Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die wichtigsten Wirkungen von Kinderchorarbeit auf die Persönlichkeitsentwicklung und die soziale Kompetenz der Kinder darzustellen. Unter besonderer Berücksichtigung verschiedener physischer, psychischer und soziologischer Theorien und Konzepte, der Analyse ihrer Wirkungsweisen und der Anwendung daraus resultierender Ansichten auf das konkrete Handlungsfeld sollen Bedeutung und Reichweite der Thematik herausgearbeitet werden.
Bedeutende und schnelle Veränderungen in den gegenwärtigen Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen verlangen eine Innovation der bisherigen Bildungsanforderungen. Die durch viele Faktoren bedingte, ständig sinkende Hemmschwelle zur Gewalt und die Zunahme der Kinder- und Jugendkriminalität zeigen die Notwendigkeit alternativer Erziehungs-konzepte ebenso wie der immer geringer werdende familiäre Einfluss auf die Kinder. Zunehmend zerrüttete Familienverhältnisse zwingen die Kin-der und Jugendlichen auf der Suche nach Alternativen zu einer Fremdori-entierung an den gängigen Medien und Verhaltensmustern ihrer sozialen Milieus. Selbst eine staatliche Förderung der Computernutzung in Schulen, die entsprechend den neuen Anforderungen einer Informationsgesellschaft durchaus notwendig ist, begünstigt wiederum die Isolation des Einzelnen. Die Zielsetzungen der Bildungspolitik, zunehmend qualifiziertes Wissen zu vermitteln, lassen weitere gesellschaftliche Probleme, beispielsweise wachsende Defizite in Bereichen wie Kommunikationsfähigkeit, Selbstständigkeit, Durchsetzungsvermögen und Kooperationsfähigkeit, außer Acht.
Inhalt
1. Einleitung
2. Wirkungen des Singens auf den Menschen
2.1 Physische Auswirkungen des Singens
2.1.1 Atmung als Träger der Lebensenergie
2.1.2 Sinnessysteme im Wahrnehmungsprozess
2.1.2.1 Die unterschiedliche Funktion der Gehirnhälften und die Förderung des interhemisphärischen Zusammenspiels durch das Singen
2.1.3 Wahrnehmung als Grundlage der Intelligenz und Persönlichkeitsentwicklung
2.1.3.1 Konzentrationsschwäche, Fantasie- und Kreativitätsmangel durch Wahrnehmungsstörungen
2.1.4 Singen als körperliche Energetisierungsstrategie
2.2 Psychische Auswirkungen des Singens
2.2.1 Zur Bedeutung des Singens für den Menschen am Beispiel anderer Kulturen
2.2.1.1 Zur Regulation von Emotionen
2.2.1.2 Emotionale Zustände
2.2.1.3 Kognition
2.2.1.4 Verhalten
2.2.2 Singen als Bewältigungsstrategie
2.2.2.1 Singen als seelische Energetisierungsstrategie
2.2.2.2 Singen als Medium der Selbstbegegnung und Selbstreflexion
2.3 Wirkungen von Gruppenaktivität auf Kinder
2.3.1 Einführung
2.3.2 Sozialverhalten als Leitidee pädagogischer Arbeit
2.3.3 Die Gruppe als Sozialform
2.3.3.1 Die peer-group der Kinder und Jugendlichen
2.3.4 Interaktion in Kleingruppen als soziale Fähigkeit
2.3.5 Motivation
2.3.6 Lernen durch Imitation und Beobachtung
2.3.7 Sympathie und Antipathie
2.3.7.1 Die Ursachen
2.3.7.2 Die Wirkungen
2.3.8 Führer in der Gruppe
3. Interaktion der physiologischen, psychologischen und soziologischen Wirkungen des Singens im Kinderchor
3.1 Warum im Chor singen?
3.2 Auszüge aus Ergebnissen empirischer Studien
3.2.1 Schulversuche mit erweitertem Musikunterricht in der Schweiz
3.2.1.1 Die Versuchsbedingungen
3.2.1.2 Die Ergebnisse der Schweizer Studie
3.2.2 Die Langzeitstudie Hans Günther Bastians an Berliner Grundschulen
3.2.2.1 Die Versuchsbedingungen
3.2.2.2 Die Ergebnisse der Berliner Studie
4. Anregungen zur Realisierung der unterschiedlichen Zielsetzungen der Kinderchorarbeit
4.1 Die pädagogischen Ziele
4.2 Die musikalischen Ziele
4.2.1 Kriterien für eine systematische Literaturauswahl
4.2.2 Die Probengestaltung
4.2.2.1 Die Struktur der Probe
4.2.2.2 Der Liederwerb in der Chorprobe
4.3 Stimmbildung mit Kindern
4.3.1 Besonderheiten der Kinderstimme
4.3.1.1 Umfang der Kinderstimme
4.3.2 Stimmfehler
4.3.2.1 Analyse von Stimmfehlern
a) Fehler im Atmungssystem
b) Fehler im Tonerzeugungssystem
c) Fehler im Tonverstärkungssystem
d) Schwierigkeiten bei der Koordination von Gehör und Stimme/ „Brummer“
4.3.3 Das Einsingen als unverzichtbares Element jeder Chorprobe
4.4 Disziplin und Autorität
5. Einschätzung der Wirkung von Kinderchorarbeit am Beispiel des Musiktreck Essel
5.1 Der Chor
5.2 Erfolge der Chorarbeit
5.2.1 Der Umgang der Chormitglieder untereinander und die Wirkung des Chores nach außen
5.2.2 Ergebnisse aus der Befragung von Eltern und Chorkindern
5.2.2.1 Die Chorkinder
5.2.2.2 Die Eltern
6. Nachwort
Literaturverzeichnis
Anhang
Fragebogen für Treckis
Fragebogen für Eltern
Auswertung der Fragebögen für Kinder
und Jugendliche
Auswertung der Fragebögen für Eltern
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die wichtigsten Wirkungen von Kinderchorarbeit auf die Persönlichkeitsentwicklung und die soziale Kompetenz der Kinder darzustellen. Unter besonderer Berücksichtigung verschiedener physischer, psychischer und soziologischer Theorien und Konzepte, der Analyse ihrer Wirkungsweisen und der Anwendung daraus resultierender Ansichten auf das konkrete Handlungsfeld sollen Bedeutung und Reichweite der Thematik herausgearbeitet werden.
