Auseinandersetzung mit Carl Schmitts "Zur geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus" von 1923


Dossier / Travail de Séminaire, 2005

48 Pages, Note: 10 Punkte/ voll befriedigend


Extrait


Inhaltsverzeichnis

I. Schmitts Grundthese

II. Die Ursprünge der Staats-, Demokratie- und Parlamentarismustheorien
a) Staatsabsolutistische Theorie
b) Liberalistische Theorie
c) Radikaldemokratische Theorie

III. Prinzipien des Parlamentarismus
1. Auslese des politischen Personals
2. Diskussion
3. Öffentlichkeit
4. Gewaltenteilung

IV. Die Rolle Schmitts in dem Streit um die Parteienstaatslehre
1. Die positivistische Lehre vom Parteienstaat
1. Organisation der Gesellschaft, der Staatswillensbildung und der Staatsorgane
2. Führerauslese
2. Kritik an der Lehre vom Parteienstaat
3. Gegenentwürfe zum Parteienstaat
a) Ständestaat
b) Autoritativer Sozialismus
c) Rätesystem

V. Schmitts Interpretation des Marxismus- „Die Extreme berühren sich“

VI. Die Bedeutung Schmitts für die Gegenwart

VII. Biographie

Carl Schmitt –

Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923)

I. Schmitts Grundthese

Im Vorwort zur 2. Auflage seines Werkes stellt Carl Schmitt klar, worum es ihm in seiner Kritik am parlamentarischen System überhaupt geht. Er möchte sich der ideologischen Substanz der parlamentarischen Demokratie nähern und die in seinen Augen vorhandenen Schwächen offen legen.

Die Antworten seiner Kritiker auf die 1. Auflage seines Werkes faßt er dabei unter der ihm gestellten Frage: „Was sonst?“ zusammen. Er will es nicht gelten lassen, daß die einzige Existenzberechtigung des Parlamentes in der Negation aller anderen denkbaren Varianten bestehen soll. Er will das parlamentarische System hinterfragen und sich nicht mit der Rechtfertigung begnügen, daß die parlamentarische Regierungsform das „kleinste aller Übel“ sei.

Für ihn steht die Frage im Raum, ob das Parlament nur eine „sozial-technische“ Organisationsform sei oder ob es eine Grundidee bzw. ein Ideal beinhalte, welches die Existenz des Parlamentes rechtfertigen würde.

II. Die Ursprünge der Staats-, Demokratie- und Parlamentarismustheorien

In dem Kapitel „Demokratie und Parlamentarismus“ beschreibt Schmitt die Entstehungsgeschichte der Demokratie seit dem 19.Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert habe ihr einen triumphalen Siegeszug ermöglicht, dem kein Staat Europas widerstanden habe. Die geistige Auseinandersetzung mit der Monarchie habe diese in die Defensive gedrängt und letztlich zu einem totalen Sieg der Demokratie geführt. Dabei sei die Demokratie jedoch nur ein polemischer Begriff[1] gewesen - die absolute Negation der Monarchie. Nach der Überwindung der Monarchie sei jedoch deutlich geworden, daß die Demokratie „vielen Herren diente“ und kein inhaltlich eindeutiges Ziel beinhalte. Zuerst sei sie mit dem Gedanken des Liberalismus einhergegangen, habe aber auch ebenso gut mit dem Sozialismus eine Symbiose bilden können, wie dies unter Napoleon III. bspw. geschehen sei. In anderen Varianten sei sie einhergegangen mit reaktionären und konservativen Ideen. All das würde schließlich beweisen, daß sie keine eigenen politischen Inhalte besitze, sondern lediglich eine „Organisationsform“ sei. Schmitt nimmt dies als Beleg dafür, daß man versucht habe der Demokratie eine inhaltliche Bedeutung zu geben, die man auf dem Gebiet des Ökonomischen zu finden geglaubt habe.

Dies hätte aber zu einer wesentlichen Veränderung des Begriffes geführt, was es nötig mache, den Begriff genauer zu untersuchen.

