementen aufzulosen bzw. sich vollig umzustrukturieren pragt das Menschenbild der Moder­ne[1]. Diese Konfrontation mit einer volligen und vor allem rasanter als bisher ablaufenden Uberformung der Lebensrealitat verlangte aus der Sicht der Kunst eine neue Art des Begrei- fens, die man als Autonomisierung (Fischer-Lexikon 2002: 1288) verstehen kann, als eine Be- freiung von moglichst allen konventionellen Werten und Vorstellungen. Fur die zeitgenossi- sche Kunst bedeutet dies insbesondere eine Verschiebung des asthetischen Fokus „[...] Rich- tung in den Menschen hinein, in sein Inneres, in seine Seele.“(Rieder 1968: 16), um einen Perspektivenwechsel zur befreiten Wahrnehmung herbeizufuhren mit dem Ziel, die facettierte Realitat, die sich durch die EntbloBung ihrer Widerspruchlichkeiten nicht mehr mit tradierten Formen beschreiben lasst, begreifbar zu machen. Durch seine Erforschung des Inneren des Menschen hat Sigmund Freud den Traum, der lange Zeit vorwiegend ein Motiv der Kunst und der spirituellen Disziplinen war, aus „wissenschaftlicher“ Perspektive beschrieben und in den Fokus dieser Realitat geruckt; fur zeitgenossische Kunstrichtungen wie etwa dem Surrealis- mus eignet er sich als Ausdrucks- und Aufnahmeform subjektiven Wahrnehmens[2], er wird Medium, um die Krise des Objekts (Wyss 1950: 2) in eine sinnlich erfassbare Form zu brin- gen. Fur die literarische Traumkonzeption in Dum o tisicipatrech als Produkt der Moderne ist zum einen die Tatsache gegeben, dass - wie Vaclav Cerny in seiner Rezension betont - allge- mein im Roman der 20er Jahre der Einfluss Marcel Prousts wie auch auch Freuds Lehre eine Rolle spielen: „Oboj znamena nove podstatne zduraznem psychologismu v romanu“ (Cerny in Host 1928: 21)[3], und dass die Theorie der Traume fur die Fiktion relevant ist, wurde schon an Titeln wie Der Zauberberg von Thomas Mann gezeigt. Hinsichtlich der historischen Kom- ponente, die die individuelle Wahrnehmung der Realitat beeinflusst[4], sei auf Weiss' Erfahrun- gen im Ersten Weltkrieg verwiesen, der durchaus als psychisch beeinflussend ein maBgebli- cher Faktor literarischer Komposition ist, wie zahlreiche Werke zeigen, die seine alles veran- dernde Kraft beschreiben[5]: Weiss geriet 1916 als Soldat im ersten Weltkrieg bei Tarnopol in russische Gefangenschaft und erkrankte dort an Fleckfieber (Schamschula 2004: 214), das zwar behandelbar, unter den gegebenen Umstanden aber durchaus todlich sein kann. Hohes Fieber wirkt manchmal halluzinogen, kann also Bewusstseinsstorungen hervorrufen, die sich als ausgepragte Empfindlichkeit der Sinne gegenuber der Umwelt mitteilen und mitunter so- gar den nahenden Tod ausblenden konnen; so bereitet es Weiss wohl Bilder, die zwar auf eine Weise Teil der Realitat sind, aber doch ganz anders wahrgenommen bzw. verarbeitet werden und fur diesen Moment eine raumlich-zeitlich zerstuckeltes Bild der Wirklichkeit entwerfen. Weiss selbst sagt, er habe trestici divuplne horecky (Neff 1981: 184f) und nennt das Fieber die Quelle seiner Inspiration (Weiss in Literarm Noviny 1927/7: If )[6]. Doch sind nicht nur die Bilder an sich von Interesse, sondern vor allem der ausgeloste (Traum)Zustand, die Wahrneh- mung der Realitat als separat von auBen und innen uberlagerte Realitat, weil diese Erfahrung auf eine Art als strukturales, sujetbildendes Moment auch fur die Traumkonzeption in Jan Weiss' erstem Roman eine Rolle spielt[7]. So stellt sich schlieBlich die Frage nach dem Genre, welches Dum o tisici patrech adaquat im Rahmen seiner wechselhaften Zeit beschreiben mochte: Grundsatzlich herrscht in der Fachliteratur keine einheitliche Tendenz vor, allgemein werden die Werke Jan Weiss' in der tschechischen Literaturkritik dem Genre Science Fiction zugeordnet, wie z.B. im Slovnik ceske literarm fantastiky a Science Fiction (Adamovic/Neff) oder Ondrej Neffs Neco je jinak nachzulesen ist. Als Anhaltspunkt sei jedoch Jan Weiss selbst zitiert: „Ty [die Traume, A.Z.] byly tak zive a presne, ze jeste dnes si je pamatuji mmnohem presnej! nez tehdejs^ skutecnost.“ (Weiss in Literarm Noviny 1927/7:1). Diese Aussage er- scheint charakteristisch fur die verschiedenen Kunstdiskurse der Fruhen Moderne, wie vor al­lem den Surrealismus und den Expressionismus, die sich in ihrer Absicht ahneln, durch die Blickwendung nach Innen Emotionen und Triebe (Wyss 1950: 13) als individuellen Anteil der Wirklichkeitskonstruktion zu erschlieBen. Beide Varianten sind Ergebnisse einer nicht nur vom Ersten Weltkrieg veranderten Gesellschaft, „[...] which had nothing to offer them [der kreativen Jugend, A.Z.] that could assuage their sense of rage [...]“ (Richardson/Fijalkowski 2001: 3). Dennoch ist dieser Krieg als erster hochtechnisierter, ein ebenso hoch wirksamer emotionaler Einschnitt und entsprechend kategorisiert Walter Schamschula Weiss in Ge- schichte der tschechischen Literatur unter dem Kapitel Legionarsliteratur, um den unmittelba- ren Reflex der Kriegsereignisse (Schamschula 2004: 215) auf die literarische Produktion zu beschreiben. Speziell Dum o tisici patrech nennt er darin im Zusammenhang mit Karel Capek und Franz Kafka (ebd.), was den Rahmen des Genres von Science Fiction bis zu surrealistisch beeinflusster Literatur absteckt[8] und schlieBlich in der Arbeit anderer Kritiker folgenderma- Ben formuliert ist: Arne Novak etwa stellt in Czech Literature ebenfalls fest, dass „The fury of war, blinding men an depriving them of reason, became a terrifying Muse of surrea­listic visions in [...] a number of grotesque works by Jan Weiss [...]“(Novak 1986: 291)[9], und zu- gleich beschreibt er Jan Weiss als „[...] Expressionist and psychologist of an especially pure type.