Bedeutende und schnelle Veränderungen in den gegenwärtigen Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen verlangen eine Innovation der bisherigen Bildungsanforderungen. Die durch viele Faktoren bedingte, ständig sinkende Hemmschwelle zur Gewalt und die Zunahme der Kinder- und Jugendkriminalität zeigen die Notwendigkeit alternativer Erziehungskonzepte ebenso wie der immer geringer werdende familiäre Einfluss auf die Kinder. Zunehmend zerrüttete Familienverhältnisse zwingen die Kinder und Jugendlichen auf der Suche nach Alternativen zu einer Fremdorientierung an den gängigen Medien und Verhaltensmustern ihrer sozialen Milieus. Selbst eine staatliche Förderung der Computernutzung in Schulen, die entsprechend den neuen Anforderungen einer Informationsgesellschaft durchaus notwendig ist, begünstigt wiederum die Isolation des Einzelnen. Die Zielsetzungen der Bildungspolitik, zunehmend qualifiziertes Wissen zu vermitteln, lassen weitere gesellschaftliche Probleme, beispielsweise wachsende Defizite in Bereichen wie Kommunikationsfähigkeit, Selbstständigkeit, Durchsetzungsvermögen und Kooperationsfähigkeit, außer Acht.
Ein problemübergreifender, ergänzender Ansatz zu bestehenden Erziehungskonzepten ist die Förderung des aktiven Musizierens von Kindern. Seit Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse der Berliner Langzeitstudie unter der Leitung Hans-Günther Bastians im Jahr 2000 besteht kein Zweifel mehr an positiven Wirkungsweisen von Musikerziehung. Eine erweiterte Musikerziehung an Schulen tatsächlich zu realisieren scheint jedoch angesichts der allgemeinen Reduzierung kultureller Unterrichtsfächer schwierig. Hier entsteht die Forderung nach einer außerschulischen musikalischen Förderung wie die durch den Kinderchor. Die Frage, ob vergleichbare Resultate in der Wirkung von Singen im Chor auf die Entwicklung von Kindern zu erzielen sind, wie dies bei der erweiterten Schul-Musikerziehung der Fall ist, kann in dieser Arbeit nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Um aussagekräftigere Ergebnisse zu erzielen wäre eine ausführliche, empirische Untersuchung nötig. Die im Rahmen meiner Möglichkeiten durchgeführte Überprüfung der aufgestellten Thesen kann wegen der geringen Anzahl der berücksichtigten Personen und des kurzen Untersuchungszeitraumes nicht als wissenschaftlich fundiert gelten, dennoch stützt sie die im Sinne des Themas aufgestellten Vermutungen.
2. Wirkungen des Singens auf den Menschen
In letzter Zeit wurde von den Medien immer wieder berichtet, dass Musikerziehung die Kinder intelligent mache. Vermutungen dazu werden schon einige Jahrzehnte angestellt, doch erst im Jahre 2000 wurden die Ergebnisse einer empirischen Langzeitstudie veröffentlicht, die bestätigen, dass erweiterte Musikerziehung einen positiven Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben kann.[1]
Es gibt aber noch weitere Untersuchungen zum Einfluss von Musik auf den Menschen. Bei diesen wird unter anderem hinterfragt, ob Musik einen positiven Einfluss auf die körperliche und seelische Gesundheit des Menschen habe. Inwiefern diese Beeinflussungen stattfinden, soll in diesem Kapitel dargestellt werden. Da das Singen die intensivste, vom Inneren des Körpers direkt ausgehende Art des Musizierens ist, besteht die Vermutung, dass es eine deutliche Reaktion auf Körper und Geist gibt. Daher möchte ich mich im Folgenden auf diese Art des Musizierens beschränken.
2.1 Physische Auswirkungen des Singens
Die verschiedenen Auswirkungen des Singens lassen sich nicht deutlich nach physischen und psychischen Faktoren trennen, weil sie voneinander abhängen, sich gegenseitig beeinflussen und durchdringen. Dass zum Beispiel schwere Krankheiten sehr oft mit depressiven Begleiterkrankungen einhergehen, körperliche Fitness dagegen gleichzeitig der Nährboden für alle denkbaren Möglichkeiten von Glücksempfinden ist, macht deutlich, wie fließend diese Grenzen sein müssen. Eine Überforderung oder Abstumpfung der sinnlichen Wahrnehmung hat nicht nur Konzentrationsschwäche zur Folge: Fehlverhalten, Aggressivität, mangelnde Leistungsfähigkeit in Beruf und Schule schlagen sich auf Dauer mit Sicherheit seelisch und körperlich nieder.
2.1.1 Atmung als Träger der Lebensenergie
Atem ist der Ausdruck des Lebens, nicht atmen bedeutet Tod. Atem ist mehr als Gasaustausch, er spendet auch Heilung, Nähe, Geborgenheit und Trost. Sobald die Mutter mit ihrem Atem schmerzende Stellen und Wunden ihres Kindes anhaucht, wird Linderung gespendet. „ In China war die Kunst, Krankheitszustände mittels Atemanwendungen zu behandeln, noch vor der Akupunktur bekannt. In Tibet und Indien gehen die Wurzeln meditativer Praktiken und Yoga- Techniken auf Atemübungen zurück, die der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit dienten. Im Inneren der ägyptischen Pyramiden und im Alten Testament sind atemtherapeutische Ratschläge überliefert. Vielfach wird der Atem nicht nur als Träger heilender Kräfte angesehen, sondern mit dem Leben gleichgesetzt.“[2]
Mit dem ersten Atemzug beginnt das Leben des Menschen, mit dem letzten endet es. Beim Neugeborenen zieht sich das Zwerchfell zusammen, die bis dahin luftleeren Lungenbläschen entfalten sich und der neue Mensch atmet zum ersten Mal ein. Seine Stimmbänder spannen sich und während die Zwerchfellspannung nachlässt, damit die Ausatmung beginnen kann, setzen die Stimmbänder der sich zusammenziehenden Lunge Widerstand entgegen. Der erste Schrei kommt tatsächlich aus dem Zusammenspiel des gesamten Körpers zustande: Anspannung, Abspannung, Entspannung.