Um Schmitts Ausführungen über den Parlamentarismus im weiteren folgen zu können, muß man die Grundaussagen der Aufklärung bezüglich des Staates, seines Aufbaues und seiner Ausgestaltung betrachten. Denn Schmitt beruft sich bei der Begründung seiner These, daß wahre Demokratie nicht Liberaldemokratie bedeuten könne, insbesondere auf den Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Für Schmitt bedeutet Demokratie mit Bezug zu Rousseau die „Identität von Regierenden und Regierten“. In der repräsentativen Demokratie sieht er diese Identität aber nicht gewährleistet und verneint folglich die Existenz „wahrer Demokratie“ im parlamentarischen System der Weimarer Republik.

Für die weitere Auseinandersetzung mit Schmitt lohnt es sich, einen Blick auf die Ursprünge der verschiedenen Staatstheorien zu werfen. Als wichtigste Strömungen sind dabei die staatsabsolutistische, die liberalistische und die radikaldemokratische Staatstheorie näher zu betrachten.

All diese Staatstheorien versuchten im Zeitalter der Aufklärung den Zustand der menschlichen Gesellschaft darzustellen und nach Lösungen zu suchen, die das menschliche Miteinander regeln sollten.

Grundüberlegung war dabei, daß die Menschen ursprünglich in einem Zustand von Anarchie gelebt hätten. Da der Mensch aber ein vernunftbegabtes Wesen sei, habe er die Schädlichkeit dieses Zustandes, des „Kampfes aller gegen alle“ (Platon), erkannt und sich mit den anderen Individuen auf die Schaffung eines künstlichen, nicht im Naturzustand zu findenden Gebildes – des Staates – geeinigt.

Fraglich sei dann aber die Machtausgestaltung des Staates und dessen Organisation geworden.

a) Die Staatsabsolutistische Theorie

Grundannahme der Staatsabsolutisten, deren wichtigste Vertreter Thomas Hobbes (1588-1679) und Jean Bodin (1529-1596) gewesen sind, war, daß es einen Naturzustand gebe, in dem alle Menschen gegeneinander kämpften (bellum omnium contra omnes). Dieser bereits von Platon so beschriebene Kampf aller gegen alle bringe dabei zwei menschliche Leidenschaften zum Tragen. Das Machtstreben gegenüber anderen Menschen und die Furcht, das Opfer des Machtstrebens anderer zu werden. „Der Mensch ist des Menschen Wolf, aber auch des Menschen Hase.“ (homo homini lupus, sed homo homini lepus). Dieser bei Thomas Hobbes formulierte Satz sollte zeigen, daß der Mensch grundsätzlich gezwungen sei, zwischen diesen beiden Leidenschaften zu navigieren. Um aber diesem Dilemma zu entkommen, bediene sich der Mensch seiner ihm von Natur aus gegebenen Vernunft. Sie bewirke, daß er seine ungezügelte Freiheit, inklusive des Rechts des Stärkeren, auf ein Gebilde übertrage, welches den Krieg aller gegen alle, den Zustand totaler Anarchie, beende. Der Mensch verliere hierdurch aber nur scheinbar seine Freiheit. Die Übertragung der Macht auf den Staat garantiere ihm dafür im Gegenzug den Frieden und in dessen Gefolge auch wiederum die individuelle Freiheit. Es bestehe also nur scheinbar ein Gegensatz zwischen abgetretener Macht und errungener Freiheit.

Die Übertragung der Macht müsse aber absolut sein. Nur der Staat dürfe das Monopol physischer Gewaltanwendung innehaben. Der Staat müsse absolut souverän, d.h. unantastbar sein). Seinen Handlungen sei sich unter allen Umständen zu unterwerfen.. Der Staat als absoluter Souverän müsse in seinen Entscheidungen absolut frei und bar jeder Kritik sein. Der Souverän solle zwar seine Regierung nach bestem Wissen und Gewissen führen, um Willkür und Ungerechtigkeit zu vermeiden, tue er diese jedoch nicht, so stehe den Bürgern trotzdem kein Widerstandsrecht zu. Da sich die Absolutheit der Staatsgewalt am besten in einer Person manifestiere, sehen einige Staatsabsolutisten, z.B Hobbes, konsequenterweise den absoluten Souverän am besten in der Person des absoluten Monarchen verwirklicht. Für Hobbes ist der Erhalt der absoluten Staatsgewalt – Hobbes ist geprägt durch seine Erfahrungen im englischen Bürgerkrieg – absolut primär.

