Die Diskussion um die "Modernisierung der Seele" in der aktuellen Jugendforschung. Narzissmus und Subjektivität. Eine Analyse aktueller psychologisch fundierter Gesellschaftsdiagnosen


Masterarbeit, 2014

79 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Zwei Beispiele aktueller Verfallsdiagnosen und der Sinn des Sprachspiels narzisstischer Pathologie
1.1 H.-J. Maaz: „Der Lilith-Komplex“ und „Die Narzisstische Gesellschaft“
1.2 P. V. Zima: „Narzissmus und Ichideal“
1.3 Erste Beurteilung und zentrale Begriffe der Beiträge von Maaz und Zima
1.4 Psychoanalytische Narzissmus-Theorien
1.4.1 'Narzissmus' – Begriffsdefinitionen
1.4.2 'Primärer' und 'sekundärer' Narzissmus
1.4.3 Zur narzisstischen Pathologie
1.4.4 Narzissmus in der Adoleszenz und im mittleren Lebensalter
1.4.5 Narzissmus aus der Perspektive von Struktur und Wandel der psychischen Struktur
1.5 Eine psychoanalytisch fundierte Kritik der Beiträge von Maaz und Zima
1.5.1 Falsche Mütterlichkeit und pathologischer Narzsissmus (Maaz)
1.5.2 Narzissmus und „echte“ Subjektivität (Zima)
1.5.2.1 Narzissmus als Bewusstseinstyp
1.5.2.2 Ich-Ideal und Ideal-Ich
1.5.2.3 Subjektivität und Narzissmus: ein dialogisches Modell
1.5.2.4 Narzissmus als Kompensation für den Verlust individueller Autonomie
1.5.2.5 Abschließende Beurteilung von „Narzissmus und Ichideal“ unter dem Fokus von Subjektivität und Beziehungserfahrung
1.6 Fazit: Narzissmus und Gesellschaftskritik
1.6.1 Verschiedene psychoanalytische Grundannahmen von 'Narzissmus'
1.6.2 Narzisstische Individualpathologien und narzisstische Gesellschaftspathologie
(Maaz)
1.6.3 Argumentativer Brückenschlag vom Niedergang der Werte zum Niedergang von individueller Subjektivität (Zima)
1.7 Diskursanalytische Ergänzungen nach A. Ehrenberg
1.7.1 'Narzissmus' als Sprachspiel zeitgenössischer demokratischer Gesellschaft
1.7.2 'Narzissmus' und die Sorge um den Niedergang republikanischer Werte
(Frankreich)
1.7.3 'Narzissmus' und die Rückbesinnung auf den Wert individueller Verantwortung
(USA)
1.7.4 'Narzissmus' als Sprachspiel – Fazit und Kritik
1.7.5 Abschließende Beurteilungen der Beiträge von Maaz und Zima unter besonderer Berücksichtigung von '(individueller) Autonomie' und '(gesellschaftlicher) Heteronomie' (nach Ehrenberg)
1.7.5.1 Abschließende Beurteilung von „Lilith-Komplex“ und „Die narzisstische
Gesellschaft“ (Maaz)
1.7.5.2 Abschließende Beurteilung von „Narzissmus und Ich-ideal“ (Zima)
1.8 Abschließender Kommentar zur Eignung des psychoanalytischen Narzissmus-Begriffs für zeitgenössische Gesellschaftskritik

2. Dornes' „Modernisierung der Seele“
2.1 Theoretische Grundannahmen und empirische Befunde zu verbessertern Etern-Kind- Beziehungen der Gegenwart – Darstellung und Kritik
2.2 Zu Dornes' These einer Erleichterung adoleszenter Konflikte
2.3 Dornes' These einer „Verflüssigung“ der psychischen Struktur – Psychische
Widerstandsfähigkeit versus Regression
2.4 Dornes' Kritik an gesellschaftlichen Verfallsdiagnosen
2.4.1 Allgemeine Kritik im Sinne gestiegener Problemsensibilität
2.4.2 Spezifische Kritik an generalisierenden Diagnosen narzisstischer Pathologie
2.5 Methodenkritik – zur Reichweite der von Dornes rezipierten Befunde und zu dem Problem begrifflicher Unschärfen

3. Narzissmus, „echte“ Subjektivität und die Errettung des (postmodernen) Subjekts?

4. Schluss

Literaturverzeichnis

0. Einleitung

Aktuelle Diagnosen über den Zustand der modernen Gesellschaft bereiten zuweilen großes Unbehagen. Insbesondere aus soziologischer Perspektive sehen wir uns häufig gesamtgesell- schaftlichen Entwicklungsungetümen ausgesetzt, die nicht nur unsere äußere Lebenswelt, son- dern auch unser Innenleben zunehmend „kolonisieren“. So konstatieren zum Beispiel Lesse- nich et al. in ihrer Kapitalismus-Kritik eine „fundamentale[...] Mobilisierungstendenz der Mo- derne, welche den lähmenden Fremdzwang repressiver Sozialformation mittels […] politi- scher Steuerung unablässig […] in ruhelosen Selbstzwang verwandelt und dabei die unauflös- baren Widersprüche der durch jene Kapitalbewegung bestimmten Gesellschaftsformation in die Subjekte hineinverlagert.“1

Solche und andere soziologische Gesellschaftsdiagnosen bilden auch den Hintergrund für eine Vielzahl von Beiträgen, die sich in oft kritischer Weise dezidiert mit den Folgen sozialen Wandels für die individuelle Entwicklung und Selbstbildung befassen.2

Ein Blick auf die Titel der Publikationen zu diesem Thema weckt allerdings den Verdacht ei - ner Dramatisierungstendenz, insbesondere bei Beiträgen, in denen aus entsprechenden Dia- gnosen offenbar pädagogische Appelle generiert werden.3 Die gesellschaftlichen Bedingungen von Entwicklung (und Erziehung) werden darin häufig als „gestört“ oder „pathogen“ dekla- riert und vor dem Hintergrund der Topoi wie 'Entfremdung', 'Identitätslosigkeit' oder 'indivi- dueller Pathologie' Ideale menschlicher Entwicklung konstruiert.

In dieser Arbeit sollen zunächst exemplarisch zwei gesellschaftliche „Verfallsdiagnosen“ ein- gehend analysiert und beurteilt werden. (Vgl. Kap. 1)

Hans Joachim Maaz und Peter V. Zima üben vor allem aus psychoanalytischer Perspektive Kritik an gegenwärtigen Entwicklungen. Die Rückbindung ihrer Diagnosen an Grundannah- men der psychischen Entwicklung wird hier als begrüßenswerter Versuch anerkannt, die Halt- losigkeit häufig diffuser Annahmen über die Zusammenhänge von gesellschaftlichem Wandel und individueller menschlicher Entwicklung zu überwinden.

In dieser Arbeit konzentriere ich mich auf Maaz' Schriften „Der Lillith-Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit.“ (2005)4 und „Die narzisstische Gesellschaft: Ein Psychogramm.“ (2012)5 sowie Zimas Veröffentlichung „Narzissmus und Ichideal. Psyche-Gesellschaft-Kultur.“ (2009)6

Zugunsten einer profunden Beurteilung ihrer Diagnosen sollen Maaz' und Zimas Argumenta - tionslinien nachvollzogen und wo nötig kritisiert sowie anhand der Klärung zentraler Begriff- lichkeiten auf ihre Erklärungskraft hin untersucht werden. Zu diesem Zweck wird nach einer ersten vorläufigen Beurteilung der Beiträge (vgl. Kap. 1.3) besonders eingehend auf die psy- choanalytischen Grundlagen des 'Narzissmus' eingegangen werden müssen. (Vgl. Kap. 1.4). Die daran anknüpfenden Beurteilungen (vgl. Kap. 1.5 und 1.6) werden weiterhin ergänzt wer- den durch diskursanalytische Überlegungen nach A. Ehrenberg, der seinerseits dezidiert die Sinnstrukturen der Narzissmus-Debatten untersucht hat (vgl. Kap. 1.7).

