Die erste türkische Verfassung von 1876 Kanun-i Esasi


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2001

54 Pages


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

A. EINFÜHRUNG

B. DIE GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DER VERFASSUNG IM OSMANISCHEN REICH 1808-1876
1. Der Bündnisvertrag: Sened-i Ittifak (1808)
2. Der Reformerlaß: Gülhane Hatt-i Hümayunu (1839)
3. Der Erneuerungserlaß: Islahat Hatt-i Hümayunu (1856)

C. DIE ERSTE VERFASSUNG DES OSMANISCHEN REICHS 1876 (KANUN-I ESASI, I.MESRUTIYET)
1. Allgemeines
2. Das Sultanat
3. Die Exekutive
4. Die Legislative
5. Die Rechtsprechung
6. Grundrechte und Freiheiten der Bürger

D. DIE GESCHICHTE DIE AUS DER VERFASSUNG FOLGT

E. SCHLUSS

F. ZUSAMMENFASSUNG

ANHANG-1:Die erste Seite der osmanischen Verfassung von 1876

ANHANG-2:Die Verfassung von 1876, Deutsche Übersetzung

LITERATURVERZEICHNIS

A. EINFÜHRUNG

Die konstitutionellen Bewegungen während der osmanischen Periode begannen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Während der Periode von 1789-1808 stellte sich Sultan Selim III. die Anordnung einer beratenden Versammlung vor, genannt das „Meclis-i Meshveret“.[1] Dieses neue System (genannt das „Nizam-i Cedid“) wird als ein Hauptschritt in Richtung zum System der konstitutionellen Staatsform gesehen. Das „Sened-i Ittifak” oder Gründungsurkunde des Bündnisses wird als das erste wichtige Dokument vom Gesichtspunkt einer konstitutionellen Ordnung gesehen. Während die Gründungsurkunde von 1808 die Machtausübung des Sultans einschränkte, beauftragte sie einige Behörden zu einem Senat, genannt das „Ayan“. Die Gründungsurkunde ist ein bedeutendes Dokument, was auch durch den Sultan erkannt wurde. Die Tanzimat Reformzeitrechnung begann mit der Verkündung des Reformerlasses, „Gülhane Hatt-i Humayunu (=der Ferman)“. Dem osmanischen Sultan wurden versichert, dass seine Grundrechte respektiert würden. Dieses Dokument hatte besondere Bedeutung wegen seiner Erkennung der Gleichberechtigung in der Ausbildung, in der Regierungsverwaltung von Nichtmuslimen. Das Grundgesetz von 1876 gewährleistete die Unabhängigkeit der Gerichte und garantierte die Sicherheit der Richter. Der wichtigste Schritt des Wegs zum Rechtsgrundsatz war die Einführung der Kanun-i Esasi (Grundgesetz von 1876). Mit diesem Grundgesetz begann die Periode, die als das erste „Mesrutiyet“, oder erste konstitutionelle Periode bekannt ist.

Der Grundbegriff des Grundgesetzes von 1876 ist, dass, obwohl die Machtausübung nur wenig eingeschränkt wurde, dennoch zum ersten Mal, ein parlamentarisches System eingeführt wurde. Diese Verfassung umfasst u.a. Bestimmungen über Grundrechte und Freiheiten, die Unabhängigkeit der Gerichte und die Sicherheit der Richter.

Die osmanischen Staatsmänner, die auf den seit dem Tanzimat-Erlaß nach europäischem Muster eingerichteten Schulen ihre geistige Prägung erhielten, vor allem Mithat Pascha[2], bestanden beharrlich darauf, dass dem Kaiserreich eine moderne Verfassung gegeben werden müssen. Es wurde deshalb beschlossen, den geistig umnachteten Sultan Murat IV. zur Abdankung zu zwingen und dem Kronprinzen Abdülhamit II. auf den Thron zu verhelfen. Die erste osmanische Verfassung, die ausdrücklich als Grundgesetz (Konstitution) bezeichnet wurde[3] ist im Jahre 1876 von Sultan Abdülhamit II. dem Volk oktroyiert worden. Aus diesem Grund wird das am 23. Dezember 1876 veröffentlichte Grundgesetz in der türkischen politischen und juristischen Literatur als das wichtigste Ereignis der „ersten konstitutionellen Monarchie“ betrachtet.[4]

Am 23. Dezember 1876 wurde ein vergleichsweise umfassendes Staatsgrundgesetz verkündet, dem nach Inhalt und Struktur die belgische Verfassung von 1831 und die preußische Verfassung[5] von 1851 zugrunde lag.[6] Auch bei dieser Verfassung handelt es sich um Herrschaftsrecht des Sultans, dessen theokratische Souveränität legitimiert blieb.