Eine demokratischere Variante der staatsabsolutistischen Theorie vertrat Baruch de Spinoza (1632-1677). Die Grundüberlegungen Spinozas über den Naturzustand (status naturalis) der Menschen ähneln dabei denen Hobbes’. Während Hobbes aber die absolute Monarchie als Träger der Staatsgewalt bevorzugt, gelten Spinozas Sympathien der Demokratie als Träger aller Staatsgewalt. Dabei ist er Vertreter des absoluten Mehrheitsprinzips, d.h. daß sich die Minderheit unter allen Umständen der Mehrheit unterwerfen müsse. Sie besitze kein Widerstandsrecht. Spinozas Überlegungen sind weder eindeutig staatsabsolutistisch noch ganz eindeutig liberal oder demokratisch. Daher kann man Spinoza auch als „große Figur des Überganges[2] zwischen Absolutismus und Liberalismus bezeichnen.

b) Liberalistische Staatstheorie

Im Gegensatz zu Hobbes verneinten die Liberalisten, deren wichtigste Vertreter John Locke (1632-1704), Voltaire (1694-1778) und Montesquieu (1689-1755) gewesen sind, den pessimistischen Grundcharakter, der in Hobbes Menschenbild lag und den absolut-souveränen Staat erfordern würde.

Ihr Denken wandte sich gegen den Staatsabsolutismus und verfolgte mehr die Rechte des Individuums, da sie glaubten, daß der Staat an sich auch eine Gefahr für die Freiheit des einzelnen sein konnte. Die Grundthese Hobbes’, sich zum eigenen Schutz dem Staat, dem Leviathan, unterzuordnen, hielt beispielsweise John Locke für grundlegend falsch: „Das heißt die Menschen für solche Narren zu halten, daß sie sich zwar bemühen, den Schaden zu verhüten, der ihnen durch Marder oder Füchse entstehen kann, aber glücklich sind, ja, es für Sicherheit halten, von Löwen verschlungen zu werden.“[3]

Entscheidend dabei ist die unterschiedliche Interpretation des menschlichen Urzustandes. Im Gegensatz zu Hobbes’ Kampf aller gegen alle sahen die Liberalisten im Urzustand ein Nebeneinander der Individuen in prinzipieller Gleichheit. Die Menschen würden dabei allgemein gültigen „Naturgesetzen“ folgen, wie z.B dem Trieb nach Frieden, zur Nahrungssuche, dem Selbsterhaltungstrieb, dem Sexualtrieb und dem Drang zu einem Leben in Gemeinschaft.

Insbesondere sei allen Menschen die Fähigkeit gegeben, sich ihrer Vernunft zu bedienen. Dem Mensch sei Individualität, aber auch Gesellschaftlichkeit gegeben, da es ihm auch ein natürliches Bedürfnis sei, nach Gerechtigkeit und Liebe zu anderen Menschen zu trachten. Diese Bedürfnisse und die Vernunft würden die Menschen dazu bringen, sich auf ein politisches Gemeinwesen zu einigen, welches die individuellen Rechte (Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum) gewährleisten würde.

Insoweit gehen die Ansichten der Liberalisten mit denen der Staatsabsolutisten bezüglich der Notwendigkeit des Staates weitestgehend d`accord.