Im zweiten Teil dieser Arbeit wird sich kontrastierend mit einem Beitrag beschäftigt werden, der entgegen der vorangegangenen Verfallsdiagnosen von Gesellschaft und modernen Charak- teren7 die psychischen Folgen gesellschaftlicher Veränderungen auffallend positiv bewertet. (Vgl. Kap. 2) M. Dornes stärkt seine Thesen einer „Modernisierung der Seele“ insbesondere über aktuelle Befunde der empirischen Sozialforschung. Die Aussagekraft dieser Befunde wird hinsichtlich seiner Grundthesen zu bewerten sein. Eine Überprüfung der Befundlage kann dagegen nicht unternommen werden.

Abschließend werden die behandelten Beiträge noch einmal unter dem Kriterium von 'Sub- jektivität' kritische Betrachtung finden. (vgl. Kap. 3)

Im Fazit werden als besonders zentral erachtete Erkenntnisse der gesamten Untersuchung nochmals knapp zusammengefasst dargestellt.

1. Zwei Beispiele aktueller Verfallsdiagnosen und der Sinn des Sprachspiels narzisstischer Pathologie

1.1 H.-J. Maaz: „Der Lilith-Komplex“ und „Die Narzisstische Gesellschaft“

Im „Lilith-Komplex“ entfaltet Maaz die These einer dominanten Geltung falscher mütterli- cher Werte als maßgebliche Ursache für soziale Konflikte, gesellschaftliche Pathologien und individuelle Entwicklungsstörungen.8 9

Seine Titelwahl begründet Maaz mit: „Lilith ist eine faszinierende, zeitlose, schillernde Ge- stalt, geeignet, wesentliche Teile des weiblichen Unbewußten zu symbolisieren, die vor allem Aspekte der Macht, der Sexualität und der Kinderfeindlichkeit transportieren und zu allen Zeiten in patriarchalen Gesellschaften tabuisiert werden.“10 Der hiernach pathologische, indi- viduelle und gesamtgesellschaftliche Entwicklungskreislauf beginnt mit der gesellschaftlichen Tabuisierung ambivalenter Züge von Mütterlichkeit als Merkmal der westlichen Kultur, wo- durch diese Ambivalenz sich als Störung im Mutter-Kind-Verhältnis niederschlagen muss und sodann über die pathologische Entwicklung des Einzelnen auf die Entwicklung der Gesell- schaft zurückwirkt. Das Unbewusste der psychischen Konstitution des Menschen beansprucht hiernach Geltung für sich in destruktiver Form gerade aufgrund seiner Verneinung.

Die Mutter mit ihrem unüberwundenen Komplex gibt diesen notwendig an das eigene Kind weiter: „Der Lilith-Komplex – der gestörte oder unterdrückte Selbstwert, die behinderte Lust- fähigkeit und die verleugnete Kinderablehnung – führt nahezu zwangsläufig zur Muttervergif- tung, zur Vergiftung des Mutter-Kind-Verhältnisses durch Mißbrauch und Lüge.“11 Die „Mut- tervergiftung“ (als eine von fünf idealtypisch verstandenen Störungen der Mütterlichkeit12 ) bezeichnet Maaz als „Seuche unserer Zeit“13 und begründet weiter die hohe Häufigkeit nar- zisstischer Persönlichkeitsstörungen mit dieser gesamtgesellschaftlichen Tendenz zur Lebens- weise falscher Mütterlichkeit. Er spricht von einer „wachsenden Gefahr einer wuchernden narzißtischen Gesellschaftspathologie“14, in der immer mehr „sekundär-narzißtische"15 Befrie- digungsquellen geschaffen werden müssten, was seinerseits die Entwicklung eines „destrukti- ven Suchtcharakters“16 befördere.

Ein fatalistischer Grundton tränkt ebenso seine Generaldiagnose an späterer Stelle: „Der Lie- besmangel verleiht dem Geld übermäßige Bedeutung. Der frühe Bestätigungsmangel begrün- det den Hunger nach narzißtischer Selbstdarstellung. Der Befriedigungsmangel führt zur Spaßgesellschaft. Auf der Suche nach dem verlorenen Glück entsteht eine süchtige Leistungs- und Wachstumsgesellschaft. Der Beziehungsmangel führt in die Konkurrenz und am Ende im- mer in den Krieg.“17

Maaz Kritik ist ganz offenbar auch politisch aufgeladen: „Denn der verleugnete und verborge- ne Muttermangel garantiert, daß erneut selbstwertgestörte Kinder heranwachsen, die als brave Untertanen und willfähige Soldaten, als leistungssüchtige Produzenten und gierige Konsumenten die patriarchalen Herrschaftsstrukturen erhalten und weiter ausbauen.“18

Maaz Perspektive erscheint in Hinblick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zunächst eher dualistischer Natur. Die heutige Gesellschaft erscheint als Träger und Vermittler falscher Werte und Orientierungen, die über das pathologische Mutter-Kind-Verhältnis der nachwachsenden Generation wieder eingeschrieben werden. Die falsche Lebensform reprodu- ziert sich weiter über „höchst verführerische Versuchungssituationen […] zu glauben, daß man durch Haben, Besitzen, Sich-Einverleiben frühen Muttermangel ausgleichen könne“19.

Diese Dynamik erscheint als Teufelskreis, weil die sich in der frühen Kindheit vollziehende Entfremdung20 von den eigenen Fähigkeiten der Kinder durch falsch erfahrene Mütterlichkeit deren äußere Abhängigkeit zur Folge haben muss: „Selbstentfremdete Kinder bleiben von äu- ßeren Angeboten abhängig, zu allem verführbar, weil sie den Kontakt zu sich selbst aufgeben mußten.“21

Maaz richtet aus psychoanalytischer Perspektive den Blick auf Beziehungsqualitäten jenseits bewusster Verhaltensgründe und Haltungen, auf unbewusste Motive des elterlichen bzw. müt- terlichen Handelns. Die aus einem gestörten Mutter-Kind-Verhältnis folgende mangelnde Selbstwahrnehmung fördert äußere Abhängigkeiten von fremden Interessen, Führung und Suggestionen.

In „Die narzisstische Gesellschaft“22 ergänzt Maaz seine Thesen zur psychosozialen Patholo- gie der westlichen Gesellschaft. Der narzisstischen Gesellschaft diagnostiziert Maaz insbeson- dere ein Defizit authentischer Näher in den menschlichen Beziehungen. Nähe entstehe „im authentischen Kontakt zweier (oder mehrerer) Menschen, die sich wirklich so zeigen und äu- ßern, wie sie gerade sind, und darin ohne Bewertung bestätigt werden“23. Dies sei ein mensch- liches Grundbedürfnis, dem die „narzisstische[...] Abwehr“24 entgegenwirke, indem sie den nach Anerkennung strebenden Menschen empfänglich für „gemachte Gefühle“25 mache.

Der „gesunde Narzisst“26 erscheint indes als Entwicklungsideal: „Der gesunde Narzisst lebt aus sich heraus und für sich stets in Beziehung zur sozialen Gemeinschaft und in kritischer Auseinandersetzungen mit den realen Möglichkeiten.“27

1.2 P. V. Zima: „Narzissmus und Ichideal“

Zima vertritt die These einer zeitgemäßen Veränderung psychischer Verfasstheit im Sinne ei- ner Abkehr vom Ich-Ideal zum Ideal-Ich. Entwicklungsbedingungen der Postmoderne fördern demnach die Herausbildung einer bestimmten Form des Narzissmus bzw. der narzisstischen Persönlichkeit.28

In Anlehnung an Lacan und Lagache postuliert Zima zunächst die Unterscheidung zwischen Ichideal und Idealich als Subjektivität konstituierende psychische Instanzen und ordnet diese sodann der väterlich-symbolischen bzw. mütterlich-imaginären Sphäre zu.29 In dieser Unter- scheidung ist die kulturell-psychologische Perspektive bereits angelegt, die Zima auf das Nar- zissmus-Problem wählt.

Die Fortsetzungen des Freudschen Narzissmus-Konzeptes lassen sich nach Zima vereinfa- chend bündeln zu zwei Strängen, in denen „Narzissmus“ hinter verschiedenen Vorzeichen be- trachtet wird, entweder als eher produktive (der väterlich-symbolischen Sphäre zugehörige) oder als eher destruktive (im Bereich des mütterlich-Imaginären angesiedelte) Kraft. Es ist nun Ambivalenz, die Zima als Merkmal von Narzissmus verstanden wissen will, wenn er von der „Janusköpfigkeit des Narzissten“30 spricht. Strukturell sind demnach sowohl ein maligner wie auch ein gesunder Narzissmus in der (gesunden) menschlichen Psyche angelegt und Be- ziehungserfahrungen entscheiden über die Ausprägung der beiden Varianten.

