Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Das Verstehen literarischer Texte
3 Selbstständig-kooperatives Lernen
3.1 Das selbstständige Lernen
3.2 Das kooperative Lernen
3.3 Die Gruppenrecherche
4 Unterrichtsvoraussetzungen
4.1 Allgemeine Unterrichtsvoraussetzungen
4.2 Spezielle Unterrichtsvoraussetzungen
4.2.1 Lernausgangslage in Bezug auf das Verstehen literarischer Texte
5 Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“
5.1 Zur Textauswahl
5.2 Sachanalyse
6 Begründung der Lehr- und Lernstruktur
7 Darstellung der Unterrichtsreihe
7.1 Überblick über die Unterrichtsreihe
7.2 Einführungsphase
7.2.1 Planung und Durchführung
7.2.2 Analyse
7.3 Arbeit in den Gruppen
7.3.1 Erarbeitung der Gruppenthemen
7.3.2 Gruppe „Die Wissenschaft“
a. Planung und Durchführung
b. Analyse Gruppe „Die Wissenschaft“
7.3.3 Gruppe „Der historische und kulturelle Kontext im Roman“
a. Planung und Durchführung
b. Analyse Gruppe „Der historische und kulturelle Kontext im Roman“
7.4 Auswertungsphase
7.4.1 Planung und Durchführung
7.4.2 Analyse
8 Reflexion
9 Bibliographie
10 Anhang
1 Einleitung
Im Verlauf der hier beschriebenen Unterrichtsreihe erarbeiteten sich die Schülerinnen und Schüler einer 9. Klasse selbstständig Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“. Soweit wie möglich ihren eigenen Interessen folgend erlebten sie dabei am Beispiel eines historischen Romans den – in diesem Fall besonders einsichtigen – Einfluss von Allgemeinwissen und spezifischem Wissen auf das Verständnis literarischer Texte. Durch die gemeinsame Auseinandersetzung innerhalb thematischer Kleingruppen erarbeiteten die Schüler selbstständig ein Textverständnis und bereiteten ihr spezielles Untersuchungsthema für eine Präsentation auf. Die gewählte Methode der „Gruppenrecherche“ als einer Form des selbstständig-kooperativen Lernens wurde mittels dieser Reihe auf den Literaturunterricht übertragen.
Die Planung der Reihe entstand aufgrund folgender Beobachtungen: Bei der Analyse und Interpretation literarischer Texte im Unterricht stellte ich oft fest, dass die Schüler zwar den Wortlaut der untersuchten Textstellen verstanden und analysierten, die Intentionen und Kausalzusammenhänge von Handlungen und Gefühlen der Protagonisten aber meist außer Acht ließen und auf Nachfragen erst einmal zu raten begannen. Sie verstanden also „den Text als solchen […], nicht aber die im Text beschriebene Wirklichkeit“[1]. Gleichzeitig konnte ich beobachten, dass die meisten Schüler vollkommen anders an Schullektüre heran gehen als an ihre Privatlektüre, auch wenn letztere, wie sich bei einer Buchvorstellung im ersten Halbjahr des Schuljahres zeigte, teilweise Titel des klassischen Schulkanons wie z.B. „Effi Briest“ einschließt. In dieser Buchvorstellung schienen die für die Schüler relevanten Empfehlungskriterien nicht nur die Spannung der Handlung oder der Unterhaltungswert zu sein, sondern gerade die Identifikationsmöglichkeit mit den Protagonisten und damit das Miterleben von Emotionen, ein Informationsgewinn zu spezifischen Themen oder gesellschaftlichen Problemen („Man lernt etwas über…“) sowie auch die Sprache des Romans. Diese Kriterien ähneln nun frappant den Auswahlkriterien eines Lehrers. Warum sind die Schüler bei der privaten Lektüre gerade von dem gebotenen historischen, wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Kontext, der Spannungskurve und dem Miterleben der Gefühlslage des Protagonisten gefesselt, die sie bei der schulischen Lektüre so schwer erfassen können? Was also unterscheidet die Lektüre „zum Vergnügen“ von derjenigen „für die Schule“? Im bisherigen Unterricht habe ich vor allem in Unterrichtsgesprächen den Eindruck gewonnen, dass viele Schüler die Schullektüre nicht mit ihren thematischen oder zwischenmenschlich-sozialen Kenntnissen und Erfahrungen in Verbindung bringen. Auf Nachfrage wissen sie oft doch schon sehr viel, was ihnen zum Verständnis helfen könnte, zeigen sich aber zunächst erstaunt über mögliche Zusammenhänge („Das hat damit etwas zu tun?“).
