Schelmenroman und Bildungsroman. Auf der Suche nach einem Haltepunkt

Vergleichende Analyse von Joseph von Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" und Johann Wolfgang von Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

27 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Die Begriffe Bildungsroman und Schelmenroman

3. KontingenzundKausalität

4. Die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Wirklichkeit

5. Psychologische Zugänge

6. Die Allegorie der kontextgebundenen Wahrnehmung der Wirklichkeit

7. Unmündigkeit und Passivität beim Taugenichts

8. Vollendete Humanität

9. Die Einstellung zur Liebe

10. Vom Schein zum Sein

11. Erziehendes Werk vs. Marchen

12. Die schöne alte Zeit: Natur und Kindheit

13. Unmittelbarkeit und Leichtigkeit des Erlebens

14. Schönheit vs. Zweckmäßigkeit

15. Die bürgerliche Lebensweise

16. Handlungen und Ausdruck

17. Dialektisches Streben

18. Die Fremde

Liste der verwendeten Abkürzungen

Literaturverzeichnis

1.Vorwort

Die im Fokus der vorliegenden Studie stehende Analyse von zwei antithetischen Figuren aus derdeutschenLiteratur – genauer gesagt, aus zwei unterschiedlichen Romantypen, und zwar Goethes 1795/96 erschienenem Wilhelm Meister Lehrjahren und Eichendorffs erstmals imJahr1826 erschienenem Aus dem Leben eines Taugenichts – schildert deren beide gegensätzlichenNaturen und Geisteszustände, die unterschiedlichen Lebensauffassungen von zwei Welten: Einerseits wird der Zustand der Unbeweglichkeit und kindlicher Unmündigkeit ,die die Taugenichts-Figur kennzeichnen, untersucht, andererseits wird Wilhelm Meisters geistiger Fortschritt, vom kindlichen Seelenleben zur Selbstvervollkommung, umständlich beschrieben.

Wenn man die Eichendorffsche Geschichte und deren Ansatz genauer hinschaut, kann man ohnehin nicht so pauschalvon einem Roman sprechen , sondern von einer Novelle , die sowohl Züge eines Märchens trägt, indem Eichendorff wiederentdeckte Volksliedmotive aufgriff, als auch durch die einfache und naive Sprache des Taugenichts gekennzeichnet ist.

[...] es gibt der Stunden, wo wir, zwischen der wirklichen Alltagswelt und der idealen Welt schwankend, erstere vermeiden wollen und letztere nicht erreichen können, aus eigener innerer Kraft. Da ist der Roman an seiner Stelle, und jenes Sehnen nach einem Ideal menschlicher Schöpfung, jenes Schwärmen unter den Gebilden, welcher der Dichter mit erhöheter und verschönter Wahrheit des wirklichen Lebens aufzustellen hat, reißt uns unwillkürlich mit ihm fort [...]

Carl Nicolai, Versuch einer Theorie des Romans, 1819, aus: W. Voßkamp,

Aspekte einer sozial- und funktionsgeschichtlich orientierten Gattungsgeschichte des Bildungsromans

2.Die Begriffe Bildungsroman und Schelmenroman

Mit dem Begriff Bildungsroman wird der Romantypus bezeichnet, in dem die innere Entwicklung desProtagonisten, einer – meist jungen – Hauptfigur, den innerenGangihrer Bildung und individueller Vervollkommnung geschildert und thematisiert wird. Die Gattung – ein Subgenre desEntwicklungsromans – entstand Ende des18. JahrhundertsinDeutschland bzw. im Zeitalter derAufklärung. Der Begriff ‚Bildungsroman’ wurde von dem deutschen Philologen und Bibliothekar Johann Karl Morgenstern geprägt. Bei der hier vorgeführten Analyse wird der 1821 veröffentlichte Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zum Ideal und Prototyp derneuen literarischenGattung oder Romantypus bzw. des deutschen Bildungsromans, der auf das zwischen 1777 und 1786 entstandene Fragment Wilhelm Meisters theatralische Sendung zurückgeht. Der wegweisende Entwicklungsroman erschien 1795/96 und besteht aus acht Büchern, von denen sich die ersten fünf inhaltlich an das zu Goethes Lebzeiten unveröffentlichte Fragment zurückzuführen sind. Schon die Definition und Namengebung des Werks als Bildungsroman durch Morgenstern offenbart die Tendenz, den Akzent hauptsächlich auf das Moment der inneren Bildung >eines ausgezeichnet Bildungsfähigen< zu legen. Der Aufbau des Bildungsromans ist häufig dreigeteilt und folgt dem Schema > Kinderjahre od. Jugendjahre<, > Wanderjahre od. Lehrjahre<, > Erwachsenjahre od. Meisterjahre <. Die Vorstellungen einer überpersönlichen Struktur des Symbolischen gelten als Prototypen für äußerliche und innerliche Entwicklungsprozesse, die beispielhaftim Goethes Werk aufweisen.

