Fäkalien als Ausdruck des materiell-leiblichen Lebensprinzips

Eine Analyse der Fäkalmotivik im "vasnachtspil vom dreck"


Hausarbeit, 2013

35 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kontext

3. Unterschied: Theorie und Praxis

4. Bedeutung von Fäkalien in verschiedenen Kulturen

5. Bachtins materiell-leibliches Körperkonzept
5.1. Relative Unsterblichkeit durch den Zyklus des Lebens
5.2. Der offene Leib
5.3. Degradierung
5.4. Festmahlmotiv
5.5. Andere Körperkonzepte
5.6. Kosmische Angst überwinden
5.7. Bedeutung der Elemente

6. Motive im „vasnachtspil vom dreck“
6.1. Bedeutung des „Kunters“
6.2. Verwendung des „kunters“ im „vasnachtspil vom dreck“
6.2.1. Als Mahlzeit
6.2.1.1. Das Ei
6.2.1.2. Cucagne und Cocuce
6.2.2. Handwerksgegenstände
6.2.3. Spiel
6.2.4. Heilung in Form von Körperpflege
6.2.5. Nachtruhe und „S“-Symbolik
6.3. Namen der Bauern und Ärzte
6.4. Heilung mit Hilfe von Kot

7. Schluss

8. Literaturverzeichnis

9. Abbildungen

1. Einleitung

„Exkremente sind nicht allzu sehr beliebt, doch geben sie ne prima Mahlzeit ab, wenn man ihnen eine Chance gibt“, singen die Ärzte in dem Lied „Richtig schön evil“[1]. Wir wollen ihrem Beispiel folgen und ein Fastnachtspiel untersuchen, in dem die Masken einiger Bauern einem gewaltigen Exkrement, das vor dem Nürnberger Rathaus gefunden wird, eben diese Chance einräumen. Es wird erläutert, welche Rolle Fäkalien um das 15. Jahrhundert, in dem das zu untersuchende „vasnachtspil vom dreck“[2] aufgeschrieben wurde, zukommt und welches Körperkonzept dem Defäkieren in Fastnachtspielen und anderen Festlichkeiten zugrunde liegen mag. Da diese Körperpraxis natürlich schwerlich dokumentarisch erhalten sein kann, werden Bilder klerikaler Handschriften, Gemälde und Plastiken in Dorfkirchen oder an anderen Gebäuden, überlieferte Rituale verschiedener Kulturkreise und theoretische Körperkonzeptionen zu Hilfe gezogen. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Ansätze soll zuletzt das „vasnachtspil vom dreck“ untersucht werden.

2. Kontext

Im 15. Jahrhundert, als das „vasnachtspil vom dreck“ in Nürnberg niedergeschrieben wurde, entstand dort gerade ein Überwachungssystem durch den Stadtrat. Handwerkszünfte und Geheimbühne wurden verboten und man versuchte, Feste zu kontrollieren und Tänze zu unterbinden. Es entwickelte sich ein neues Ethos von Arbeitsfleiß und Disziplin. Dabei wurden Handwerker mehr und mehr herabgewürdigt, ihre Selbstständigkeit als Meister schwand. Somit rückt das Auffinden des Haufens in der Tuchscherergasse, also vor dem Nürnberger Rathaus, in ein anderes Licht. Im Fastnachtspiel konnte man sich derartige Kritik am System in Form solch spielerisch-scherzhafter Gestikulationen erlauben.[3]