Surrealismus und das Prinzip der Traumkonzeption stehen durchaus hinsichtlich der Wahrneh- mung einer gewissen Spannung zwischen dem, was ist und dem, was zu sein scheint, sowie dem Modus des unbewussten Wahrnehmens als Freuds psychologischen Beitrag zur Kon- struktion von Weltmodellen in Diskussion. Andre Breton, als prominenter Vertreter des Sur­realismus, druckt sich diesbezuglich folgendermaBen aus: „Ich glaube an die Auflosung dieser scheinbar so gegensatzlichen Zustande von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realitat [...]“ (Breton 1977: 18). Das Ergebnis grotesker Szenarien wie sie das Haus der tau- send Stockwerke mit seiner dystopischen Welt abbildet, kann symptomatisch dafur verstanden werden. Expressionistischer Stil, der sich im zugrundeliegenden Werk als Collage von Schriftbildern, Nominalstil, Farbmetaphorik oder in der Thematisierung einer misanthropen Gesellschaft konkret im Motiv der Stadt, als die sich das tausendstockige Haus entpuppt, gibt, ist aber ebenso tragendes Element[10], vor allem, wenn die Kritik eines kapitalistischen Weltmo- dells fokussiert wird, wie dies etwa in Petra Haramijovas Diplomarbeit uber Dum o tisici pat- rech der Fall ist[11]. Beide Stilrichtungen jedenfalls bedienen sich virulent des Traumprinzips und konnen so wiederum das Genre Science Fiction[12] bereichern[13]: Die entsprechenden Merk- male (nach SeeBlen/Jung 2003: Science Fiction), wie etwa die genannte thematische Fixie- rung eines bestimmten utopischen Gesellschaftsbildes, der Auftritt fremdartiger Wesen - hier in Gestalt des Prinzen Acorgen - der Weltraum im Allgemeinen und zumindest das Motiv der Reise ins All, sowie reichlich „moderne“ technische Instrumente und chemisch hergestellte Substanzen sind in Dum o tisici patrech ebenfalls gegeben. Befremdende Elemente, die uber- wiegend dem dargestellten Gesellschaftsbild entspringen und die stilistisch dem Surrealismus und Expressionismus zuzuordnen sind, verstarken die Groteske, den fantastischen Charakter des Genres nur. Der SciFi-Autor und Literaturkritiker Ondrej Neff nimmt dementsprechend Dum o tisici patrech in seine Arbeit Neco je jinak uber die Genese der vedeckofantasticka lite- ratura im tschechischsprachigen Raum auf.[14] und beschreibt darin das „Anliegen“ der Haupt- figur, Petr Brok, als cesta zapoznanim skutecnost (vgl. Neff 1981: 197), die in der Bewusst- werdung der vlastni neskutecnost (ebd.) endet, was durchaus sehr an die Manifeste des Sur­realismus[15] erinnert. Damit kann das Genre SciFi relativ kritiklos angenommen werden, weil es mit den evidenten Einflussen, derer sich Weiss bedient, technisch gut korreliert bzw. wie Adamovic in seinem Aufsatz Jan Weiss, Karel Capek's Overlooked Contemporary zusam- menfasst:

„Like Capek, he [Weiss, A.Z.] had a much wider range of interests than the SF genre itself, and, strictliy speaking, perhaps the greater part of his production falls outside the borders of the genre.“ (Adamovic in Extrapolation 1995/36: 285).

Durch diesen Vorlauf sollte nun ein Repertoire von paradigmatischen Verknupfungen gegeben sein, mit dem es moglich ist, die Traumkonzeption und ihre Bedeutung in Dum o tisici pat­rech zu erschlieBen. Relevant fur die Entwicklung des methodischen Aufbaus ist zunachst Freuds Traumtheorie, die als Grundlage genauer betrachtet werden muss, da sie, in ihrer „lite- rarischen“ Struktur verstanden, sozusagen Bindeglied zwischen der materiellen und ideologi- schen Basis der Traumkonzeption und ihrer diskursiven Einflusse ist.

II. Traumgesetze und ihre literarische Disposition

Die Absicht der Traumdeutung[16] war zunachst, sich den Traum als das erste Glied in der Rei- he abnormer psychischer Gebilde (TD: 21) vorzunehmen, um sich des Unbewussten bewusst zu werden (Wyss 1950: 9). Im Laufe seiner Arbeit entwickelte Sigmund Freud zum Verstand- nis des Traumens die Idee eines psychischen Apparates weiter und identifiziert unbewusste Quellen, die das Wesen des Menschen und seine Position in der Welt starker als vermutet zu bestimmen scheinen. Der Traum wird damit zum Gemeinplatz, wo Unterbewusstes und Be- wusstes sich, in Einzelteile aus „metaphorischen“ Bildern zerlegt, zu einem Konglomerat ver- mischen, das je nach Zustand des Bewusstseins, als Realitat oder Traum aufzufassen ist. Diese introspektive Theorie ist damit gerade auch in der Fruhen Modern ein Werkzeug des Kunst- lers, Perspektiven der (subjektiven) Wirklichkeitserfahrung zu konzeptionieren. In diesem Ka- pitel sollen daher zentrale traumtheoretische Pramissen zur Traumbildung aus Sigmund Freuds Traumdeutung zusammengefasst werden, wie sie in der Konsequenz literarischer Ver- arbeitung relevant sind. In einem zweiten Schritt ergibt sich der fur die Traumkonzeption not- wendige Zusammenhang zwischen der Struktur einer Psychologie des Traums und der literari- schen Konstruktionsmethodik.

1.Traumbildung nach Sigmund Freud

Voraussetzung fur den wissenschaftlichen Zugang zur Traumforschung ist fur Freud die An- nahme einer psychischen, wie spater von ihm in Die Traumdeutung definiert wird, unbewuss­ten Quelle und die Vermutung, dass Traume einen (verborgenen) Sinn haben.