Hierbei wird der Begriff Bildung, der – wie eben erwähnt – aus Vorträgen desDorpaterPhilologenKarl Morgenstern stammt, als Weg und Ziel allen menschlichen Handelns in Betracht gezogen, da im Bildungsroman die das Wesen des Romans im Gegensatz zum Epos am tiefsten erfassend[e] besonder[e] Art desselben[[1]]gelten. Eine zentrale Rolle spielt beim Bildungsroman – im Unterschied zum reinenEntwicklungsroman– ein bestimmter Bildungsbegriff. Aus der Antike abgeleitet, meint der Begriff Bildung seit derAufklärungund demSturm und Drangdie von staatlichen und gesellschaftlichen Normen freie individuelle Entwicklung des Einzelnen zu einem höheren, positiven Ziel. Der Begriff beinhaltet zudem sowohl die Bildung des Verstandes als auch die Bildung des Nationalcharakters. Ein weiteres Kennzeichen des historischen Bildungsbegriffs ist die „Anbildung“ äußerer Einflüsse ebenso wie die Entwicklung und Entfaltung vorhandener Anlagen.[7]

Das zugrundeliegende literarische Modell liegt relativ fest: In einem Bildungsroman geht es um die innere Geschichte der Ausbildung eines individuellen, zentralen Charakters in der konfliktreichen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Weltbereichen. In der Verknüpfung unterschiedlicher Strukturmuster entwirft die Literaturkritik das Idealbild eines sozialen Individualromans, das durch die poetologische Diskussion der Zeit ‚geistert‘.2 Von der Kindheit als unreifer Mensch bis zur Jugend als aus einem bürgerlichen Milieu stammender Kaufmannsohn durchlebt Goethes Held bzw. die zentrale Figur seines Romans eine Entwicklung, die von seinem Verhältnis zu den verschiedenen Weltbereichen bzw. seinerUmwelt bestimmt wird. Diese Entwicklung spielt sich meistens in der Jugend des Helden ab, wobei er Misserfolge erleidet und gespannten Situationen ausgesetzt ist. Dieerzählte Zeiterstreckt sich über mehrere Jahre, oft sogar Jahrzehnte. Dabei wird der Held – durch Irrtümer, schmerzliche Enttäuschungen, lebhafte Verbindungen (Weg) – einem besonnenen, tätigen Leben (Ziel) zugeführt. Der Prozess der geistigen und charakterlichen Entwicklung einer Person auf ein bestimmtes Ziel hin besteht im Wachstum der Seele, im Fortschritt des Geistes, in der schwierigen Aufgabe der Selbstwerdung, die Wilhelm an sich selbst zu erfüllen hat.

Mit dem Begriff Schelmenroman (auch pikaresker Roman oder Abenteuerroman genannt) ist die sogenannte deutsche Version des spanischen PÍcaro-Romans des 16. Und 17. Jahrhunderts gemeint, eine Sonderform des Abenteuerromans, in deren Mittelpunkt die Gestalt des Picaro (Schelms) steht, ein einfacher Held, der in der Ichform seine mannigfaltigen Abenteuer aus der Perspektive des sozial Unterprivilegierten erzählt, der sich im Dienst verschiedener Herren mit List und oft unerlaubten Machenschaften durchs Leben schlägt. Das Werk kann zugleich als Parodie des klassisch-romantischen Bildungsromans und Wiederaufnahme der Picaro-Tradition angesehen werden. Die hier analysierte Figurdes Schelms in der Literatur ist, wie schon Mal erwähnt, Joseph von Eichendorffs Taugenichts. Die 1826 erschienene Novelle3 ist tatsächlich in der typischen Struktur eines Schelmenromans gestaltet. Eichendorff verwendet die Bezeichnung Novelle zur Umschreibung der Tatsache, dass sein Werk in Umfang und Anspruch nicht einem Roman entspricht. In der Struktur nähert es sich dem Schelmenroman an, der auch den Gauner und den naiv-tölpelhaften Helden kennt, der scheinbar planlos von Abenteuer zu Abenteuer durch die Welt streift. Was den Stil betrifft, werden im Schelmenroman die Abenteuer des Helden zumeist in literarisch anspruchsloser Technik und in volkstümlich-realistischem Stil erzählt.