3. Unterschied: Theorie und Praxis

Ob die Geste des Defäkierens allerdings tatsächlich als ungehörig zu werten ist, bleibt fraglich. Zweifellos war die christliche Kirche redlich darum bemüht, Leiblichkeit als etwas darzustellen, was überwunden werden muss, der Körper wurde als Gefäß betrachtet, in dem die Seele sitzt und das diszipliniert werden muss, um der Seelenbewegung Ausdruck zu verleihen.[4] Gestikulationen[5] wurden verteufelt, die Bewegung des Geistes dagegen, da in ihm die Nähe zu Gott deutlich wird, gepriesen. Man könnte also annehmen, dass im Karneval Verbote, auch die Leiblichkeit betreffend, bewusst übertreten wurden, um gesellschaftlich auferlegten Anstand und Scham zu überwinden[6] und zu einem natürlichen Zustand zurückzufinden. Doch ist dies nur die halbe Wahrheit (falls man in diesem Zusammenhang von Wahrheit sprechen kann), denn die Praxis sah doch etwas anders aus. In der Theorie mag die christliche Kirche ihre Vorstellungen verbreitet haben und da durch sie auch seit der Spätantike die Schrift einen höheren Stellenwert bekam, sind diese Vorstellungen das, was bis heute erhalten ist. Die orale Tradition verbreitete jedoch das, was von der Kirche als „heidnisch“ bezeichnet wurde; Heiliges und Profanes war hier nicht sorgfältig voneinander getrennt.[7] Wie komplementär die Praxis aussah, kann man anhand von Kalkmalereien, Figuren etc. in Kirchen oder in klerikalen Handschriften (und deren Randmalereien) erkennen.[8]

Das Zwickelgemälde der Dorfkirche Smørum im dänischen Seeland (Abbildung 1) zeigt das heilige Abendmahl in Zusammenhang mit drôlastischen[9] Darstellungen. Über der Tischgesellschaft ziehen zwei Strebkatzenspieler[10] mit den Zähnen an dem Seil, das sie um ihre Hälse gelegt haben. Der rechte turnt akrobatisch auf den Schultern eines anderen Menschen. Der linke wird von einer Frau auf den Hintern geschlagen und entleert sich auf den Kopf eines anderen, Zunge bleckenden Mannes, der mit entblößten Genitalien in einen Eimer (oder ein Fass) uriniert. Es ist möglich, dass damit die Einnahme von Brot und Wein verkehrt wird.[11] Einige Randfiguren der Handschrift „Roman de la Rose“ (Abbildung 2) sind ebenfalls solche Drôlerien. Ein affenähnliches Wesen steckt einen Finger in den Anus eines Mannes mit heruntergelassener Hose, der im Begriff ist, sich zu entleeren. Einen Finger der anderen Hand leckt die kleinere Gestalt gerade ab. Eine Wandmalerei in Björklinge (Abbildung 3) zeigt einen Mann, der auf einem Kommunionskelch sitzt und es ist zu erraten, dass er sich in den Kelch entleert.

Aufgrund der hohen Zahl dieser Abbildungen in klerikalen Schriften und Kirchen kann man kaum vermuten, dass es sich hier um Blasphemie handelt. Es scheint so, als wäre hier eine andere Art heiliger Darstellungen in die christlichen eingegangen. Es existieren ältere, vorchristliche Glaubenspraktiken in stiller Eintracht mit christlichen und das Ganze in einer Leibkonzeption der „histriones turpes“.[12] Ob die heute blasphemisch anmutenden Darstellungen nun von Klerikern geduldet wurden, ob sie bewusst zur Abschreckung zur Schau gestellt wurden oder ob vielleicht etwas ganz anderes dahinter steckt, ist nicht zu entscheiden.[13] In der Sammlung der Briefe des Bonifacius heißt es an einer Stelle, dass die Vermischung von christlichen und heidnischen Gebräuchen beklagt wird, was von „gewissenlosen Priestern geduldet würde“.[14] Tatsächlich hat die christliche Kirche einige vorchristliche Bräuche und Feste übernommen, zum Beispiel die Wintersonnenwende, die zum Fest von Christi Geburt gemacht wurde.[15]

Man kann also sagen, dass gewisse Körperkonzepte im Mittelalter komplementär vereinigt waren und dass auch Fäkalien mit in klerikale Schriften oder Kirchengemälde eingebunden waren. Wenn wir nun noch einen Blick auf die Bedeutung von Ausscheidungen in anderen Kulturen werfen, fällt auf, dass die für uns heute so unliebsame Materie auch anders betrachtet werden kann.