Nicht nur das erste Atmen ist ein Zusammenspiel des gesamten Körpers. Die Atemmuskulatur kann ebenso durch unseren Willen gesteuert werden wie die Muskulatur unserer Gliedmaßen. „ Der wichtigste Atemmuskel ist das Zwerchfell (Diaphragma). Es liegt quer (zwerch) im Körper und trennt Brust und Bauchraum voneinander. Das Zwerchfell entspringt ringsum an den unteren Randbegrenzungen des Brustkorbs und der Lendenwirbelsäule.“[3]
Das Atemzentrum fasst die nervliche Steuerung der Atmung zusammen. Durch einen Impuls vom Atemzentrum ausgehend kontrahiert die Zwerchfellmuskulatur, die Zwerchfellkuppen senken sich und erweitern so den Bauchraum nach unten. Die dem Atemzentrum übergeordnete nervliche Instanz ist das Zwischenhirn. Hier werden Sinneseindrücke, Gefühle, Affekte, Absichten und Entschlüsse in nervöse Impulse umgesetzt, die bei der Steuerung unserer wichtigsten Lebensfunktionen wie Kreislauf, Atmung, Blutzusammensetzung, Körperwärme, Wasserhaushalt, Verdauungstätigkeit usw. mitwirken.
Sämtliche Einflüsse, die von außen an uns herangetragen werden, registrieren wir auch mit dem Zwerchfell. Jegliche Emotion ruft eine Reaktion des Zwerchfells hervor. „ Eine typische Reaktion auf emotionale Reizung besteht in der Kontraktion (Senkung der Zwerchfellkuppen), die Einatmen
und einen eventuellen Atemstau zur Folge hat. Auf diese Weise werden
Emotionen negiert und unterdrückt. Wird diese Reaktionstendenz des Zwerchfells nicht erkannt, kann dieser Zustand chronisch werden und die Atemfunktion in extremer Weise einschränken.“[4]
Richtige Atemführung beeinflusst die Gesundheit des Menschen positiv, und umgekehrt kann man feststellen, dass ein kranker Organismus über den Atem nach Hilfe ruft. Körperliche und seelische Störungen machen sich sofort über die Veränderung der natürlichen Atemfunktion bemerkbar. In der Regel wird der Atem flacher und kürzer, und die Kapazität der Lunge kann nicht mehr voll ausgenutzt werden. Richtiges Atmen kann jedoch geübt werden. Zahlreiche Atemtherapeuten haben im Laufe der Jahre verschiedene Methoden und Techniken entwickelt, um Atemstörungen vorzubeugen bzw. bestehende Fehlfunktionen zu beheben. Eine gängige Methode ist nach wie vor das Singen, bei dem tief eingeatmet und kontrolliert ausgeatmet wird. Bei Singübungen wird oft in erster Linie darauf geachtet, dass die Zwerchfellatmung mit ausreichender Anspannung durchgeführt wird. Dadurch kann ein höheres Atemvolumen erreicht werden. Durch regelmäßiges Üben wird ein intensives, optimal erfüllendes, jedoch nicht schwerfälliges Atmen erreicht, welches dem Körper und dem Geist des Menschen wohl tut. Welche weiteren Auswirkungen das richtige Atmen in Zusammenhang mit dem Singen hat, wird in den folgenden Kapiteln noch genauer beschrieben werden.
2.1.2 Sinnessysteme im Wahrnehmungsprozess
Unser modernes Leben geht einher mit einer Flut von Sinneseindrücken: Immer mehr Lärm in den Städten, immer schnellere Bildfolgen in Filmen, noch mehr „beats per minute“ in der Musik der Technogeneration, um nur einige zu nennen. Der audiovisuelle Wohlstand führt in nicht wenigen Fällen zu einem Seh-, Hör- und Bewegungsnotstand vor allem bei Kindern. Dies macht eine Wahrnehmungsförderung dringender denn je. Eine Ausbildung und Förderung unseres Empfindungsvermögens kann durch eine besondere musikalische Erziehung geschehen, denn „Musik und Musizieren besitzen Leistungs- und Wirkpotentiale, wie sie kein zweites Medium für sich beanspruchen kann.“[5]
2.1.2.1 Die unterschiedliche Funktion der Gehirnhälften und die Förderung des interhemisphärischen Zusammenspiels durch das Singen
Die Welt wäre nichts als ein gigantisches Übermaß von Reizen, wenn wir nicht in der Lage wären, die vielfältigen Sinneseindrücke mit Hilfe unseres Gehirns zu strukturieren und zu verarbeiten. Die Entwicklung der Großhirnrinde ist die jüngste in der evolutionären Entwicklung unseres Zentralnervensystems. „ Viele Bereiche arbeiten nur für die Erhaltung der lebensnotwendigen Funktionen (Hirnstamm, Kleinhirn), andere sind für bewusste Assoziations- und Denkprozesse (Großhirn) zuständig, wieder andere für die Entstehung von Gefühlen und emotionalen Verhaltensweisen (limbisches System).“[6]
Im Rückenmark werden die Sinnesreize durch die verschiedenen Bereiche des Gesamthirns geleitet, um dann als neuronaler Befehl in den Körper zurückgesandt zu werden. So ist es uns möglich, auf die äußeren Eindrücke zu reagieren. Ebenso ist der Mensch in der Lage, vielfältige Wahrnehmungen gleichzeitig zu verarbeiten und daraus eine komplexe Situation zu schöpfen. Zum Beispiel sehen wir beim Betrachten eines Hauses nicht nur die Fenster, Türen und Wände als einzelne Bestandteile, sondern wir nehmen das gesamte Erscheinungsbild und die Ausstrahlung des Hauses auf. Eine Melodie wird nicht nur als Folge von Einzeltönen empfunden, sondern wird zusätzlich mit ihrer individuellen Stimmung als Ganzes wahrgenommen. Dieser komplexe Wahrnehmungsprozess ist nur durch das Zusammenspiel der beiden Gehirnhälften (Hemisphären) möglich.
Die Gehirnhälften sind durch einen Balken (lat. Corpus callosum) miteinander verbunden, über den ein permanenter Austausch stattfindet. Durch Sinnesreize werden die verschiedenen Assoziationsfelder des Gehirns aktiviert. Sensorische und motorische Reize, die den Körper erreichen, kreuzen im Hirnstamm ihre Bahnen. Sie werden von der gegenüberliegenden Gehirnhälfte erfasst und verarbeitet und dann als Information an die andere weitergeleitet. Durch dieses Zusammenspiel werden Informationen zwischen den Hemisphären miteinander verknüpft und kombiniert. Erst dann kommen die Prozesse der Planung, des Denkens, Erkennens und Entscheidens in Gang.