B. DIE GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DER VERFASSUNG IM OSMANISCHEN REICH 1808-1876

1. Der Bündnisvertrag: Sened-i Ittifak (1808)

Der Beginn der modernen Verfassungsentwicklung der Türkei wird in der Regel auf 1808 datiert.[7] Als es dem Sultan Mahmut II gelang, den Autoritätsverfall der osmanischen Zentralgewalt durch einen „Bündnisvertrag“ (Sened-i Ittifak) mit den Landherren[8] aufzuhalten. Dieser Bündnisvertrag ist noch nicht als Verfassung im Sinne des Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts anzusehen. Tatsächlich ähnelt er eher der Magna Charta.[9] Er diente der pragmatischen Lösung eines Machtkampfes zwischen der feudalen Zentralgewalt und den Landherren[10] und ist nicht etwa das Ergebnis einer politischen Ideengeschichte.[11]

Die absolutistische Gewalt des Sultans und seine Verwaltung über den osmanischen Untertanen blieb von diesem Bündnisvertrag unberührt.

2. Der Reformerlaß: Gülhane Hatt-i Hümayunu (1839)

Mit dem berühmten Reformerlaß begann die Kodifikationsbewegung (kanunlastirma hareketi) in der Türkei.[12] Damit begannen auch die Reformen des osmanischen Verfassungssystems (Tanzimat- Periode).[13] In dem Reformerlaß manifestierte sich erstmals Gedankengut der Französischen Revolution in einem türkischen Text von verfassungsrechtlicher Bedeutung.[14] Der Erlaß enthält ein ausdrückliches Bekenntnis zur Geltung des Scheriatsrechts (Islamischesrecht). Er betonte die Bedeutung der Persönlichkeit des Menschen (Leben und Ehre). Zahlreiche Historiker verschiedener Nationalitäten betrachteten den am 3. November 1839 von Sultan Abdülmecit und dem Großwesir Resit Pascha erlassenen Reformerlaß von Gülhane als die erste konstitutionelle Charta.[15]

Der Inhalt des Reformerlasses von 1839 kann wie folgt zusammengefasst werden:

a) Es besteht ein dringendes Bedürfnis, die modernen Gesetze zu kodifizieren[16] ; b) Durch diese Gesetze müssen folgende Prinzipien gewährleistet sein: die Sicherheit der Personen, die Garantie von Leben, Ehre und Besitz; die Steuergerechtigkeit, die gleichmäßige Einziehung der militärpflichtigen Personen und die Neuordnung der Wehrpflicht, c) Der Sultan und seine Regierung verpflichten sich, allen Bürgern die oben genannten Grundrechte ohne Unterschied der Rasse und Religion anzuerkennen; d) Die Regierung wird alle notwendigen verwaltungsrechtlichen und gesetzlichen Maßnahmen (strafrechtliche Sanktionen inbegriffen) ergreifen, um diese Grundsätze im politischen Bereich zu realisieren.[17]

Nach dem Reformerlaß dürfte keine geheime oder öffentliche Hinrichtung ohne die Feststellung der Schuld durch ein scheriatrechtliches Gerichtsverfahren stattfinden. Niemand darf die Ehre der Anderen verletzen. Die strafrechtliche Haftung auch der Erben sei abzuschaffen. Jedermann, ob Muslim oder Nichtmuslim, sei in seinen Rechten gleich.

Der Reformerlaß steht schon mitten in der allgemeinen Reformbewegung, die von Sultan Mahmut II. in der Armee und über die Militärausbildung auf den Gebieten der Kultur und der Staatsorganisation gefördert bzw. eingeleitet worden war.[18]

Insbesondere im Hinblick auf den Ansatz zur Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen (gayrimüslim), hat auch die zunehmende Bedeutung der Außenpolitik und des Einflusses der großen europäischen Staaten eine Rolle gespielt.[19]

Der Erlaß steht am Anfang der umfangreichen Kodifizierungsversuche auf verschiedenen Rechtsgebieten und der Rezeption des ausländischen Rechts im Osmanischen Reich. Es gilt als die erste „konstitutionelle Charta“.[20] Zwar versprach der Sultan im Erlaß, dass er die Gesetze achten werde, doch blieb er sowohl als Gesetzgeber, als auch als Souverän letztlich völlig frei.