4. Bedeutung von Fäkalien in verschiedenen Kulturen

Die Australier beispielsweise haben eine Sage von der Erschaffung des Menschen, die besagt, die Göttin Ningorope habe voller Freude in einer Abtrittgrube Kot gefunden und ihn zu menschlicher Gestalt geformt, die infolge ihrer Berührung lebendig wurde und zu lachen anfing.[16] Schon in diesem ersten Beispiel wird der Zusammenhang zwischen Kot, Leben und Lachen deutlich, der später noch genauer erläutert wird. Auch in den Sagen einiger Inuitstämme werden häufig Ausscheidungen erwähnt, zum Beispiel in der Sage, die von einem Raben handelt, der sich bei schwierigen Entscheidungen mit seinem Kot berät.[17]

Die Römer und die Ägypter hatten sogar explizit Kotgötter, die über die Latrinen wachten und für diejenigen sorgten, die diese besuchten. Die Ägypter verehrten Aborte und sogar das Geräusch und den Wind der Eingeweide. Eine der ersten römischen Göttinnen trug den Namen Cloacina und hatte Abzugskanäle, Kloaken und Aborte Roms unter ihrem Schutz.[18] Ausscheidungen scheinen also keiner Scham unterworfen zu sein, sondern werden sogar von Göttern überwacht. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass jede Scham gesellschaftlich konstruiert ist. Ob sie sich auf Geschlechtsteile, After oder Exkremente bezieht, ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Interessant dabei ist, dass in vielen Kulturen After und Stuhlgang verborgen werden, während die Geschlechtsteile und auch das Urinieren öffentlich gezeigt werden darf.[19]

Zu der Verbindung von Kot und Fruchtbarkeit sehen wir uns zunächst einige Hausmittel an. Zum Beispiel empfiehlt Plinius[20] zur Beseitigung von Unfruchtbarkeit ein Mutterzäpfchen, das aus frischem Kot hergestellt ist, den ein Kind bei der Geburt von sich gegeben hat. Auch Habichtkot mit Honig und Wein soll Frauen fruchtbarer machen. Solcherlei gute Tipps findet man noch viele, auch bei Sextus Placitus[21] und einigen anderen.[22] Auch allerlei andere Arznei wurde aus dem Menschen gewonnen, Bourke begründet dies damit, dass die Arznei dem Menschen entnommen wird, weil der Mensch Arzt ist, und mit der Menschenverehrung, nach der der Mensch als das höchste Werk der Natur übernatürliche Quellen, aus denen auch die Krankheiten flossen, zu bekämpfen vermochte.[23] Auch auf das Thema der Heilung wird noch einmal genauer eingegangen.

Doch wenden wir uns wieder Festen zu, die eine gewisse Nähe zum Karneval aufweisen, wie das Narrenfest in Europa. Hier wurde exzessiv und unter anderem in der Kirche gefeiert. Auch Geistliche nahmen maskiert an dem Narrenfest teil. Während der Messe sang man unzüchtige Lieder, verkleidete sich, spielte Karten oder würfelte vor dem Priester und aß auf dem Altar Brat- und Blutwürste. Danach wurde getanzt, weitergesungen und der ein oder andere ließ schon mal die Hüllen fallen. Andere Festteilnehmer standen auf Karren und bewarfen die Umherstehenden mit Unrat.[24] Neben der phallischen Bedeutung der Blutwurst steht diese auch symbolisch für das Kotverzehren, das vermutlich - wie bei den Zuñis - früher auch im Narrenfest praktiziert wurde.[25]