Daher möchte ich den Schülern vermitteln, dass ihr bestehendes und eventuell zu vertiefendes Wissen auf allgemeinen oder spezifischen Gebieten auch zum Verständnis literarischer Texte wesentlich beiträgt, dass also Literatur auch im schulischen Kontext auf einer, jedem zugänglichen, gemeinsamen Wissensgrundlage aufbaut.
Ein zweiter Aspekt ist die Rolle der gemeinsamen Auseinandersetzung mit
Literatur, die über kurze Gruppenarbeitsphasen von Schülern oft zwar positiv, aber im Vergleich zu lehrerzentrierten Unterrichtsformen im Ergebnis nicht immer als ausreichend zielführend wahrgenommen wird. Daher möchte ich auch die gemeinsame Auseinandersetzung über Literatur als persönliche Bereicherung und wesentliche Hilfe zum Verständnis von Literatur erfahrbar machen.
Zusammengefasst ist es meine Intention, den Schülern die Bedeutung von Wissen und Austausch für das Verständnis literarischer Texte zu vermitteln.
Daraus leite ich für die dargestellte Unterrichtsreihe die folgende These ab: Das Verstehen literarischer Texte kann durch die Erarbeitung von Wissen und dem gemeinsamen Austausch in Form des selbstständig-kooperativen Lernens sinnvoll gefördert werden.
2 Das Verstehen literarischer Texte
Der Kompetenzschwerpunkt der Unterrichtsreihe liegt auf dem Verstehen literarischer Texte. Für das Ende der Jahrgangsstufen 9 und 10 sieht der Rahmenlehrplan den folgenden Standard vor:
Die Schülerinnen und Schüler erschließen überschaubare epische, lyrische und dramatische Texte, die an Alltagserfahrungen und mediale Verarbeitungen anschließbar sind, berücksichtigen ansatzweise Textsortenspezifik und historische und kulturelle Kontexte, differenzieren zwischen Perspektiven, erfassen den Einfluss ausgewählter sprachlich-stilistischer Mittel auf indirekte und direkte Bedeutung.[2]
Dieser Standard meint sowohl eine pragmatische Lesekompetenz als auch eine literarische Kompetenz. Beide werden im Rahmenlehrplan näher definiert:
Lesekompetenz basiert auf einer stabilen Lesemotivation und ist ganz allgemein die Fähigkeit, Informationen aus Texten zu entnehmen und zu verknüpfen sowie Texte zu reflektieren und zu beurteilen, und dies auf der Basis eines allgemeinen, speziellen oder literarischen Orientierungswissens. Als spezifisch literarische Kompetenz lässt sich darüber hinaus die Fähigkeit auffassen, fiktionale Entwürfe für die Auseinandersetzung mit Fremdem und der eigenen Person zu nutzen sowie historische und kulturelle Andersartigkeit bzw. Differenzen zu verstehen.[3]
Die Lesekompetenz geht nach dieser Definition über die einfache Informationsentnahme hinaus, denn die Reflexion und Beurteilung auf der Grundlage eines vielfältigen „Orientierungswissens“ setzt das Verstehen des Textes voraus. Gleichzeitig deutet diese Definition die Komplexität des eigentlichen Lese- und Verstehensprozesses an, der als eine „Interaktion von Text und Leser, von bottom-up- und von top-down-Prozessen“[4] zu erklären ist, in der also Informationen aus der Textvorlage und aus dem Erfahrungs- und Wissenshorizont des Lesers verknüpft werden. Dementsprechend setzt ein verstehendes Lesen ein erfolgreiches Zusammenspiel dieser beiden Prozesse voraus[5] und kann durch die Art und Qualität des Vorwissens maßgeblich beeinflusst werden[6]. Dieses Vorwissen beinhaltet Weltwissen, linguistisches Wissen, Situationseinschätzung, Erfahrungen und Erwartungen[7].