Die im Reformerlaß von 1839 aufgezählten Garantien konnten aus folgenden Gründen nicht verwirklicht werden: a) Die geistigen und sozialen Bedingungen dieser Periode, besonders das Niveau der herrschenden Klasse war für die Durchführung auf diesen Grundsätzen aufgebauten politische Ordnung nicht günstig; b) Die demographische Struktur des osmanischen Reiches wies einen zu heterogenem Charakter auf. Aus diesem Grunde trugen die versprochenen Freiheiten, welche ohne Rücksicht auf Geschlecht, Rasse und Religion gewährt wurden, nur zur Stärkung nationalistischer Aspirationen der in Europa ansässigen nicht assimilierten fremden Volksgruppen bei.[21] Aus dieser Situation ergab sich eine ununterbrochene Welle außenpolitischer Einmischungen, welche die Loslösung der europäischen Teile des osmanischen Reiches beschleunigten; c) Diese Entwicklung hat nochmals das soziologische Grundgesetz bestätigt, dass eine Reformbewegung, die ohne Rücksicht auf die sozialen und politischen Realitäten bloß der persönlichen Initiative und dem Ansehen Einzelner entspringt, als vorübergehender Versuch zum Scheitern verurteilt ist.[22]

Dennoch war der Reformerlaß jedenfalls ein wichtiger Schritt im Rahmen einer modernen Verfassungsentwicklung.[23]

3. Der Erneuerungserlaß: Islahat Hatt-i Hümayunu (1856)

Die im Reformerlaß von 1839 enthaltenen Versprechen wurden kaum eingehalten. Jedenfalls wird dies von dem Sultan Abdülmecit als Begründung im Zusammenhang mit einem weiteren Ferman angegeben (1845).[24] Schließlich waren es der verlorene Krimkrieg und der anschließende Pariser Frieden, die- über den Druck der Siegermächte- zu einem weiteren Erlaß führten. In erster Linie stellte er eine Erneuerung des Reformerlasses (Islahat Hatt-i Hümayunu, auch: Islahat Fermani) dar. Er enthielt jedoch auch Ergänzungen. Wie schon beim Reformerlaß war auch beim Erneuerungserlaß wieder das zentrale Anliegen, den Status der nichtmuslimischen Minderheiten (gayrimüslim azinlik) zu verbessern. Auch hier wieder über eine Kombination von Gleichstellung mit den muslimischen Untertanen, die sich durch die Erlasse nun langsam von „Untertanen“ (tebaa) zu „Bürgern“ (vatandas) emanzipierten. Er enthält auch das Versprechen der Gewährung von Grundrechten.

Nichtmuslimische Gemeinden durften eigene Schulen gründen und unterrichten. Der Zugang zum öffentlichen Dienst sollte für alle gleich sein. Außerdem sollte die Gerichtsbarkeit ausgebaut werden und insbesondere dem Grundsatz der Öffentlichkeit (aleniyet ilkesi, aciklik ilkesi) folgen.[25]

C. DIE ERSTE VERFASSUNG DES OSMANISCHEN REICHS 1876 (KANUN-I ESASI, I.MESRUTIYET)

1. Allgemeines

Kanun-i Esasi ist die erste echte türkische Verfassung im Sinne des europäischen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts.[26] Mit dieser Verfassung wurde die theokratische Legitimation staatlicher Herrschaftsgewalt erstmals durch ein demokratisches Legitimationselement eingeschränkt. Diese Verfassung enthielt sowohl Bestimmungen zur Staatsorganisation als auch zur Regelung der Beziehungen zwischen Bürger und Staat.

Bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung und des neuen Rechtsystems (Mesrutiyet) spielte der Großwesir Midhat Pascha[27] die Hauptrolle. Das neue Grundgesetz (Kanun-i Esasi) wurde am 23. Dezember 1876 in Istanbul verkündet.[28] Es bestand aus 119 Artikeln. Es wiederholte die bereits im Reformerlaß (Tanzimat) verkündeten Grundprinzipien: Die Unteilbarkeit des Reiches wurde bekräftigt und der Islam als Staatsreligion betonte. Nach dem Grundgesetz sollte ferner ein gesetzgebendes Organ gegründet werden, das sich im Wesentlichen an den Gegebenheiten des parlamentarischen Systems in Belgien orientierte.[29]

Dieser Verfassungstext wurde nicht von den Abgeordneten, also nicht von den Vertretern des Volkes, vorbereitet und wurde nicht durch ein Referendum (also: vom Volk) entschieden.[30] Kann man deswegen sagen, dass Kanun-i Esasi von 1876 keine Verfassung ist? Im Grunde genommen nein, wenn man sein Zustande Kommen berücksichtigt.[31] „Hinsichtlich dieses Aspekts hatte Kanun-i Esasi nach heute geltende Kriterien im Verfassungsrecht keine Verfassungseigenschaften“ sagte Okandan.[32] Dennoch wird es am richtigsten sein, dass man der Kanun-i Esasi nicht heutige Mentalität und Kriterien zugrundelegt, sondern im Hinblick auf die damaligen Kriterien auslegt und bewertet. In diesem Zusammenhang ist die „Kanun-i Esasi“ als Verfassung zu bezeichnen, ebenso wie die des damaligen Frankreichs von 1814 und Italiens von 1848 Verfassungen sind.[33] Diese Verfassungen sind nämlich in dem Zeitraum zwischen der Autokratie und der Monarchie verkündet.[34]

2. Das Sultanat

Die Verfassung von 1876 verfolgte mehr das Ziel, dem Sultan eine starke Machtstellung zu verschaffen, als die Rechte der Nation und der Bürger zu garantieren.[35] Die Staatsorganisation war nach wie vor völlig auf den Sultan zugeschnitten.[36]

Nach osmanischem Gewohnheitsrecht wird Thronerbe das älteste männliche Mitglied der Dynastie Osman.[37] Das fand sich auch in dieser Verfassung. „Die Souveränität und das Kalifat gehören der Dynastie Osman, und gehen auf den ältesten Prinzen des Reiches über“ (Art. 3).[38] „Die Freiheitsrechte, das bewegliche und unbewegliche Privatvermögen und die lebenslänglichen Zivilisten der Mitglieder der Dynastie Osman stehen unter der Garantie des allgemeinen Rechts“ (Art. 6). Der Sultan war als Kalif der Beschützer der islamischen Religion (Art. 4). Die Person des Sultans war für heilig erklärt und er war zu keinem gegenüber für seine Taten zur Rechenschaft verpflichtet (Art. 5). Es gab keine verfassungsmäßigen Möglichkeiten, den Sultan zur Verantwortung zu ziehen, wenn er gegen diese Verfassung verstieß.[39]

Zu seinen Hoheitsrechten gehören u.a. folgendes: „die Ernennung und Absetzung der Minister, die Verleihung von Würden, Ämtern und Orden, die Ausübung der Ernennung nach Maßgabe der Privilegsbedingungen der privilegierten Provinzen, die Münzprägung, die Nennung seines Namens im öffentlichen Gebet, der Abschluß von Verträgen mit fremden Staaten, die Erklärung von Krieg und Frieden, der Oberbefehl über die Land- und Seestreitkräfte, Beförderung der Militärpersonen, die Inkraftsetzung der Bestimmungen des geistlichen Rechts und der Gesetze, der Erlaß von Verordnungen hinsichtlich der Geschäfte der öffentlichen Verwaltung, die Milderung oder der Erlaß der gesetzlichen Strafen, die Einberufung und Vertagung des Parlaments und erforderlichenfalls die Auflösung des Abgeordnetenhauses unter der Bedingung von Neuwahlen“ (Art. 7).

Wie gesehen, der Sultan hatte das Recht, Minister zu ernennen und abzusetzen, Verträge abzuschließen, Krieg und Frieden zu erklären, die bewaffneten Kräfte zu beherrschen, alle weltlichen Gesetze zu verkünden, das Scheriat (Islamischen Recht) und Gerichtsstrafen zu überwachen, und das Parlament aufzulösen.[40] Anstatt des Parlaments war der Sultan für Geldprägung verantwortlich. Außerdem mussten sie in den Freitaggebeten seinen Namen erwähnen.