Im Gegensatz zu Hobbes verneinen aber die Liberalisten die Notwendigkeit absoluter Macht des politischen Gemeinwesens – des Staates. Der Staat soll ihrer Ansicht nach lediglich eine Schutzgemeinschaft sein, deren Macht so gering wie möglich zu halten sei. Die staatliche Ordnung dürfe also nur ein notwendiges Minimum betragen, um den Schutz seiner Individuen zu gewährleisten. Problematisch dabei sei jedoch, daß der Staat dadurch notwendigerweise Menschen zu Herrschern über andere Menschen mache, eine dem Liberalismus widerwärtige Konsequenz. Um aber diesem Dilemma zu entgehen, etablieren die Liberalisten, insbesondere Locke und weiterführend Montesquieu, die Gewaltenteilung staatlicher Macht. Konkurrierende Staatsorgane, bei Locke Exekutive und Legislative, bei Montesquieu Exekutive, Legislative und Judikative, sollen die staatliche Macht mäßigen.

c) Radikaldemokratische Staatstheorie

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist in der Epoche der Aufklärung das Pendant zu Locke, Montesquieu und deren Liberalismus. Bei ihm ist der Mensch zuerst weniger Vernunftwesen, sondern ein seine Bedürfnisse befriedigendes Lebewesen. Der Mensch lebe in absoluter Selbstgenügsamkeit und aus der Kraft der Selbstliebe heraus. Gesellschaften, das heißt der Zusammenschluß von Menschen, seien nicht natürlich. Einzig die Familie sei ein natürlicher Zusammenschluß. „O bgleich die Kinder nur solange mit dem Vater verbunden bleiben, wie sie seiner zu ihrer Erhaltung bedürfen.“[4] Sobald die Kinder eigenständig sind, löse sich das natürliche Band. Bleibt die Familie danach zusammen, so geschieht dies nicht aus einem natürlichen Zusammenhang, sondern aufgrund eines „freiwilligen Übereinkommens“, eines Vertrages der Familienmitglieder. Da alle Menschen von Natur aus gleich seien, habe „kein Mensch eine natürliche Gewalt über seinesgleichen“. Daher verneint Rousseau das Recht des Stärkeren als Grundlage für menschliche Gesellschaften. Stärke sei lediglich ein „physisches Vermögen“, der nachzugeben durch die Klugheit geboten sein kann, nicht aber durch eine Handlung des Willens. Rein faktische Gewalt hat nach Rousseau keine Bedeutung, ihr keine Folge zu leisten, sei nicht illegitim. Im Gegenteil: Nur der rechtmäßigen Gewalt sei Folge zu leisten.[5] Dies bringt das Problem auf, wann Gewalt legitim sein kann. Rousseau bietet zur Lösung dieses Problems den Gesellschaftsvertrag (contrat social) an.

Dadurch werde bewirkt, daß der einzelne seine Freiheit behalte, gleichwohl er aber Mitglied einer menschlichen Gesellschaft werden kann. “Während sich endlich jeder allen übergibt, übergibt er sich damit niemandem“.[6] Der einzelne ist Teil eines organischen Ganzen. Er wird „untrennbarer Teil des Ganzen“ – des allgemeinen Willens (volonte general). Der individuelle Wille (volonte particulaire) wird dagegen illegitim. Er erscheint als Selbstsucht und Egoismus, also als Rückfall in den Naturzustand des Menschen, die Anarchie.

Im Liberalismus und insbesondere bei Montesquieus finden wir die Ursprünge des parlamentarischen Gedankens. In seinem Werk „Vom Geiste der Gesetze“ (1748) greift Montesquieu die Gedanken Lockes auf, der insbesondere die Gewaltenteilung zum ersten Mal andachte.

Diese Gewaltenteilung sollte die vom Volk gewährte Staatsgewalt in sich selbst ausbalancieren, weil die gesamte Macht in der Hand eines einzigen, oder einer einzigen Gruppe, eine zu starke Versuchung für Mißbrauch sei. „Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte.“[7] Die Liberalisten waren insoweit durch die Schreckensherrschaft des Langen Parlamentes (1640-1660) desillusioniert. Eines Parlamentes, welches für einige Zeit Exekutive und Legislative in einer Hand vereinte und mit dieser Machtfülle England letztlich in einen Bürgerkrieg führte, der erst mit der Diktatur Cromwells endete. Da Montesquieu das Volk als Souverän sah, war es nunmehr fraglich, wie das Volk sich selbst regieren und seinem Willen praktisch Geltung verschaffen solle. Montesquieu wollte dies durch die repräsentative Demokratie gewährleistet sehen, d.h. das Volk solle Vertreter wählen, nicht aber unmittelbar entscheiden dürfen.

„Die Mehrzahl der antiken Republiken litt an einem schweren Gebrechen: dort besaß das Volk das Recht, Beschlüsse, die zugleich Vollzug verlangen, eigenmächtig zu fassen - wozu das Volk vollkommen außerstande ist. Es darf nur durch die Wahl der Repräsentanten an der Regierung mitwirken. So weit reicht sein Horizont. Zwar können nur wenige Menschen die Leistungskraft von Menschen genau ermessen, aber jeder ist imstande, im großen ganzen zu erkennen, ob der Mann seiner Wahl besser beraten ist als die meisten anderen.“[8] Den Widerspruch – daß er einerseits den Menschen Vernunft zuspricht, aber sie andererseits für unfähig hält, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen – umgeht Montesquieu mit der Erklärung, daß es dem Volk zwar nicht an Vernunft, aber am notwendigen Sachverstand fehle, um komplexe Entscheidungen treffen zu können. Der Sachverstand des Volkes reiche hingegen aus, um zu sehen, welche vom Volk zu wählenden Vertreter den nötigen Sachverstand besäßen.

Daher ist er auch entschiedener Gegner des imperativen Mandates. Der Abgeordnete solle vollkommen frei in seiner Entscheidung sein und nicht auf Abruf stehen, falls er gegen den Willen seiner Wähler entscheiden sollte. Denn dies mache eine vernunftmäßige Entscheidung unmöglich. Dabei solle aber nicht jeder zum Vertreter gewählt werden können. Montesquieu will die materielle Unabhängigkeit der Vertreter gewahrt sehen. Dazu fordert Montesquieu ein Zensuswahlrecht, was bestimmten Schichten die Repräsentation stark erschweren solle.[9]

Schärfster Gegner der Gewaltenteilung und der repräsentativen Demokratie ist Rousseau gewesen. „Ich behaupte also, dass die Staatshoheit, die nichts anderes als die Ausübung des allgemeinen Willens ist, nie veräußert werden kann und sich das Staatsoberhaupt als ein kollektives Wesen nur durch sich selbst darstellen lässt.“[10] Aus diesem Grund ist für Rousseau auch die Teilung der Gewalten undenkbar. Der Allgemeinwille, der sich in der Staatsgewalt manifestiere, sei ein organisches Ganzes und seine Zerstückelung in mehrere Teile eine Verletzung des Allgemeinwillens. Daß dies in der Realität doch geschehe, seien für ihn „Taschenspielerstreiche unserer Staatsmänner“. Der allgemeine Wille des Volkes sei dagegen „beständig der richtige“ und ziele immer auf das allgemein Beste ab. Gleichwohl könne sich das Volk irren über den Allgemeinwillen. Es sei zwar unbestechlich, aber es lasse sich hinters Licht führen.[11]Man will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht“.

