Das musikalische Hörspiel "Sabinchen" von Paul Hindemith


Hausarbeit, 2016

22 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Rahmensituation Hindemiths beim Hörspiel „Sabinchen“

3. Das Musikalische Hörspiel „Sabinchen“
3.1 Der Text

4. Das Musikalische Hörspiel „Sabinchen“
4.1 Die Musik

5. Rezensionen und Hörerschaft

6. Fazit

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

8. Anhangsverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit untersucht das Musikalische Hörspiel „Sabinchen“ von Paul Hindemith, das 1930 uraufgeführt wird und dem die alte Moritat „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ zugrunde liegt.1 Zunächst wird die Rahmensituation zur Entstehung des Hörspiels ergründet: In welchem Lebensabschnitt Hindemiths komponiert er „Sabinchen“ und in welchem Zusammenhang? Anschließend folgt eine Analyse des Hörspiels. Dafür werden Text und Musik zunächst getrennt voneinander erforscht. Da der Text von Robert Seitz stammt und die Musik von Paul Hindemith komponiert wird, ist eine erste Aufgliederung sinnvoll. Die Autoren arbeiten zwar eng zusammen, doch lassen sich Einzelheiten in Text und Musik separat noch genauer klären. So zeigt sich jede Veränderung des ursprünglichen Textes sowie hinzugefügte Passagen und deren Auswirkungen auf den Inhalt. Bei der Untersuchung der Musik werden hauptsächlich die Einsätze von Geräuschen deutlich, die die erzählte Geschichte beleben und die Möglichkeiten der Gattung Musikalisches Hörspiel aufweisen. Das vierte Kapitel der Arbeit widmet sich Rezensionen des Stückes und der erreichten Hörerschaft. Dabei zeigt sich, dass obwohl das Medium Radio ein breit gefächertes Publikum bedient, „Sabinchen“ gerade für seine Massentauglichkeit kritisiert wird. Im abschließenden Fazit werden die Ergebnisse der Untersuchung des Hörspiels zusammengefasst und ausgewertet.

Zur Analyse des Notentextes dient die Partitur der Hindemith-Gesamtausgabe, die, gemeinsam mit dem Leihmaterial des Verlages, die einzige Edition des Stückes darstellt. Eine Aufnahme des Hörspiels stellt die Website „Rundfunkschatze“ zur Verfügung. Dort ist ein Mitschnitt der ersten Radioübertragung vom 22. Juni 1930 zu hören.2 Zwar dauert die Aufnahme nur knapp 14 Minuten, statt der 18 Minuten Aufführungsdauer, da scheinbar die Aufnahme der Takte 40 von Teil 3 bis Takt 13 von Teil 4 fehlen, doch bietet sie jedem Interessierten einen einfachen Zugang zu dem Hörspiel, von dem es bisher keine Aufnahme zu kaufen gibt.3 Eine CD ist laut Website jedoch in Vorbereitung.4