[...] von dem reinsten Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten Ahnungen und Hoffnungen der entferntesten Zukunft, alles das und weit mehr liegt im Menschen und muß ausgebildet werden.

J. W. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Achtes Buch, S. 568

3.Kontingenz und Kausalität

Eichendorffs Picaro gerät in eine bunte Folge von Abenteuern und Ereignissen, die meistens in keinemkausalen Zusammenhangzueinander stehen: Kontingenz und Zufall spielen hier die wichtigste Rolle. Relativ selbständige Geschichten werden um den Helden gruppiert, und die verschiedenen Episoden sind nur durch den Helden verbunden, entsprechend dem Erzählprinzip der additiven Reihung. Die Episoden dienen nicht der Darstellung der Entwicklung der Zentralfigur, sondern der Unterhaltung und manchmal auch der Belehrung des Lesers durch das Populärwissen der Entstehungszeit. Die abenteuerlichen Erlebnisse der Zentralfigur sind sozusagen Selbstzweck, keine Stationen einer durchgehenden Komposition: In der Bewältigung der immer neuen Proben, denen der Held ausgesetzt wird, wird seine innere Entwicklung gar nicht deutlich.

Im Bildungsroman sind dagegen die Ereignisse kausal miteinander verknüpft, alle Teile sind logisch miteinander verbunden und keiner ist selbständig: die Entwicklung des Helden ist bedingt, durch Kausalität begründet. Alle in die Handlung integrierten Abenteuermotive dienen der Darstellung des kontinuierlichen Entwicklungsgangs Wilhelm Meisters in der Auseinandersetzung mit allen Etappen des gesamten Bildungsprozess bzw. der Lehrjahre.

4.Die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Wirklichkeit

Die Konfliktsituation, die am Herzen des Bildungsromans liegt, wird jeweils unterschiedlich gelöst: Daraus entsteht das Gewebe des Werks. Gerade im Konflikt der inneren Lebendigkeit des Helden mit der Härte der äußeren Welt, liegt das eigentliche Thema des Romans, in all seinen Wandlungsprozessen und Initiationsetappen. Im Goethes Werk dient die Schilderung äußerer Ereignisse der Darstellung der inneren Erlebnissen der Hauptfigur, damit der Prozess der seelischen Entwicklung des jungen Helden in all seinen Etappen und in der Auseinandersetzung mit den Einflüssen seiner Umwelt geschildert werden kann. Die Entwicklung des jungen Wilhelm Meisters ist von den Ereignissen, die sich in sein Bewußtsein geprägt haben, bestimmt worden.

Wilhelm ist z.B. kein Schauspieler, die Schauspielkunst ist ihm Bildungsmittel, nicht Selbstzweck, sie ist für den Kaufmannssohn ein Medium möglicher Identitätsstiftung und Identitätsvergewisserung in der Ablehnung der bürgerlichen Enge seines Elternhauses. Im ersten Buch glaubt Wilhelm, sein Glück in der Komödiantenwelt bei einer hübschen Schauspielerin zu finden und mißachtet den kaufmännischen Beruf. Er hofft, beim Theater seine Begabungen voll entwickeln zu können. Zu Anfang löst sich Wilhelm aus der bürgerlichen Enge seines Elternhauses, indem er glaubt, im Theater den Anschluß an eine größere Welt und den Weg zu sich selbst finden zu können. Er wird aber durch die theatralische Sendung und die Schauspielwelt immer mehr enttäuscht. Er ist kein Genie, sondern ein entwicklungsfähiges Talent und ein redlich Strebender. Er gibt den Weg zur theatralischen Sendung auf, um weitere Wege zu gehen. Das geschiet, als er merkt, dass sein Beruf nicht mehr seinem Leben entspricht. Sein Beruf ist sein Leben, seine Persönlichkeit: Das gilt nicht für den Taugenichts, der jede Identität aufnehmen kann, der sich mit seiner Arbeit nicht identifiziert, da er darauf keinen Wert legt: ..ich wäre ein charmanter Junge, und die gnädige Herrschaft ließe mich fragen, ob ich hier als Gärtnerbursche dienen wollte?