Zima will die Entstehung eines gesunden Narzissmus dialogisch verstehen, d.h. erstens als Zusammenspiel beider (narzisstischer) Teilaspekte und zweitens in dialogischer Beziehung zu anderen Menschen.31 Während er die Entwicklung eines 'gesunden Narzissmus' als Norm be- greift, könnten verzerrte Interaktionsverhältnisse dieses normale Zusammenspiel stören und statt dessen eine monologisch-narzisstische Einstellung anderen gegenüber verursachen. Die solcherart als Fehlentwicklung verstandene Charakterorientierung des Individuums kann sich über primäre und sekundäre Sozialisationserfahrungen vollziehen.

Eine instabile oder zerfallene symbolische Ordnung erhöhe die Wahrscheinlichkeit einer Re - gression ins Mütterlich-Imaginäre – als „Zustand der ursprünglichen narzisstischen Illusion, in dem sich das Kind mit dem Objekt des Verlangens seiner Mutter identifiziert“ 32 – bzw. den Rückfall in einen primären Narzissmus, so die Hauptthese Zimas. Gegenwärtige Entwicklun- gen würden die normale Entwicklung in dieser Hinsicht stören und somit zu einer erhöhten Verbreitung des malignen Narzissmus maßgeblich beitragen.33:

1.3 Erste Beurteilung und zentrale Begriffe der Beiträge von Maaz und Zima

Sowohl der „Lillith-Komplex“ als auch „Die narzisstische Gesellschaft“ sind recht alltagsnah formuliert und hinsichtlich Systematik und Argumentationsverlauf weniger dem klassischen Wissenschaftsgenre zuzuordnen. Allerdings wird der psychoanalytische Laie Maaz' Diagno- sen nicht beurteilen können, vor allem weil Maaz bei der Verwendung zentraler Begrifflich - keiten wesentliche Grundannahmen über das (schwerlich zu fassende) Verhältnis von Psyche, Individuum und Gesellschaft bereits ungeklärt voraussetzt.

Er behauptet die erhöhte Auftrittshäufigkeit der 'narzisstischen Persönlichkeitsstörung' vermit- telt über primär-sozialisatorische Beziehungserfahrungen als Folge gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen der Gegenwart. Kontrastierend dazu spricht er von einem 'gesunden Narziss- mus' als Entwicklungsideal. Von den Individualdiagnosen eines gestörten Narzissmus unter- schieden stellt er überdies die Diagnose einer 'narzisstischen Gesellschaft', die ihm nach nicht lediglich aus der Summe narzisstischer Persönlichkeiten hervorgeht, sondern aufgrund be- stimmter Merkmale auch maßgeblich an deren Reproduktion beteiligt ist. Maaz verweist damit auf das Verhältnis von individueller (psychischer bzw. psychosozialer) Entwicklung und Gesellschaft, welches er nur unzulänglich zu klären vermag.

Zimas Auseinandersetzung mit der These einer narzisstischen Gesellschaft verweist vor allem auf unterschiedliche Narzissmus-Theorien. Hinsichtlich der Klärung von Vorannahmen ist Zi- mas Rückbindung seiner Kritik an die Begriffe Narzissmus und Ich-Ideal (in Anschluss an Freud und Lacan) positiv zu bewerten.

Die These einer Stärkung des 'malignen Narzissmus' in Folge eines gesellschaftlichen Nieder- gangs von Ich-Idealen klingt zunächst plausibel, allerdings bleiben bei genauerer Betrachtung auch hier zentrale Fragen unbeantwortet. "[D]ass das Ichideal, wie es von Freud bis Lacan be- schrieben wurde, durch bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen geschwächt und das Idea- lich gestärkt wird, so dass ein asozialer Narzissmus der Anomie (Durkheim), der Entfremdung (Marx, 1844) und des Imaginären (Lacan) entsteht“34, dies sind Behauptungen, die sich auch mit Verweis auf die Autoritäten dieses Diskurses nicht schon von selbst begründen lassen.

Um Positionen wie die von Maaz und Zima beurteilen zu können, muss zunächst ein Blick auf die entsprechende Vorannahmen geworfen werden. Der Narzissmus-Begriff spielt in die- sem Kontext für beide Autoren eine besonders wichtige Rolle.

1.4 Psychoanalytische Narzissmus-Theorien

Die vielzähligen Narzissmus-Beiträge stellen sich wohl nicht nur dem wissenschaftlichen Lai- en als kaum zu überblickendes Dickicht verschiedener Grundannahmen über die menschliche Entwicklung dar. Erschwerend tritt hinzu, dass viele Autoren Verwendungsweisen des Nar- zissmus-Begriffs vermischen – so auch Maaz, wenn er einerseits von der 'narzisstischen Per- sönlichkeit' und andererseits von der 'narzisstischen Gesellschaft' schreibt. Zunächst zur Klä- rung der psychoanalytischen Vorannahmen:

Allein im psychoanalytischen Diskurs besteht Vielfalt narzisstischer Theorie. Eine umfassen- de Abhandlung zur Begriffsgeschichte wäre spannend, ist aber nicht Thema dieser Arbeit. Es wird daher nur eine Auswahl an grundlegenden Beiträgen in Betracht kommen. Ich konzen- triere mich im Folgenden unter psychoanalytischer Perspektive auf die Narzissmustheorien von Kohut, Kernberg und Battegay. Es sollen dabei wesentliche Prämissen über die Psyche des Menschen herausgearbeitet und kontrastiert werden, um die Beiträge von Maaz und Zima auf dieser Grundlage sodann kritisch beurteilen zu können.

1.4.1 'Narzissmus' – Begriffsdefinitionen

Zur Einführung in die psychoanalytische Perspektive führt kein Weg an deren bekannten Be- gründer vorbei, der Vorstellungen über den psychischen Apparat und über psychische Grund- dynamiken entscheidend geprägt hat. Vergeblich suchte man in Freuds Werk aber nach einer eindeutigen Bestimmung des 'Narzissmus'. Freud versteht ihn entweder als zwischen Autoero- tismus und Objektliebe liegender sexuelle Entwicklungsstufe oder strukturell als „Libidobe- setzung des Ichs“35.

Kohuts Narzissmus-Theorie hat den Diskurs weiterhin grundlegend und nachhaltig geprägt. Dieser versteht unter Narzissmus die „libidinöse Besetzung des Selbst“36, die in der menschli- chen Psyche angelegt und ihm nach maßgeblich an der Entwicklung einer gesunden Persön- lichkeit beteiligt ist. Dies entspricht in etwa Freuds struktureller Perspektive, allerdings unter dem Zusatz einer Kohärenz stiftenden Funktion, weil anstelle des Ichs das ganze Selbst zum Besetzungsobjekt wird.

R. Battegay hat verschiedene Narzissmus-Ansätze diskutiert. In Anlehnung an Kohut ist Nar- zissmus auch bei ihm deutlich positiv konnotiert. Er versteht darunter das „Selbst“37 des Men- schen, welches er an anderer Stelle ausweist als „narzißtische Besetzung von Ich, Es, Über- Ich und Körper, die dem Menschen im Normalfall das Gefühl vermittelt, eine lustvoll erlebte Einheit zu bilden und ihm kompaßartig eine – dauerhafte – Richtung gibt.“38 39 Die Formulie- rung vom Selbst als „Sitz des Narzißmus“40 ist irreführend, weil Battegay auch an anderer Stelle feststellt, dass erst über die narzisstische Besetzung der psychischen Instanzen und des Körpers der Mensch zu einem Gefühl von „Selbstidentität“41 oder einem „gesunden Selbst- werterleben“42 gelange. Das Selbst (als einheitliches Selbsterleben) setzt die narzisstische Be- setzung also voraus und als lustvoll erlebte Einheit fällt dieses Selbst gleichzeitig mit 'Nar- zissmus' in eins. Das Attribut „narzisstisch“ erlangt seine Bedeutung demnach erst über seine Funktion. Die libidinöse Besetzung der sich herausbildenden Strukturen ist also nur dann nar- zisstisch zu nennen, wenn daraus die lustvolle Einheitserfahrung zustande kommt, so meine These.