2. Rahmensituation Hindemiths beim Hörspiel „Sabinchen“

Paul Hindemith (*1895 in Hanau; †1963 in Frankfurt) arbeitet als Bratschist, Dirigent, Musiktheoretiker, Komponist, Kompositionslehrer und organisierte Musikfeste.5 Bereits in der Kindheit stellt sein Vater die Weichen für eine Zukunft des Sohnes als Musiker. 1904 erhält Hindemith seinen ersten Geigenunterricht, mit Kompositionsunterricht beginnt er 1912/1913.6 Im ersten Weltkrieg, zu dem er 1917 eingezogen wird, fungiert er unter anderem als Musiker und übersteht den Krieg mit Hilfe des Komponierens, durch das er in seine eigene Gedankenwelt flüchtet. Nach Kriegsende sieht er sich hauptsächlich als Komponist.7 Ab 1923 prägt er die 1921 ins Leben gerufenen „Donaueschinger Kammermusikaufführungen“ als Mitglied des Programmausschusses. 1927 übernimmt er einen Lehrauftrag an der Berliner Musikhochschule und arbeitet dort auch an der Rundfunk-Versuchsstelle mit.8 Im selben Jahr ziehen die „Donaueschinger Kammermusikaufführungen“ wegen besseren Aufführungsmöglichkeiten nach Baden-Baden. Bei den Musiktagen thematisiert er jährlich besondere Musikgattungen und –formen wie 1927 Kurzoper und Musik für mechanische Instrumente oder 1929 Musik für den Rundfunk und Laienmusik. Die beiden Veranstaltungsorte Donaueschingen und Baden-Baden werden zu Zentren der Musikentwicklung, die junge Komponisten beeinflussen.9 Im Jahr 1930 wird das Musikfest aus Baden-Baden aus finanziellen Gründen unter dem Namen „Neue Musik Berlin 1930“ in die Reichshauptstadt verlegt. Nach einer Auseinandersetzung mit Brecht und Eisler, weil Hindemith die Aufführung eines partei-politisch motivierten Stückes von ihnen ablehnt, beendet Hindemith seine organisatorische Mitarbeit an diesem Musikfest.10

Die Gattung der Musikalischen Hörspiele ist nur wenige Jahre als rundfunkeigene Komposition von Interesse.11 1925 verfasst Hindemiths Schwager Hans Flesch, Intendant der Berliner Funkstunde und Künstlerischer „Leiter der Südwestdeutschen Rundfunkdienst AG in Frankfurt [,...] das erste Hörspiel der deutschen Radiogeschichte“.12 Inhaltlich soll das Hörspiel die medienspezifischen Möglichkeiten des Radios aufzeigen und andere Künstler inspirieren, wie der Titel „Zauberei auf dem Sender. Versuch einer Rundfunkgroteske“ bereits vermuten lässt.13

Im Jahr 1929 schreibt Hindemith gemeinsam mit Kurt Weill sein erstes Hörspiel „Der Lindberghflug“ zu einem Text von Bert Brecht, das beim Musikfest „Deutsche Kammermusik Baden-Baden 1929“ aufgeführt wird.14 1930 entsteht das Hörspiel „Sabinchen“, für das Hindemith die Musik verfasst und der Autor Robert Seitz den Text. Seitz (*1891;†1938) schreibt sowohl 1929 schon Texte für andere Hörspiele als auch für weitere Beiträge der Tagung „Neue Musik Berlin 1930“.15

Der genaue Zeitpunkt der Fertigstellung sowie der Entstehungsprozess des gemeinsamen Hörspiels „Sabinchen“ sind unklar. Es fehlen Skizzen und eine Datierung auf der Partitur. Hindemith notierte „Sabinchen“ in seinem Werkverzeichnis allerdings direkt hinter seinem Stück „Wir bauen eine Stadt“, weshalb für die Fertigstellung der Komposition ein Zeitraum kurz vor der Tagung „Neue Musik Berlin 1930“ vermutet wird.16 Fehlende Pausenzeichen und widersprüchliche Angaben in Programmheft und Notenquellen lassen auf ein kurzfristiges Verfassen des Hörspiels schließen.17

Die Uraufführung findet am 19. Juni 1930 im Konzertsaal der Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg statt. Die Interpreten sind Irene Eisinger als Sabinchen und Max Kutter als Schuster. Begleitet werden sie vom Orchester der Funkstunde unter der Leitung von Maximilian Albrecht. Regie führt Cornelis Bronsgeest.18 Die Musiker und Sprecher befinden sich nicht im selben Saal wie das Publikum, sondern senden das Hörspiel aus einem benachbarten Raum und versuchen damit die Situation einem Hörerlebnis am Radio anzunähern. Allerdings gibt es so große technische Probleme bei der Übertragung, dass die Uraufführung gänzlich misslingt.19 So muss das Hörspiel im direkten Anschluss noch einmal konzertant aufgeführt werden. Am 22. Juni 1930 wird „Sabinchen“ das erste Mal im Radio gesendet, worauf noch einige Wiederholungen folgen.20

