Holocaust und Autobiografie

Das Erinnerungsbuch "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948" von Binjamin Wilkomirski und seine Rezeption


Hausarbeit, 2017

17 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


1.)Einleitung

„[…]so bewegend, von solcher moralischen Bedeutung und so frei von literarischer Künstlichkeit, daß ich mich frage, ob ich überhaupt das Recht habe, mein Lob vorzubringen Dieser Mann hat überlebt - wir wissen nicht, wie, seine geistige Gesundheit scheint ein Wunder - und er überläßt dieses Geschenk von nahezu perfektem Schmerz [hervorgehoben] einer Welt, die immer noch bereit ist, die Unschuldigen zu zerstören."1

Das Zitat stammt aus dem Magazin The Nation kurz nachdem das Buch „Bruchstücke aus einer Kindheit 1939-1948“ im Buchhandel 1995 erschienen war. Es galt als ein Aufsehen erregendes Wunderwerk, nicht weil man ihm von Beginn an die nachträglich festgestellte Täuschung angesehen hatte, sondern wegen der literarischen Qualität für die das Werk großes Ansehen genoss.

Erzählt wird das Leben eines noch sehr kleinen Jungen, der aufgrund des Einmarsches der lettischen Miliz in Riga nach Polen flieht und schließlich in das Konzentrationslager

„Majdanek“ deportiert wird. Er übersteht einen weiteren Transport in ein anderes Lager und wird nach der Befreiung in ein Kinderheim in Krakau gebracht. Daraufhin wird er in die Schweiz geschmuggelt und nach einem weiteren Aufenthalt in einem schweizer Kinderheim von einer Familie adoptiert.

Das Buch erhielt durchweg positive Kritiken und der Autor mehrere wichtige Preise, darunter den „National Jewish Book Award“ und den „Prix Mémoire de la Shoa“.2 Drei Jahre nach Erscheinen des Buches veröffentlichte der Journalist und Autor Daniel Ganzfried in der Schweizer Zeitung „Die Weltwoche“ einen Bericht, in dem er behauptete, dass es sich bei Binjamin Wilkomirski in Wahrheit um Bruno Doesseker handelt, der weder Überlebender eines Konzentrationslager noch Jude sei. Stefan Mächler untersuchte diese Behauptung genauer und veröffentlichte 2000 das Buch „Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie“, welches seine These belegte. 3 Dies hatte zur Folge, dass der zunächst unangefochtene literarische Rang des Buches zunehmend kritisiert und in Frage gestellt wurde. Das oben angeführte Kommentar spricht, also deshalb von einem fast perfekten Schmerz, weil sich die Literatur mit dem Auftreten von Plagiatsvorwürfen schlagartig änderte. Wurde das Buch zu Beginn selbst von Fachleuten noch hoch gelobt und gefeiert, da es nicht nur durch seine „Authentizität, sondern auch durch [seinen] literarischen Rang beeindrucke", so wurde es nach der Enthüllung als „schlechter Hollywood-Kitsch" bezeichnet.4

Die teilweise vorhandenen stilistischen Wiedersprüche sowie Belege für historische Unkorrektheiten im Text wurden dem Autor als fehlende dokumentarische Authentizität vorgeworfen. Dass diese beiden Aspekte jedoch häufig auch in realen Shoa-Autobiographien zu finden sind, von denen ‚Bruchstücke' zudem auf der Textebene kaum zu unterscheiden ist, wird dabei häufig übersehen. Doch nicht nur die Qualität des Buches wurde nach der Enthüllung in Frage gestellt und kritisiert, ebenso wurde auch das gesamte Genre der Holocaust-Literatur neu diskutiert und auf seine Bedeutung und seinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit hin geprüft. Zudem wurde in vielen Feuilletons die Frage gestellt, warum kaum jemand, nicht einmal Literaturwissenschaftler und Historiker, diese Autobiographie als eine Fälschung erkannt hatte. Ziel der vorliegenden Arbeit wird es also sein zu prüfen, ob dem Buch auch nach der Enthüllung ein literarischer Wert zugesprochen werden kann. Darf ein solch sensibles Thema der Erinnerungskultur des Holocaust in einer Biografie erfunden werden? Verliert das Buch damit nicht seine Authentizität? Um sich mit diesen Fragen auseinander setzen zu können, werden diejenigen Aspekte genauer untersucht, die für Kindheitsautobiographien zur Shoah grundlegend erscheinen. Im weiteren Verlauf soll erörtert werden, ob dieses Werk, unabhängig von der Einordnung als Autobiografie oder finktionale Geschichte, als angemessen bewertet werden kann. Abschließend erfolgt vor der endgültigen Auswertung der errungenen Erkenntnisse ein Einblick in die Diskussion um Bruchstücke.