Die einzelnen Hirnhälften sind für unterschiedliche Funktionen zuständig. Die rechte betrachtet die Dinge ganzheitlich, das heißt, sie versucht verschiedene Aspekte miteinander zu verbinden und in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. Sie ist schöpferisch und künstlerisch ausgerichtet und produziert zum Beispiel Melodien beim Singen, schafft Sprachmelodien und die Intonation. Die linke Hirnhälfte kommt zum Einsatz, wenn es um die Erfassung von Einzelheiten geht. Das ist beispielsweise der Fall beim Erfassen von Sprache, Erkennen von Figuren in Suchbildern, Heraushören eines Instruments im Orchester und bei der räumlich-geometrischen Wahrnehmung. Von der linken Hirnhälfte geht auch die Planung und Steuerung aufeinander folgender Handlungen und Konstruktionen aus. Bis auf den Geschmackssinn und den Geruchssinn werden alle Sinne über die Kreuzung der Nervenbahnen von der gegenüberliegenden Hirnhälfte gesteuert.
Wie wichtig die Kommunikation der beiden Hemisphären ist, wird am Beispiel des Lesens deutlich. Die linke Gehirnhälfte analysiert den Lesestoff und beachtet auch Grammatik und Zeichensetzung. Währenddessen versucht die rechte Gehirnhälfte, den Gesamtzusammenhang mit anderen gespeicherten Informationen und Emotionen herzustellen. Also nur das Zusammenspiel ermöglicht es, einen Text zu lesen, gleichzeitig den Inhalt des Gelesenen zu erfassen und mit Bekanntem zu verknüpfen.
Nun gibt es zahlreiche Situationen, in denen der Mensch merkt, dass das Zusammenspiel der Hemisphären nicht optimal funktioniert. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man einen Text liest, aber das Gelesene nicht als Information verarbeiten, speichern und nutzen kann.
Regelmäßiges Singen ist eine der Möglichkeiten, um solchen Konzentrations- und Wahrnehmungsstörungen vorzubeugen und abzuhelfen. Beim Singen werden das auditive, visuelle und motorische System, Gedächtnisleistungen und Denkprozesse gefordert. Überhaupt singen zu können, vor allem bewusst zu singen, mit Text-, Melodie-, Rhythmus-, Dynamik-, und Intonationsvorgaben, ist eine große Herausforderung an unser Gehirn.
Von welcher Gehirnhälfte diese verschiedenen Anforderungen (bei Rechtshändigkeit) be- und verarbeitet werden, stellt folgende Tabelle dar:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Hier wird nun deutlich, dass beim Singen - angefangen vom Erfassen und Wiedergeben der Melodie über die richtige Körperhaltung und Atmung bis hin zum Lesen und Einprägen der Noten und des Textes - allerhand Kooperation und Koordination nötig ist.
Durch dieses „Gehirntraining“ beim Singen wird auch in anderen Situationen, zum Beispiel in der oben angeführten Situation des Lesens eines Textes, das optimierte Zusammenspiel der Gehirnhälften erreicht und so das ganzheitliche Erfassen und Verarbeiten des Gelesenen erleichtert. Das Gehirntraining wird beim Singen sogar oft als spielerisch erlebt. Denn anders als beim bewussten und angestrengten Lernen denkt kaum jemand beim Singen an die vielfältigen Beanspruchungen und Leistungen des Gehirns.
2.1.3 Wahrnehmung als Grundlage der Intelligenz und Persönlichkeitsentwicklung
Es ist eine wesentliche Grundlage für die ungestörte Entwicklung eines Kindes, die Umwelt wahrnehmen zu können. Dabei geht es einerseits um die körperlichen Voraussetzungen wie das gut funktionierende Hören und Sehen, andererseits um die gebotenen Reize von außen. Durch gezielte Fördermaßnahmen können auch taube, stumme oder blinde Kinder eine gute Persönlichkeitsentwicklung erreichen. Doch selbst wenn die äußeren Umstände keinerlei Anlass dafür liefern zu vermuten, dass eine Entwicklung gestört werden könnte, ist es nötig die Wahrnehmung zu schulen, um beste Vorraussetzungen zu erreichen. So ist eine Reizminimierung ebenso schädlich wie eine Reizüberflutung. Bei einer Reizminimierung kann das Gehirn nicht lernen, mit verschiedenen Gegebenheiten umzugehen und bestimmte Wahrnehmungen unbewusst ablaufen zu lassen. Im schlimmsten Fall verkümmert der Sehsinn, die leisesten Geräusche werden als unangenehm laut empfunden und das Sprechen wird verlernt bzw. erst gar nicht erlernt. Bei einem Übermaß an Wahrnehmungen wird es schnell unmöglich deutlich zu differenzieren, zu verarbeiten und bewusst zu reagieren. Dies äußert sich vor allem in Konzentrationsschwächen und Verhaltensauffälligkeiten. Da unsere Umwelt jedoch immer mehr Reize bietet, die permanent aufgenommen und verarbeitet werden müssen, ist es ratsam, die Wahrnehmung und die Leistungen des Gehirns dahingehend zu trainieren, dass einer Überforderung präventiv entgegen gewirkt wird.
Jeder Wahrnehmungsprozess ist gleichzeitig ein Lernprozess, aus dem Erfahrungen und Informationen hervorgehen. Jeder Lernprozess wiederum ist ein Prozess der Entfaltung der Intelligenz, also der Verwirklichung der persönlichen intellektuellen Veranlagung. Alles Lernen betrifft so die persönliche Gesamtheit des Lernenden. Somit bewirkt jedes neuerreichte Können - auch wenn es sehr speziell ist - eine Steigerung des Gesamtkönnens einer Person und wirkt sich somit auf den Grad seiner Intelligenz aus.
2.1.3.1 Konzentrationsschwäche, Fantasie- und Kreativitätsmangel durch Wahrnehmungsstörungen
Der Mensch besitzt die Gabe, viele Wahrnehmungen gleichzeitig zu verarbeiten. Aus diesen Sinneseindrücken werden komplexe Informationen geschöpft, die wir brauchen um zu lernen, Erfahrungen zu sammeln und, nicht zuletzt, um unser Überleben zu sichern. Das Überqueren einer Strasse bedeutet eben nicht nur die Farbe des Asphalts, die verschiedenen Fahrzeugfabrikate, die Anzeige der Ampel und die Kleidung der Fußgänger zu sehen, sondern auch die für uns wichtigeren Aspekte wie Entfernungen und Geschwindigkeiten der Fahrzeuge, den witterungsbedingten Zustand der Fahrbahn und vielfache situationsabhängige Einflüsse wahrzunehmen und einzuschätzen.