Durch die Übertragungen von Opernaufführungen im Rundfunk verliert die Gattung des Musikalischen Hörspiels bald an Bedeutung.21 Nach 1932 beschäftigt sich Hindemith nicht mehr mit dem Rundfunk und die Rundfunk-Versuchsstelle in Berlin schließt 1933.22

Das Notenmaterial zu „Sabinchen“ bleibt bis zur Herausgabe der Gesamtausgabe seiner Werke im Jahr 2008 unveröffentlicht.23 Tonaufnahmen des Stückes gibt es bisher nur als historische Dokumente.24

3. Das Musikalische Hörspiel „Sabinchen“

3.1 Der Text

Dem Hörspiel „Sabinchen“ von Hindemith und Seitz liegt ein Volkslied zugrunde, von dem weder Komponist, noch Autor, noch das genaue Jahr der Entstehung bekannt ist. Der erste Druck des „Sabinchen“-Textes erscheint ohne die Angabe eines Autors 1849 in einer Sammlung, die den Titel trägt: „Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten“ (siehe Anhang 1).25 Verschiedene Quellen verweisen darauf, dass die Melodie zu „Sabinchen“ um 1900 veröffentlich wird, genaue Belege sind jedoch nicht bekannt.26 Das Gedicht ist ursprünglich eine intellektuelle Moritatenparodie. Die Reime sind zunächst absichtlich ungelenk formuliert und werden in späteren Fassungen geglättet.27 Dies ist ein Hinweis darauf, dass der Inhalt nun wörtlich verstanden wird und die Adressaten nun nicht mehr die Intellektuellen, sondern die Dienstmädchen sind. Auch der Inhalt des Textes passt sich an: Die echten Silberlöffel werden zu silbernen Blechlöffeln und die Mordwaffe ist zunächst ein Tranchiermesser, später jedoch ein Rasiermesser (siehe Anhang 1 und 2).28 Der Text wandelt sich von der Mördermoral zur Dienstmädchenmoral, in der vor Diebstahl und leichtsinnigen Verhältnissen zu Männern gewarnt wird.29

Seitz schreibt über die Entstehung des Textes, er habe sich der Komposition in Inhalt und Form angepasst und beispielsweise das Manuskript von 15 auf 4 Schreibmaschinenseiten gekürzt. Dies sei eine neue Herangehensweise an Hörspiele und möge den Text Stil kosten, führe jedoch zu einem lohnenswerten Gesamtergebnis.30

Das Hörspiel von Seitz und Hindemith ist in vier Teile gegliedert. Seitz übernimmt den Text des Volksliedes, schmückt ihn aus und liefert dem Hörer zusätzliche Informationen.

Nach der ersten Phrase des Chores in Teil 1 hören wir Sabinchen beim Abendgebet: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Gott allein“ (Takte 11-25). Dieses Kindergebet verdeutlicht die Naivität und Unschuld Sabinchens, die vom Chor besungen wird: „Schon zwanzig Jahr, noch unschuldsrein, ein Lamm fürwahr.“ (Takte 34-41). Hier erfahren wir sogar ihr Alter. Als nächstes hört man wie Sabinchen den vielen Wünschen ihrer Dienstherrschaft während ihres anstrengenden Arbeitstages gerecht zu werden versucht. Begleitend zum Chor, der singt: „Sie diente treu und redlich immer bei ihrer Dienstherrschaft“ (Takte 50-54), reden Mann, Frau und Kind auf Sabinchen ein. Der Chor und die Sprecher wiederholen mehrfach die Anforderungen an Sabinchen und bauen damit noch mehr Druck auf. Neben den einzelnen Aufgaben, erfahren wir die Höhe ihres Lohnes: „Dreißig Mark und freie Station“ (Takte 78-80). Der Chor verkündet die Ankunft des Schusters (Takte 92-96). Durch die darauffolgenden Sprecher, die nicht näher identifiziert werden, wird die Kulisse eines Bahnhofs hergestellt: „Warme Würstchen. Saure Gurken. Frische Bretzeln. Schokolade. Bahnsteig zwei.[...]“ (Takte 101-112). Nun spricht der Schuster zum ersten Mal: „Ach entschuldigen Sie, ich bin fremd hier, wo ist hier die Schuhmacherherberge? Ich bin aus Treuenbrietzen und bin fremd hier.“ (Takte 112-119) Zum wem er spricht bleibt jedoch unklar. Bereits jetzt warnt der Chor vor Gefahr: „In der Fremde, in der Fremde, hütet euch vor Schurken, sonst wird euch sogar das Hemde...“ (Takte 122-127).