O. F. Kernberg versteht unter „normale[m] Narzissmus“43 ebenfalls die libidinöse Besetzung des Selbst, allerdings betont er die konstitutive Bedeutung aggressiver und libidinöser Aspek- te für dieses Selbst. Anders als Kohut (und Battegay) unterscheidet er dabei explizit zwischen 'Selbstgefühl' und 'Selbstwertgefühl' – Selbstgefühl und Narzissmus fallen hier nicht in eins. Die narzisstische Besetzung des Selbst ist nicht notwendige Bedingung seiner Möglichkeit. Zudem sind verschiedene psychische Strukturen an der „Regulation des Selbstwertgefühls“44 beteiligt. Neben der libidinösen Besetzung eines integrierten Selbst nennt Kernberg weiter die „Welt innerer Objekte und Objektrepräsentanzen“45, das Überich (in seiner „negativen“ Funk- tion) und das Ich-Ideal (in seiner verstärkenden Funktion), sowie triebbedingte Strukturen.

Anders als Kohut betont Kernberg in Anlehnung an Klein und Mahler besonders die Bedeu - tung von Objektbeziehungen für die psychische Strukturentwicklung.46 Beide Ansätze unter- scheiden sich auch grundlegend dahingehend, dass Kernberg Libido und Aggression als bei der Konstitution innerer Repräsentanzen (des Selbst und der Außenwelt) beteiligte Triebe vor- aussetzt. Der libidinösen Besetzung des Selbst kommt dabei eine sekundäre Rolle zu. Kohut (und Battegay) verstehen Narzissmus hingegen als eigene Entwicklungslinie, welche maßgeb- lich an der (gesunden) psychischen Entwicklung teil hat.

1.4.2 'Primärer' und 'sekundärer' Narzissmus

Laplanche und Pontalis betonen Uneinheitlichkeit der psychoanalytischen Theorie, bei Freud selbst sowie in dessen Fortentwicklungen. Als „narzißtische[r] Identifizierung“47 deutet sich bei Freud zunächst eine große Nähe des Narzissmus zur Ich-Bildung an, indem erster verstan - den wird als „Verinnerlichung einer Beziehung“48 nach dem Vorbild der Anderen. Diese Vor- stellung ist also notwendig intersubjektiv angelegt. Die Bezeichnung dieser Annahme als 'se- kundärer Narzissmus' fördert nach Laplanche und Pontalis das reduktionistische Bild eines nomadischen Säuglings, für den zunächst Objekte (und also auch Beziehungen) keine Rolle spielen, wobei dann Autoerotismus und (primärer) Narzissmus zusammenfallend gedacht werden. Dagegen stellen die Autoren fest: „Nichts scheint sich dem entgegenzustellen, daß man mit dem Begriff 'primärer Narzißmus' eine frühe Phase oder fundierende Momente be - zeichnet, die sich durch das gleichzeitige Auftreten eines Ich-Umrisses und seiner Besetzung mit Libido charakterisieren, was weder einschließt, daß dieser erste Narzißmus der erste Zu- stand des menschlichen Wesens ist, noch ökonomisch gesehen, daß dieser Prädominanz der Selbstliebe jede Objektbesetzung auschließt.“49.50

Nach Kohut bezeichnet 'primärer Narzissmus' zunächst einen Zustand „narzißtische[n] Ge- leichgewicht[s]“51 als Einheitserfahrung von sich und Welt bzw. der fürsorgenden Mutter, des- sen Störung das Kind über die Entwicklung des „idealisierten Elternbild[es]“52 und des „gran- diosen Selbst“53 kompensiert. Kohut spricht weiter von „Umformungen des [primären] Nar- zißmus“54 durch die zielorientierte Inanspruchnahme des Ichs, wobei das narzisstische Selbst in die erwachsene Persönlichkeit allmählich integriert würde. Eine gesunde Persönlichkeit setzt demnach (narzisstische) Selbstliebe notwendig voraus.

Zima verweist darauf, dass bei Kohut primärer Narzissmus „jeder Art von Subjekt- oder IchBildung“55 vorausginge und daher nicht negativ konnotiert sein könne. („Wo es noch kein Ich gibt, kann es keine Pathologien des Ichs geben.“56 )

Kernberg unterscheidet lediglich zwischen primärer und sekundärer narzisstischer Befriedi- gung. Er bezeichnet die „sekundäre narzißtische Befriedigung“57 als diejenige, die aus positiv besetzten inneren Objektrepräsentanzen resultiert und die genetisch gesehen der narzissti- schen Befriedigung „aus äußeren Quellen“58 nachgestellt ist und deren Funktion bei normaler Entwicklung zunehmend übernehmen kann. Auch hierin wird Kernbergs dualistisches Ver- ständnis einer früh angelegten 'normalen' oder 'pathologischen' Entwicklung deutlich.

An den Konzepten eines primären Narzissmus wurde von verschiedenen Seiten her Kritik ge- äußert. Wutke hat die Kritiken besonders übersichtlich dargestellt.59 Im Folgenden sollen diese Kritiken wiederum kritisch beurteilt werden:

Laplanche und Pontalis üben demnach vor allem terminologische Kritik: Das von Eissler ge- prägte Verständnis von 'Körpernarzissmus' leite in die Irre, weil dem Narzissmus-Begriff ety- mologisch die Bezeichnung einer Spiegelbeziehung immanent sei, die bei dem Säugling, des- sen Libido über den eigenen Körper nicht hinausginge, nicht möglich sei. Diese Kritik reproduziert aber gerade den Irrweg, weil sie den Säugling damit nomadisch als von äußeren Einflüssen unberührt impliziert. Nach Eissler lernt der Säugling seinen Körper zu lieben und entwickelt dadurch einen „intensiven Körpernarzissmus“60. Unabhängig davon, ob der Säugling bereits Objekte jenseits seiner selbst zu besetzen in der Lage ist, so gestaltet sich die frühe Interaktion (in der Regel zur Mutter) doch derart, dass diese auf die Gefühlsaus- drücke des Kindes reagiert, es damit also in seiner Existenz spiegelt. Mit der von Kohut be - zeichneten „lustvolle[n] […] Überströmung der Körperoberfläche“61 ist insofern sehr wohl be- reits auf eine Spiegelbeziehung verwiesen, ohne die das Kind den eigenen Körper nicht als Lustquelle erfahren könnte.

Pulver moniert nach Wutke in ähnlicher Weise, die Bezeichnung der Einheitserfahrung des Säuglings in Interaktion mit der Welt als narzisstisch ließe den Fehlschluss zu, dass diese aus - schließlich durch die libidinöse Besetzung des Selbst verursacht worden sei – damit würde jedoch der Einfluss der Mutter auf die Einheitserfahrung unterbewertet werden.

Mit Blick auf Kohut und Battegay relativiert sich diese Kritik: Als primärer Narzissmus, der bei den Autoren außerdem nur sekundär eine Rolle spielt, wird dabei eher ein Zustand völliger Frustrationsfreiheit postuliert, der sich mit Henseler möglicherweise besser verstehen ließe als Konstruktion eines Paradieses, „[that] did not originally exist in this form but was only later constructed, composed out of memory traces of a psychophysiological state, satisfying experi- ences with objects, and wishful fantasies of happiness and harmony – which can be under - stood as reaction formations to frustrating reality.“62 Das Konzept des primären Narzissmus wäre dann „a myth, in the best sense of the word: although never having taken place histori- cally, it tells us something true.“63 Ein solchermaßen verstandener primärer Narzissmus wäre nicht durch Befunde der aktuellen Säuglingsforschung widerlegbar, wonach im Rahmen einer „normalen“ Entwicklung die Annahme einer objektlosen, undifferenzierten oder autistischen Phase abwegig erscheint, weil das Attribut 'primär-narzisstisch' seine Bedeutung als Bedin- gung der Möglichkeit, überhaupt eine Entwicklungslinie eines (gesunden) Narzissmus denken zu können, erhielte.