Ganzheitliches Wahrnehmen bedeutet aber noch mehr als die Aufnahme dieser Sinneseindrücke. Der gestaltpsychologische Ansatz beschreibt, dass der Mensch zusätzlich auch die Stimmung einer Situation aufnimmt. Hektisches Treiben in der Stadt mag als unangenehm, die Wärme der Sonne aber als Wohltat für Seele und Sinne empfunden werden.
Die Fähigkeit zur Wahrnehmung und die Fähigkeit zur Konzentration sind eng miteinander verbunden. Es gibt Wahrnehmungen, die unbewusst ablaufen müssen, weil anderen, situationsbedingt wichtigeren Wahrnehmungen vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Dabei kommt es zu einer sogenannten „Filterung“ der Sinneseindrücke, weil wir uns nicht auf zwei Dinge gleichzeitig mit der gleichen Intensität konzentrieren können. Denn „ Konzentration oder Aufmerksamkeit ist eine bewusste Reaktion, deren Grundlage der Wille ist. Sie stellt eine Grundvoraussetzung für das Lernen in allen Bereichen dar.“[7] So kommt es vor, dass wir in einer Situation den Gruß eines Bekannten überhören, weil unsere Konzentration gerade für die Beachtung des Verkehrs gebraucht wird.
Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb es bei Kindern zu Wahrnehmungsstörungen kommen kann, die sich unter anderem negativ auf das Lernverhalten auswirken. Zum einen sind es organisch bedingte Wahrnehmungsstörungen, die sich auf die verschiedenen Funktionen des Gehirns auswirken. Diese können beispielsweise durch vorgeburtlichen Alkohol- und Drogenmissbrauch, durch Komplikationen bei der Geburt oder durch fieberhafte und entzündliche Krankheiten verursacht werden. Nicht organisch bedingte Wahrnehmungsstörungen hängen häufig mit bestimmten gesellschaftlichen Strukturen zusammen. „ So können Kindergartenkinder (...) oftmals durch den täglichen, schon morgens beginnenden Fernsehkonsum ihre Gefühle und Bedürfnisse immer weniger spielend ausagieren. Sie erhalten zu einseitige Reize, vor allem im visuellen und auditiven Sinnbereich, und werden durch zu bunte, zu schrille, zu schnell geschnittenen Filme sinnlich und emotional überfordert.“[8] Dazu kommt oft ein Umfeld, das dem natürlichen Bewegungsdrang der Kinder nicht entgegenkommt, wodurch sich die Motorik nicht ausreichend entwickeln kann. Die Kinder bleiben immer mehr im Haus und beschäftigen sich mit Fernsehen und Computerspielen. Die Inhalte des dort Erlebten müssen aber nicht nur auf visueller und auditiver, sondern auch auf emotionaler, also stimmungsbetonter Ebene verarbeitet werden. Als Auswirkung einer einseitigen Belastung sind oftmals die Seh- und Hörwahrnehmung beeinträchtigt. In Folge einer Überlastung kann es zu einer regelrechten Abstumpfung der betroffenen Sinne kommen. Durch diese Abstumpfung sind die Kinder nicht mehr dazu in der Lage, sich über einen längeren Zeitraum auf einen bestimmten Vorgang zu konzentrieren . „Die Aufmerksamkeit wird nur geweckt, wenn sie schnelle visuelle Abfolgen sehen und extreme Wechsel in Lautstärke und Klang hören. Durch den Bewegungsmangel macht sich zusätzlich motorische Unsicherheit und die Unfähigkeit zum phantasievollen Spiel bemerkbar. Es entstehen- auch beim Vorlesen- keine inneren Bilder mehr, und das fantasievolle, kreative Ausleben im spielerischen Tun mit Spielmaterial bleibt auf der Strecke.“[9]
Auch, dass Kinder im Allgemeinen immer weniger Verpflichtungen zu Hause haben, weil Eltern sie für Schule und Hobbys entlasten möchten kann Auslöser von Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen sein. Das Gleiche gilt für extremes materielles Verwöhnen, das nicht gleichzeitig die Erfahrung verbindlicher Strukturen im engen sozialen Umfeld ermöglicht. Wenn Kinder dadurch in ihrer einzelkämpferischen Art unterstützt werden, sind sie oftmals nicht in der Lage, positive soziale Strukturen aufzubauen und sich konstruktiv in eine Gruppe einzufügen. Da Kinder nur eine begrenzte Fähigkeit besitzen, ihre Gefühle und ihr Verhalten zu reflektieren, kann es durchaus zu aggressivem und auffälligem Verhalten kommen.
Die verschiedenen, sich oftmals überlagernden Ursachen führen zu vielfältigen und vielschichtigen Symptomen von Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen bei Kindern. Sucht man Abhilfe, muss diese genauso vielschichtig und übergreifend wirksam werden können. Hier bietet sich augenfällig das gemeinsame Musizieren an, welches außer der angestrebten musikalischen Bildung und Entwicklung eine Wahrnehmungsförderung und Steigerung der Konzentrationsfähigkeit geradezu impliziert und somit vorbeugend wie therapeutisch genutzt werden kann.
Bei dem gemeinsamen Singen im Chor zum Beispiel wird neben den bereits oben angesprochenen Bereichen auch das Sozialverhalten gefördert.
Das Singen, das gegenseitige Zuhören, das kontrollierte Verhalten in der Gruppe, das Achtgeben auf den Chorleiter[10] und die bewusste, gewollte Konzentration auf die unterschiedlichsten Vorgänge können abgestumpfte und überforderte Sinne neu sensibilisieren. Das hierbei stattfindende Gehirntraining steigert die Aufnahmekapazität von Umweltreizen und erleichtert die Umwandlung in für uns nutzbare Information. (Vgl. Kapitel 2.1.2.1)
Intelligenz bedeutet Einsichtsfähigkeit im Sinne der Ratio.[11] Ob und in welcher Art und Weise Intelligenz genutzt wird, ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Die bloße Feststellung von Intelligenz allein ist kein Zeichen von Produktivität. In einer Zeit wie der unseren, in der sich konstruktive und destruktive Kräfte schnell entwickeln und wandeln, ist allein kreatives, originelles Handeln ein Zeichen von aktiver und produktiver Teilnahme an der Umwelt und letztlich das, was zählt. So ist Kreativität die Quelle der schöpferischen Prozesse. Sie führt zu neuartigem Erleben, neuen Situationen und Ansichten, die als Gegenpol der Gewohnheit und Rigidität wirken.