Im zweiten Abschnitt des Hörspiels hören wir wie jemand für die Schusterarbeit wirbt und damit eine Situation entwirft, die den Schuster bei der Arbeit darstellt: „Sohlen und Fleck für Herren, Damen und Kinder. Ein Riester, neue Absätze, Steppen und Nähren, vier Mark fünfundsiebzig.“ (Takte 11-17). Der Schuster verabredet sich mit Sabinchen: „Wann kann ich Sie treffen, schönes Kind?“ (Takte 19-21). Sabinchen antwortet: „Ich habe morgen Ausgang.“ (Takte 21-25). Im nächsten Satz zeigt der Schuster seine starke Leidenschaft für Sabinchen: „Ich liebe Sie, ich muss Sie besitzen.“ (Takte 25-28). Sabinchen antwortet darauf nicht. Der Chor besingt, wie der Schuster sein Geld versäuft und man hört ihn etliche Trinksprüche und Sauflieder zitieren: „Bier her oder ich fall um, im Wein liegt Wahrheit nur allein, wer Sorgen hat, hat auch Likör, [...]“ (Takte 33-49). Nun braucht er Geld von Sabinchen und fordert beharrlich: „Ich brauche Geld zum Bezahlen meiner Schulden, gib mir Geld, ich brauche Geld, viel Geld, sehr viel, sehr viel Geld“ (Takte 53-61). Der Chor berichtet nun davon, dass sie kein Geld hat und darum ihre Dienstherrschaft um silberne Blechlöffel bestiehlt. Der Schuster gibt ihr genaue Anweisungen: „Sie liegen im Vertiko, mach leise, [...]“ (Takte 71-77). Doch die Bestohlenen bemerken den Diebstahl ihrer „besten Löffel, die mit dem Monogramm, die wir zu unserer Hochzeit bekommen haben“ (Takte 81-88). Auch die hier genannten Informationen sind neu.

Den dritten Teil des Hörspiels beginnt der Chor mit der fünften Strophe des Volksliedes, in der Sabinchen entlassen wird, nachdem der Diebstahl entdeckt wurde. Sie beklagt sich beim Schuster und zeigt dennoch ihren Wunsch, bei ihm zu bleiben: „[...] Ach, du bist an meinem Unglück schuld; empfingst du deshalb meine Huld? Man hat mich arme treue Magd aus meinem Dienst gejagt. Jetzt hab ich nur noch dich. Ich bleib bei dir und alles ist wieder gut.“ (Takte 10-44). Doch der Schuster hat kein Interesse mehr an ihr: „Hör auf mit deiner Flennerei, die Zeit der Liebe ist vorbei. Du arges Weib betrogst mich bloß, nicht mal die Löffel ward ich los. [...]“ (Takt 45). Nun erfolgt eine leichte Änderung der ursprünglichen Strophe. Dort heißt es: „Sie rief: ,Verfluchter Schuster, du rabenschwarzer Hund!’“ (siehe Anhang 2). Im Hörspiel wird die Ankündigung des Zitats ausgespart und Sabinchen singt die Beschimpfungen ausgiebig und wiederholend (Takte 46-91). Die verbalen Angriffe reizen den Schuster, er bedroht Sabinchen und sie denkt, er will sie schlagen: „Hilfe! Hilfe! Er will mich schlagen“ (Takte 96-98). Doch der Schuster plant noch Grausameres: „Mit solchen Kindereien fange ich gar nicht erst an, bei mir geht es gleich aufs Ganze.“ (Takte 99-103). Schließlich zückt er sein Messer und sagt: „So. Jetzt ist es scharf genug. Nun komm mal her mein Täubchen, ich werde dir die Flügel beschneiden“ (Takt 14). Er lacht und der Chor singt: „Da nahm er sein Rasiermesser und schnitt ihr ab den Schlund. [...]“ (Takte 120-134).