Pulver stellt auch die Zweckmäßigkeit am Konzept einer narzißtischen Phase mit Hinweis auf Dissens der zeitlichen Einordnung in Frage.64 Es bliebe letztlich unklar, welche Momente des frühkindlichen (oder vorgeburtlichen) Entwicklungsverlaufs hiermit genau bezeichnet werden sollen. Mit Blick auf die auch im Rahmen dieser Arbeit betrachteten Vielzahl an Narzissmus- Theoremen ist dieser Kritik durchaus zuzustimmen. Das Problem könnte aber gelindert wer- den, indem die perspektivistischen Prämissen verschiedener Ansätze geklärt würden, bevor sie zu weiterführenden Diskussionen vorausgesetzt werden. Auch dies soll in dieser Arbeit ex- emplarisch geschehen.

1.4.3 Zur narzisstischen Pathologie

Nach Kohut wird die psychische Entwicklung des Kindes durch nicht phasengerechte und traumatisch wirkende Erschütterungen der idealisierten Objektimago gestört. Krankheit oder Tod der Eltern erzwingen demnach die Entdeckung ihrer Unvollkommenheit vorzeitig und verhindern die Errichtung eines idealisierten Über-Ichs.65 Auch eine traumatische Konfrontati- on mit den versteckten Schwächen der Eltern könne zur pathologischen Introjektion bzw. Ver- drängung der archaischen Objektimago führen. Kohut spricht hier von den „pathogenen Wechselwirkungen zwischen Eltern und Kind“66. Die Folge sei ein lebenslanger „Objekthun- ger“67 als Ersatz für psychische Funktionen, die in der Kindheit nicht ausgebildet werden konnten. Zu wenig oder zu viel Bestätigung der lustvollen Erfahrung seiner selbst (durch die Mutter) bezeichnet Kohut weiter als mögliche Ursache für Störungen im Sinne „erhöhter nar- zißtisch-exhibitionistischer Spannung“68, bei der an die Stelle von lustvoller Bestätigung „schmerzliche[...] Scham“69 trete. Die Umwandlung der infantilen Größenphantasien in auto- nome Ich-Ziele könne seinerseits gestört werden durch „traumatische Angriffe auf die Selbst- achtung des Kindes“70, wodurch dieses sein Leben lang von seinen unterdrückten Größen- phantasien geplagt und narzisstisch besonders kränkbar bliebe.

Nach Battegay fordert ein durch mangelnde (elterliche) Zuwendung nur schwach entwickeltes Selbst eine kompensatorische Überzuwendung aus physiologischer Eigenliebe heraus.71 Ein früher Zuwendungsmangel verhindere die gesunde Idealisierung eines Objekts und habe des- halb die Bildung eines „nicht tragfähigen Selbst“72 zur Folge, bei dem die Repräsentationen negativer Erfahrungen die psychische Dynamik dominieren.73 Eine ungestörte „narzißtische Entwicklung“ bedürfe hingegen einer ungestörten „taktil-symbiotischen Beziehung“74 des Kleinkindes zur Mutter. Narzisstische Störungen seien aber häufig erst bei versagender Ab- wehr75 erkennbar.76

Kernberg hat sich in seinen Beiträgen explizit auf Narzissmus als Pathologie konzentriert.77 Die narzisstische Persönlichkeit ist ihm nach geprägt von einer Überidentifizierung mit dem eigenen Idealselbstbild unter Leugnung der Abhängigkeit von Objekten und Objektrepräsen- tanzen.

Narzisstische Störungen sind bei ihm ontogenetisch mit der Differenzierung von Selbst- und Objektvorstellungen verbunden. Er behandelt dieser unter der Kategorie der Borderline-Struk- turen. Während neurotische Patienten über ein festes Selbstgefühl verfügten, seien Patienten mit Borderline-Strukturen geprägt von einer schlechten Integration libidinöser und aggressi- ver Selbst- und Objektrepräsentanzen und also einer instabilen und nicht hinreichend flexiblen Ich-Identität.78 Eine Folge der scheiternden Integration des Selbstkonzepts sei „eine chroni- sche übergroße Abhängigkeit von äußeren Objekten (im Versuch, eine gewisse Kontinuität in Interaktion, im Denken und bei den damit verbundenen Gefühlen zu erreichen)“79. Weiterhin seien wichtige Überich-Funktionen eingeschränkt, weil konstruktiv verstärkend wirkenden Repräsentationsanteile nicht integriert würden.80

Diese Annahme ähnelt der von Kohuts mangelnder Idealisierung des Über-Ichs, wobei dieser ein weniger dualistisches Verständnis der Überich-Funktionen (Aggression versus Liebe bzw. Verbot versus Lob und Bestätigung) vertritt.

Das „pathologische Größenselbst“81 erscheint bei Kernberg weiterhin als Personifikation des auf den psychischen Organismus und seine Umwelt parasitär wirkenden Narzissmus: „Was von außen empfangen wird, vor allem Bewunderung, bestätigt die narzißtische Befriedigung des Größen-Selbst. Bewunderung wird 'extrahiert' mit einer unbewußten Gier, die die Quelle der Lust und Befriedigung erschöpft; sobald dann die Quelle erschöpft ist, wird sie als wertlos fallen gelassen.“82

Vergleiche der beiden Theorien von Kohut und Kernberg werden in der gängigen Literatur be- handelt als „Defekt-Konflikt-Kontroverse“83. Während danach für Kohut narzisstische Störun- gen defizitäre Defekte einer eigenständig gedachten narzisstischen Entwicklungslinie darstellen, werden sie von Kernberg behandelt als Resultat eines Konflikts zwischen verschiedenen psychischen Instanzen.84

1.4.4 Narzissmus in der Adoleszenz und im mittleren Lebensalter

Nach Kohuts „Prinzip der Verletzbarkeit neuer Strukturen“85 ist die Persönlichkeitsentwick- lung besonders zu Beginn der Latenzzeit nochmals stark gefährdet, wenn die Beziehung des Kindes zum idealisierten Objekt traumatisch gestört wurde, die für das psychische Gleichge- wicht notwendigen psychischen Strukturen nicht bilden zu können.86

Kernberg betrachtet die Entstehung des pathologischen Narzissmus in Anlehnung an Mahler primär als Fixierung an im zweiten und dritten Lebensjahr sich vollziehende Entwicklungs- prozesse.87 Wurden die reziproken Rollen in früher Kindheit hingegen normal88 verinnerlicht, wird der Mensch auch spätere Entwicklungsaufgaben in der Regel bewältigen können, so Kernbergs Ansicht. Er skizziert eine Reihe (ideal-) typischer Lebensaufgaben von Erwachse- nen, mit denen sich entsprechende Entwicklungsschritte verbinden. Die eigenen Grenzen wahrzunehmen und anzuerkennen, Selbstakzeptanz und Selbstbejahung innerhalb dieser Grenzen – das sind nach Kernberg zentrale Merkmale einer emotional reifen (nicht auf psy- chische Organisationsweisen der Kindheit fixierten) Persönlichkeit. Auch Krisen wie Krank- heit, Tod und Verlust können auf dieser Grundlage besser bewältigt und ein „sinnvolle[s] Le - ben“89, wenn nötig, wieder hergestellt werden. Wer an den zeitlos betrachteten Herausforde- rungen des Lebens scheitert, der leidet wahrscheinlich unter seinen ungelösten ödipalen und narzisstischen Konflikten der frühen Kindheit, die ihn jede Abhängigkeit zuungunsten psychi- scher Stabilität und Flexibilität leugnen lassen, so liest sich Kernberg an dieser Stelle.

1.4.5 Narzissmus aus der Perspektive von Struktur und Wandel der psychischen Struktur

Narzisstisches Selbst, Ich und Über-Ich bilden bei Kohut die Strukturvariablen, durch deren Funktionsweise sich das„narzißtische[... Gleichgewicht[...] der Persönlichkeit“90 aufrechter- hält. Die Entwicklung der psychischen Strukturen erscheint bei Kohut angetrieben zu sein von zielgerichteten Entwicklungstendenzen.91 Umweltliche Bedingungen können die natürlichen Pfade begünstigen oder stören, die Grundregeln ihrer Dynamik aber nicht verändern. Wird die Bildung der psychischen Strukturen (Selbst, Ich und Über-Ich) gestört, so beeinträchtigt das die Funktionsweise der Psyche nachhaltig – und das relativ unabhängig von den (späteren) äu- ßeren Gegebenheiten.