Sämtliche erwähnte Motive eint der Karneval in sich. Auch Goethe erkannte die großen Zusammenhänge des Lebens (und Todes) im Karneval, als er schrieb: „Wenn uns während des Laufes dieser Torheiten der rohe Pulcinell ungebührlich an die Freuden der Liebe erinnert, denen wir unser Dasein zu danken haben, wenn ein Baubo[26] auf öffentlichem Platze die Geheimnisse der Gebärerin entweiht, wenn so viele nächtlich angezündete Kerzen uns an die letzte Feierlichkeit erinnern, so werden wir mitten unter dem Unsinne auf die wichtigsten Szenen unseres Lebens aufmerksam gemacht.“[27]

5. Bachtins materiell-leibliches Körperkonzept

Die von Goethe angesprochenen Motive Sex, Geburt, Tod sind auch in Michail Bachtins Analyse ein wichtiger Punkt. Welches der „genuin philosophische Gehalt“[28] des Festes für ihn ist, wird im Folgenden erläutert. Das karnevaleske Lachprinzip löst das Fest von seinem religiös-mystischen Charakter. Es bewegt sich auf spielerische Weise auf der Grenze zwischen Leben und Kunst. Das spielerische Element wird ausgedrückt durch das materiell-leibliche Prinzip, dessen groteske Leiber wir auch schon auf den Kirchenabbildungen gesehen haben. Bachtin nennt das materiell-leibliche Konzept der Renaissance „grotesken Realismus“.

5.1. Relative Unsterblichkeit durch den Zyklus des Lebens

Unter dem materiell-leiblichen Lebensprinzip versteht Bachtin die Motive des Körpers, also Essen, Trinken, Ausscheiden und Sexualität und das in übertriebener Form.[29] Wichtig für dieses Prinzip ist der überindividuelle, festliche Charakter. Das Volk fühlt im Fest seine sinnliche, leibliche Einheit[30] und relative Unsterblichkeit[31]. Dadurch ist es auch weniger anfällig für Angst, denn Angst kann nur Teile befallen, die vom Ganzen isoliert sind, während im heiteren Volks- und Weltganzen kein Platz für Angst ist.[32] Der individuelle Körper verschwindet hinter dem Volkskörper, der aber nicht statisch ist, sondern in ständiger Veränderung.[33] In diesem immerwährenden Werden kann er nie vergehen, da er historisch, also in einem ewigen Weltkreislauf, ist. Während die Alten sterben, werden neue Menschen geboren, so liegt im Tod gleichzeitig eine Erneuerung.

Diese Ambivalenz zwischen den Polen Alt und Neu, Sterben und Entstehen, Anfang und Ende der Metamorphose[34], in der sich Mensch und Welt befinden, wird im Fest häufig durch die Motivik von zwei Körpern, die in einem zusammengefasst werden, dem gebärenden und dem sterbenden Körper, ausgedrückt.[35] Diese Gleichzeitigkeit zweier Entwicklungsstufen (Anfang und Ende, Frühling und Winter...) findet ihre Entsprechung in dem zyklischen Phasenwechsel der Natur, also dem Jahreszeitenwechsel, Saat, Aufgehen der Saat, Gedeihen und Sterben. Der Zeitbegriff des grotesken Realismus ist also der zyklische des biologischen Lebens.[36] Der in diesem Zeitbegriff enthaltene Zusammenhang zwischen Leben, Tod und Wiedergeburt wird im Fest, besonders im Karneval und so auch im „vasnachtspil vom dreck“ immer wieder thematisiert. Im Fest konnte das Volk für kurze Zeit in ein utopisches Reich der Freiheit, Gleichheit und des Überflusses eintreten, um danach gereinigt wieder in das alltägliche Leben zurückzukehren.[37] Der Karneval ist also die Wiedergeburt und Erneuerung der Welt, an der alle teilhaben.[38] Im Mondsymbolismus finden wir den Zusammenhang von Leben, Tod, Wiedergeburt und die damit verbundene Vereinigung von Gegensätzen wieder. Durch die Mondphasen „Geburt“, „Tod“ und „Auferstehung“ des Mondes wird der Mensch sich seiner eigenen Seinsweise im Kosmos bewusst und verbindet mit ihnen zugleich die Hoffnung auf Auferstehung, darauf, dass der Tod nicht endgültig ist, sondern dass ihm eine neue Geburt schon inne wohnt. Wie der Mond, so hat auch jedes andere Leben Teil am Werden und Vergehen in einem immerwährenden Kreislauf. In diesem Zusammenhang von Tod und Wiedergeburt wird auch anhand des Mondsymbolismus deutlich, wie scheinbare Gegensätze in einem System zusammengeführt werden können.[39]

5.2. Der offene Leib

Der unfertige Leib des grotesken Realismus ist immer als geöffnet zu betrachten, nicht durch Grenzen von der Welt getrennt, sondern von ihr durchsetzt, trägt er die sie in sich, ist also kosmisch.[40] Gleichzeitig wächst der Körper über seine Grenzen hinaus, deshalb werden die Körperteile betont, die für die äußere Welt geöffnet sind und zugleich ins Innere des Körpers verweisen, wie Mund, Scheide und After, oder die, mit denen der Mensch in die Welt vordringt, die sich also nach außen wölben, wie Brüste, Phallus, Nase und gewölbter Bauch. Das Prinzip des Wachstums zeigt sich am Körper und besonders den erwähnten Körperteilen in Momenten wie dem Koitus, Schwangerschaft, Geburt, Essen, Trinken und der Ausscheidung. In diesen Augenblicken des Übergangs eines Gliedes in ein anderes zeigt sich die Unfertigkeit und der entstehende Charakter des grotesken Leibes besonders deutlich.[41]

5.3. Degradierung

Ein wesentlicher Grundzug des grotesken Realismus ist die Degradierung, also die Übersetzung alles Hohen, Geistigen, Abstrakten auf die materiell-leibliche Ebene, die Einheit von Körper und Erde.[42] „Oben“ und „Unten“ werden hier nicht formal-metaphorisch verstanden, sondern absolut und topografisch. Oben ist dabei der Himmel, unten die Erde, oder auf den menschlichen Körper übertragen ist oben das Gesicht, unten Geschlechtsteile und Hintern, also der Unterleib. Die Abwärtsbewegung ist also auch als Hinwendung zu Vorgängen wie Koitus, Schwangerschaft, Geburt, Ausscheiden etc zu verstehen. In kosmischem Sinn ist die Erde das Gebärende und Verschlingende. Deshalb ist die Degradierung gleichzeitig vernichtend und lebenspendend, also ambivalent.[43] Eng mit der Abwärtsbewegung ist auch das karnevaleske Prinzip der Verkehrung verbunden, die Vertauschung von „Oben“ und „Unten“.[44]

5.4. Festmahlmotiv

Das Aufeinandertreffen von Welt und Mensch in Form des Essens, und damit ist nicht das private Verzehren von Speise und Trank im stillen Kämmerlein gemeint, sondern ein Festmahl in allem Überfluss, also der kollektiven Form, des Gastmahls für die ganze Welt, bei dem der Volkskörper einen hohen Stellenwert einnimmt, offenbart seinen heiteren und triumphalen Charakter.[45] Der Mensch ist hier Sieger über die Welt und verschlingt sie, anstatt verschlungen zu werden. Er wächst auf Kosten der besiegten Welt, nimmt sie in sich auf und erneuert sich. Es ist auch der Triumph des Lebens über den Tod.[46] Der Leichenschmaus ist ein anschauliches Beispiel für die Ambivalenz des Festmahlmotivs. Das Ende trägt einen Anfang in sich, wie der Tod neues Leben.[47] Die Motive des Festmahls sind denen des grotesken Leibes sehr ähnlich. Auch hier zeigt sich die Offenheit der Grenzen zwischen Mensch und Welt, zum Beispiel im Motiv des aufgerissenen Mundes und dem damit verbundenen Schlucken oder Verschlingen.[48] Darstellungen solcher offenen Mäuler, Essender, Trinkender und auch sich entleerender Menschen, die dabei Geschlechtsteile und Hintern sehen lassen, findet man auch in Kirchen. Zum Beispiel in Dänemark und Schweden. Die Abbildungen 4 -7 zeigen einen Essenden, einen Zunge bleckenden Trinker, der die Hose heruntergelassen hat, einen Narren, der in einen Eimer uriniert und einen Mann, der auf ein Tuch defäkiert. Aus verschiedenen Kirchenzwickeln und Figuren lässt sich ein Zusammenhang zwischen den sogenannten Zannern[49], also den Figuren, die mit offenem Mund und auseinandergezogenen Wangen die Zunge zeigen, und den Bleckern[50], die ihr Hinterteil, den Anus oder ihre Geschlechtsteile präsentieren, feststellen. Dabei besteht eine frappante Ähnlichkeit zwischen manchen Zannern und Bleckern. Es ist davon auszugehen, dass beide Gestikulationen in ähnlicher Weise benutzt wurden. Ob es sich dabei um Spottgebärden, Obszönitäten oder vorchristlich-heilige Darstellungen handelt, ist nicht klar zu entscheiden. Die Ähnlichkeit Beine spreizender und Zunge zeigender Figuren wird in Abbildung 8 bis 11 deutlich. Die Betonung des offenen Leibes ist dabei unübersehbar. Daneben existiert auch eine Übereinstimmung von Zannern und ihre Vulva entblößender Bleckerinnen.[51] Auf Abbildung 12 und 13 sehen wir, dass die Art der aufgehaltenen Vulva der Irischen „Sheela-na-gig“[52] die gleiche ist, wie die des mit beiden Händen aufgezogenen Mundes. Das Maulaufreißen kann also eine Ersatzgebärde für das Vulvazeigen gewesen sein und wäre somit eine sexuell konnotierte Gestikulation, die man mindestens aus heutiger Sicht als höchst obszön betrachten muss.[53] Auch die griechischen Baubos (siehe Abbildung 14) entblößen ihre Vulva, um die über den Tod ihrer Tochter trauernde Demeter zum Lachen zu bringen.[54] Das Lachen ist also eng mit dem Zeigen der verschiedenen Körperteile verbunden.

5.5. Andere Körperkonzepte

Dieses groteske Körperkonzept steht im krassen Gegensatz zum Körperkonzept der klassischen Antike, die Grundlage für die Ästhetik der Renaissance war, und auch heute noch maßgeblich ist. Der Körper ist hier gegen die Welt abgegrenzt und wird als fertig und abgeschlossen betrachtet. Alle Anzeichen von Unfertigkeit und Wachstum, wie die oben genannten offenen bzw. sich in die Welt ausstreckenden Körperteile, werden verheimlicht, Wölbungen geglättet und Öffnungen verschlossen. Motive wie Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Tod kommen so gut wie nie in diesem Körperkonzept vor. Im Fokus steht der vollständige, autonome, individuelle Körper.[55] Der privatisierte Körper verliert seine groteske Ambivalenz und wird eindeutig.

Ein weiteres Körperkonzept, das in erster Linie den Kosmos betrifft, aber auf den menschlichen Körper übertragen werden kann, ist das aristotelische Modell. Es basiert auf der Lehre von den vier Elementen, denen ein bestimmter Raum und hierarchischer Ort im Kosmos zugedacht ist. Die hierarchische Ordnung der Elemente verläuft auf der Vertikalen, ist also sortiert nach Oben und Unten. Dem Zentrum am nächsten liegt dabei die Erde, jedes Teil auf ihr strebt nach unten (es fällt zu Boden), während die Bewegung des Feuers nach oben verläuft und sich so vom Zentrum entfernt. Dazwischen liegen Luft und Wasser. Diese vier Elemente können, oder besser müssen, ineinander übergehen, jedes Element verwandelt sich in ein benachbartes. Dies ist das Gesetz von Entstehung und Vernichtung, das allem Irdischen zugrunde liegt. Darüber aber existiert noch eine Sphäre, nämlich die der Himmelskörper, die diesem Gesetz nicht unterworfen sind.[56] Diese Himmelskörper sind vollendet und bewegen sich auf vollendete Weise: sie kreisen um das Zentrum. Je höher also ein Element liegt, desto mehr ist es wert.

[...]


[1] Auf dem am 29. September 2003 veröffentlichten Album „Geräusch“.

[2] In der Fassung nach Adalbert Keller.

[3] Vgl. Seminar “Fest und Ritual/Spiel” vom 16.1.2013, Dozentin: Gerda Baumbach, Referent_innen: Christopher Grimm und Antje Mettin, Universität Leipzig.

[4] Vgl. Vorlesung „Theater im Mittelalter“ vom 7.11. 2012, Dozentin: Gerda Baumbach, Universität Leipzig.

[5] Im Gegensatz zur maßvollen „Geste“ ist die Gestikulation eine eigenmächtige Bewegung des Gesamtkörpers, die man im Alltag nicht tut, die keinem Zweck des Geistes folgen, mit der aber Gruppen von Akteuren (Possenreißer) Geschichten erzählen konnten. Vgl. Vorlesung „Theater im Mittelalter“ vom 17.10.2012, Dozentin: Gerda Baumbach, Universität Leipzig.

[6] Vgl. Pastré 2009: 141.

[7] Vgl. Vorlesung „Theater im Mittelalter“ vom 24.10.2012, Dozentin: Gerda Baumbach, Universität Leipzig.

[8] Vgl. Vorlesung „Theater im Mittelalter“ vom 28.11. und 9.1., Dozentin: Gerda Baumbach, Universität Leipzig.

[9] Drôlerien sind Scherzfiguren, die Possen reißen, gestikulieren, Grimassen schneiden, ihre Genitalien entblößen usw. Vgl. Vorlesung „Theater im Mittelalter“ vom 9.1.2013, Dozentin: Gerda Baumbach, Universität Leipzig.

[10] Das Strebkatzenspiel ist ein beliebtes Kraftspiel des 15. und 16. Jahrhunderts. Vgl. Kröll 1994b: 38.

[11] Vgl. Kröll 1994b: 38.

[12] Das weite Bedeutungsfeld von „turpe“ reicht von „schändlich“ oder „sittlich schlecht“ über „missgestaltet“, „unförmig“, „hässlich“, (also alles, was Ausdruck des grotesken Leibes ist), „tierisch“, bis „unanständig“, „unehrenhaft“, „obszön“ (also die ethische Bedeutung). Die Schauspieler („histriones“) wurden von Predigern als „turpe“ beschimpft. Vgl. Vorlesung „Theater im Mittelalter“ vom 19.12.2012, Dozentin: Gerda Baumbach, Universität Leipzig.

[13] Vgl. Vorlesung „Theater im Mittelalter“ vom 9.1.2013, Dozentin: Gerda Baumbach, Universität Leipzig.

[14] Vgl. Grimm, Jakob: Teutonic Mythology, London 1882, S.92. Zitiert nach Bourke1913: 18.

[15] Vgl. Burke1981: 195.

[16] Vgl. Bourke 1913: 238.

[17] Vgl. Bourke 1913: 241.

[18] Vgl. Bourke 1913: 105.

[19] Vgl. Bourke 1913: 122.

[20] Plinius, Hist. Nat. XXVIII, Kap. 18., zitiert nach Bourke 1913: 209.

[21] Sextus Placitus, De Medicamentis ex Animalibus, Lyon 1537, im Kapitel „De Puello et Puella Virgine“. Zitiert nach Bourke 1913: 209.

[22] Vgl. Bourke 1913: 209.

[23] Vgl. Bourke 1913: 424.

[24] Vgl. Bourke 1913: 13/14.

[25] Vgl. Bourke 1913: 14.

[26] „Baubo“ (von altgriech. „Βαυβώ“ = „Schoß“) ist eine Göttin der Fruchtbarkeit. (Abbildung 14). Vgl. Vorlesung „Theater im Mittelalter“ vom 16.1.2013, Dozentin: Gerda Baumbach, Universität Leipzig.

[27] Goethes Karnevalsbeschreibungen, Hamburgische Ausgabe, Bd.II, S.515. Zitiert nach Bachtin 1987: 292.

[28] Vgl. Bachtin 1987: 57.

[29] Vgl. Bachtin 1987: 68.

[30] Vgl. Bachtin 1987: 296.

[31] Vgl. Bachtin 1987: 297.

[32] Vgl. Bachtin 1987: 297.

[33] Vgl. Bachtin 1987: 296.

[34] Vgl. Bachtin 1987: 75.

[35] Vgl. Bachtin 1987: 76.

[36] Vgl. Bachtin 1987: 75. und Eliade 1994: 66.

[37] Leaches Pendel : „Das Jahr über verläuft die Zeit gleichmäßig normal, schwingt für die kurze Dauer der Feste zurück, um dann im weiteren Verlauf des Jahres [...] wieder ihren normalen Gang zu nehmen“. Le Roy Ladurie 1982: 303-304.

[38] Vgl. Bachtin 1987: 55.

[39] Vgl. Eliade 1998: 137-138.

[40] Vgl. Bachtin 1987: 77.

[41] Vgl. Bachtin 1987: 76.

[42] Vgl. Bachtin 1987: 70.

[43] Vgl. Bachtin 1987: 71.

[44] Vgl. Bachtin 1987: 415.

[45] Vgl. Bachtin 1987: 69.

[46] Vgl. Bachtin 1987: 324 – 325.

[47] Vgl. Bachtin 1987: 325.

[48] Vgl. Bachtin 1987: 321.

[49] Zannende oder zähnebleckende Gestalten befinden sich häufig dort, wo Ventilationslöcher, die der Akustik dienen, angebracht sind. Vgl. Kröll 1994b: 27.

[50] Blecken bedeutet „Entblößen“. Vgl. Kröll 1994b: 24.

[51] Vgl. Kröll 1994a: 258.

[52] Irische Bleckerin, die ihre Vulva zeigt. Vgl. Kröll 1994a: 258.

[53] Vgl. Kröll 1994a: 260.

[54] Vgl. Kröll 1994a: 261.

[55] Vgl. Bachtin 1987: 79.

[56] Vgl. Bachtin 1987: 407.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Fäkalien als Ausdruck des materiell-leiblichen Lebensprinzips
Untertitel
Eine Analyse der Fäkalmotivik im "vasnachtspil vom dreck"
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
35
Katalognummer
V451863
ISBN (eBook)
9783668852969
ISBN (Buch)
9783668852976
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fäkalien, Fastnacht, Fastnachtsspiele, vasnachtspil vom dreck, Bachtin, Leiblichkeit, materiell-leibliches Lebensprinzip, kunter, Zyklus, relative Unsterblichkeit, offener Leib, Festmahl, Degradierung, Körperkonzepte, kosmische Angst, Elemente, Heilung, S-Symbolik, Ärzte, Zanner, Blecker, Baubo, Kirchen
Arbeit zitieren
Sabrina Kohl (Autor:in), 2013, Fäkalien als Ausdruck des materiell-leiblichen Lebensprinzips, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/451863

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