Im Schelmenroman ist alles Spiel, Phantasie, Scherz, Traum. Beim Berichten vom Taugenichts wissen wir (fast) nie, ob er eine bewußte Erfahrung vermittelt oder einfach einen Traum. Dabei spielt die Tatsache eine große Rolle, daß der Schlaf ein Leitmotiv bildet: die Grenze zwischen Schlaf und Wachzustand ist schwer festzustellen (..so dass ich nicht recht wusste, ob ich träumte oder wachte 4 ).

Wilhelm hat die Illusion, eine Entwicklung durchgemacht zu haben. Er ist nicht in der Lage, zwischen Illusion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Er möchte immer in der Illusion leben: während der theatralischen Sendung träumt er sich z.B. in die Rolle, „Schöpfer eines künftigen National-Theaters“ zu werden, und übersieht dabei die durch den Glanz des Theaters verdeckte Kehrseite aus ökonomischen und persönlichen Verflechtungen. Er hält die Schatten, die äußere Ereignisse in sein Bewusstsein geprägt haben, fälschlich für Wirklichkeit. Darin liegt die literarische Utopie der inneren Selbstverwirklichung und individuellen Perfektibilierung des Subjekts. Es ist gerade die Auseinandersetzung mit der Realität, die das Individuum zur eigenen Selbstverwirklichung führt. Die “Kämpfe” des einzelnen mit der Realität werden als “Lehrjahre” bezeichnet, die ihren Sinn durch die “Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit” erhalten.

5.Psychologische Zugänge

Man findet im Schelmenroman keine psychologische Analyse, sondern schon ‘fertige’ Figuren. Der Taugenichts, dessen einzige und ewige Persönlichkeit schom im Namen festgesetzt wird, ist ein fertiger Charakter, der sich nicht entwickelt, der keine psychologische Entwicklung erlebt. Man findet in jeder Episode die gleiche, unveränderte Person mit den gleichen Eigenschaften, die sich in verschiedenen Kontexten mit verschiedenen Situationen auseinandersetzen muss: Es gibt keine Entwicklung, da es keine Kontinuität, kein Zusammenhang besteht.

Schon das allererste Bild des Werks – das des brausenden und rauschenden Mühlrads – deutet auf die “ewige Wiederholung des Gleichen”. Der Held der Novelle ist ein Müllersohn, der sich immer wieder an die väterliche Mühle erinnert (…da fiel mir erst wieder mein Dorf ein und mein Vater und unsere Mühle , wie es da so heimlich kühl war an dem schattigen Weiher, und daß nun alles so weit, weit hinter mir lag). Das Mühlenmotiv deutet schon auf die dialektische Struktur des Werks, wobei die Gestalt des Taugenichts durch die Entgegensetzung von Gegenbildern bestimmt wird und immer vorwärts in neue Abenteuer getrieben wird vom Suchen dessen, was ihm im Moment fehlt. Die ewige Wiederholung des Gleichen äußert sich auch im ständigen, unbewußten Wechsel von Seßhaftigkeit und Reiselust, von Heimweh und Fernweh, Sehnsucht nach der Fremde, nach dem unbürgerlichen Wanderleben: Ich weiß nicht wie es kam – aber mich packte da auf einmal wieder meine ehemalige Reiselust: alle die alte Wehmut und Freude und große Erwartung. (…) Nein, rief ich aus, fort muß ich von hier, und immer fort, so weit als der Himmel blau ist! / Ich blickte noch oft zurück; mir war gar seltsam zumute, so traurig und doch auch wieder so überaus fröhlich, wie ein Vogel, der aus seinem Käfig ausreißt. 5 Der Taugenichts ist durch ein ambivalentes und dialektisches Verhältnis zu seiner Heimat ausgezeichnet. Er ist trotz der Abreise aus Deutschland immer auf der Suche nach der „Heimat“; sein unbestimmtes Fernweh, das ihn zunächst nach Italien, dann wieder zurück nach Österreich und schließlich erneut nach Süden treibt, gilt der Heimat der Seele. Wandern und Reisen sind Sinnbilder einer ewigen Reise, und das Ziel vom Eichendorffs scheinbar unbeschwerten Wanderburschen ist nicht von dieser Welt (Unser Reich ist nicht von dieser Welt! 6 ); es bleibt stets hinter den fernen blauen Bergen.

Der Taugenichts als literarische, fiktive Gestalt hat schon vor dem Beginnen seines literarischen Handelns einen Halt gefunden. Wir haben nicht mit einer konsequenten, einheitlichen, originellen Persönlichkeit zu tun. Der Taugenichts ist lediglich eine fiktionale Figur, eine Maske, kein ‘richtiger Mensch’. Es werden daher – konsistent mit dieser Darstellung des Individuums – keine echten Gefühlen vermittelt. Weder in seinen Äußerungen noch in seinen Tätigkeiten bringt er eine originelle Persönlichkeit zum Ausdrück.