Kohuts Bestimmung dessen, was er unter einer gesunden narzisstischen Entwicklung versteht, ist ahistorisch formuliert, insofern als hiermit allgemeine Funktionen der psychischen Struktu- ren angezeigt werden.92 Die Internalisierung historisch wandelbarer Werte erscheint unter die- ser Perspektive psychischer Gesundheit sekundär, weil vor allem durch die 'Idealisierungsfä - higkeit' die Bedeutung des Ich-Ideals angezeigt ist. Kohut expliziert hierzu: „Nicht Form und Inhalt, sondern die Fähigkeit, unsere Liebe und Bewunderung zu erwecken und zugleich uns die Aufgabe der Triebsteuerung aufzuerlegen, kennzeichnen das Ich-Ideal.“93 94 Hinsichtlich des Zusammenhanges von sozialem Wandel und psychischer Struktur lässt sich aus Kohuts Narzissmus-Konzept vor allem ein unbedingt hoher Einfluss familiärer Sozialisa- tionserfahrung ableiten. Die psychische Gesundheit des Menschen ist demnach auch langfris- tig davon abhängig, wie sich seine primär erfahrenen Beziehungen gestalten, ob er darin die für ihn notwendige Zuwendung erfährt, um ein gesundes Selbst zu entwickeln.

Battegay unterscheidet weiterhin drei Hauptursachen für einen pathologischen Narzissmus95:

1. genetische Ich-Defekte96, 2. ungünstige Umgebungsverhältnisse in der Kindheit und 3. „narzisstisch kränkende […] Notzeiten“. Bei der 'narzisstischen Persönlichkeitsstörung' komme den Umwelteinflüssen dabei das „wesentlichste ursächliche Moment“97 zu. Ergänzend zu Kohut betont Battegay, dass das „menschliches Streben“98 unentwegt „narzißtische Gratifika- tionen“99 bräuchte, weil nur auf diesem Wege Triebbefriedigung mit Objekten ersetzt werden könne. Ein Mangel an positiver Resonanz und Bestätigung störe den gesunden Narzissmus und dränge den Menschen zur Befriedigung seiner primären Triebe. Spätere Störungen im Be- reich der Objektbeziehungen erhöhten die Wahrscheinlichkeit für eine Beeinträchtigung des narzisstischen Gleichgewichts auch für nicht „primär narzißtisch“100 gestörte Persönlichkeiten.

Gegenüber Kohuts Konzeption erfahren bei Battegay Beziehungserfahrungen auch nach de- nen der primären Sozialisation eine stärkere Bedeutung für eine gesunde psychische Verfasst- heit. Damit verschließt er den Weg einer Verdrängung psychischer Leidzustände in den Be - reich des Privaten oder genetischer Dispositionen.

Kernberg geht (in seinen hier zugrundeliegenden Schriften) auf äußere Einflüsse narzissti- scher Entwicklung kaum ein. In seiner Theorie des mittleren Lebensalters bilden die skizzen- haft normierten umweltlichen bzw. sozialen Bedingungen den blassen Hintergrund, vor dem der pathologische Narzissmus sich allein in Kampf zwischen psychischen Strukturen ab- spielt.101 Der Auslöser für diesen Kampf bleibt indes unklar. Kernberg erläutert an dieser Stel - le zum Beispiel nicht die Rolle früher Beziehungserfahrungen genauer.102

Auch hinsichtlich der Frage nach der Widerstandsfähigkeit des Menschen (bzw. dessen psy- chischer Struktur) gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen ergeben sich dadurch Konse- quenzen: Die Vorstellung einer in der psychischen Struktur relativ stabil angelegten Gesund- heit oder Krankheit spricht für eine gewisse „Immunität“ gegenüber äußeren Entwicklungen. Umweltliche Herausforderungen kann das narzisstisch gesunde Subjekt demnach also in der Regel gut bewältigen. Im Umkehrschluss ergibt sich aus dieser Annahme das Problem, eines allzu leichten Rückschlusses auf eine strukturelle Pathologie des Subjekts, wenn dieses den Erwartungen eben nicht gerecht wird. Auf dieses Weise können Konflikte, empfundenes Unbehagen oder auch Leidzustände zuweilen individualisiert werden.

Die Gefahr liegt in einer Inanspruchnahme des Narzissmus-Theorems für die Erklärung von Konflikten, welche wenig Potential bietet, auch die äußeren Gegebenheiten kritisch zu hinterfragen. Das Bewusstsein des Subjekts wird dabei auf dessen eigenes Selbst gelenkt und dieses wird sich bei der Auseinandersetzung mit sich und der Welt vielleicht vorschnell als den Verhältnissen machtlos gegenüberstehend postulieren müssen. Auch gesamtgesellschaftlich kann politisches Potential geschwächt werden, indem die Ursachen für Leidzustände verobjektiviert, anonymisiert und der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit durch das Label „(struktur-)pathologisch“ entzogen werden.

1.5 Eine psychoanalytisch fundierte Kritik der Beiträge von Maaz und Zima

1.5.1 Falsche Mütterlichkeit und pathologischer Narzsissmus (Maaz)

Wie weit lässt sich Maaz' These 'falscher Mütterlichkeit' als Ursache einer Zunahme narzisstischer Persönlichkeiten, sowie die Gefahr einer narzisstischen Gesellschaftspathologie vor dem Hintergrund psychoanalytischer Narzissmus-Theorie begründen?

Die Anknüpfung an sein Postulat der Geltung falscher mütterlicher Werte impliziert Bruch innerhalb der psychosozialen Zirkularität. Eine Kritik ist anders indes nicht zu machen

Die Geltung falscher mütterlicher Werte meint bei Maaz die Leugnung von Ambivalenz, die dem Menschen immanent ist. Eine Ambivalenz der Psyche im Sinne Kernbergs Triebdualismus aus Liebe und Aggression vielleicht, oder eine Ambivalenz, die erst mit den sozialen Verhaltensanforderungen entsteht – Maaz bleibt hier unklar.

Der frühe Bestätigungsmangel, der Maaz zu Folge den „Hunger nach narzißtischer Selbstdarstellung“ 103 begründet, ist zunächst durchaus vereinbar mit den genannten psychoanalytischen Grundannahmen, im Sinne Kohuts Abhängigkeit von Anerkennung (aufgrund mangelnder Idealisierung des Über-Ichs), Battegays Bedürfnis nach kompensatorischer Überzuwendung eines schwachen Selbst oder Kernbergs pathologischem Größenselbst.104

Der 'Lilith-Komplex' wäre dann möglicherweise aufzufassen als spezifisches Störungsbild der menschlichen Psyche, welches über die Mutter-Kind-Beziehung vermittelt (wieder) narzisstische Pathologien verursacht. Der „gestörte oder unterdrückte Selbstwert, die behinderte Lustfähigkeit und die verleugnete Kinderablehnung“105 müssten dann als Merkmale dieser Störung aufgefasst werden, die sich auswirkt über die Unfähigkeit der Mutter, sich ihrem Kind dessen Entwicklung entsprechend zuzuwenden.

[...]


1 Lessenich et al. 2009: Soziologie, Kapitalismus, Kritik: Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2009, 297

2 Vgl. u.a. Z. Baumann 2008: Flüchtige Zeiten: Leben in der Ungewissheit, Hamburg 2008

3 Vgl. hierzu u.a. M. Winterhoff 2008: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der

Kindheit. München 2010

4 Vgl. H. - J. Maaz 2005: Der Lilith-Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit, München 2013

5 H.-J. Maaz 2012: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm, München 2012

6 P. V. Zima 2009: Narzissmus und Ich-Ideal. Psyche – Gesellschaft – Kultur, Tübingen 2009

7 Vgl. hierzu Zepf nach Zima 2009, 115. Zima bezeichnet hinter deutlich negativ konnotierten Vorzeichen und in Anlehnung an Zepf den 'Narzissten' als Alltagscharakter der Moderne.

8 Maaz 2005

9 Maaz 2012

10 Maaz 2005, 15

11 Ebd., 75

12 Als weitere Störungen bezeichnet Maaz „falsche Mütterlichkeit“, „Muttermangel“, Mutterverwöhnung“ und die „Kind-Mutter“. (ebd., 94)

13 Ebd., 69

14 Ebd., 26

15 Ebd.

16 Ebd.

17 Ebd, 160

18 Ebd., 38

19 Ebd., 71

20 'Entfremdung' versteht Maaz als Kontaktverlust zu sich selbst und der Natur (vgl. ebd., 112). In dieser „innere[n] Heimatlosigkeit“ (ebd., 120) erkennt er die Ursache dafür, „eine Lebensart mit wachsender Flexibilität und Mobilität, mit Anonymisierung und Austauschbarkeit [zu] akzeptieren, ja geradezu süchtig [zu] fordern, um die innere Verlorenheit in eine äußere halbwegs lebbare Grenzenlosigkeit und moderne Bindungslosigkeit zu verwandeln“ (ebd., 120).

21 Ebd., 59

22 Maaz 2012

23 Ebd., 74

24 Ebd., 96

25 Ebd., 179

26 Ihn erhebt Maaz zum Inbegriff „seelischer Gesundheit“, welcher er drei Merkmale zuschreibt: 1. die Fähigkeit zur Liebe, 2. die objektive Wahrnehmung unserer Außenwelt und 3. eine realistische Auffassung von den eigenen Möglichkeiten. (vgl. ebd., 220)

27 Ebd., 15

28 Zima 2009

29 Vgl. ebd., 88ff

30 Ebd., 85

31 Vgl. ebd., 88f

32 Vgl. Lacan nach Zima 2009, 64

33 Zimas Thesen zum soziologisch begründeten Niedergang des Ich-Ideals lauten in stark verkürzter Form wie folgt: 1. Der Niedergang des liberalen Unternehmers zeigt sich in einem Bedeutungsschwund berufsgebundener Ich-Ideale und unzulänglichen Versuchen zur Kompensation des erlittenen Autonomieverlustes in den Bereichen Freizeit und Konsum.
2. Ein allgemein verbreiteter Zerfall von geteilten und zuverlässigen Werten erschwert die Orientierung der Menschen und begründete funktionell den Ersatz von Ich-Idealen durch die (isolierende) Orientierung am Ideal-Ich.
3. Der Niedergang des symbolischen Vaters (auch im Sinne eines Rollenwandels des Familienvaters) stellt die Kohärenz des Subjekts grundlegend in Frage und verstärkt zudem die negativen Folgen eines
veränderten Verhaltens der Mutter dem Kind gegenüber.
4. Der Kommunikationszusammenhang innerhalb der Familien wird weiterhin durch den Einzug medial vermittelter Ideal-Ich-Vorstellungen gestört und durch monologisch-narzisstische Projektionen ersetzt.
5. Insgesamt muss von Identitätslosigkeit angesichts des Zerfalls des Ich-Ideals (zugunsten einer Stärkung des Ideal-Ichs) ausgegangen werden.
6. Auch weibliche (Ich-)Ideale verlieren an Bedeutung, was den Verlust an väterlichen Werten zusätzlich verstärkt. (Vgl. Zima 2009, 115ff.)

34 Ebd., 115

35 J. Laplanche/ J.-B. Pontalis 1967: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1999, 318

36 H. Kohut 1975: Die Zukunft der Psychoanalyse: Aufsätze zu allgemeinen Themen und zur Psychologie des Selbst, Frankfurt a.M. 1975, 141

37 R. Battegay 1977: Narzissmus und Objektbeziehungen: Über das Selbst zum Objekt, Bern 1979, 13

38 Ebd., 43

39 Auch das kohutsche „Körperselbst“ (ebd., 44) ist also involviert, der Selbst- bzw. Narzissmusbegriff weist hiernach eine psychische und eine körperliche Komponente auf. Ein konsistentes Ich ist nach Battegay weitere Voraussetzung für die gesunde Selbstentwicklung. Er unterscheidet hier zwischen narzisstischer Persönlichkeitsstörung (Neurose) und Borderlinestörung. Zwar trügen beide Phänomene das Merkmal eines gestörten Narzissmus, bei der Borderlinestörung sei dieser aber als Folgewirkung einer Ich-Pathologie aufzufassen, aufgrund derer die betreffende Person ein fragmentiertes Selbst entwickelt, weil nur ein „fragmentationsbereites“ (ebd., 137) Ich besetzt werden könne.

40 Ebd., 44

41 Ebd., 145

42 Ebd., 27

43 O. F. Kernberg 1983: Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus, Frankfurt a:M. 1991, 359

44 Ebd.

45 Ebd.

46 In Anlehnung an Jacobson und Mahler vertritt Kernberg die Prämisse, dass „die frühesten Verinnerlichungsvorgänge dyadische Eigenschaften besitzen, das heißt eine Polarität von Selbst und Objekt, auch wenn die Selbst- und Objektrepräsentanzen noch nicht differenziert sind.“ (O. F. Kernberg 1988: Innere Welt und äußere Realität. Anwendungen der Objektbeziehungstheorie, Stuttgart 1994, 19)

47 Laplanche/ Pontalis 1967, 319

48 Ebd, 321

49 Ebd., 322

50 Zur Diskussion des 'primären Narzissmus' siehe Seite 11f dieser Arbeit

51 Kohut 1975, 173

52 Ebd. Die narzisstische Besetzung des idealisierten Objekts (der Mutter) bzw. dessen „seelische[r] Repräsentanz“ (ebd., 143) betrachtet Kohut als natürliche Entwicklungsschritte der menschlichen Persönlichkeit, insbesondere im Sinne der Entwicklung der psychischen Strukturen von Ich und Über-Ich. Kohut bezeichnet den „Objektverlust“ (ebd., 144) weiter als initiierendes Ereignis, wodurch in der präödipalen Phase die triebregulierende Funktion des Ichs, in der ödipalen Phase die Bildung des Über-Ichs (als „Träger des Ich-Ideals“ (Freud nach Kohut 1975, 145)) eingeleitet würden. Wird das Kind der Unvollkommenheit des besetzten Objekts gewahr, wird die entsprechende Eigenschaft von ihm innerlich konserviert (Kohut 1975, 145) und also zu einem Merkmal seiner psychischen Struktur. Darauf beruhe die „Allmacht, Allwissenheit und Unfehlbarkeit“ (ebd.) des Über-Ichs. Weil die idealisierten Merkmale internalisiert würden, um wieder libidinös besetzt zu werden, erkläre sich die „gefühlsmäßige Wichtigkeit unserer Normen, Werte und Ideale“ (ebd., 145f) als Kennzeichen des Ich-Ideals.

53 Ebd., 183. Das Kind kann den primären Narzissmus teilweise aufrechterhalten, indem es ein mit Vollkommenheit und Macht assoziiertes „grandioses Selbst“ (ebd., 183) besetzt. Das „Körper-Selbst“ (ebd., 149) spielt dabei im Sinne der (gesunden) „leib-seelischen Entwicklung“ (ebd.) eine zentrale Rolle. Über die „lustvolle[...] Überströmung der Körperoberfläche“ (ebd., 150) erlange das Kind normalerweise die „Bestätigung des Wertes und der Schönheit“ (ebd.) seines Selbst. Dieses fände Ausdruck in unseren narzisstischen Bedürfnissen und „Ehrgeizwünsche[n]“ (ebd., 147), die Kohut auch als wesentliche Ich- Leistungen einer „reifen Persönlichkeit“(ebd., 166) bezeichnet.
In der „schöpferischen Arbeit“ (ebd., 155) würden narzißtische Energien (idealisierende Libido) nach dem Muster des kindlichen Narzissmus wirksam. Für den Schöpfer sei das Werk ein „Übergangsobjekt“ (ebd.), welches er, es als Teil seines erweiterten Selbst empfindend, libidinös besetzt und zur Vollkommenheit zu bringen verlangt.
Die Fähigkeit zur Empathie sieht Kohut genetisch begründet in der primär-narzisstischen Welterfahrung, in der die Lebensäußerungen der Mutter noch „in unserem Selbst enthalten waren“ (ebd., 159) und bezeichnet sie als Teil der „ursprünglichen Ausstattung der menschlichen Seele“ (ebd.). Weitere Zusammenhänge zum primären Narzissmus konstatiert er für „die Fähigkeit, die Begrenztheit des eigenen Lebens ins Auge zu fassen“ (ebd., 154), Weisheit und Humor.