Was man uber die Theorie der Traume wissen muss, ist in Kapitel VII seiner Traumdeutung folgendermaBen zusammengefasst:

„Der Traum ist ein vollwichtiger psychischer Akt; seine Triebkraft ist alle Male ein zu erfullender Wunsch; seine Unkenntlichkeit als Wunsch und seine vielen Sonderbarkeiten und Absurditaten ruhren von dem EinfluB der psychischen Zensur her, den er bei der Bildung erfahren hat; auBer der Notigung, sich dieser Zensur zu entziehen, haben bei seiner Bildung mitgewirkt eine Notigung zur Verdichtung des psychischen Materials, eine Rucksicht auf Darstellbarkeit in Sinnbildern und - wenn auch nicht regelmaBig - eine Rucksicht auf rationelles und intelligibiles AuBere des Traum- gebildes.“ (TD: 510)

Dass der Traum ein zu entschlusselnder Wunsch ist, geht auf Freuds empirischer Untersu- chung seines sogenannten Initialtraums (Stuber in Mertens 1983: 92) von Irmas Injektion zu- ruck. Sonderbarkeiten und Absurditaten sind wiederum auf eine psychische Zensur zuruckzufuhren, die ihrerseits ihre Ursache im Prinzip der Verdrangung findet, das aus der Notwendig- keit des sozialen Zusammenlebens resultiert (Berg 2005: 21). Die vom Wachbewufitsein nicht akzeptierbaren Impulse werden einfach unterdruckt und indem der Traum den aufkommenden Wunsch als ungefahrlich darstellt (Stuber in Mertens 1983: 93), werden unbewusste Wunsche (in verfremdeter Form) im Schlaf wieder bewusst (Berg 2005: 23). In Verbindung mit der Tat- sache, dass und vor allem wie wir traumen, verweist dies schlieBlich auf jenen Prozess von Modifikationen, die auf das ursprungliche Traummaterial wirken, so dass „Traumgedanken [die aus dem Traummaterial entstehen, A.Z.] und Trauminhalt [...] vor uns [liegen] wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, [...][wie] Original und Ubersetzung [...]“ (TD: 280). Dieses Gefalle zwischen „Intension“ und Gestalt des Traumin- halts nennt Freud schlieBlich die Tatsache der Traumentstellung (TD: 153), die fur die Zulas- sung des Traumes zum Bewufitsein (TD: 160) mit verantwortlich ist, indem sie schlieBlich im Sinne Freuds die Traumarbeit (TD: 280) motiviert.

Was wahrend der Traumbildung entstellt wird ist das genannte Traummaterial, das aus ver­schiedenen Traumquellen rekrutiert wird, derer da sind: Somatische, psychische, auBere und innere Reize, sogenannte Tagesreste, Erinnerungen, Angste (TD: 38-67), sowie die „[...] dyna- mische Kraft unbewusster, infantiler, sexueller und aggressiver Triebstrebungen bzw. Wun- sche[...]“ (List 2009: 68). Ausgehend von der gesetzten Kategorie der Wunscherfullung und der Tatsache ihrer Maskierung, nimmt Freud in logischer Konsequenz die Gegenuberstellung eines latenten und manifesten Trauminhalts an (Freud 1972: 152). Zur „Verortung“ dieses Prozesses der Traumbildung ist es notwendig einen naheren Blick auf die menschliche Psyche zu werfen, da immerhin bereits festgestellt wurde, dass der Traum ein vollwichtiger psychi- scher Akt (TD: 510) ist. Peter-Andre Alt, der mit dem Titel Schlaf der Vernunft eine Kultur- und Literaturgeschichte des Traums vorgelegt hat, fasst Freuds Vorstellung von einem psychi- schen Apparat exemplarisch zusammen:

„Freud hat [...] eine Konstruktion des UnbewuBten ermoglicht.“(Alt 2002: 318) „Der Traum siedelt sich [...] auf der Ebene des VorbewuBten an, schmuggelt [...] die subversiven Krafte des UnbewuB­ten ein, indem er sie hinter Bildern versteckt. Es handelt sich um einen dramaturgischen Ablauf von betrachtlicher Komplexitat: Erfahrungsreste sinken ab, werden im UnbewuBten uber den Primar- prozeB zum Traumgedanken verarbeitet, steigen ins VorbewuBtes auf und finden dort nach Durch- laufen der Zensur (SekundarprozeB) ihre Aktualisierung vermoge der Uberfuhrung in den manifes­ten Trauminhalt.[...] UnbewuBtes (Ubw), VorbewuBtes (Vbw) und BewuBtes (Bw) bilden Systeme mit unterschiedlichem Aufgabenprofil. Das UnbewuBte ist dem Lustprinzip verpflichtet [es konfi- guriert die Wunsche, A.Z.], es arbeitet ohne Verdrangung als sich standig aktualisierendes dynami- sches Gefuge auBerhalb von Zeitbindung und Sprache. Das VorbewuBte zensiert seine Inhalte und sucht sie zu verdrangen; das BewuBte wiederum verwandelt sie in „Wortvorstellungen“ und [...] in Gegenstande der Wahrnehmung“ (Alt 2002: 321).

Diese Instanzen werden von Freud spater als Es, Ich und Uber-Ich identifiziert (Laplanche/ Pontalis 1996: 147, 185, 540).

Die Traumanalyse selbst verlauft zur Traumarbeit kontrar und zwar unter anderem uber die koharente Interpretation traditioneller Symboliken. Freud aber bemerkt dazu, „[...] daB die Aufgabe einer Traumdeutung durch die Existenz der Symbole im Traum nicht nur erleichtert, sondern auch erschwert wird.“ (TD: 347), da sie dem Analyseverfahren der freien Assoziation sozusagen widersprechen, weshalb eine Deutung allein anhand allgemein bekannter Symbole ausgeschlossen, eine Kombination aus beiden Verfahren aber notig wird, weil die Konstanz des Zusammenhangs zwischen dem Symbol und dem unbewufiten Symbolisieren (Laplanche/Pontalis 1996: 481) nicht verleugnet werden kann.

Die freie Assoziation wiederum schlagt den Bogen zwischen den Teilen vor und jenseits der Zensur: Von jedem Eindruck des Trauminhalts konnen (individuell, aber eben auch mit Hilfe der konstanten Symbole) Assoziationsketten erstellt werden, die - in Zusammenhang gebracht - Teil der Traumdeutung sind und den latenten Traumgedanken, den Sinn des Traumes an die Oberflache bringen sollen.