Die bekannte, volkstümliche Variante von „Sabinchen“ endet damit, dass der Schuster im Kerker eingesperrt wird. Einige Versionen enden mit dem Tod des Schusters als Strafe für den Mord am Sabinchen (siehe Anhang 1 und 2). Auch im vierten Teil des Hörspiels erfahren wir, dass der Schuster im Kerker landet: „Ins finstere Loch geworfen, wo die wilden Ratten schlorfen. [...]“ (Takte 6-11). Doch dann ändert sich der Inhalt und der Sprecher des Schusters bezieht sich auf die begleitende Musik: „A-dur und tremolo, das kann nur ein Geist sein. Wer bist du?“ (Takte 15-17). Sabinchen erscheint ihm als Geist und wir hören den Dialog der beiden. Sabinchen äußert ihre Enttäuschung über den unspektakulären Mord, der sie nicht, wie erhofft, berühmt macht:

„[...] Deine Mühe war umsonst. Was hast du erreicht? Nur ein Mädchen umgebracht, wen interessiert das schon? [...] Ach, du hast mich so enttäuscht. Wäre ich doch ein politischer Skandal oder eine Korruptionsaffäre oder ein Sexualverbrechen, ein Vergehen gegen seltsame Gesetze oder sonst’ger Inhalt eines Zeitstücks. [...] In millionen Blättern läse man’s. Kabel, Funken, Platten, Lettern machten meinen Namen populär. [...]“ (Takte 23-108).

Sabinchen möchte also in die Presse. Zwischen ihrem Text wird sie vom Chor unterstützt: „Ja, wen interessiert das schon? Sie hat offensichtlich von dem Mord nicht das Geringste gehabt“ (Takte 53-58). Und nach ihrem Wunsch, den Inhalt eines Zeitstücks darzustellen singt der Chor: „Ja, das kann man zum Mindesten verlangen“ (Takte 78-81). Doch der Schuster behauptet, er habe noch eine Überraschung, von der Sabinchen nichts wisse: „So schlecht stehen unsere Aktien nun doch nicht. Ich lege jetzt ein grausiges Geständnis ab, dann sollst du mal sehen!“ (Takte 109-112). Der Chor singt eine der letzten Strophen des Volksliedtextes: „In einem finstren Kellerloch bei Wasser und bei Brot da hat er endlich eingestanden die grausige Moritat.“ (Takte 113-128). Der Schuster eröffnet nun seinen Plan, die Geschichte von Sabinchen und ihm zu vermarkten: „Jetzt pass mal auf. Ich weiß, dass die Dichter auf Stoffe wild sind wie Esel auf Disteln. Wenn die sich über uns hermachen, sind wir bald in aller Leute Mund.“ (Takt 129). Wir hören einen Sprecher, der das Stück ankündigt: „Wir singen jetzt die berühmte Moritat vom Sabinchen und dem Schuster aus Treuenbrietzen.“ (Takte 130-136). Der Chor wiederholt die erste Strophe des Volksliedes und simuliert somit ein Anstimmen desselben (Takte 136-152). Doch der Plan des Schuster geht noch weiter: „Da, hörst du’s! Was habe ich gesagt? Warte nur mal ab: in zehn Jahren...“ (Takte 154-161). Wir hören einen weiteren Sprecher, der eine Radioübertragung des aktuell laufenden Hörspiels ankündigt: „Halloh! Halloh! Hier ist die Funkstunde. Sie hören jetzt das Funkspiel vom Sabinchen und dem Schuster aus Treuenbrietzen. Text von Robert Seitz, Musik von Paul Hindemith. Achtung, wir beginnen.“ (Takt 165-180). Der Stoff ihrer Geschichte ist schließlich zu einem Hörspiel verarbeitet worden. Nachdem Sabinchen das hört ist auch sie zufrieden: „Also doch! Jetzt können wir getrost in die Grube fahren.“ (Takte 185-202). Durch die Verbreitung des Funkspiels im Radio erlangt sie endlich ihre gewünschte Bekanntheit.