Deutliche Züge der Verinnerlichung sind bei Wilhelm überall zu finden. Nicht selten scheint das utopisch-emanzipatorische Streben des Helden im komplizierten Interaktionsverhältnis zwischen Illusion und Realität zu Formen der melancholisch-weltfluchtartigen Verinnerlichung und Resignation überzugehen.

6.Die Allegorie der kontextgebundenen Wahrnehmung der Wirklichkeit

Der Taugenichts hat keine feste Individualität, keine Originalität, er ist völlig kontextgebunden. Man kann daher keine globale, objektive Sicht der Realität haben; unsere Perspektive, unsere Sicht derWirklichkeit ändert die Wirklichkeit selber: Man muss mit der Dynamik der Erkenntnisse umgehen, und jede Erkenntnis als provisorisch betrachten, da sie genauso dynamisch wie das Leben selbst ist. Eine Antwort auf Bedürfnisse und Dispositionen der Leser wird bei Eichendorff nicht geliefert: Der Leser selbst muss daran arbeiten, ohne sich mit dem Helden identifizieren zu können. Darin liegt die Appell-Struktur des Romans: Der Leser hat ein Anliegen, und zwar immer wieder zuüberprüfen, ob was er bis dahin geglaubt hat, immer noch gilt. Nur am Ende bekommt man Klarheit über das, was richtig passiert ist, indem es uns erlaubt wird, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden.

Goethes Roman der individuellen Vervollkommung bietet dagegen seinen Adressaten Möglichkeiten der Identitätsbildung im Muster dargestellter stufenweise sich selbst vollendender Individualität. Daraus entsteht jene Kraft, von der Nicolai spricht, die uns als Leser mit dem Romanhelden “unwillkürlich fortreißt”.

7.Unmündigkeit und Passivität beim Taugenichts

Der Taugenichts scheint immer jemanden zu brauchen, der auf ihn aufpasst. Er macht sich für seine Handlungen nicht verantwortlich und lässt sich von den Vorfällen hinreißen. Daraus entsteht die Wichtigkeit und die Macht des Zufalls, der alles zu bestimmen scheint. Als der Müllersohn am Anfang des ersten Kapitels das heimatliche Dorf verlässt, um hinaus in die weite Welt zu gehen, wird er eigentlich vom Vater dazu gebracht: Es ist der väterliche Unmut, der den jungen Mann in die Welt hinaus führt:

Du Taugenichts! Da sonnst du dich schon wieder und und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Türe, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.“ 7

Der Taugenichts selber war eigentlich schon auf die Idee gekommen, hatte aber sie nicht in die Tat umgesetzt: er ist völlig unentschlossen, will keine autonome Entscheidung treffen:

„Nun“, sagte ich, „wenn ich ein Taugenichts bin, so ist‘s gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.“ Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehen.

Seine geistige Unreife und grundliegende Oberflächlichkeit drücken sich auch in seiner Haltung gegen Liebe aus: auch hier scheint der Zufall, alles zu bestimmen: […] zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu. Die eine war besonders schön und jünger als die andere, aber eigentlich gefielen sie mir alle beide. 8

Er stellt nicht viele Ansprüche und sucht nicht nach geistigen, intellektuellen Antrieben: In dem Garten war schön Leben, ich hatte täglich mein warmes Essen vollauf, und mehr Geld als ich zu Weine brauchte (…). Der Taugenichts will sich von der Welt überraschen lassen; er will das Fremde, das Unbekannte prüfen und erleben. Und dabei stellt er sich selbst nicht zu viele Fragen: er nimmt alles an, wie es der Zufall bestimmt hat: Überhaupt weiß ich eigentlich gar nicht recht, wie doch alles so gekommen war, ich sagte nur immerfort zu allem: Ja, - denn mir war wie einem Vogel, dem die Flügel begossen worden sind. 9

8.Vollendete Humanität?

Die Fragestellung lautet jetzt: Wo liegt der Endpunkt der individuellen Entwicklungs- und Bildungsgeschichte Wilhelms? Ist er am Ende des Romans zu dem Haltepunkt gekommen, nach dem er lange gesucht hat?