Sobald also Bau und Funktion des ganzen Traumprinzips mit Hilfe der erschlossenen Begriffe nachvollziehbar sind, versucht Freud die synthetische Konstruktion eines Traumes und identi­fiziert die entstellenden Prozesse der Traumarbeit. Sie sollen hier nun in ihren wesentlichen Eigenschaften zur Kenntnis gebracht werden: Die Traumarbeit lasst sich in vier bzw. funf Hauptkategorien[17] zerlegen, namlich Verdichtungsarbeit, Verschiebungsarbeit, Rucksicht auf Darstellbarkeit, sekundare Bearbeitung, sowie Symbolisierung, in denen sich die einzelnen Charakteristika, wie z.B. Gegensatz und Widerspruch (TD: 316) oder Aufhebung raum-zeitli- cher Konvention (TD: 312) summieren.

2. Psychoanalyse und Literatur

Was die Psychoanalyse und die Kunst der Moderne gemeinsam haben ist eine Zentrierung des Interesses auf den Traum als „Ausdrucksform“. Fur die Kunst ist er in seiner „kreativen Ab- straktheit“, Formfreiheit und Freiheit von jeglicher Konvention (Fischer-Lexikon 2002: 1289) eine Art Vorbild neuer Wahrnehmungskonzepte. Die Psychoanalyse „entdeckt“ ihn neben der Hypnose als weiteren, anderen Zustand des Bewusstseins, der aufschlussreich fur die Erfor- schung - anscheinend immer haufiger auftretender - psychischer Abnormitaten sein kann.

Die psychoanalytische Traumtheorie liefert der Kunst damit einen Teppich spekulativer An- satze hinsichtlich der Erarbeitung einer Wahrnehmung „anderer Wahrheiten“ hinter der Welt und den Dingen und hat den Traum „Als geeignetes psychisches Phanomen, das den Zugang zum UnbewuBten ermoglicht [...]“ (Perlmann 1987: 32) erkannt, was wiederum fur die Litera- tur als dialektisches System das Motiv Traum und den Traum selbst - in seiner Natur als ver- schlusselte Darstellung der (unbewussten) Beziehungen des Menschen zu seiner Realitat - in- teressant macht, denn[18] - so resumiert Perlmann uber den Traum in Arthur Schnitzlers Werk, „Der Traum stellt eine extreme Form inneren Lebens dar, in dem die Diskrepanz zwischen au- Berer Wirklichkeit und deren subjektiver Brechung besonders augenfallig wird.“ (Perlmann 1987: 210)[19]. In ahnlicher Weise[20] wie die Literatur scheint der Traum also eine Realitat oder vielmehr dieselbe Realitat zu reflektieren, die bewusst, sinnlich wahrgenommen werden kann, nur ist sie eben durch die spezielle Traumlogik anders strukturiert, weil ihr „bisher unbekann- ter“ Rezeptor das Unbewusste ist. Der Traum ist also Symptom und Vermittler und kann mehr oder weniger aufschlussreich analysiert und in Umkehrung kunstlich hergestellt werden, wie es Sigmund Freud in Die Traumdeutung mit der Feststellung einer Architektur der Traume zeigt. Im Rahmen literarischer Arbeit konnen aus den oben benannten Mechanismen der Trau- mentstellung Analogien zu Mitteln aus der Ebene des discours abgeleitet werden[21]:

Rucksicht auf Darstellbarkeit

Bei diesem Verfahren geht es im Wesentlichen darum, dass eine potentielle Abstraktheit von Traumgedanken aufgelost werden muss, weil „[...] wir beim Traumen nicht anders konnen, als in Bildern zu denken.“ (Lohmann/Pfeiffer 2006: 109). Konkret handelt es sich dabei also um eine Ausdrucksverschiebung (Laplanche/Pontalis 1996: 112) vom Sprachlichen zum Bildli- chen. Den logischen Relationen widmet Freud daher ein eigenes Kapitel[22], in dem er genau beschreibt welche Zusammenhange visualisierbar sind und welche - eben aufgrund der Ruck­sicht auf Darstellbarkeit - nicht. Dabei treten einige Besonderheiten auf (TD: 309-390):

- Verwandlung ins Gegenteil: Inhaltliche und zeitliche Umkehrung sind eine haufige Technik der Traumentstellung wie besonders jene Traume verraten, die ihren Sinn hartnackig verweigern. Jegliche Umkehrung erweckt den Eindruck von der verkehr- ten Welt. In Dum o tislci patrech findet die essentielle Struktur darin eine Entspre- chung, wie sich zeigen wird, denn gesellschaftliche Zentren befinden sich in den unte- ren Etagen und nicht, wie man es von einer konventionellen Hierarchie erwarten wur- de, uber allem.

- Kausalbeziehungen sind z.B. durch das mogliche Auftreten von Vor- und Haupttraum identifizierbar, grundsatzlich aber durch Elemente, die im Traum nah beieinander lie- gen oder wenn eine Person oder Sache sich in etwas anderes verwandelt. Dieses Prin- zip findet bei der Untersuchung von Weiss' Roman ebenfalls Verwendung, insbeson- dere als daruber Zusammenhange identifiziert werden konnen, die es - trotz einer mar- ginalen Rahmenhandlung - ermoglichen, eine Semantik der auBerhalb des Traums existierenden Welt zu rekonstruieren.

- ebenso ist die Abbildung von Gegensatz und Widerspruch schwierig, denn „[...] das „Nein“ scheint fur den Traum nicht zu existieren.“ (TD: 316). Solche Verbindungen erscheinen daher ebenfalls in einer Einheit, als Wunschgegensatz, in Form von Identi- fikation oder dass im Traum etwas nicht vollendet werden kann bzw. indem der Traum besonders absurd ist. Innere Widerspruche treten in Dum o tislci patrech durchaus haufiger auf und scheinen oft auf die Uneigentlichkeit der dargestellten Realitat zu verweisen. Das komplexe Erzeugen eigentlicher und uneigentlicher Realitat scheint ihr Erkennen uber aufreibende Widerspruche zu erfordern.

- die Form des Traumes selbst - etwa ob er besonders deutlich oder verworren bzw. ver- schwommen ist - wird zur Darstellung des verdeckten Inhalts verwendet. Im zu untersuchenden Titel generiert dieses Form-Inhalt-Prinzip die Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit.