Außerdem hatte der Sultan gemäß dem Artikel 113, Abs. 3 die Befugnis alle, die die Sicherheit des Staates verletzt hatten, aus den Ländern des Reiches auszuweisen (Verbannungsrecht). „Es liegt allein in der Hand des Sultans, diejenigen Personen, hinsichtlich derer auf Grund zuverlässiger polizeilicher Ermittlungen feststeht, dass sie die Sicherheit der Regierung beeinträchtigt haben, aus dem kaiserlichen Gebiet auszuweisen und zu entfernen“ (Art. 113, Abs.3). Dank diesem Artikel blieb Abdülhamit II so leistungsfähig wie seine Vorgänger.[41] Mithat Pascha war selbst das erste Opfer.[42]

3. Die Exekutive

Die dynastische Souveränität betonte das monarchistische Prinzip des Reiches und gleichzeitig auch seinem theokratischen Aspekt.[43] Die Religion des Osmanischen Reiches war der Islam (Art. 11). Nach dem Art. 4 war der Sultan als Kalif der Beschützer der islamischen Religion. Der Scheich-ül Islam (Seyhülislam), höchste geistliche Person des Islam, befand sich in der Regierung und in der Staatsverwaltung (Art. 27).[44]

Wem gehört die Herrschaft nach dieser Verfassung? Auch in der Monarchischen Verwaltung könnte die Herrschaft dem Volk gehören, wie in der französischen Verfassung von 1791 (Art. 1, 2, 4).[45] Darüber gab es in der Kanun-i Esasi keine eindeutige Regelung. Dennoch war es klar, dass die Souveränität dem Sultan gehört. Zu diesem Ergebnis kommt man aus drei Gründen:

Es gibt keine Regelung, dass die Herrschaft dem Volk zusteht.

Bestimmungen über die dynastische Herrschaft im Grundgesetz.. 3- Der Sultan befand sich an erster Stelle in der Staatsverwaltung.[46]

Der Kalif- Sultan war die Spitze des Reichs und auch die Spitze der Regierung. Der Präsident und die Mitglieder des Ministerrats wurde vom Sultan ernannt und abgesetzt (Art. 7, 27). Der Sultan hatte auch die Berechtigung, den Präsidenten des Senats zu wählen (Art. 60). Der Präsident und zwei Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses wurden unter den im Abgeordnetenhaus ausgewählten Kandidaten direkt vom Sultan ernannt (Art. 77). Der Sultan war der einzige Wähler des Ministerrats.[47]

Dieser Ministerrat könnte nicht im modernen Sinne als „Ministerrat“ bezeichnet werden, wegen dieser und anderer umfangreicher Befugnisse des Sultans. Der Ministerrat hatte keine Verantwortung gegenüber dem Parlament, aber gegenüber dem Sultan. Die beiden Kammern hatten keine Berechtigung, die Abgeordneten gegenüber dem Sultan zu verteidigen.[48]

Die Gesetzesinitiative stand der Regierung zu, den Parlamentsmitgliedern nur nach vorheriger Zustimmung durch den Sultan.[49] Der Sultan entschied auch über den Zusammentritt und die Auflösung des Parlaments. Der durch den Vertrag von „Ayastefanos“ beendete, der unglückliche türkisch-russische Krieg gab dem Sultan einen Vorwand am 1. Februar 1878 das Abgeordnetenhaus zu schließen. Der Sultan vermied die Auflösung des Parlaments, doch wurde das Abgeordnetenhaus entgegen Artikel 43 der Verfassung 33 Jahre lang (bis 1908) nicht mehr einberufen. Dadurch wurde die Verfassung zwar nicht ausdrücklich außer Kraft gesetzt, aber praktisch suspendiert.

Der Ministerrat tritt unter dem Vorsitz des Großwesirs zusammen (Art. 28). Jeder Minister war für die Taten seiner Abteilung verantwortlich (Art. 31). Das Kabinett könnte das Gesetzgebungs-verfahren einleiten, einschließlich Gesetzesvorschläge unterbreiten, um vorhandene Gesetze zu ändern. Wenn die Versammlung ein wichtiges vorgeschlagenes Gesetz zurückwies, hätte der Sultan das Parlament auflösen können und eine Wiederwahl innerhalb einer begrenzten Periode fordern können (Art. 35).