„ Während der Prozess des Lernens und der Erfahrungsbildung durch Gewöhnung dem (wenn auch imaginären) Endpunkt des abgeschlossenen Besitzes des Kennens und Könnens zustrebt, tendiert die Kreativität zur Offenheit für neue Erfahrungen, für die Auffassung auch des Neuen, noch nicht Dagewesenen, und damit zur Offenheit, neue Antworten zu finden auf neue Fragen. Weniger durch die immer bessere technische Bewältigung und Ausnutzung der in Besitz genommenen Welt als vielmehr durch schöpferische Offenheit für die noch unbekannten und noch unbewältigten Eigentümlichkeiten dieser Welt kann sich der Mensch als ‚Herr der Lage‛ behaupten.“[12]
Es wird deutlich, dass nicht nur die Differenzierung und die Aufnahmekapazität des Gehirns bei der Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielen, sondern auch die Reaktion auf das Erlebte. Nicht-statische, nicht-vorprogrammierte Reaktionen hängen wiederum von bestimmten Alternativ- Erfahrungen ab. Flexibles Handeln ist nur möglich, wenn die entsprechenden Situationen und Gegebenheiten ganzheitlich, d.h. auch vielschichtig wahrgenommen und erfasst werden. Neben den reinen Fakten müssen auch die unterschiedlichsten Stimmungen und Atmosphären erfasst und als Erfahrung gespeichert werden, damit weiterführendes, differenziertes und individuelles Reagieren auf die situativen Reize möglich wird.
Kreativität und Fantasie sind Fähigkeiten des Menschen, die sehr eng miteinander verbunden sind. Vorstellungen, die der Fantasie entspringen, kommen ohne differenzierte Wahrnehmungen nicht zustande. Sie sind Bilder von Erfahrungsinhalten, durch die auch unsere Erinnerung lebt. Die Kreativität ermöglicht, das bereits Wahrgenommene in unserer Fantasie so ab- und umzuwandeln, dass möglicherweise völlig neue Welten entstehen können. Selbst wenn diese Fantasiegebilde nicht mehr wirklichkeitsgetreu erscheinen, sind es dennoch auf jede nur erdenkliche Art miteinander vernetzte, kreative Collagen des real Erlebten.
Wie bedeutsam die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung für die innere Erlebniswelt des Menschen ist, zeigt in der Umkehrung das Vorliegen ausgeprägter Wahrnehmungsstörungen: Die Reduktion der Sinneseindrücke ist auch Auslöser für einen Mangel an Kreativität und Fantasie. Doch für die Entwicklung der individuellen Persönlichkeitszüge sind Fantasie und Kreativität gerade bei Kindern von großer Bedeutung. In der intimen Fantasiewelt des Kindes wird ohne das Gewicht und die Konsequenz der Realität das noch nicht vertraute Verhältnis zu sich selbst und der Umwelt erlebt. Somit ist das Ausleben und Durchleben der Fantasie eine grundlegende Entwicklungsstufe des Kindes, indem es seine Träume, seine Ideen, sein Gefühle und sein Wissen vereinigen kann, um unterschiedlichste Dinge auszuprobieren und zu durchdenken, damit es auf die
ihm real gestellten Anforderungen besser reagieren kann. Gelingt es den Kindern nicht mehr, die Gefühlseindrücke und Impulse mit Hilfe der Fantasie zu verarbeiten, führt dieser Umstand zu Erregungsstauungen, welche zur Quelle neurotischer Störungen oder unkontrollierbarer Aggressionen werden können. Durch eine bessere Wahrnehmung wird das Zusammenspiel von rationaler und emotionaler Hemisphäre gefördert und somit ein hohes Maß an psychischer Stabilität in der persönlichen Entwicklung des Menschen gesichert. (Vgl. Kapitel 2.1.2.1)
2.1.4 Singen als körperliche Energetisierungsstrategie
Bei Erschöpfung und Müdigkeit ist Singen als physische Energetisierungsstrategie für viele Menschen von hoher Bedeutung. Eine hierzu durchgeführte Untersuchung von Karl Adamek[13] hat ergeben, dass fast alle Befragten angaben, Singen habe für sie eine Kraft schöpfende Funktion. Nach dem Singen fühlen sich die Personen kräftiger und energiereicher. Diese Energetisierung wird zum Beispiel genutzt, um die Konzentrationsfähigkeit beim Autofahren wieder zu steigern, um Morgenmüdigkeit zu bekämpfen oder um sich vom Lernen zu erholen. Es gibt auch zahlreiche Aussagen zur Wirkung des Singens bei körperlichen Schmerzen. Die Spannweite der Angaben hierzu reichen von der Bewältigung plötzlicher Schmerzen, wie nach einem Unfall, bis zur Linderung chronischer Beschwerden. Selbst das Abklingen von Entzündungen wird als Effekt beschrieben. „ Diese Tatsachen sind ein weiterer Beleg, dass der Mensch durch Singen sein gesamtes psycho-physisches System nachhaltig beeinflussen kann.“[14]
Die Befunde der Arbeit Adameks unterstützen die Annahme, dass die Fähigkeit zu singen und diese als Bewältigungsstrategie einzusetzen eine fundamentale psycho-physische Funktion hat und zu Vorteilen für die körperliche Gesundheit führt. Aus den durchgeführten Leistungstests geht weiterhin hervor, dass der Mensch unter bestimmten Bedingungen seine physische Leistungsfähigkeit durch Singen temporär steigern kann.