Ausschlaggebend für die Rezeption literarischer Texte sind insbesondere eine „Kontextualisierung“[8] und ein „domänenspezifisches Vorwissen“[9].
Problematisch erscheint mir in der Umschreibung des Rahmenlehrplans die sehr einseitige Definition der literarischen Kompetenz, die überspitzt formuliert Literatur(unterricht) zum Vehikel der Förderung einer interkulturellen oder sozialen Kompetenz im Umgang mit zwischenmenschlichen Konflikten degradiert. Dabei ist gerade die literarische Kompetenz, die im weitesten Sinne als der „kompetente Umgang mit literarischen Texten“[10] beschrieben werden kann, äußerst vielschichtig angelegt. Sie reicht von der ganz subjektiven „imaginativen Vergegenwärtigung“[11] des Gelesenen über die Perspektivübernahme und praktischen wie analytischen Untersuchung literarischer Texte bis zum literaturhistorischen Bewusstsein[12]. Selbstverständlich kann der Umgang mit Literatur durch eine Perspektivübernahme und das stellvertretende Erleben von Konflikten und Handlungsmöglichkeiten, also durch eine subjektive Auseinandersetzung, die Selbstreflexion und die soziale Kompetenz fördern, gleichzeitig sind diese aber auch Voraussetzung für das Verstehen derselben literarischen Texte. Wem schon in der Realität empathische Fähigkeiten fehlen, dem werden auch Ursachen und Folgen fiktiven Handelns im Textzusammenhang unerklärlich bleiben.
Als wichtige Teilkompetenz des Verstehens literarischer Texte nennt der Rahmenlehrplan als Standard für den Jahrgang 7/8 explizit die Auseinandersetzung mit anderen über den Text[13], konkretisiert in: Die Schüler „sprechen mit anderen über Rezeptionsergebnisse, vergleichen und reflektieren Unterschiede“[14]. Dies trägt der Beobachtung Rechnung, dass Verstehen als „dynamischer, dialogischer Prozess“ abläuft, sei es im Selbstgespräch oder im Gespräch mit einem Gegenüber[15]. Dieser Prozess ist seiner Natur nach „individuell und unabschließbar“[16], deshalb kann eine geschlossene Interpretation in keinem Kontext (Unterrichts-)Ziel sein[17]. Vielmehr ist das Verstehen ein „Prozess der Hypothesenbildung, -überprüfung, -ergänzung und –modifikation“[18], gleicht also als individueller Prozess dem dialogischen Verlauf im gemeinsamen Gespräch. Im Standard für den folgenden Jahrgang 9/10 wird diese Teilkompetenz nicht wieder erwähnt, eine logische und sinnvolle weitere Kompetenzentwicklung könnte etwa lauten: „Die Schüler diskutieren im Gespräch ihre Rezeptionsergebnisse, überprüfen und erweitern ihre Deutungshypothesen.“ Der Begriff des „Gesprächs“ ist in diesem Kontext nicht abschließend definiert und die Unterscheidung von „literarischem Gespräch“ und dem „Gespräch über Literatur“ ist noch unklar19. In dieser Arbeit wird der Begriff des „literarischen Gesprächs“ nach Härle/Steinbrenner als „Verfahren der gemeinschaftlichen Problemlösung“ im Kontext der Rezeption literarischer Texte, nicht aber als Verfahren zur Findung definitiver Lösungen verstanden[19].