2.)Definition Autobiographie

Obwohl die Bezeichnung Autobiographie erst relativ spät gegen Ende des 18. Jahrhunderts auftritt lassen sich Schriften autobiographischen Charakters bis in die Antike zurückverfolgen. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich daher eine Fülle von verschiedenen Ansätzen, Thesen und Definitionen der literarischen Gattung „Autobiographie“ entwickelt. 5 Der Versuch, die Autobiographie als literarische Gattung zu definieren, erweist sich daher auch als ausgesprochen schwierig oder schlägt fast notwendig fehl. Empirisch wie theoretische erweist sich die eben genannte als ungeeignetes Objekt für eine gattungstheoretische Definition, da jeder Einzelfall eine Ausnahme von der Regel zu sein scheint und jeder in Frage kommende Text sich dem Zugriff der Wissenschaft entzieht und in benachbarte oder sogar in ganz fremde Gattung abgleitet. 6 Die wohl einfachste und dennoch angemessenste Definition einer Autobiographie stammt von Georg Misch:

„Sie [die Autobiographie] läßt sich kaum näher bestimmen als durch Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia), des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto).“ 7

Das wichtigste, und vielleicht sogar einzige Merkmal aller Autobiographien ist nach Misch folglich die „Identität der darstellenden mit der dargestellten Person“.8 Diese Definition wird auch im folgenden Abschnitt verwendet und vertieft.

3.)Der autobiographische Pakt in Wilkomirskis ,Bruchstücke'

Im Hinblick auf die folgende Untersuchung der Kindheitsautobiographien eignet sich ein rezeptionsästhetischer Deutungsansatz, wie er von Philippe Lejeune vertreten wird, am meisten, da bei diesem Ansatz nicht nur der Autor, sondern auch der Leser einer Autobiographie mit einbezogen wird. Gerade bei einem solch emotional aufgeheiztem Thema wie dem Holocaust sollte der Leser eines solchen Textes nicht außer Acht gelassen werden. Zudem wurden die meisten Texte des Holocaust aus dem einzigen Grund verfasst Zeugnis abzulegen und Wissen über die schrecklichen Ereignisse während des Nationalsozialismus zu verbreiten. Und dies kann ohne aktives Mitwirken des Lesers, d. h. ohne dessen Bereitschaft, sich auf das Thema einzulassen und die Schilderungen als wahr anzuerkennen, nicht erfüllt werden. Gemäß seinem rezeptionsästhetischen Ansatz beginnt Lejeune seine Untersuchung aus der Perspektive des Lesers:

„Von der Situation des Lesers ausgehend (die meine eigene ist, die einzige, die ich gut kenne), gelingt es mir möglicherweise, das Funktionieren der Texte (ihre unterschiedlichen Arten des Funktionierens) klarer zu erfassen, denn sie sind ja für uns, die Leser geschrieben worden, und indem wir sie lesen, sind wir es, die zum Funktionieren bringen.“ 9

Von dieser Position ausgehend entwickelt Lejeune nun seine Vorstellung des autobiographischen Paktes. Dieser besteht darin, „dass eine Namensidentität besteht zwischen dem Autor (so wie er durch seinen Namen auf dem Umschlag erscheint), dem Erzähler des Berichtes und der Figur, von der die Rede ist.“10 Der autobiographische Pakt meint also eine Vereinbarung des Autors mit seinem Leser, die darin begründet liegt, dass der Autor mit dem Protagonisten und dem Erzähler identisch ist und der Leser diese Identität als gegeben anerkennt. 11 Andere Fälle jedoch, in denen beispielsweise der Protagonist eines Textes einen fiktiven Namen trägt, der sich von dem des Autors unterscheidet oder nicht namentlich erwähnt wird, es aber dennoch für den Leser Gründe gibt, zu glauben, beide seien identisch, bezeichnet Lejeune als „autobiographischen Roman“.12 Darunter versteht er alle fiktionalen Texte

„[…], bei denen der Leser [. . .] Anlaß hat zur Vermutung, daß es eine Identität von Autor und Figur gebe, während er, der Autor, es für richtig hält, diese Identität zu leugnen oder sie doch wenigstens nicht zu bestätigen.13

Eine Unterscheidung zwischen einer Autobiographie und einem autobiographischen Roman ist nicht immer einfach und kann nach Lejeune nur auf der Ebene des Inhalts getroffen werden. Nur wenn aufgrund des Inhaltes ein eindeutiger autobiographischer Pakt geschlossen wurde, kann man einen Text, Lejeunes Definition folgend, als Autobiographie bestimmen. Da sich gerade die moderne Autobiographik durch gezieltes Überschreiten bestehender Gattungsnormen auszeichnet ist festzuhalten, dass ihr wesentlichstes Merkmal, zumindest nach Lejeune, die behauptete Identität von erzähltem Ich ist. Demnach beruht der Vorwurf der Fälschung bei Wilkomirski nicht darauf, dass die beschriebenen Erinnerungen fehlerhaft oder fiktionalisiert seien, sondern vielmehr darauf, dass der Autor dem Leser durch verschiedene Hinweise im Text ein eindeutiges ,Paktangebot' macht und damit die gemeinsame Identität des Autors mit seinem Protagonisten verbürgt hat. 14