Das Verbrechen, das der Schuster gesteht, liegt darin, ihre Geschichte zu einem Volkslied und schließlich in ein Rundfunk-Hörspiel umzuwandeln.31 Da Letzteres durch die Schöpfer des Stückes Seitz und Hindemith geschieht, ist das Ende selbstironisch. Außerdem thematisieren inhaltlich sie die Verwandlung in ein Hörspiel und schaffen somit eine Geschichte in der Geschichte. So wird der Text von „Sabinchen“ quasi wieder zu einer Moritatenparodie, als die er ursprünglich, um 1849, entstanden ist.

4. Das Musikalische Hörspiel „Sabinchen“

4.1 Die Musik

Paul Hindemith selbst gibt eine zusammenfassende Beschreibung seiner kompositorischen Arbeit zu „Sabinchen“, die im Programmheft der Uraufführung 1930 in Berlin gedruckt wird:

„Die Art, wie man bisher musikalische Hörspiele geschrieben hat, halte ich nicht für richtig. Sie sind entweder ein in seltensten Fällen künstlerischen Anforderungen genügendes Gemisch akustischer Tricks, bei denen die Musik die Sprechstimmen und Geräusche stört, oder sie sind so mit Musik versehen, dass kein unterschied zwischen ihnen und einer Oper, einer Kantate oder irgendeinem Stück absoluter Musik besteht. Ich habe versucht, dem Hörspiel „Sabinchen“ die Musik als Grundlage alles akustischen Geschehens zu benützen. Die Musik bestimmt nicht nur den formalen Ablauf, aus ihr ergeben sich auch Rhythmus, Tonstärke und Farbe der jeweils benötigten sonstigen klanglichen Zutaten. Statt einer sinnlosen Aneinanderreihung akustischer Eindrücke soll dem Zuhörer eine seine künstlerischen Bedürfnisse befriedigende Komposition geboten werden, die mit den Mitteln der Mikrophonübertragung arbeitet und die Ausführung ohne sichtbaren Interpreten bewusst als Kunstmittel benutzt. Die allbekannte Moritat vom tugendhaften Sabinchen und dem Schuster aus Treuenbrietzen schien mir als Grundlage für einen solchen Versuch sehr geeignet.“32

[...]


1 vgl. Schader, Luitgard (2008a) (Hg.): Paul Hindemith. Sämtliche Werke. Band VIII, 2. Sing- und Spielmusik II. Schott Music GmbH & Co. KG. Mainz, S. XXX

2 Hindemith, Paul (1930a): „Moritat für das Radio: ‚Sabinchen’“. Irene Eisinger, Sopran. Maximilian Albrecht (Ltg.), Orchester der Funkstunde. http://www.rundfunkschaetze.de/fruheste-sendemitschnitte/hindemith-radiomoritat-sabinchen-1930/ (abgerufen am 16.10.2016)

3 vgl. Schader (2008a), S. XXXf.

4 vgl. Lieberwirth, Steffen (Hg.) (o. J.): Paul Hindemiths „Moritat für das Radio ,Sabinchen’“. http://www.rundfunkschaetze.de/fruheste-sendemitschnitte/hindemith-radiomoritat-sabinchen-1930/ (abgerufen am 16.10.2016)

5 vgl. Schubert, Giselher (2003): Hindemith. 1. Paul. In: Finscher, Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. 2., neubearbeitete Ausgabe. Personenteil 9 Him-Kel. Bärenreiter. Kassel, Basel, London, New York, Prag. Metzler. Stuttgart, Weimar. Sp. 5-51, Sp. 5

6 vgl. Schubert (2003), Sp. 5; Sp. 7

7 vgl. Schubert (2003), Sp. 8

8 vgl. Schubert (2003), Sp. 11f.

9 vgl. Schubert (2003), Sp. 10

10 vgl. Schubert (2003), Sp. 13

11 vgl. Schader (2008a), S. XXIX

12 Daniels, Dieter (2016): Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er als komplementäre Formen einer „Eigenkunst“ der Medien. In: Saxer, Marion (Hg.): Spiel (mit) der Maschine. Musikalische Medienpraxis in der Frühzeit von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio. Transcript Verlag. Bielefeld. S. 51-74, S. 61; vgl. Schader (2008a), S. XXIX

13 vgl. Daniels (2016), S. 61

14 vgl. Schader (2008a), S. XXIX

15 vgl. Schader (2008a), S. XVIII

16 vgl. Schader (2008a), S. XXIX

17 vgl. Schader (2008a), S. XXIXf.

18 vgl. Schader (2008a), S. XXX

19 vgl. Schader, Luitgard (2008b): Vorwort. In: Paul Hindemith. Sabinchen. Ein Musikalisches Hörspiel für Sopran, Sprecher, Chor und variable Instrumente. Text von Robert Seitz. (1930). Partitur nach dem Notentext der Gesamtausgabe. Leihmaterial. Unverkäufliches Eigentum. Schott Music GmbH & Co. KG. Mainz, London, Berlin, Madrid, New York, Paris, Prague, Tokyo, Toronto. S. IV-V. Auch verfügbar unter: https://de.schott-music.com/shop/pdfviewer/index/readfile/?idx=MTMxNzA0&idy=131704 (abgerufen am 16.10.2016), S. V

20 vgl. Schader (2008a), S. XXX

21 vgl. Schader (2008a), S. XXIX

22 vgl. Schaal-Gotthardt, Susanne (2016): „Immer Neues ans Licht bringen“. Paul Hindemith und die (neuen) Medien. In: Saxer, Marion (Hg.): Spiel (mit) der Maschine. Musikalische Medienpraxis in der Frühzeit von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio. Transcript Verlag. Bielefeld. S. 297-316, S. 314; vgl. Schubert (2003) Sp. 11f.

23 vgl. Schader (2008a), S. XXXI

24 vgl. Schader (2008b), S. V

25 vgl. Weismann, Anabella (1993): Die merk-würdige Geschichte vom Schuster und seiner Sabine: Revolutionssatire – Dienstmädchenmoral – „lustiges Lied“. In: Heister, Hanns-Werner; Heister-Grech, Karin; Scheit, Gerhard (Hg.): Zwischen Aufklärung & Kulturindustrie. Festschrift für Georg Knepler zum 85. Geburtstag. Von Bockel. Hamburg. S. 119-153, S. 123

26 vgl. Weismann (1993), S. 119

27 vgl. Weismann (1993), S. 125

28 vgl. Weismann (1993), S. 127, S. 129

29 vgl. Weismann (1993), S. 126

30 vgl. Schader (2008a), S. XL

31 vgl. Schader (2008a), S. XL; vgl. Lieberwirth (o. J.)

32 Hindemith, Paul (1930b): O. T. In: O.A.: Programmheft der Uraufführung. O. V. Berlin. zitiert nach: Schader (2008a), S. 138

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Das musikalische Hörspiel "Sabinchen" von Paul Hindemith
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Musikwissenschaft)
Veranstaltung
Seminar. Hindemiths Schaffen in den 1920er Jahren.
Note
2,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
22
Katalognummer
V459427
ISBN (eBook)
9783668899742
ISBN (Buch)
9783668899759
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hindemith, 1920er, Sabinchen, Hörspiel
Arbeit zitieren
Franziska Deutschmann (Autor:in), 2016, Das musikalische Hörspiel "Sabinchen" von Paul Hindemith, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/459427

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