Im Zusammenhang meiner Unterrichtsreihe möchte ich einige Teilkompetenzen des Verstehens literarischer Texte hervorheben:
1. Informationsentnahme durch gezieltes und genaues Lesen im Roman und im zusätzlichen, im Kontext stehenden Material, um die eigene Aufgabenstellung bearbeiten zu können;
2. das literarische Gespräch[20] als eine offene Form der Interpretation innerhalb der Gruppen zur Klärung des Textverständnisses und zur Erarbeitung des Gruppenthemas;
3. die Erkenntnis der Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses[21] durch die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Text sowie durch die Erfahrung, dass Vorwissen bzw. Allgemeinbildung, Textarbeit und Recherche zu einem erweiterten oder vertieften Textverständnis führen;
4. ein bewusster Umgang mit Fiktionalität[22] durch die Textauswahl (fiktionale Behandlung historischer Figuren/Autoritäten), die Gegenüberstellung von Roman und Realität und eine Diskussion über das Recht eines Autors zur ‚Verfälschung‘ der Wirklichkeit.
3 Selbstständig-kooperatives Lernen
Das selbstständig-kooperative Lernen umfasst zwei sich gegenseitig erweiternde methodische Konzepte: Das selbstständige Lernen meint, dass Lernende eigene Entscheidungen bezüglich der Lerninhalte oder der Lernmethoden treffen[23]. Bei dem kooperativen Lernen handelt es sich um ein gemeinsames, unterstützendes Lernen zu zweit oder in Kleingruppen, bei der sich individuelles Arbeiten und der Austausch über diese Vorarbeit sowie eine gemeinsame Weiterführung ergänzen. So sollen die Qualität und die Anwendbarkeit des erworbenen Wissens verbessert werden[24]. Darüber hinaus haben sowohl das Konzept des selbstständigen Lernens als auch das des kooperativen Lernens aber auch eine über das schulische Lernen hinausgehende Intention. Sie sollen die Voraussetzung für ein lebenslanges Lernen schaffen, die „persönliche Autonomie“,
„Kritikfähigkeit, Selbstständigkeit und Mündigkeit“[25] fördern und damit „sozialintegrativ und gesellschaftspolitisch präventiv wirken, da durch das gemeinsame Lernen und Arbeiten im Klassenverband der Umgang mit und die Bewältigung von Konflikten zwischen verschiedenen Gruppierungen eingeübt werden“[26].
Für mein Vorhaben erschien es mir sinnvoll, die beiden Konzepte des selbstständigen und des kooperativen Lernens zu kombinieren. In der Vorarbeit zeigte sich die Methode der „Gruppenrecherche“[27] als meinen Vorstellungen weitgehend entsprechend. Hier sollen aber zunächst die beiden Konzepte einzeln vorgestellt werden.
3.1 Das selbstständige Lernen
Beim Konzept des selbstständigen Lernens steht die Frage nach der Mitbestimmung von Inhalten und Arbeitsorganisation im Mittelpunkt. Die teils synonym gebrauchten Begriffe des „selbstorganisierten“, „selbstbestimmten“ oder „selbstgesteuerten“ Lernens beziehen sich jeweils auf den Grad der Mitbestimmung des Lernenden auf den Lernprozess. Als „selbstbestimmtes“ Lernen wird die Möglichkeit des Lernenden bezeichnet, die Auswahl von Inhalten und Lernzielen mitbestimmen zu können, während von einem „selbstgesteuerten“ Lernen dann die Rede ist, wenn sich die Mitbestimmung auf die Lernorganisation bei vorgegebenen Lerninhalten und -zielen begrenzt[28]. Die Begriffe „selbstorganisiertes“ und „selbstständiges“ Lernen sind dagegen nicht so klar definiert, den dargestellten Beispielen ist aber zu entnehmen, dass darunter zumeist die inhaltliche Mitgestaltung bei einem vorgegebenen Oberthema und abzudeckenden Pflichtbereichen sowie die Selbstorganisation des Arbeitsprozesses in einem gegebenen Zeitrahmen verstanden wird[29].