Zusätzlich in den Fällen „dringender Notwendigkeit, wenn die Generalversammlung nicht tagt, kann der Ministerrat wegen der Veränderungsgefahr zum Schutz der allgemeinen Sicherheit“ Gesetze erlassen. „Wenn zu einem Zeitpunkt, an dem das Parlament nicht tagt, sich die dringende Notwendigkeit zum Schutze des Staates vor einer Gefahr oder einer Störung der öffentlichen Sicherheit ergibt und die Zeit nicht ausreicht, um zur Beratung der erforderlichen Gesetze das Parlament zur Sitzung einzuberufen, so besitzen die vom Ministerrat ergangene Beschlüsse, soweit sie nicht gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes verstoßen, kraft kaiserlichen Erlasses vorläufig die Wirkung und Kraft von Gesetzen bis zu einem in einer Sitzung des Abgeordnetenhauses gefassten Beschluß“ (Art. 36).

Jeder Minister könnte Sitzungen von beiden Kammern beiwohnen oder von einem Untergebenen vertreten werden, und er könnte vor ihnen auch sprechen, wann immer er es wünscht (Art. 37). Wenn die Versammlung ihn für Erklärungen einbestellte, musste er persönlich erscheinen oder ein Vertreter schicken, aber er könnte „seine Verteidigung auch aussetzen“, wenn er es wünscht und die Versammlung ohne irgendeinen zwingender Grund verlassen (Art. 38).

4. Die Legislative

Gemäß dem Grundgesetz von 1876 wurde ein gesetzgebendes Organ gebildet: Das Parlament. Es wurde in zwei Kammern geteilt: Das Abgeordnetenhaus (Meclis-i Mebusan) und der Senat (Meclis-i Ayan). Während der Senat vom Sultan berufen werden sollte, sollten die Abgeordneten gewählt werden. Die Mitglieder des Senats musste unmittelbar vom Sultan ernannt werden. Die Mitgliederzahl des Senats durfte höchstens ein Drittel der Zahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses betragen (Art. 60).[50] Sie könnten lebenslang in diesem Dienst bleiben. (Art. 62) Die Mitglieder des Senats sollten zumindest vierzig Jahre alt sein und einen nennenswerten Land-Dienst geleistet haben. „In diese Stellung sind geeignete Persönlichkeiten aus dem Kreis der ehemaligen Minister, Gouverneure, Korpskommandanten, Heeresrichter, Botschafter, Patriarchen und Oberrabbiner, aus der Generalität des Heeres und der Marine sowie auch andere Personen, welche die erforderlichen Eigenschaften besitzen, zu berufen“ (Art. 62). Sie waren zwar lebenslänglich anberaumt aber verloren ihre Mitgliedschaft im Senat, wenn sie „auf eigenen Antrag vom Staat in eine andere Stellung berufen wurden“ (Art. 62).

Wie schon festgestellt ist dieser Senat ohne Wahl des Volkes direkt vom Sultan gebildet. Deswegen hatte er im modernen Sinne keine demokratische Eigenschaft.[51]

Die Abgeordneten sollten vom Volk gewählt werden. Die Mitgliederzahl des Abgeordnetenhauses wird so bestimmt, dass auf je 50.000 männliche Bürger je ein Abgeordneter kommt (Art. 65).[52] Die Wahl basierte auf dem Grundsatz der geheimen Stimmabgabe und sie wurde entsprechend besonderes Gesetz durchgeführt (Art. 66). Eine Direktwahl aber war nur für die Großstädte in Aussicht genommen. Im übrigen Reichsgebiet hatten die Stimmberechtigten örtliche Räte, die vorwiegend aus Beamten bestanden, zu wählen, welche ihrerseits die Abgeordneten bestimmen sollten. Zudem ist die Beteiligung sämtlicher Religionsgemeinschaften am Parlament vorgesehen.[53]

[...]


[1] Wayne, The Ottoman Empire, S. 90; Can/Akgündüz, Türk Hukuk Tarihi (Die türkische Rechtsgeschichte, S. 163 ff.; Albrecht, Das neue Reformwerk, 614: Es kostete ihn Thron und Leben.

[2] Albrecht, Das neue Reformwerk, 630: Damals wollte England eine internationale Konferenz zusammenberufen, die für die slawischen Balkanprovinzen der Türkei eine administrative Autonomie einführen sollte. Mithat Pascha, der damalige Großwesir des Reiches verhinderte den beabsichtigten tiefen Eingriff der Großmächte in die innere Politik des Reiches, indem er die Verfassungsurkunde ins Leben rief.

[3] Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, 358; Durch dieses Merkmal unterschied es sich von der einseitigen Charta von Gülhane.

[4] Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, 358.

[5] Davison, Turkey, A Short History, S. 101: Obwohl das Grundgesetz von Preußen monarchistisches Merkmal hatte, hatte das Grundgesetz von Belgien liberalistische Eigenschaft. Zwar basierte das Grundgesetz von 1876 auf den beiden Verfassungen, aber die preußische Verfassung beeinflusste Kanun-i Esasi mehr als die belgische Verfassung. Die preußische Verfassung hatte nämlich mehr monarchistisches Merkmal als die belgische Verfassung.

[6] Wedekind, S.18; Rumpf, Rechtsstaatsprinzip, S. 46; Sarica, Siyasal Tarih (politische Geschichte), S. 160.

[7] Schacht, An Introduction to Islamic Law, S. 92; Aldikacti, Anayasa Hukukumuzun Gelismesi ve 1961 Anayasasi (Die Entwicklung unseres Verfassungsrechts und die Verfassung von 1961, S. 42; Ücok/Mumcu, Türk Hukuk Tarihi, (Türkische Rechtsgeschichte), S. 313; Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, S. 40: „Der Bündnisvertrag von 1808 bezeichnete als ein Schritt zur Erfüllung des Rechtsstaatsbegriffs“.

[8] Rumpf, Rechtsstaatsprinzip, S. 37: „Landherren“ (Ayan) ist nicht die Bezeichnung für einen homogenen Stand von „Adligen“ oder Notabeln, sondern - anstelle des Begriffs der „Landstände“– der Versuch, eine nichtverfasste Schicht privilegierten unter einem Nenner zusammenzufassen.

[9] Rumpf, Rechtsstaatsprinzip, S. 39.

[10] Soysal, Anayasanin Anlami (die Bedeutung der Verfassung), S. 24.

[11] Rumpf, Rechtsstaatsprinzip, S. 37; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 26: Nach der Ansicht des Autors, mit dem „Sened-i Ittifak“ von 1808 begannen die Versuche, die Macht des Herrschers zu grenzen.

[12] Coulson, A History of Islamic Law, S. 151.

[13] «Tanzimat»= Reorganisierung

[14] Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, 356; Wayne, The Ottoman Empire, S. 91 ff.

[15] Dazu näher: Abadan, Tanzimat Fermani’nin Tahlili (Analyse des Reformerlasses), Istanbul.

[16] Schacht, An Introduction to Islamic Law, S. 92: Das Handelsgesetzbuch von 1850 war nach dem Tanzimat Erlaß das erste wichtige Gesetz; http:/ www.britannica.com/bcom/eb/article/5.html (2001); Coulson, A History of Islamic Law, S. 151.

[17] Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, 357.

[18] Lewis, The Emergence of Modern Turkey, S. 77 ff., 94 ff.; Shaw/ Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, S. 1 ff., S. 36. ff.; Rumpf, Rechtsstaatsprinzip, S. 39.

[19] Soysal, Anayasanin Anlami (die Bedeutung der Verfassung), S. 26.

[20] Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, 356.

[21] Wayne, The Ottoman Empire, S. 89.

[22] Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, 357.

[23] Rumpf, Rechtsstaatsprinzip, S. 44.

[24] Ücok/Mumcu, Türk Hukuk Tarihi, (Türkische Rechtsgeschichte), S. 314; Lewis, The Emergence of Modern Turkey, S. 110.

[25] Rumpf, die türkische Verfassung, S. 41.

[26] Sencer, Türkiye’nin Yönetim Yapisi (die Verwaltungsstruktur der Türkei), S. 83: Nach seiner Ansicht, dass es sich „der Form und dem Inhalt nach nicht um echte Verfassung“ handle. Sein Hauptargument ist, dass diese Verfassung keine demokratische Legitimation enthalten habe.