Dabei unterscheidet Rousseau stark zwischen dem Allgemeinwillen und dem Willen der Mehrheit. Ersterer sei ein Abstraktum. Der Allgemeinwille verfolge das Gemeinwohl ohne Rücksicht auf die Partikularinteressen der einzelnen Menschen. Dazu sei es nötig, daß sie sich von ihren Einzelinteressen lösten, die die größte Gefahr für die Verwirklichung des Ideals seien. Jeder Bürger müsse vollkommen alleine, ohne Bezug zu den anderen, abstimmen. Daher dürfe es auch keine Parteien geben. „Um eine klare Darlegung des allgemeinen Willens zu erhalten, ist es deshalb von Wichtigkeit, dass es im Staate möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll.“[12] Dem Volk komme dabei aber nur die Rolle des Gesetzgebers zu. Es setze die Rahmenbedingungen, nach denen die Gemeinschaft funktionieren solle. Dies geschehe durch die Beteiligung aller Bürger in einer Vollversammlung nach Vorbild der griechischen Polis. Für die Niederungen des Alltages und seinen Entscheidungen bedürfe es aber gleichwohl einer Regierung. „Wie wir einsahen, gehört die gesetzgebende Gewalt dem Volke und kann nur ihm gehören. Aus den vorher dargelegten Grundsätzen lässt sich dagegen leicht ersehen, dass der Gesamtheit als Gesetzgeberin oder Oberherrin nicht auch die vollziehende Gewalt gehören darf, weil diese nur mit einzelnen Rechtsgeschäften zu tun hat, die außerhalb des Geschäftskreises des Gesetzes und mithin auch des Staatsoberhauptes liegen, von dem nichts als Gesetze ausgehen können.“[13] Für die Regierung bedarf es folglich eines „Agenten“, der nach Anleitung des allgemeinen Willens tätig wird. „Was ist denn nun die Regierung? Ein vermittelnder Körper, der zwischen den Untertanen und dem Staatsoberhaupte zu ihrer gegenseitigen Verbindung eingesetzt und mit der Vollziehung der Gesetze und der Aufrechterhaltung der bürgerlichen wie der politischen Freiheit betraut ist.“[14] Die Regierung handle nach den vom Volke erlassenen Gesetzen. Tue sie dies nicht im Rahmen des Auftrages, so handle sie unrechtmäßig. Ihre Gewalt sei dann illegitim. „Es ist lediglich ein Auftrag, ein Amt, in dem einfache Beamte des Staatsoberhauptes in seinem Namen die Macht ausüben, die er ihnen übertragen hat, und die er, sobald es ihm gefällt, beschränken, abändern und ganz zurücknehmen kann.“[15]

[...]


[1] Carl Schmitt, Zur geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 32

[2] Politische Theorien von der Antike bis zu Gegenwart S. 190

[3] John Locke II § 93 2. Abhandlung über die Regierung

[4] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 1.Buch, 2.Kapitel, Erste gesellschaftliche Vereinigungen

[5] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 1.Buch, 3.Kapitel, Recht des Stärkeren

[6] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 1.Buch, 6.Kapitel, Der Gesellschaftsvertrag

[7] Montesquieu, Vom Geiste der Gesetze, 2. Buch, 6. Kapitel: Über Gewaltenteilung

[8] Montesquieu, Vom Geiste der Gesetze, 2. Buch, 6. Kapitel: Über Gewaltenteilung

[9] Politische Theorien von der Antike bis zu Gegenwart S. 213

[10] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 2.Buch, 1.Kapitel, Die Staatshoheit ist unveräußerlich

[11] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 2.Buch, 3.Kapitel, Ob der allgemeine Wille irren kann

[12] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 2.Buch, 3.Kapitel, Ob der allgemeine Wille irren kann

[13] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 3.Buch, 1.Kapitel, Die Regierung im allgemeinen

[14] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 3.Buch, 1.Kapitel, Die Regierung im allgemeinen

[15] Rousseau; Der Gesellschaftsvertrag; 3.Buch, 1.Kapitel, Die Regierung im allgemeinen

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Résumé des informations

Titre
Auseinandersetzung mit Carl Schmitts "Zur geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus" von 1923
Université
Bielefeld University
Cours
Staats-/Demokratietheorienseminar
Note
10 Punkte/ voll befriedigend
Auteur
Année
2005
Pages
48
N° de catalogue
V44072
ISBN (ebook)
9783638417327
ISBN (Livre)
9783638714075
Taille d'un fichier
564 KB
Langue
allemand
Annotations
Die Arbeit gibt einen kurzen Überblick über die wichtigsten Staatstheorien der Neuzeit. Des weiteren setzt sich das Werk mit Carl Schmitt und seinen staatsrechlichen Gegenspielern in der Weimarer Republik auseinander. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob eine Demokratie notwendigerweise ein Parteienstaat mit Parlament sein muß, oder ob es andere Wege gibt.
Mots clés
Auseinandersetzung, Carl, Schmitts, Lage, Parlamentarismus, Staats-/Demokratietheorienseminar
Citation du texte
Dpilom-Finanzwirt Falk-Christian Barzik (Auteur), 2005, Auseinandersetzung mit Carl Schmitts "Zur geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus" von 1923, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44072

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