Das selbstständige Lernen initiiert ein „planvolles und zielstrebiges“ Lernen über einen längeren Zeitraum hinweg.[30] Das beinhaltet für die Schüler, allgemeine Arbeitsaufträge unter Berücksichtigung ihres Gruppenthemas in konkrete Arbeitsvorgänge umzusetzen, den eigenen Arbeitsprozess zu planen, Informationen zu beschaffen und innerhalb der Gruppe neue Arbeitsmethoden zu entwickeln und anzuwenden. Dazu gehört nicht zuletzt der Umgang miteinander, der kommunikative Auseinandersetzung und Kompromissbereitschaft erfordert.
Die Fachliteratur nennt sehr ähnliche Grundvoraussetzungen in Bezug auf die Umsetzung selbstständiger Arbeitsmethoden im Unterricht[31]. Zum einen ist das die Vorbereitung der inhaltlichen Arbeit durch eine Vorstellung des Themas und die Moderation der gemeinsamen weiteren Planung, außerdem die Unterstützung bei der weiterführenden thematischen Recherche und der methodischen Hilfe in der Vorbereitung der Präsentation. Zum anderen liegen wichtige Grundvoraussetzungen in der Gestaltung des Arbeitsprozesses: Gruppenbildung, Regeln für das gemeinsame Arbeiten innerhalb der Gruppen, Vorgeben eines Zeitrahmens mit Erfassen des Zeitbedarfs für Lektüre, weiterführende Recherche, Austausch von Informationen, Erarbeitung und schließlich Vorstellung der Ergebnisse. Außerdem soll eine wiederholte Reflexion über den Arbeitsprozess innerhalb der Gruppen und im Klassenplenum eingeplant werden, die z.B. auf einem Gruppenprotokoll aufbauen kann.
3.2 Das kooperative Lernen
Das Konzept des kooperativen Lernens folgt einer konstruktivistischen Auffassung von Wissen, d.h. der Annahme, dass „Wissen durch eine interne subjektive Konstruktion von Ideen und Konzepten“[32] entsteht und folglich eine individuelle Konstruktion darstellt. Konsequenterweise zeichnet sich ein erfolgreiches Lehren durch die Schaffung eines Lernumfelds aus, in dem die Lernenden selbst Antworten finden und einen individuellen Verstehensprozess durchlaufen können[33]. Dabei sollen sich die Schüler das Wissen selbst erarbeiten, indem sie die neuen Informationen interaktiv verarbeiten und damit auch besser behalten[34]. Dazu setzen sich die Schüler zunächst in Einzelarbeit mit einer Aufgabenstellung auseinander und tauschen sich in einem zweiten Schritt mit einem oder mehreren Partnern über ihre ersten Ideen oder Arbeitsergebnisse aus. Bei der Anwendung dieser ersten zwei Schritte in kurzen Unterrichtsphasen, z.B. in Vorbereitung auf eine Plenumsphase, lässt sich eine deutlich höhere und qualitätvollere Beteiligung aller Schüler beobachten, da auch schüchterne oder langsamere Schüler Zeit und Raum haben, ihre Gedanken im geschützten Raum der Kleingruppe zu diskutieren und weiter zu entwickeln.
Soll das kooperative Verfahren Grundlage einer produktorientierten Gruppenarbeit sein, gelten verschiedene „Gelingensbedingungen“ für einen erfolgreichen Ablauf, deren Kern eine „soziale Interdependenz“ darstellt, also die
„positive wechselseitige Abhängigkeit“ der Gruppenmitglieder untereinander[35]. Das bedeutet, dass in Kleingruppen eine Arbeitsteilung vorgegeben oder selbstständig vorgenommen wird, die eine individuelle Verantwortlichkeit jedes einzelnen Gruppenmitglieds für einen Teilbereich und damit eine Abhängigkeit der Schüler untereinander schafft, um das gemeinsame Ziel erreichen zu können37. Je nach Grad der Selbstständigkeit steigen folglich die Anforderungen an die sozialen Kompetenzen der Schüler, in besonderem Maß die kommunikativen Fähigkeiten sowohl in Bezug auf die Kommunikation und Durchsetzung der eigenen Wünsche und Positionen, als auch in Bezug auf inhaltliche und organisatorische Auseinandersetzungen, die zu möglichst für alle Beteiligten annehmbaren Kompromissen führen sollen. Begleitet wird die Arbeit durch eine wiederholte Reflexion des Gruppen- und Arbeitsprozesses.