Symbolisierung

Alle Dinge, Personen undHandlungen konnen im Traum symbolisch verschlusselt sein (Berg 2005: 24). Freud betont, dass es neben den konstanten Symbolen eine Reihe individuell kon- notierter Symbole gibt, die nur mit Hilfe des Patienten oder zumindest dem Traumtext und -kontext decodiert werden konnen. In Dum o tisici patrech ist der Anteil von einfachen Sym­bolen prozentual niedriger, was unter Umstanden auf die fehlende innerdiegetische Semanti- sierung zuruckzufuhren sein konnte. Haufig wiederkehrende Elemente sind dennoch Dolche und Nadeln, die in ihrer gemeinsamen Eigenschaft durch das Stechen irgendwo einzudringen - vorzugsweise in den menschlichen Leib - den allgemeinen Fokus auf das Innere des Men- schen lenken, wie dies auch im Zusammenhang mit den ubrigen Traummechanismen der Fall ist. Daneben muss naturlich das Haus selbst als Symbol betrachtet werden, da es seiner Dar- stellung nach als Stadt zu verstehen ist und daruber die Semantik expressionistischer Kunst- produkte als massiver Reiz und Manifestation des Entfremdungseffekts einflieBt. Die Deriva­tion komplexerer Symbolik steht im vorliegenden Roman wie gewohnt im kontextuellen Zu- sammenhang.

Verdichtung

Die Existenz der Verdichtung oder Kompression erklart sich Freud daraus, dass „Die Analyse, in der die Traumgedanken enthalten sind [im Vergleich zum Traum selbst][...] das sechs-, acht-, zwolffache an Schriftraum [bedarf]“ (TD: 282). Bei der Traumanalyse, die regressiv vollzogen wird, findet das oben erklarte Verfahren der freien Assoziation Anwendung. Somit wird deutlich, dass latente Traumgedanken bei der Traumbildung zum manifesten Trauminhalt „eingedampft“ worden sein mussen und zwar so, „[...] daB [...] jedes [Traumelement][...] in Bezug auf die Traumgedanken mehrfach determiniert erscheint.“ (TD: 287). Verdichtung meint also, dass „Eine einzige Vorstellung [...] fur sich allein mehrere Assoziationsketten [ver- tritt][...].“ (Laplanche/Pontalis 1996: 580). Deshalb und weil die Verdichtung ein Produkt der Zensur ist, erscheinen Trauminhalte im Wachzustand oft grotesk, obwohl sie im Prinzip tat- sachlich auf den latenten Inhalt verweisen, die die komprimierte Form desselben sind.

Als typische konkrete Formen von Verdichtung nennt Freud z.B. das Auftreten der sogenann- ten Sammel- oder Mischperson, die auBerliche Merkmale genauso wie charakteristische We- senszuge verschiedener Personen aus dem Wachleben im Traum in sich vereint (TD: 294 f). Diese Modifikation funktioniert auf dieselbe Art auch mit Begriffen und zwar indem die Ver- dichtung Wortneuschopfungen oder Mischgebilde produziert bzw. indem im Traum etwas auf- taucht, das mittlere Gemeinsamkeiten von Dingen, Ereignissen, Orten oder Personen im Sinne eines Kompromisses vereinigt (TD: 295f). Daher umfasst diese MaBnahme auch die Aus- drucksweise der „syntaktischen“ Relation von Ahnlichkeitsbeziehungen zwischen den Traum- gedanken, auch eine Verdichtung durch Symbole ist moglich.

Diesen Vorgang hat Weiss einmal direkt verarbeitet, indem Elemente der Rahmensituation un- mittelbar in den Traum einwirken, aber auch indirekt, wenn sich Eindrucke zweifellos auf real kulturelle Paradigmen beziehen und eine Verbindung nicht verweigert werden kann.

Verschiebung

Diese ist ebenfalls nachweisbar, weil

„Wir [,..][wahrend der Analyse, A.Z.] bemerken [konnten], dab die Elemente, welche im Traumin- halt sich als die wesentlichen Bestandteile hervordrangen, in den Traumgedanken keineswegs die gleiche [oder auch gar keine, A.Z.] Rolle spielen.“ (TD: 305).

Wahrend der Traumbildung vollzieht sich unter Umstanden eine (emotionale) Werteverlage- rung, eine Verschiebung. Freud bezeichnet diesen Vorgang in seiner Abhandlung als Verschie­bung der psychischen Intensitaten im Gegensatz zur sinnlichen Intensitat (TD: 306), weil hier der Fall der Verdrangung ins Unterbewusste auftritt: was dem Traumer also im Wachzustand unwichtig erscheint, muss fur die Analyse zunachst als bedeutend angenommen werden (Perl- mann 1987: 56). Ziel ist wiederum die Ablenkung, genau gesagt die Entstellung des Traum- wunsches im Unbewussten, um die psychische Zensur zu unterwandern.

Eine Werteverlagerung als solche ist in Weiss' Roman deutlich nachvollziehbar, wie auch die oben erwahnte umgekehrte Hierarchie in Mullerton andeutet. Haufig tritt diese Form der Traumarbeit aber auch in den Beruhrungspunkten der eigentlichen mit der uneigentlichen Realitat der dargestellten Welt auf, wie im Anschluss zu sehen ist, und verbindet sich tech- nisch mit vorwiegend surrealen Ideen.

Sekundare Bearbeitung

Freud stellt schlieblich wieder an einem Traumbeispiel fest, „[...] dab nicht alles, was der Traum enthalt, aus den Traumgedanken stammt, sondern dab eine psy­chische Funktion, die von unserem wachen Denken nicht zu trennen ist, Beitrage zum Trauminhalt liefern kann.“ (TD: 471).