„Singen wurde als wirkungsvolle emotionale Bewältigungsstrategie empirisch belegt. Nach Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie und der Copingforschung (Bewältigungsforschung, Anm. J. S.) wirkt sich die Fähigkeit zur Bewältigung von Emotionen positiv auf die Gesundheit aus.(...) In Übereinstimmung hiermit erwiesen sich „Gerne-Singer“ durchschnittlich als psychisch und physisch (...) gesünder.“[15]
Des weiteren ist anzunehmen, dass es nicht nur der emotionale Faktor ist, der sich auf die körperliche Gesundheit auswirkt. Beim Singen und Summen wird in der Regel wesentlich bewusster und tiefer geatmet als im Normal- beziehungsweise Ruhezustand. Und ganz besonders die Atmung hat vielfältige Auswirkungen auf den menschlichen Körper. (Vgl. auch Kapitel 2.1.1)
Nicht nur unser Gehirn wird durch das Atmen mit Sauerstoff versorgt, sondern auch alle anderen Organe und Muskeln. Sie werden durch den Sauerstoffgehalt im Blut genährt, den wir zum Teil über unsere Atmung beeinflussen können. Das bewusste und zielgerichtete Atmen bei der Geburt zum Beispiel hilft nicht nur die Schmerzen zu lindern, sondern dient auch zur Kraftschöpfung der Muskeln, welche für die Geburt des Kindes besonders beansprucht werden. Leichte Verspannungen im Rücken und Schulterbereich können durch inneres Dehnen entspannt werden. Die Luft ist in der Lage, die schmerzenden Stellen zu erreichen und zu stimulieren. Das Singen unterstützt diese Vorgänge größtenteils unbewusst.
Beim Singen um des Singens willen wird tief aber unverkrampft und entspannt reflexartig richtig geatmet und Menschen erfahren erstaunt, dass sie sich tatsächlich besser fühlen, wenn sie singen oder gesungen haben. Eine übersteigerte therapeutische Erwartungshaltung an das Singen kann den gewünschten positiven Effekt allerdings beeinträchtigen. Da die Atmung des Menschen eng von seinem emotionalen Zustand abhängt, ist ein verkrampftes, unentspanntes Verhalten kontraproduktiv.
2.2 Psychische Auswirkungen des Singens
2.2.1 Zur Bedeutung des Singens für den Menschen am Beispiel anderer Kulturen
Der Mensch scheint das Singen gezielt als Hilfe einsetzen zu können, um in bestimmten Situationen sein psychisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen und damit einhergehend körperliche Anregung oder im Gegenteil auch Entspannung zu erfahren. Durch das Singen scheinen veränderte Bewusstseinszustände erreicht werden zu können, welche auch als Tor zu spirituellen Erfahrungen nutzbar gemacht werden.
Singen hat in vielen Kulturen die Funktion, Arbeitsvorgänge zu erleichtern. Besonders im Orient und in Afrika ist es eine überlieferte Tradition, bei der Arbeit zu singen und sich so zu ermuntern. Die hohe körperliche Anstrengung scheint oft nur durch das stetig begleitenden Singen vollbracht werden zu können. Es ist erstaunlich, welche Kraft viele Frauen aus anderen, ärmeren Kulturkreisen aufbringen können, um den harten Anforderungen des täglichen Lebens gewachsen zu sein.
Die Beispiele des die Arbeit erleichternden Singens tauchen fast immer in agrarischen oder handwerklichen Zusammenhängen auf, im Alltag unserer Industriegesellschaft ist das Singen bei der Arbeit kaum noch anzutreffen.
Wie seelische Schmerzen, zum Beispiel die Trauer, mit Hilfe des Gesangs bewältigt werden, zeigt die Arbeit der „Klageweiber“. In Griechenland, Sizilien, Südfrankreich und der Türkei gibt es noch heute in manchen Regionen Frauen, die beim Tod eines Angehörigen hinzugezogen werden, um ihn laut zu beweinen. Oft werden auch die Trauernden mit in diese Gesänge einbezogen, damit sie Erleichterung erfahren können. Ebenso wird in vielen Autobiografien von Häftlingen in deutschen Konzentrationslagern erwähnt, dass das Singen - ob leise vor sich hin oder nur in Gedanken - auch für sie eine große Bedeutung hatte; ein Versuch, die sowohl seelisch als auch körperlich unerträgliche Situation zu ertragen.
Die Aborigines Australiens gehen davon aus, dass ihre Ahnen die Welt ins Dasein gesungen haben. Die Schöpfungsmythen berichten von totemistischen Wesen, die über den Kontinent wanderten und alles besangen, was ihren Weg kreuzte. So benannten sie Tiere, Pflanzen, Wasserlöcher und Felsen und sangen damit die Welt ins Dasein. Wo immer sie hingingen, hinterließen sie eine musikalische Spur. Jeder Ahne, glauben sie, habe so auf seiner Reise durch das Land eine Spur von Wörtern und Noten neben seinen Fußspuren ausgestreut. Auf diese Weise sind die Verkehrswege zwischen den Stämmen entstanden, die sich über das ganze Land hinziehen. Diese nennen die Aborigines Songlines oder Traumpfade.
Ihre Lieder hatten also die Funktion von Landkarten: Wer sie kannte, fand immer seinen Weg durch das Land. Ganz Australien konnte von ihnen wie eine Partitur gelesen werden. Jeder Stamm entlang einer Songline hatte seine eigene Strophe innerhalb des Liedes, das Ende der Strophe markierte die Grenze des Stammesgebietes. Die Aborigines erforschten und vergrößerten ihre Welt, indem sie Strophen des Liedes „Australien“ austauschten und sich so gegenseitig Wegerechte einräumten.[16]
Die Aborigines „ glauben nicht, dass die menschliche Stimme zum Sprechen geschaffen wurde. Man spricht mit dem Kopf. Wenn die Stimme zum Sprechen genutzt würde, gerieten die Unterhaltungen in der Regel eher nichtssagend, überflüssig, weniger inspiriert. Die Stimme ist zum Singen geschaffen, zur Lobpreisung der Göttlichen Einheit und zum Heilen. Sie erklärten mir, dass jeder Mensch über zahlreiche Talente verfüge, und jeder könne auch singen. Auch wenn ich selbst die Gabe nicht schätzte, weil ich mir einbildete, nicht singen zu können, würde dies nichts an der Größe des Sängers in mir ändern.“[17]
Die Autorin Marlo Morgan hat selbst die heilende Kräfte des Gesangs erfahren, als eine alte Frau ihre durch barfüßige Wanderung verletzten Füße mit Gesang wirkungsvoll behandelte. Und auch in unserer heutigen Zeit und Kultur wird darüber berichtet, dass zum Beispiel Hauterkrankungen wie Warzenbildungen oder ähnliches besprochen oder besungen werden. Viele Mediziner bestätigen die rational nicht erklärbare heilende Wirkung.