Das kooperative Arbeiten fördert merklich die qualitative und quantitative Beteiligung der Schüler am Unterrichtsgegenstand und damit die kommunikative Kompetenz sowie ein positives Verhältnis sowohl zwischen den Schülern und dem Lehrer, als auch der Schüler untereinander. Durch unmittelbare Erfolge steigen die Lernzufriedenheit und die Leistungsbereitschaft der Schüler. Gleichzeitig werden verschiedenste Aspekte einer sozialen Kompetenz gestärkt[36]. Diese Erfolge lassen sich unterschiedlich begründen: Zum einen wird die Motivation der Schüler angeregt, die sowohl in dem gemeinsamen Ziel als auch in dem gemeinsamen Arbeiten selbst bestehen kann[37]. Zum anderen erfordert die äußere Organisation eine stärkere Auseinandersetzung der Schüler mit dem Thema sowohl in der inhaltlichen Durchdringung als auch in der sprachlichen Interaktion40.
3.3 Die Gruppenrecherche
Die „Gruppenrecherche“[38] verbindet selbstständige und kooperative Elemente des Lernens und Arbeitens in der Gruppenarbeit, indem sie die selbstständige Erarbeitung eines Themas von der Mitarbeit an der Themenstellung über die Organisation des Arbeitsprozesses bis zur Aufbereitung und Präsentation des Arbeitsergebnisses den Regeln des kooperativen Lernens unterwirft. Dabei entwickeln die Schüler zu einem Gesamtthema einzelne Fragestellungen, die sie dann ihrem Interesse folgend in Kleingruppen bearbeiten. Eine selbstständig vorgenommene Arbeitsteilung führt zu individueller Verantwortlichkeit und wechselseitiger Abhängigkeit innerhalb der Gruppen und im Rahmen des Gesamtthemas auch gegenüber der ganzen Klasse. Durch den hohen Grad an Selbstständigkeit und damit Verantwortung für das Ergebnis kommt einer ständig begleitenden und vom Lehrer gelenkten Reflexion der Arbeit ein starkes Gewicht zu.
Borsch entwickelt die folgenden sechs Phasen im Ablauf der Gruppenrecherche[39]:
1. Themenstellung und Gruppenbildung
Zu einer vorgegebenen Themenstellung notieren sich die Schüler individuell Ideen und Fragen, tauschen sie zunächst mit einem Partner, dann in einer Kleingruppe aus oder diskutieren diese direkt in einer Kleingruppe. Im Plenum werden die Aspekte gesammelt und zu sinnvollen Fragekomplexen zusammengefasst. Im Anschluss wählen die Schüler autonom nach ihren individuellen Interessen ein Teilthema zur Bearbeitung aus. Das bedeutet, dass die Erarbeitung in Interessengruppen geschieht.
2. Aufgabenplanung in den Arbeitsgruppen
Innerhalb der Arbeitsgruppen wird die Themenstellung noch einmal diskutiert und in Teilbereiche strukturiert. Die Schüler müssen ein gemeinsames Ziel entwickeln und die Arbeitsschritte dorthin inhaltlich wie zeitlich ermitteln. Schließlich nehmen sie gemeinsam eine Arbeitsteilung vor und erstellen einen ersten Zeitplan.
3. Bearbeitung der Fragestellung in den Arbeitsgruppen
In Einzel- oder Partnerarbeit recherchieren und sammeln die Schüler
Informationen und Material zu ihrem Aufgabenfeld und werten es auf ihre Fragestellung hin aus. In der Gruppe werden Zwischenergebnisse und Unklarheiten vorgestellt und diskutiert, sowie die gemeinsame Planung bei Bedarf angepasst. Die täglichen Arbeitsergebnisse werden in einem Protokoll festgehalten. Durch die Anpassung und Dokumentation der Arbeitsschritte findet innerhalb der Gruppen eine ständige Reflexion des Arbeitsprozesses statt, wodurch Spannungen zwischen den Schülern früh auftreten, aber auch geklärt werden können.