[27] Midhat, der Sohn eines „Kadis“ (Richter), war nach seinen Medrese-Studien in die osmanische Zentralverwaltung eingetreten hat und stieg dann unter Sultan Abdülaziz für kurze Zeit zum Großwesir auf. Dabei hatte er sich als reformfreudiger Staatsmann bei der Durchführung der Tanzimat-Reformen einen Namen gemacht; Dazu: http:/ www.britannica.com/bcom/eb/article/3/0,5716,53883+1,00.html (2001).

[28] Tüzel, Anayasa Hukuku (Das Verfassungsrecht), S. 287; Wayne, The Ottoman Empire, S. 102; Shaw/Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, S.175; Rumpf, Rechtsstaatsprinzip, S.45; Cin-Akgündüz, Türk Hukuk Tarihi (Die türkische Rechtsgeschichte), S. 167; für die Begründung der Verfassung von 1876: Kili/ Gözübüyük, Türk Anayasa Metinleri (Türkische Verfassungstexte), S. 29, 30.

[29] Matuz, Das Osmanische Reich, S. 236.

[30] Tanör, S. 105.

[31] Tanör, S. 106.

[32] Okandan, Amme Hukukumuzun Ana Hatlari (die Grundzüge unseres öffentlichen Rechts), S. 146-147.

[33] Tanör, S. 106.

[34] Tanör, S. 106; Davison, Reform, S. 167-168.

[35] Dazu: Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, 358.

[36] Tüzel, Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht), S. 289; Shaw/Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, S.175.

[37] Albrecht, Das neue Reformwerk, 39; Tüzel, Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht), S. 288; Shaw/Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, S.175.

[38] Tanör, S. 108; Wayne, The Ottoman Empire, S. 102.

[39] Klever, Das Weltreich der Türkei, S. 381.

[40] Wayne, The Ottoman Empire, S. 102; Shaw/Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, S. 175, 177.

[41] Tüzel, Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht), S. 289.

[42] Shaw/Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, S. 175.

[43] Tanör, S. 107.

[44] Shaw/Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, S. 175.

[45] Tanör, S. 107.

[46] Tanör, S. 107.

[47] Davison, Turkey, A Short History, S. 101: Nach der Ansicht Herrn Davison, diese Verwaltungsform kann als begrenzte Autokratie betrachten.

[48] Tanör, S. 109.

[49] Tanör, S. 110.

[50] Albrecht, Das neue Reformwerk, 631.

[51] Tanör, S. 108.

[52] Albrecht, Das neue Reformwerk, 631; Sencer, Türkiye’nin Yönetim Yapisi (die Verwaltungsstruktur der Türkei), S. 84, Das Abgeordnetenhaus von 1877 bestand aus 115 Mitgliedern, von denen 69 Türken und 46 Nichttürken waren; Wayne, The Ottoman Empire, S. 103.

[53] Das System war allerdings nicht ausgewogen, denn die Balkanprovinzen waren besonders stark vertreten; Majoros- Rill, Das Osmanische Reich (1300-1922), S. 342.

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Résumé des informations

Titre
Die erste türkische Verfassung von 1876 Kanun-i Esasi
Université
University of Passau  (Juristische Fakültaet)
Cours
Europäische Verfassungsgeschichte
Auteur
Année
2001
Pages
54
N° de catalogue
V452231
ISBN (ebook)
9783668848146
ISBN (Livre)
9783668848153
Langue
allemand
Annotations
Das Grundgesetz von 1876 (Kanun-i Esasi) war das erste geschriebene Grundgesetz des osmanischen Reiches. Die neue Verfassung war nicht das Ergebnis eines, den Idealen demokratischer Herrschaftsform entgegen-strebenden nationalen, kollektiven Bewusstseins , und auch noch nicht Bestandteil bzw. Produkt einer bestimmten neuen politischen Kultur. Dazu führte die oppositionelle Bewegung der Jung- Osmanen (genc osmanlilar), die seit Mitte der Neunziger Jahre zunehmenden Einfluß auf das geistige Leben der politischen Elite im Osmanischen Reich hatte.
Mots clés
Verfassung, türkische Verfassung, Türkisches Recht, Kanun-i Esasi
Citation du texte
Vedat Laciner (Auteur), 2001, Die erste türkische Verfassung von 1876 Kanun-i Esasi, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/452231

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