54 Ebd, 156

55 Zima 2009, 81

56 Ebd.

57 Kernberg 1988, 153

58 Ebd.

59 Vgl. hierzu J. Wutke 2009: Reader zum Thema Narzissmus, Saarland 2009, 63ff

60 Eissler nach Wutke 2009, 66

61 FN 53 dieser Arbeit

62 Henseler nach Wutke 2009, 69

63 Ebd.

64 Vgl. Pulver nach Wutke 2009, 67

65 Vgl. Kohut 1975, 168

66 Ebd., 180

67 Ebd.,176

68 Ebd., 149

69 Ebd.

70 Ebd., 148

71 Vgl. Battegay 1977, 44

72 Ebd., 157

73 Merkmale seien die Fixierung an falsche Selbst- und Objektvorstellungen und ein Mangel an neutralisierenden Kräften gegenüber Triebtendenzen. (Vgl. ebd., 31)

74 Ebd., 21

75 Battegey nennt wesentlich drei Abwehr-Kompensationsformen eines Selbstmangels (ebd., 48ff): 1. Fixierung an ein Größenselbst – hier wird die fiktive Vollkommenheit und Macht ins eigene Selbst verlegt („Grandiositätsvorstellungen“ (ebd., 167)), z.B. die Schaffung von Phantasiewelten und das Schwanken zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl; 2. Spiegelübertragung bzw. Spiegelbeziehungen (mit oder ohne Tendenz zum Größenselbst); 3. Fixierung an ein idealisiertes Eltern- oder entsprechendes Ersatzimago und kein eigenes reifes Über-Ich.

76 Ebd., 139

77 Vgl. u.a. Kernberg, 1983 und Kernberg 1988 (außerdem von Kernberg u.a. erschienen: „Wut und Hass: Über die Bedeutung von Aggression bei Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Perversionen“ (1997); „Handbuch der Borderline-Störungen“ (2000) sowie „Narzißmus, Aggression und Selbstzerstörung“ (2005))

78 Annahmen über die Funktion von psychischen Abwehrmechanismen spielen für Kernberg die entscheidende Rolle zur Unterscheidung verschiedener Störungsbilder. Er unterscheidet in erster Linie neurotische von Patienten mit Ich-schwäche und charakterisiert erstere mit hochentwickelter, zweitere mit primitiver Abwehrorganisation. Zur ersten Gruppe zählt Kernberg allen voran die Verdrängung, dann auch Reaktionsbildung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Intellektualisierung und Rationalisierung. Den niedrigstufigen Abwehrmechanismen ordnet er die Spaltung, primitive Idealisierung, primitive Formen der Projektion (projektive Identifizierung und andere), Verleugnung, Allmachtsphantasien und Entwertung zu. (Vgl. Kernberg 1994, 6) Während sich die Abwehr bei neurotischen Patienten zur Vermeidung intrapsychischer Konflikte gegen triebhafte Anteile der Psyche richte, würden bei den Patienten mit Ich- Schwäche (bzw. Borderline-Patienten) widersprüchliche Erlebnisse des Selbst und signifikanten anderen um den Preis von Anpassungsleistung und Flexibilität getrennt und widersprüchliche „Ichzustände […] abwechselnd aktiviert“ (ebd.) werden. Wutke konstatiert allerdings eine gewisse Undurchsichtigkeit der Klassifizierung bei Kernberg, insbesondere hinsichtlich der Beziehung von Merkmalen von Borderline- Struktur und narzisstischer Persönlichkeit. (Vgl. Wutke 2009, 104)

79 Kernberg 1988, 14

80 Vgl. ebd., 15

81 Ebd., 16

82 Kernberg nach Wutke 2009, 94

83 Wutke 2009, 89

84 Vgl. Kernberg 1988, 137ff

85 Kohut 1975, 176

86 Kohut veranschaulicht einen möglichen Defekt der psychischen Struktur anhand einer Patientengeschichte, bei der der Betroffene zwar ein intaktes Über-Ich (als Resultat der ödipalen Vaterbesetzung) besaß, aufgrund ungenügender Idealisierung des Über-Ichs sich aber eine Wiederbesetzung des [ödipalen] idealisierten Elternbildes in der Latenzzeit vollzog. Die Symptomatik dieses Patienten bestand in der äußeren Abhängigkeit von Anerkennung: „Nur durch bestätigende Anerkennung von Seiten bewunderter anderer Menschen war es ihm möglich, gesteigerte Selbstachtung zu empfinden.“ (ebd., 179) Er konnte zwar Wertvorstellungen, Ziele und Wertmaßstäbe entwickeln, deren Erreichung verschaffte ihm indes nicht schon aus sich heraus die nötige Befriedigung, um ein zufriedenes Leben zu führen.

87 Vgl. Kernberg 1988, 15

88 'Normalität' ist ein Terminus, der von Kernberg besonders häufig gebraucht wird. Er verweist auf den für seine Theorie grundlegenden Dualismus von Normalität und Pathologie. Zima versucht später diesen Dualismus zugunsten eines dialogischen Modells des Narzissmus zu überwinden. (vgl. S. 26ff dieser Arbeit)

89 Kernberg 1988, 147

90 Kohut 1975, 151

91 Zum Zusammenhang von Objektverlust und Introjektion schreibt er, dass durch ersteren die „Tendenz zur Verinnerlichung […] (obwohl sie zur autonomen Ausstattung der Psyche gehört und infolgedessen spontan stattfindet)“ (ebd., 144) verstärkt werde.

92 Vgl. hierzu Ich-Leistungen einer „reifen Persönlichkeit“(ebd., 166)

93 Ebd., 146

94 Erikson versteht Freuds Terminologie von Über-Ich und Ichideal dagegen als Unterscheidung individueller und sozialer Aspekte der psychischen Entwicklung. Das Über-Ich sieht er aufgefasst als „ein mehr archaischer, gänzlich internalisierter und unbewußter Repräsentant der angeborenen menschlichen Neigung zur Entwicklung eines primitiven kategorischen Gewissens“ (E. H. Erikson 1968: Jugend und Krise: die Psychodynamik im sozialen Wandel, München 1988, 207), das Ich-Ideal dagegen als „elastischer und bewußt an die Ideale der bestimmten historischen Zeitperiode gebunden […], wie sie in der Kindheit aufgenommen wurden“ (ebd.).

95 Battegay 1977, 137

96 Weil in diesem Fall nur ein defragmentiertes (oder defragmentierungsbereites) Ich narzisstisch besetzt werden kann.

97 Battegay 1977, 157

98 Ebd., 168

99 Ebd.

100 Ebd., 169

101 Bei Erikson kritisiert Kernberg demgemäß eine Überbewertung von Adoleszenz gegenüber Säuglingsalter und früher Kindheit. (Vgl. Kernberg 1988, 140)

102 Einige Jahre später betont Kernberg die Bedeutung einer Störung des frühen Mutter-Kind-Verhältnisses als Ursache einer aggressiven Persönlichkeit. (O. F. Kernberg 2011: Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus, Stuttgart 2011) Weiter betont er dort 'Affekte' als primäre Motivationssysteme. Die psychische Struktur erhält damit ein veränderbares Element, insofern sie beim Individuum zwar genetisch vorgeprägt ist (neorobiologische Erklärung von Affekten), letztlich aber erst über erste Beziehungserfahrungen realisiert bzw. verwandelt wird. Auch die narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickelt sich demnach aufgrund „chronischer abnormaler Interaktionen in der frühen Bindung“ (ebd., 51) oder „Traumata im Allgemeinen und andauernde chaotische Familienzustände“ (ebd., 60).

103 Vgl. Maaz 2005, 160

104 Vgl. S. 14 dieser Arbeit

105 Maaz 2005, 75

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Die Diskussion um die "Modernisierung der Seele" in der aktuellen Jugendforschung. Narzissmus und Subjektivität. Eine Analyse aktueller psychologisch fundierter Gesellschaftsdiagnosen
Autor
Jahr
2014
Seiten
79
Katalognummer
V457189
ISBN (eBook)
9783668889040
ISBN (Buch)
9783668889057
Sprache
Deutsch
Schlagworte
diskussion, modernisierung, seele, jugendforschung, narzissmus, subjektivität, analyse, gesellschaftsdiagnosen
Arbeit zitieren
Pia Rüttgers (Autor:in), 2014, Die Diskussion um die "Modernisierung der Seele" in der aktuellen Jugendforschung. Narzissmus und Subjektivität. Eine Analyse aktueller psychologisch fundierter Gesellschaftsdiagnosen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/457189

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