4. Auswertung der Arbeitsergebnisse und Planung der Präsentation in den Arbeitsgruppen
Die Planung und Erarbeitung der Gruppenpräsentation führt alle Teilbereiche zusammen. Die Schüler beschäftigen sich mittels der Organisation und Aufbereitung ihrer Informationen noch einmal intensiv und zielgerichtet mit ihrem Thema, da sie es ihren Mitschülern verständlich und ansprechend darbieten müssen.
5. Präsentation der Gruppenarbeiten vor der Klasse
Die einzelnen Gruppen präsentieren ihre Arbeitsergebnisse vor der Klasse. Nach möglichst gemeinsam erstellten Kriterien wird den Gruppen ein Feedback zu ihrer Präsentation gegeben.
6. Gemeinsame Evaluation des Projektes
Im Anschluss an die Präsentationen soll das gesamte Projekt gemeinsam evaluiert werden. Dazu gehört auf der inhaltlichen Seite die Frage nach dem Erkenntnisgewinn durch die Gruppenarbeit wie auch die Präsentationen der anderen Gruppen, auf der methodischen Seite wird der Arbeitsprozess selbst bewertet.
Besonders im Zusammenhang mit der hier dargestellten Reihe ist es notwendig hervorzuheben, dass der bereits in der Bezeichnung der Methode auftretende Begriff der Recherche sich weder in den Erläuterungen Borschs[40] noch in dieser konkreten Planung auf eine Materialsuche und –auswertung beschränkt, sondern in diesem Fall ebenso die intensive Untersuchung eines Aspektes im Roman einschließt. Gleichzeitig stellt diese Reihe aber auch den Versuch dar, das allgemein formulierte Konzept der Gruppenrecherche auf die Erarbeitung eines Romans anzuwenden.
4 Unterrichtsvoraussetzungen
4.1 Allgemeine Unterrichtsvoraussetzungen
Die Klasse 9b unterrichte ich seit Beginn dieses Schuljahrs selbstständig mit vier Wochenstunden. Nachdem die Klasse die letzten vier Jahre bei derselben Kollegin Deutschunterricht gehabt hatte, hat sie sich inzwischen gut sowohl auf mich als Person als auch auf meinen Unterrichtsstil eingelassen.
Die Schüler sind sehr freundlich und offen, arbeiten in der Regel motiviert im Unterricht mit, wobei sich zu Beginn viele schüchterne Schüler in Unterrichtsgesprächen sehr zurückhielten, auch wenn sie in der Erarbeitungsphase offensichtlich fleißig gewesen waren. Einige haben die für sie erschreckenden mündlichen Zwischennoten oder dann die Zeugnisnote zum Anlass genommen, sich regelmäßiger zu beteiligen. Gleichzeitig scheint sich die Arbeitsatmosphäre für die Schüler im Lauf des Schuljahres verbessert zu haben, so dass es sowohl zu einer breiteren Mitarbeit gekommen ist, als auch gewagtere Gedankenspiele geäußert werden. Erfolgreich sind besonders für die zurückhaltenderen Schüler kurze kooperative Phasen, in denen sie ihre Gedanken schon einmal im geschützten Raum formulieren und diskutieren können, bevor sie sich im Plenum äußern.
Zu den leistungsstarken und sich differenziert und zielführend einbringenden Schülern gehören J., L., C., L. und M. Stiller, aber ebenfalls engagiert und mit guten Beiträgen beteiligen sich A. und K. Das Unterrichtsgeschehen wird aber auch von einigen Schülern geprägt, die sich weniger zielführend aber kontinuierlich äußern. Zu den schwächeren Schülern zählen F. und Q., die aber dennoch dem Unterrichtsgeschehen folgen.
[...]