Im Siebenten und im Achtem Buch ist Wilhelm als sorgender Vater des Knaben seiner einstigen Geliebten Mariane für reif erklärt worden: Heil dir, junger Mann! Deine Lehrjahre sind vorüber, die Natur hat dich losgesprochen. Indem er die echte Lebensgefährtin, die Frau, die er wahrhaft liebt, gefunden hat, glaubt er, auch sich selbst gefunden zu haben. Er löst sich vom Theater, erkennt in der Tätigkeit für die Gemeinschaft sein Ideal. Jarno und der Abbé, die mit zur Gesellschaft des Turmes zählen, sowie die praktische Häuslichkeit Thereses, der er sich nicht ganz entziehen kann, bestärken ihn in seinem Entschluss, dem Theater zu entsagen.

Sein Irrtum besteht in der Illusion, etwas Endgültiges verstanden und die ‘wahren Werte‘ gefunden zu haben. Es sind aber gerade die permanenten Umkehrungen von Ziel und Ergebnis im Betroffen-Sein vom Leben (nach dem Bildungsromansmodell), die ihn zu immer weiteren Steigerungen seiner menschlichen und kulturellen Leistungsfähigkeit antreiben. Im Goethes Erlösungsmodell kommt es zu einer Versöhnung von Individuum und Realität. Das Ende der Lehrjahre besteht darin, dass sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. “Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch.”0 In Lothario trifft Wilhelm auf einen tatkräftigen, aufgeschlossenen Edelmann, der ihn mehr und mehr für seine Vorstellungen, in der Gemeinschaft „auf eine würdige Weise tätig zu sein“, gewinnen kann. Somit klingt am Ende der Bildungsroman, der unter dem Gesetz gestanden hatte, dass ein - nicht einmal außerordentliches - Individuum, berührt von den Bildungsmächten seines Jahrhunderts, eine gänzliche Entfaltung seiner ästhetischen und sittlichen Möglichkeiten gewinne, mit dem Motiv der Gemeinschaft aus. Sich einen Platz zu tätiger Mitwirkung von der Gesellschaft anweisen zu lassen, das ist die Idee. Die Welt des schönen Scheins und des abenteuernden Ungefähr ist vergangen.

Die Geschichte der Ausbildung Wilhelms ist eigentlich keine geschlossene Geschichte: Das Ende ist bei Goethe nicht definitiv.

[...]


1 Über das Wesen des Bildungsromans, in: Inländisches Museum 1 (1820), hier Heft 2, S. 61

2 S. Der Bildungsroman im 19. Jahrhundert, aus: Der deutsche Bildungsroman,SS. 96-145 [https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-476-04101-2_6]

3 Die Novelle ist eine dramatische Gattung, die als die “Umschreibung eines Dramas in Prosa” bezeichnet werden kann. Eichendorffs Werk ist eigentlich keine Novelle, obwohl er es so bezeichnet hat.: in dieser Einstellung des Autors erkennt man eine Tendenz, die typisch für romantische Dichter ist: Romantiker haben ‘sprichwörtlich’ keinen Respekt vor kodierten Begriffen, sie nehmen sich die Freiheit, Begriffe umzudeuten. Für die Romantiker gelten die Gattungsnormen nicht; wir haben sozusagen nur eine Gattung in der Romantik, und zwar die Poesie, die als universaler Begriff gilt: alles kann poetisiert werden, wichtig ist der Prozess der Poetisierung und nicht die Beschaffenheit der dargestellten Wirklichkeit.

4 ALT S. 9.

5 ALT S. 27

6 ALT S. 27

7 ALT S. 5

8 ALT, S. 6

9 ALT, S. 9

10 Aus: W. Voßkamp, Literarische Gattungen (s. Literaturverzeichnis).

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Schelmenroman und Bildungsroman. Auf der Suche nach einem Haltepunkt
Untertitel
Vergleichende Analyse von Joseph von Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" und Johann Wolfgang von Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre"
Hochschule
Uiniversità di Bologna  (Hochschule für Übersetzer und Dolmetscher, SSLiMIT – Forlì)
Veranstaltung
Bildungsroman und Schelmenroman
Note
1.0
Autor
Jahr
2000
Seiten
27
Katalognummer
V458240
ISBN (eBook)
9783668902619
ISBN (Buch)
9783668902626
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bildungsroman - Schelmenroman -, Entwicklung Bewusstsein Abenteuer Fremde, Bürgertum, Poesie Wandern, Picaro Ziel
Arbeit zitieren
M.A. Monica Pintucci (Autor:in), 2000, Schelmenroman und Bildungsroman. Auf der Suche nach einem Haltepunkt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/458240

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