Tatsächlich finden sich mehrere Stellen im Buch, die diese Identität unterstellen. Zum einen wird der Junge während seines Aufenthaltes in Majdanek von einer Wärterin gerufen, um zu seiner Mutter gebracht zu werden: „Binjamin! Ist ein Binjamin hier? Rauskommen, schnell!"15 Der Vorname ist also mit dem des Autors identisch. Dass auch der Nachname tatsächlich derselbe ist, wird an anderer Stelle deutlich. Eine Frau, die Binjamin nach der Befreiung beim Verlassen des Lagers entdeckt — und ihn auch beim Namen nennt — bringt ihn nach Ende des Krieges in eine Synagoge in Krakau: „Da bringe ich Ihnen den kleinen Wilkomirski, Binjamin Wilkomirski!"16 Obwohl also schon im Text explizit deutlich gemacht wird, dass Autor, Erzähler und Protagonist identisch sind, nutzt der Autor zusätzlich ein Nachwort, das zudem noch mit den Initialen B.W. unterzeichnet ist, um dies zu unterstreichen und kenntlich zu machen.

Ich schrieb diese Bruchstücke des Erinnerns, um mich selbst und meine früheste Vergangenheit zu erforschen [...]. Und ich schrieb in der Hoffnung, dass vielleicht Menschen in vergleichbarer Situation auch die nötige Unterstützung und Kraft finden, ihre traumatischen Kindheitserinnerungen endlich in Worte zu fassen und auszusprechen [...].17

Vor allem Ruth Klüger hat in ihrer Stellungnahme zum Fall Wilkomirski auf die veränderte Rezeptionshaltung hingewiesen, die durch den vorliegenden Gattungswechsel von einer Autobiographie zu einem fiktiven Roman entsteht:

„Der Grund jedoch, warum so viele Leser, die von den ‚Bruchstücken' beeindruckt waren, sich jetzt fragen, wo sie ihren kritischen Verstand hingetan hatten, ist der, dass wir mit vollem Recht ein Buch anders lesen, das wir als Geschichte betrachten, als eines, das uns als Fiktion vorgesetzt wird.“ 18

Klüger verweist an dieser Stelle implizit auch auf den autobiographischen Pakt, denn indem der Autor die Identität mit dem Protagonisten angibt, verbürgt er damit die Authentizität seines Textes. Wird diese jedoch in Frage gestellt, verändert sich plötzlich die Bewertung eines Textes.

Festzuhalten ist also, dass der Text formell gesehen dem Genre Autobiographie zugeordnet werden kann und dementsprechend auch von den Lesern verstanden wird. Dass sich diese Form der Definition aber nicht auf kotextueller Ebene teilen lässt, wird im späteren Verlauf der Arbeit erörtert. Zunächst werden nun die typischen Motive zur Holocaust-Literatur präsentiert.

4.) Verwendete Merkmale der Holocaust-Literatur

Aus der Tatsache, dass es sich bei diesem Text um eine „gelungene“ Fälschung handelt, lassen sich anhand einer Analyse die unterschiedlichen Erzählmuster erschließen, denen das Genre der Kindheitsautobiographik zur Shoah folgt. Wilkomirskis Text greift zentrale Aspekte des Holocaust-Diskurses auf: den Verlust der Sprache und die Sprachlosigkeit angesichts des Grauens, die erlittene Traumatisierung und deren Folgen in der Nachkriegszeit, die Fragmentierung der Erinnerung, sowie eine damit verbundene Fiktionalisierung.19 DieseMerkmale, die nur eine Auswahl der in der Holocaust-Literatur Gebräuchlichen darstellen, werden in Wilkomirskis Autobiographie mustergültig verwendet, wie im Folgenden näher erläutert werden soll.

[...]


1 http://www.zeit.de/1998/39/199839.wilkomirski_.xml aufgerufen am 12.08.2017

2 Vgl. Lezzi 2001, 133

3 Vgl. Ganzfried 1998 In: Weltwoche

4 Vgl. Bannisch 2002, 182

5 Vgl. Schulz 2001, 6

6 Vgl. Bannisch 2002, 69

7 Misch 1989, 122

8 Ebd., 40

9 Lejeune 1994, 215

10 Ebd., 215

11 Vgl. Ebd., 226

12 Vgl. Ebd., 231

13 Lejeune 1994, 229

14 Vgl. Ebd., 227-230

15 Wilkomirski 1995, 44

16 Ebd., 106

17 Ebd., 143

18 Klüger 1998 In: Süddeutsche Zeitung, 30.09.1998

19 Vgl. Lezzi 2002, 133-142

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Holocaust und Autobiografie
Untertitel
Das Erinnerungsbuch "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948" von Binjamin Wilkomirski und seine Rezeption
Hochschule
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta
Note
1,7
Autor
Jahr
2017
Seiten
17
Katalognummer
V451628
ISBN (eBook)
9783668878877
ISBN (Buch)
9783668878884
Sprache
Deutsch
Schlagworte
holocaust, autobiografie, erinnerungsbuch, bruchstücke, kindheit, binjamin, wilkomirski, rezeption
Arbeit zitieren
Vanessa Arlt (Autor:in), 2017, Holocaust und Autobiografie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/451628

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