Diese ist das letzte aber gleichzeitig mit alien anderen ablaufende Verfahren bei der Traumar- beit, eine „Umarbeitung des Traumes, mit dem Ziel, ihn in Form eines relativ koharenten und verstandlichen Szenariums darzubieten.“ (Laplanche/Pontalis 1996: 460). Freud beschreibt diesen Mechanismus, wodurch „[...] der Traum den Anschein der Absurditat und Zusammen- hanglosigkeit verliert und sich dem Vorbilde eines verstandlichen Erlebnisses annahert.“ (TD: 471f), indem sozusagen durch freie logische Verknupfungen ein Auffullen von Lucken und Bruchen (vgl. Lohmann/Pfeiffer 2006: 109), die die anderen Mechanismen aufgrund der Zen- sur verursachen mussten, erfolgt. Das Ziel ist nun, den Traum im Wachbewufitsein erzahlbar zu machen (ebd.) bzw. - wie de Berg ausfuhrt - kausale und zeitliche Verbindungen zwischen den individuellen Symbolen undBildern herzustellen (Berg 2005: 27). Fur die Erzahlung uber das tausendstockige Haus bedeutet das vor allem die „latent“ vorhandene individuelle Escha- tologie in den Kontext eines Gesellschaftsbildes einzuarbeiten.

Im Folgenden soll nun die Konzeption des Traums von Mullerton mit Hilfe der von Freud in- itialisierten Mechanismen rekonstruiert werden. Nicht nur der Einfluss der Psychoanalyse auf die Literatur der Moderne wird sich darin spiegeln, wie dies schon haufig an Werken Manns, Musils oder anderen gezeigt worden ist, sondern auch ihre (zumindest teilweise) kritische Re­flexion, sowie die Moglichkeit, uber Form und Ausschnitt des Dargestellten, subjektives Er- fahren von Wirklichkeit nachzuvollziehen, was den Traum im Sinne der surrealistischen Stro- mung als Wahrnehmungsmodus katalysiert und in seiner Darbietungsform als „real mogliches Szenario“, den epochalen Charakter beleuchtet.

III. Die Traumkonzeption in Dum o tisicipatrech

1. Narrativ und Traumkonzeption

Bei dem zu untersuchenden Roman Dum o tisici patrech handelt es sich um eine Prosaerzah- lung, genauer um ein Traumerlebnis (Schonau 1983: 44) in achtundvierzig, quantitativ relativ gleichmaBigen Kapiteln, die jeweils von Schlagwortern, die den Inhalt des Kapitels betreffen, angefuhrt werden. Entsprechend ist der Traum in Weiss' Werk im Gegensatz etwa zu den Traumen der Figuren Thomas Manns in Der Zauberberg oder Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull bzw. Arthur Schnitzlers Traumnovelle nicht nur eine symbolisch zum Wachleben parallelisierende Passage[23] nicht ausgelebter Wunsche, sondern wie eine perspektivische Schablone auf einen Ausschnitt der fiktionalen Welt aufgezogen, wodurch hinsichtlich der Frage nach der Art der Traumkonzeption der Real-Charakter des Traums deutlich fokussiert ist, obwohl es durchaus „verraterische“ Merkmale gibt, die den Traum als solchen entbloBen wurden und die sich unter anderem stark an die jeweils gewahlte Zeitform von Prateritum bzw. Prasens binden. Es gibt daher keine Rahmenhandlung in dem Sinne, sondern nur eine endgultige Aufklarung der „wahren“ Realitatsverhaltnisse im letzten Kapitel, sowie daraus ei- nige Traumreize, die analog zu Freuds Aufklarung ihrer Funktionsweise als auBere Eindrucke im Traum - durch eine Verschiebung ihrer psychischen Intensitat beispielsweise - anders ver- arbeitet sind. Die dargestellte Welt ist nur scheinbar eine Form von Realitat, nur die Wirklich- keit des Traum-Ich, wie sich erst am Ende der Erzahlung herausstellt. Kennzeichnend fur den erlebten Traum ist nach Walter Schonau die personale Erzahlsituation (Schonau 1983: 44), was auch hier uberwiegend der Fall ist und den Titel unter anderem dadurch als typisch fur die Moderne im Gegensatz zum bevorzugten auktorialen Erzahlstil des 19. Jahrhunderts (Fi­scher Lexikon 2002: 1287) charakterisiert. Die entsprechende Reflektorfigur ist der unsichtba- re Detektiv Petr Brok, der das Geheimnis des Hauses und seines Herrn Ohisver Muller er- grunden soll. Genutzt wird auch die mehr oder weniger bewusste Beziehung des Lesers zum Protagonisten, der immer auch eine Projektionsflache der eigenen Selbstwahrnehmung und -darstellung abgibt und gefragt wird in dem Signifikanten Kdo jsem? (Dum o tisici patrech: 6­ 8)[24] nicht nur nach dem Eigennamen, sondern konkret nach der Personlichkeit, die auBere und vor allem auch innere (unbewusste) Wunsche, Angste, Triebe usw. geformt haben. Wirft sich eine solch existentielle Frage im Traum als Zugang zur Seele und zugleich sujetbildendes Mit- tel auf, ist, abgesehen von einem konkreten Plot, der sich zwangslaufig in einem Roman ent- faltet, eine Fragestellung uber das Ich und seiner Position in der Welt zu erwarten. Es geht aber vor allem auch um die Identitat des Traumenden, der nicht weiB, dass er traumt - was der Sinn der Sache ist - aber sich selbst auch nicht einfach identifizieren kann, was im vorliegen- den Fall im entruckenden Zustand des Fiebers angelegt sein konnte. Er „gelangt“ sozusagen ohne Kenntnis seiner selbst in den Traum, was ungewohnlich wirkt, und nimmt dort die unter- stellte, ihm zunachst fremde Identitat an. Hinsichtlich der Frage nach der Traumkonzeption bietet sich hier an, einmal zu vermerken, dass sich die Uneigentlichkeit dieser Realitat bereits andeutet, indem Ich nicht einfach Ich ist, sondern ein fremdes, uneigentliches, weil angenom- menes Ich[25]. Tatsachlich hangt diese Identitatsfrage stark mit der Traumkonzeption zusam- men, da Brok als Traum-Ich selbst immer wieder Traume hat, die ihrerseits aus Bildern beste- hen, die Eindrucke aus seiner Realitat - als Person in einer eigenen Welt - sein mussten, aber sich als Elemente aus der Realitat „seines Produzenten“, des Patienten im Tozkojer Lazarett, herausstellen werden. Die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung wie sie der Traum fur gewohn- lich fordert, ist schlieBlich perforiert, einmal durch das (fast) durchgangig verwendete Prater- itum fur das eigentliche Traumgeschehen und umgekehrt, die Anwendung des Prasens auf die „eigentliche Realitat“, die sich durch den Traum im Traum offenbart und deren Wahrnehmung wiederum vom Fieber beeinflusst ist. Die personale Vermittlung und Perzeption im Bezug auf das Traum-Erleben konnten die dargestellte Welt damit als uneigentliche Realitat bereits an- deuten.

[...]


[1] Vgl. zur anschaulichen Darstellung des historischen Paradigmas der Moderne u. a. Lohmann/Pfeiffer: Freud-Handbuch, Stuttgart 2006, 1-24. Rieder, Heinz: Österreichische Moderne, Bonn 1968. Vietta, Silvio: Ästhetik der Moderne, München 2001, 33-41. Wünsch, Marianne: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930), München 1991, 17-35. Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft, München 1983, 253-264: Lenk beleuchtet den Wandel von Erzählstrukturen beginnend mit Hamlet als erster moderner Held, die Traumform wird konkret in der Epoche der Frühen Moderne zur Gestaltung der Struktur der menschlichen Subjektivität.

[2] Siehe dazu u.a. Breton, Andrè: Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1977, 16f: In Anlehnung an die Empfindung des Traums als Realität während des Träumens, fordert Breton das Zulassen von bewusster und wiederholter Infragestellung der Realität des Wachlebens. Imboden, Michael: Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnitzlers, Bern und Frankfurt a.M. 1971, 9: Unkonventionelles Wahrnehmen „[...] vervollständigt vielmehr das Bild der Wirklichkeit und bringt es zu einer Ganzheitsdarstellung.“

[3] Vgl. dazu Neff, Ondřej: Něco je jinak, Prag 1981, 188: Neff bestreitet, dass Weiss sich mit Freud auseinandergesetzt haben muss und reduziert dessen Wissen um die Traumkonzeption auf die persönlichen Eindrücke, die ihm das Fleckfieber verschafft hat. Günter Müller behauptet hingegen im Nachwort der deutschen Ausgabe Das Haus der tausend Stockwerke, Leipzig und Weimar 1987, 1277: „Zur psychologischen Motivierung des Traums und der Trauminhalte hat sich Jan Weiss der damals aktuellen Erkenntnisse der psychoanalytischen Traumtheorie bedient.“

[4] Siehe dazu u.a. Neff, Ondřej: Něco je jinak, Prag 1981, 184f.: Neff zitiert Weiss` sogenannten gläsernen Traum, den er in Kriegsgefangenschaft hat, um einerseits die Quelle des Grotesken in Weiss` Werk hervorzuheben und um andrerseits dessen subjektive Wahrnehmung der Realität zu charakterisieren, die vom Fieber angetrieben ist. Weiss, Jan: Povídka o sobě in Literární Noviny 1927/7, 1f.: Weiss erklärt darin seine Einstellung zur Welt und zur Kunst. Dass er durch die Erkrankung in russischer Gefangenschaft teilweise seine Gedächtnisleistung und seine Fähigkeit, sich in Raum und Zeit zu orientieren verloren hat, scheint für die Traumkonzeption in Dům o tisíci patrech insofern bedeutend als darin vor allem das Zeitempfinden in einem Grad relativiert ist wie dies häufig auch in Kafkas Werk der Fall ist. Für die erzählte Zeit gibt es kaum (räumliche) Referenzen, weil die „Physik“ der Zeit aufgehoben ist, anderen Gesetzen folgt.

[5] Man denke beispielsweise an Gottfried Benns expressionistische Lyrik, an das Werk Ernst Tollers oder Georg Heyms. Vgl. dazu Anz, Thomas: Literatur der Moderne und Erster Weltkrieg in literaturkritik.de, Ausgabe 8/2004. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7306&ausgabe=200408, Stand 8.3.2011, 10:55 Uhr.

[6] Siehe dazu auch Opelík, Jiří: Tvurcí cesta Jana Weisse in Host do domu 1957/10, 450 und Heřman, Zděnek: Napěti mezi snem a skutečnosti v díle Jana Weisse in Plamen 1962/5, 51. Beide greifen in ihrer Kritik auf diese Aussage zurück, um Weiss Einstellung zur Wirklichkeit zu vermitteln.

[7] Weiss` Kritiker stimmen darin über ein, dass seine Fieberträume und der Einfluss des Ersten Weltkriegs in Weiss` Werk evident ist. Siehe dazu z.B. Neff, Ondřej: Něco je jinak, Prag 1981, 184-199 und Heřman, Zděnek: Napěti mezi snem a skutečnosti v díle Jana Weisse in Plamen 1962/5, 51.

[8] Dieselbe Einstufung nimmt Josef Mühlberger in Tschechische Literaturgeschichte, München 1970, vor.

[9] Jiří Hájek distanziert sich von surrealistischen Einflüssen (Hájek in Nový Život 1957: 717, 720), was unter Umständen an der Ausprägung des sozialistischen Realismus der CSSR liegen mag, der keine uneindeutigen Spekulationen über Realität zulassen kann. Ebenso sagt Ondřej Neff in Něco je jinak, Prag 1981, 188, dass Weiss „[...] neměl se surrealisté nic společného.“. Der Zusammenhang zwischen dem Krieg als Katalysator und den neuen Kunstrichtungen, wie eben Surrealismus, Expressionismus, Kubismus, usw., lässt sich aber gerade in Artefakten von Veteranen nicht verleugnen, wie auch Richardson/Fijalkowski in Surrealism against the Current, London 2001 und Wyss in Der Surrealismus, Heidelberg 1950 festhalten.

[10] Vgl. dazu auch Heřman, Zděnek: Napěti mezi snem a skutečnosti v díle Jana Weisse in Plamen 1962/5, 51: Heřman diskutiert die Verwendung der Collagetechnik als Mittel einer subjektiven Wirklichkeitskonstruktion. Breton, Andrè: Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1977, 38f: Breton spricht sich dafür aus, dass die surrealistischen Mittel erweitert werden sollten und veranschaulicht dies ebenfalls mit dem Spiel graphischer Elemente.

[11] Vgl. dazu Jiří Hájeks Aufsatz Jan Weiss, hledač života a krásy in Nový Život 1957/7, 722 über die Frage nach dem Realismus in Weiss` Werk: die Konzeption einer Gesellschaftsdystopie ist evident, expressionistische Stilmittel als Methode der Kritik entsprechend „tolerierbar“.

[12] Für die weitere Darstellung wird die gängige Form SciFi benutzt.

[13] Auch Zděnek Heřman ist der Meinung, dass Dům o tisíci patrech eine Komposition von Stilmitteln und -richtungen ist, das Genre also porös ist (Heřman in Plamen 1962/5: 50).

[14] Vgl. dazu die Einschätzung Jan Kristeks im Vorwort zu Blaznivý regiment, Jan Weiss sei neben Karel Čapek einer der bedeutendsten Vertreter tschechischer SciFi. (Kristek in Weiss: Blaznivý regiment 1979)

[15] In Andrè Bretons Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1977: Feststellung surrealistischer „Ideologien“, typischer Merkmale und künstlerischer Ansprüche, wozu auch gehört, dass Ich und Welt bzw. in der Erfahrung der Welt durch das Ich eine Entgrenzung stattfindet, welche Modifikationen von Wahrnehmungsformen erfordert; das Gleichgewicht des Geistes, so Breton, sei relativ (17).

[16] Bezug genommen wird auf Sigmund Freud Studienausgabe Bd. II Die Traumdeutung, Frankfurt am Main 1972, in Zitaten mit dem Sigel TD abgekürzt.

[17] Perlmann bereichert die Traumarbeit für ihre Untersuchung des Werks Arthur Schnitzlers in Der Traum in der literarischen Moderne. Untersuchungen zum Werk Arthur Schnitzlers, München 1987 um das Element Umkehrung. Freud bespricht sie im Zusammenhang mit der Rücksicht auf Darstellbarkeit (vgl. TD: 323-325). Henk de Berg beschreibt in Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft, Tübingen 2005, 24 die Rücksicht auf Darstellbarkeit literaturbezogen als Dramatisierung.

[18] Vgl. Vietta, Silvio: Ästhetik der Moderne, München 2001: die Literatur als System wählt je nach zugrunde liegenden (universellen) Paradigma für die Modellierung von Wahrnehmung der Wirklichkeit aus; mit dem sozio-historischen Fortschritt gilt schließlich für die Moderne die Thematisierung explizit jener Bewusstseinsakte, in denen Wirklichkeit sich literarisch eingestaltet und ausspricht, also der Erinnerung, Emotion, Imagination, Assoziation, Reflexion und der sinnlichen Wahrnehmung (Vietta: 44). Ähnlich, aber spezieller auf Systematisierungsversuche ausgelegt, beschreibt Titzmann die Einflussbereiche menschlicher Wahrnehmung und subjektiver Wirklichkeitskonstruktion in Realismus und Frühe Moderne, München 2009, 332-335.

[19] In Vietta, Silvio: Ästhetik der Moderne, München 2001 findet sich zum Thema subjektive Wahrnehmung von Wirklichkeit und den daraus resultierenden kreativen Charakter das Kapitel Subjektivität als zentrales Konstruktionsprinzip (37), in dem auf eine Verschiebung des gesamten Referenzsystems der modernen Künste infolge neuzeitlicher Revolutionen (43) verwiesen wird, so dass das Prinzip der Subjektivität maßgeblich für die Konstruktion von Realität wird.

[20] Siehe dazu Lacan, Jacques: Radiophonie/Television, Weinheim 1988. Lacan interpretiert die Momente der Traumarbeit nach Freud im Sinne einer sprachlichen Struktur als stilistische (und syntaktische) Methoden der Textkonstruktion, die Verdichtungsarbeit etwa entspräche der Metapher, Verschiebung der Metonymie. Alt, Peter-Andrè: Schlaf der Vernunft, München 2002,323-330. Alt greift Lacans Theorie auf und vermittelt die sprachlichen Bezüge über rhetorische Figuren.

[21] Rainer Kaus wendet entsprechend in Literaturpsychologie und literarische Hermeneutik, Wien 2004 vier der traumbildenden Mechanismen als Form-Inhalt-Kategorien zur Analyse vorwiegend auf Texte Kafkas an, um ihre Funktion in einem metasyntaktischen System (109) verständlich zu machen.

[22] TD Kapitel VI.: Die Darstellungsmittel des Traumes

[23] Siehe dazu auch Ekfelt, Nils E.: The narration of dreams in the prose works of Thomas Mann and Arthur Schnitzler: A stylistic study, Michigan 1979. Ekfelt erörtert die verschiedenen Träume vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Verhältnisse zur jeweiligen Rahmenerzählung, in die sie eingebettet sind, sowie hinsichtlich der jeweiligen Erzählsituation und Darbietungsform, also mündlich, schriftlich, unmittelbar. Wesentlich bei diesen Träumen ist also die Kenntnis einer Rahmenerzählung, die im vorliegenden Fall so nicht gegeben ist, um durch innerpersonelle Vorgänge eine Dreidimensionalität der Charaktere zu erschließen.

[24] Der zur Analyse verwendete Primärtext von Jan Weiss Dům o tisíci patrech liegt in der tschechischen Ausgabe von 1964 vor und soll mit dem Sigel Dtp bezeichnet werden.

[25] Carl Pietzcker schreibt in seinem Aufsatz Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk in Psychoanalytische Textinterpretation, Hrsg.: Cremerius, Johannes, Hamburg 1974, 58: „Das Ich wendet ich im Schlaf von der Außenwelt ab.“, wenn nun wie in diesem Fall durch die „Amnesie“ ein Identitätsverlust hinzu kommt, könnte das eine Intensivierung des Realitätsempfindens bewirken, was ein typisches Merkmal des Traums ist und auch bereits in der gegebenen Darstellungsform des Traumerlebnisses nahezu ohne Rahmenhandlung angelegt ist, wie in Anm. 21erwähnt.

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Die Traumkonzeption in Jan Weiss "Dům o tisici patrech"
Hochschule
Universität Passau
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
65
Katalognummer
V440199
ISBN (eBook)
9783668802490
ISBN (Buch)
9783668802506
Sprache
Deutsch
Schlagworte
tschechisch, tschechische Literatur, tschechische Sci-Fi-Literatur, Haus der tausend Stockwerke, Sigmund Freud, Traumdeutung, Psychoanalyse, Jan Weiss, Frühe Moderne, Literaturmodell, Surrealismus, Traumkonzeption, Traumsprache
Arbeit zitieren
Astrid Jana Zellner (Autor:in), 2011, Die Traumkonzeption in Jan Weiss "Dům o tisici patrech", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/440199

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