[1] Bosse/Renner: Literarisches Verstehen. in: Der Deutschunterricht 4/2010. S. 2
[2] Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport: Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, Deutsch. S. 37
[3] Ebd.: S. 11
[4] Nieweler: Lesekompetenz im Französischunterricht entwickeln. S. 5
[5] Gross: Textverstehen und schulisches Lernen. S. 38
[6] Winkler: Welches Wissen fördert das Verstehen literarischer Texte? S. 71
[7] Nieweler: Lesekompetenz im Französischunterricht entwickeln. S. 5
[8] Gross: Textverstehen und schulisches Lernen. S. 38
[9] Brüggemann: Literarisches Lesen – Historisches Verstehen. S. 12
[10] Spinner: Literarisches Lernen. S. 6
[11] Ebd.: S. 8
[12] Eine Aufschlüsselung in und Anleitung zu elf Aspekten respektive Teilkompetenzen der literarischen
Kompetenz nimmt Spinner vor. In: Spinner: Literarisches Lernen. S. 8-13
[13] Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport: Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, Deutsch. S. 15
[14] Ebd.: S. 15
[15] Steinbrenner/Wiprächtiger: Literarisches Lernen im Gespräch. S. 15
[16] Ebd.: S.16
[17] Härle/Steinbrenner: Kein endgültiges Wort. S. 11
[18] Steinbrenner: Aspekte des Verstehens bei Schleiermacher und ihre Bedeutung für die Literaturdidaktik und das literarische Gespräch. In: Härle/Steinbrenner: Kein endgültiges Wort. S. 47 19 Ebd.: S. 16
[19] Ebd.
[20] Spinner: Literarisches Lernen. S. 12; Härle/Steinbrenner: Kein endgültiges Wort. S. 9-11
[21] Ebd.: S. 12
[22] Ebd.: S. 10
[23] Bräu: Selbstständiges Lernen in der gymnasialen Oberstufe. S. 153
[24] Borsch: Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht. S. 12
[25] Arnold: Wandel der Lernkulturen. S. 87
[26] Borsch: Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht. S. 12
[27] Borsch: Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht. S. 58ff
[28] Arnold: Wandel der Lernkulturen. S. 87f
[29] U.a.: Bräu: Selbstständiges Lernen in der gymnasialen Oberstufe. Arnold: Wandel der Lernkulturen
[30] Bräu: Selbstständiges Lernen in der gymnasialen Oberstufe. S. 134
[31] Vgl.: Konrad: Förderung und Analyse von selbstgesteuertem Lernen in kooperativen
Lernumgebungen: Bedingungen, Prozesse und Bedeutung kognitiver sowie metakognitiver Strategien für den Erwerb und Transfer konzeptuellen Wissens. Arnold: Wandel der Lernkulturen. Bräu: Selbstständiges Lernen in der gymnasialen Oberstufe.
[32] Konrad: Förderung und Analyse von selbstgesteuertem Lernen in kooperativen Lernumgebungen:
Bedingungen, Prozesse und Bedeutung kognitiver sowie metakognitiver Strategien für den Erwerb und Transfer konzeptuellen Wissens. S. 48
[33] Ebd.: S. 50
[34] Green: Kooperatives Lernen im Klassenraum und im Kollegium. S. 38
[35] Borsch: Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht. S. 29. Brüning/Saum: Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen. Strategien zur Schüleraktivierung. S. 32 37 Borsch: Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht. S. 29
[36] Green nennt hier das allgemeine Sozialverhalten in einer Gruppe, „positive interkulturelle Beziehungen“, „Teambildung bei gleichzeitiger individueller Verantwortung“, eine „positive Haltung gegenüber Lehrern, Schulleitern und anderem Schulpersonal“, Lernverantwortung“, eine „Atmpsphäre von Kooperation und Hilfsbereitschaft“ und „gegenseitige Verantwortung“. In: Green: Kooperatives Lernen im Klassenraum und im Kollegium. S. 33-37
[37] Borsch: Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht. S. 78f 40 Ebd.: S. 80ff
[38] Nach Borsch: Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht. S. 58 - 63
[39] Ebd.: S. 60
[40] Borsch: Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht.