Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlage
2.1 Der Begriff des literarischen Lernens in der Literaturdidaktik.
2.2 Definition des Begriffs „literarisches Lernen“ nach Kaspar H. Spinner
2.2.1 Elf Aspekte des literarischen Lernens
3 Literarisches Lernen in der Unterstufe
3.1 Potenzial von griechischen Mythen für den Literaturunterricht
3.2 „Die Irrfahrten des Odysseus“: Kritische Hinterfragung des Materials unter dem Aspekt- „Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen“
4 Fazit
5 Literaturverzeichnis
Einleitung
„Literaturunterricht vermittelt ein Lernen, das über die Literatur hinausreicht. Er ist ein Beitrag zur Identitätsentwicklung der Heranwachsenden [...], zum Verstehen anderer Sichtweisen, zur Auseinandersetzung mit moralischen Fragen und zur Entfaltung von Ideenreichtum.“1
Literaturunterricht- ein Teilgebiet des Deutschunterrichts, der allein Bestandteil der Oberschule zu sein scheint: Schülerinnen und Schüler lesen anspruchsvolle Dramen von weltbekannten Schriftstellern wie Goethe oder Schiller, sie lernen das Interpretieren und Analysieren von literarischen Werken nach bestimmten Mustern und müssen die Kompetenz für einen bewussten Umgang mit Literatur unter Beweis stellen. Vergleicht man so einen Literaturunterricht, mit dem oben ausgeführten Zitat von Kaspar H. Spinner, kommt man zum Entschluss, dass Theorie und Praxis wieder ihre Schwierigkeiten in der Übereinstimmung aufweisen. Wenn der Literaturunterricht zur Identitätsentwicklung, zur Perspektivübernahme, Empathie, zur Kreativität und kritischen Hinterfragung führen soll, darf dieser nicht erst mit dem Beginn der Sekundarstufe einsetzen. Bereits durch die vorschulische Lesesozialisation ist literarisches Lernen als ein wichtiger Bestandteil auch für die Grundschule2 - nämlich von Anfang an3 vorgesehen. Für den Literaturunterricht der Unterstufe gibt es aus Seiten der Deutsch- bzw. Literaturdidaktik bereits verschiedenste Ansätze und Methoden. Unteranderem auch von Kathrin Waldt, welche die Ansicht vertritt, dass Kinder gerade mit anspruchsvoller Literatur auf diesem Wege gefördert werden können. Im Bezug dazu tauchte nicht zuletzt mit Kaspar H. Spinner der Begriff des literarischen Lernens in den Vordergrund, der damit „Lernprozesse [verbindet], die zur Erschließung und zum Verstehen ästhetisch- fiktionaler Texte beitragen“4. Zu denen gehören auch klassische Sagen bzw. Mythen, welche die Kinder oft durch amerikanische Verfilmungen kennen und diese aus diesem Grund Zugang in die Klassenräume finden sollten. Ansonsten besteht die Gefahr, dass mythologische Stoffe in den Köpfen der Heranwachsenden nicht in ihrem eigentlichen kulturellen Kontext haften bleiben5. Im Rahmen dieser Arbeit wird deshalb untersucht, inwiefern die Auseinandersetzung mit Mythen das literarische Lernen bereits in der Unterstufe fördern kann?
Hierfür wird zunächst der Begriff des literarischen Lernens nach Spinner und die aufgestellten 11 Aspekte erläutert. Nach der Darstellung der theoretischen Grundlage wird das Potenzial von griechischen Mythen für den Literaturunterricht der Grundschule aufgeführt, wobei Materialien zu den Irrfahrten des Odysseus unter dem Aspekt „Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen“ kritisch betrachtet werden. Abschließend wird die Arbeit mit einem Fazit rekapituliert und die erzielten Erkenntnisse zusammengefasst.
2 Theoretische Grundlage
Um die Fragestellung- Inwiefern kann die Auseinandersetzung mit Mythen das literarische Lernen bereits in der Unterstufe fördern?- weitestgehend beantworten zu können, wird in diesem Rahmen die theoretische Grundlage der Arbeit der Artikel von Kaspar H. Spinner „Literarisches Lernen“ bilden. Bewusst wird mit diesem Artikel gearbeitet, da er mit seinen 11 Aspekten eine gute Möglichkeit bietet, einer Analyse von vorhandenen Schulmaterialien zu mythologischen Stoffen der Unterstufe nachzugehen. Hierzu wird zunächst ein kurzer Überblick zum Begriff des literarischen Lernens gegeben, bevor anschließend Spinners Theorie und seine 11 Aspekte beleuchtet werden.
2.1 Der Begriff des literarischen Lernens in der Literaturdidaktik
Literarisches Lernen- Ein Begriff, der seit 2006 stark in Verbindung mit dem Germanisten und Didaktiker Kaspar H. Spinner gebracht wird. Doch auch vor ihm beschäftigten sich Forscher und Wissenschaftler innerhalb der Literaturdidaktik mit dem Gegenstand des literarischen Lernens. Zunächst wurde der Begriff unter anderem von Petra Büker 2002 in dem Artikel „Literarisches Lernen in der Primar- und Orientierungsstufe“ verwendet, die dabei eine Art Curriculum für die erste bis sechste Klasse entwickelte. Die stärker subjektorientierte Seite der literarischen Bildung thematisiert ein Jahr später Kathrin Waldt in der Monographie „Literarisches Lernen in der Grundschule: Herausforderung durch ästhetisch-anspruchsvolle Literatur“. Ulf Abraham und Matthis Kepser definierten das literarische Lernen als „Sammelbegriff für alle Beiträge literarischen Lesens zur Persönlichkeitsbildung“6. 2006 wiederum veröffentlichte Kaspar H. Spinner seinen Artikel um die 11 Aspekte des literarischen Lernens, welches erstmals eine Einheit zwischen der Primar- und Sekundarstufe stiftet. Wahrscheinlich war es die Fassbarkeit der modellartig aufgeführten 11 Aspekte oder die Darstellung der Komplexität des literarischen Lernens, welches er dem Kompetenzbegriff gerecht machte, die zum Erfolg und zur unzähligen Rezeption des Artikels führten7.
2.2 Definition des Begriffs „literarisches Lernen“ nach Kaspar H. Spinner
„Der Begriff des literarischen Lernens gründet in der Auffassung, dass es Lernprozesse gibt, die sich speziell auf die Beschäftigung mit literarischen, [...] fiktionalen, poetischen Texten beziehen.“8
Damit wird dem Literaturunterricht eine große Relevanz eingeordnet, welcher Kompetenzen fördert, die über die ‚bloße’ Lesekompetenz hinausreichen9. Denn das literarische Lernen schließt „auditive und visuelle Rezeptionsformen, also etwa Hörbuch und Theater“10 mit ein, wobei dann verständlich ist, dass Spinner die Trennung zwischen Unter- und Oberstufe in dieser Hinsicht aufzuheben versucht, denn literarisches Lernen setzt somit schon bereits bei Kleinkindern ein. Im Kompetenzbegriff sieht Spinner demzufolge ein „Verbindungsglied zwischen den Begriffen Literatur und Lernen“11. Zwar impliziert Spinner mit seinen 11 Aspekten einen kompetenzorientierten Literaturunterricht, dieser wird aber gleichzeitig mit einer subjektorientierten literarischen Bildung (z.B. Identitätsentwicklung, Perspektivübernahme; siehe Einleitung) vereinbar gemacht. Außerdem fußt die Definition des literarischen Lernens auf der Annahme den ästhetischen Charakter von Texten gerecht zu werden12. Damit kritisiert Spinner den heute weit verbreiteten Literaturunterricht, der sich im Allgemeinen auf die Analyse und Interpretation von literarischen Texten mit Hilfe von vorgegebenen Mustern reduziert. Mit den im Folgenden ausgeführten 11 Aspekten des literarischen Lernens werden (Teil-) Kompetenzen beschrieben, welche für alle Klassenstufen bedeutsam sind.
2.2.1 Elf Aspekte des literarischen Lernens
Wie bereits erwähnt, stellte Spinner 11 Aspekte des literarischen Lernens auf, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Außerdem wurden ergänzende Aspekte wie „Literarisches und medienästhetisches Lernen“ sowie „Sachtexte und literarisches Lernen“ aufgeführt, die in der vorliegenden Arbeit aufgrund des begrenzten Rahmens nicht näher in Betracht gezogen werden.
1. „Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln“
Als erster entscheidender Aspekt des literarischen Lernens wird „[d]ie imaginative Vergegenwärtigung sinnlicher Wahrnehmungen“13 vorgeführt. Dabei beschreibt Spinner die beim Lesen oder Zuhören entfaltete Fantasie, welche zu einem vertieften Verstehen des Gegenstandes führt. Wichtig ist der bewusste Umgang mit solchen Vorstellungen, die nicht allein mit eigenen Erfahrungen verknüpft werden sollen, sondern durchaus mit anderen Vorstellungsbildern des literarischen Textes. Für den schulischen Unterricht bedeutet dies:
„Es gilt [...], im Verlauf der Schuljahre die kindliche Intensität der Vorstellungsbilder zu erhalten und einer zunehmenden Differenzierung, Flexibilität und textorientierten Genauigkeit zuzuführen.“14
2. „Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen“
Der zweite Aspekt bezieht sich unmittelbar auf die Kompetenz Vorstellungsbilder zu entwickeln, welches durchaus aus der subjektiven Involviertheit des Lesers folgt. Spinner meint mit dieser Teilkompetenz aber ein Wechselspiel von eigener Imagination und aufmerksamer Textwahrnehmung15, welches erst dann bereichernd ist. Denn man liest einen Text wahrscheinlich intensiver und genauer, je mehr es als Projektionsfläche seiner Person dient. Gerade in der Grundschule ist es einfacher diese Teilkompetenz zum Unterrichtsgegenstand zu machen16.
3. „Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen“
Dieser Aspekt wird oft als ein sehr wichtiger Bestandteil des Literaturunterrichts angesehen. Dabei wird von Spinner aber keine bloße Formalität in der Bestimmung von etwa literarischen Stilmitteln oder Reimschemata assoziiert, sondern meint das Beobachten und genaue Wahrnehmen von sprachlichen Besonderheiten. Diese werden bereits von Grundschülern/innen erkannt, welche „einfache Formen wie Parallelismus, Reihung, Wiederholung, Oppositionen“17 aus Bilderbüchern, Liedern und anderen Erzählungen entnehmen können.
4. „Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen“
In dieser Teilkompetenz spielen der erste und zweite bereits ausgeführte Aspekt durchaus eine entscheidende Rolle. Beim Lesen literarischer Texte werden Leser oft in die Perspektive der verschiedenen Figuren hineingeführt. Dies kann zur Identifikation mit der eigenen Person aber sicherlich auch zur Perspektivübernahme von fremden Emotionen, Sichtweisen oder Einstellungen führen18. Es ist von Bedeutung, um überhaupt eine Verbindung zwischen den Figuren herstellen zu können und somit den Gesamtzusammenhang des vorliegenden literarischen Textes zu erfassen. Dieser Aspekt wird im folgenden Kapitel als Grundlage für die Analyse des Materials dienen, da dieser Kompetenzbereich sehr zentral für das literarische Lernen und darüber hinaus auch für die soziale Entwicklung der Kinder ist.
5. „Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen“
Dieser Aspekt des literarischen Lernens zielt auf das Verstehen von intertextuellen Handlungszusammenhängen und der äußeren Inhaltsentwicklung. „Vieles versteht man nur, wenn man es in Beziehung setzen kann mit etwas, was schon vorher im Text gestanden hat“19. So können Erfahrungen aus dem Alltag oder andere Wissensbestände in dem erzählenden oder dramatischen Text eine neue Bedeutung gewinnen und sinnvoll verknüpft werden, um die Komplexität und Aussagekraft der Werke nachvollziehen zu können.
6. „Mit Fiktionalität bewusst umgehen“
Ein häufig auftauchender Aspekt literarischer Texte ist die Fiktionalität. Die Fähigkeit Wirklichkeit und Fiktion innerhalb eines Geschehens durchblicken zu können, ist eines der Teilkompetenzen des literarischen Lernens. Zwar fällt es den jungen Schülerinnen und Schülern schwerer, „den Unterschied zwischen fiktionalen Texten und direkten Wirklichkeitsaussagen zu erkennen“20 “, doch ist es wichtig sie etwa an ihre bekannte Serien zu erinnern, in denen Tiere reden oder Menschen unnatürliche Kräfte aufweisen.
7. „Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen“
Wahrscheinlich wird im heutigen Literaturunterricht diesem Aspekt die größte Relevanz zugeordnet. Allerdings muss entgegnet werden, dass in literarischen Texten nicht nur eine übertragene Bedeutung von Metaphern und Symbolen vorherrscht, wie in der Alltagssprache, sondern auch eine wörtliche21. Dieser Aspekt spielt in der Grundschule zwar keine zentrale Rolle, könnte aber schon dort mit Hilfe von Bilderbüchern, Fabeln und Sagen eingeführt werden, um den Kindern einen bewussten Umgang mit literarischen Texten zu bieten.
8. „Sicht auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen“
Daran schließt sich an, dass die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeit eines literarischen Textes oft unerschöpflich ist22. Kindern darf also nicht der Anspruch vermittelt werden, dass sie den endgültigen Sinn eines Textes erfassen müssen oder sollten. Denn „[z]iel von Literaturunterricht darf [...] nicht sein, den Texten jede Rätselhaftigkeit zu nehmen, [sondern darum] sich in Verstehensprozesse verwickeln zu lassen, die kein bündiges Ergebnis versprechen“23.
[...]
1 Kaspar H. Spinner (2013): Literaturunterricht in allen Schulstufen und –formen: Gemeinsamkeiten und Besonderheiten. In: Rösch, Heidi (Hrsg.): Literarische Bildung im kompetenzorientierten Deutschunterricht. Filibach bei Klett Verlag, Stuttgart, S. 95.
2 Mit der Bezeichnung Grundschule ist in dieser Hausarbeit die erste bis sechste Klassenstufe gemeint. Gleichgestellt ist dies mit dem Begriff „Unterstufe“.
3 Vgl. Kaspar H. Spinner (2006) Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch, Heft 200, S. 7. sowie dazu Kathrin Waldt (2010): Literarisches Lernen in der Grundschule. Herausforderung durch ästhetisch-anspruchsvolle Literatur. Deutschdidaktik aktuell, Band 16, 2. Auflage, Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler.
4 Karin Vach (2015): Literarisches Lernen: Ästhetisch- fiktionale Texte erschliessen und verstehen. In: Grundschule Deutsch, Heft 48, S.4.
5 Karin Richter (2008): Kinderliteratur im Literaturunterricht der Grundschule: Befunde, Konzepte, Modelle. Deutschdidaktik aktuell, Band 11, 2 erweiterte und veränderte Auflage, Schneider Hohengehren Verlag, Baltmannsweiler, S.67.
6 Ulf Abraham, Matthis Kepser (2009): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Grundlagen der Germanistik, Band 42. Erich Schmidt Verlag, Berlin. S. 81.
7 Hinzuzufügen ist allerdings, dass der literaturdidaktische Diskurs darüber noch nicht abgeschlossen ist (vgl. www.leseräume.de).
8 Kaspar H. Spinner (2006), S.6.
9 Vgl. ebd.
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Vgl. ebd., S. 7.
13 Ebd., S.8.
14 Kaspar H. Spinner (2006), S. 8.
15 Vgl. ebd.
16 Vgl. ebd.
17 Ebd.
18 Vgl. ebd., S.9.
19 Kaspar H. Spinner (2006), S.10.
20 Ebd.
21 Vgl. ebd., S.11.
22 Vgl. ebd., S.12.
23 Ebd.