Singen galt in den schriftlosen Kulturen als Lebensvollzug und somit als unentbehrlich. „ Alles, was klingt, hat die stärkste Wirkung im Kampf der Menschheit gegen die feindlichen Kräfte, die Leben und Wohlfahrt bedrohen. Nichts kann besser die Kräfte des Glücks und des Wohlergehens herausfordern als Klang. Klang erregt unser Nervensystem in besonderer Weise, und da die Primitiven ihre eigenen Gefühle in die unsichtbaren Kräfte um sie herum hineinprojizieren, müssen auch sie sich dem geheimnisvollen Zauberspruch, der verzaubernden Wirkung von Timbre, Rhythmus und Ton unterwerfen.“[18] Diese Mächte des Gesangs sind ein Grund, weshalb das Singen in den verschiedensten Kulturen zur Tradition geworden ist. Ein weiterer Grund, warum es für die Menschheit so wichtig ist zu singen, ist die enge Verbindung des Gesangs mit der Religion. Im christlichen Kulturerbe werden Engel durchweg singend dargestellt, dem Teufel ist die dem Menschen durch Gott gegebene Gabe des Singens versagt. Im Ablauf der christlichen Messe ist der traditionelle Chorgesang fester Bestandteil. „ Im Singen kommen wir in Berührung mit den positiven Gefühlen wie Freude, Hoffnung, Sehnsucht und Liebe. Wir brauchen uns im Singen nicht in Gefühle der Freude und Liebe hineinzusteigern. Wenn wir uns einfach auf das Singen einlassen, dann bewirkt es etwas in uns, dann steigen Freude und Sehnsucht in uns auf. ...Durch Psalmensingen klingen in uns Saiten wieder, die sonst stumm bleiben. Es entstehen ein Bewegtsein des Gemütes, ein Ergriffensein von Freude und Liebe.“[19]
Im Hinduismus wird der Gesang als Träger der kosmischen Schöpferkraft angesehen. So ist das Singen leichter geistlicher Lieder, das so genannte Bahjan-Singen, ein essentieller Teil spiritueller Praxis und wird als heilsam für Körper, Geist und Seele empfunden. Aus demselben Grund legen viele Yogalehrer in der Übungspraxis einen Schwerpunkt auf das Singen.
Auch in der tibetischen Kultur ist das Wissen um die psychische Funktion des Singens bis heute lebendig. Besonders das mantrische Singen - die stetig gesungene Wiederholung kurzer spiritueller Sinnsprüche, Wörter oder Silben - wird im tibetischen Buddhismus als Teil geistiger Übungen verstanden. Man geht dabei davon aus, dass diese Art des Gesangs die Emotionen beruhigt und somit den Blick zur Erkenntnis der Wahrheit freigibt. Zudem, so nimmt man an, fördere diese Praxis die körperliche, seelische und geistige Gesundheit.
Nach der altchinesischen Weltsicht wurde das Singen von mystischen Wesen vermittelt. Es bezeugt die harmonische Einheit von Himmel, Erde und Mensch. Dieser Anschauungsweise folgend, ordnet der Gesang durch die Beeinflussung des gesellschaftlichen Systems und des Individuums die Welt.
In der Heilkunst des traditionellen China wird von der Wirkung bestimmter gesungener Töne auf die Organe ausgegangen und so dem Singen eine Heilkraft zugeschrieben. Von dieser Vorstellung ausgehend, entstand das traditionelle musiktherapeutische Konzept der „Sechs heiligen Laute“.[20]
2.2.1.1 Zur Regulation von Emotionen
Singen wird oft als Verhalten zum Zweck der Regulation von Emotionen betrachtet. Spätestens hier stellt sich die Frage, was der Begriff Emotion eigentlich beschreibt. In der psychologischen Praxis stößt der Bereich der Emotionen schon lange auf reges Interesse. Bis heute gibt es aber weder eine einheitliche Theorie noch allgemein akzeptierte Definitionen in diesem Bereich. Die Emotionstheorien legen ihren thematischen Schwerpunkt auf die Entstehung von Emotionen mit ihren kognitiven, expressiven und physiologischen Teilprozessen, haben sich aber kaum mit dem Thema der Bewältigung von Emotionen beschäftigt. Vor diesem Hintergrund schlagen Schelp und Kemmler vor, der Auffassung des „reziproken Determinismus“ zu folgen, wonach Verhalten, wahrgenommene Umweltbedingungen und psychische Prozesse einander wechselseitig bedingen.[21] Hier wird der theoretische Begriff Emotion für „(...) komplexe organisierte psychologische Zustände benutzt, die von neuronal-hormonalen Systemen vermittelt werden und die subjektives, affektives Erleben, kognitive Prozesse (gefühlsbetonte Gedanken), physiologisch-körperliche Reaktionsmuster und Verhaltensäußerungen einschließen.“[22]
Dieser Ansatz bestätigt seine Richtigkeit unter anderem durch die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen[23]: Wenn in emotionalen Belastungssituationen gesungen wurde, konnten die eigenen Emotionen positiv so beeinflusst werden, dass auch neue Verhaltensmuster angebahnt werden konnten.
2.2.1.2 Emotionale Zustände
Emotionale Zustände werden nach Affekten, Emotionen und Stimmungen differenziert. Emotionen informieren den Menschen über sein augenblickliches Verhältnis zu sich selbst und zu seiner Umwelt. Als Affekte werden heftige emotionale Zustände benannt, die mit kurzer Dauer aber hoher Intensität eine Person vollständig ergreifen können. Als Stimmungen werden emotionale Zustände verstanden, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, weniger intensiv sind und individuelles Erleben ermöglichen. Alle emotionalen Zustände werden mit Kognitionen verbunden und durch sie beeinflusst. Sie haben Auswirkungen auf das Verhalten einer Person.
Als Emotionen werden nach Scherer folgende Gefühlsregungen unterschieden: Vergnügen, Freude, Ekel, Abscheu, Traurigkeit, Verzweiflung, Angst, Furcht, Ärger, Wut, Langeweile und Scham bzw. Schuld.[24]
Diese Emotionen werden unmittelbar und evident erfahren, entziehen sich aber weitgehend der objektiven Betrachtung. Sie sind, anders als Verhaltensweisen, sehr private Ereignisse, bei denen es der Umwelt verborgen bleibt, wie sie erlebt werden. Beobachtbar sind zum Beispiel Gesichtsausdrücke oder andere Reaktionen auf Emotionen.
Emotionen können in der Regel nicht willkürlich herbeigeführt, kontrolliert und beendet werden. Sie sind Erlebnisweisen, denen sich der einzelne passiv ausgesetzt fühlt, wenn ihm Gefühle widerfahren, die er unter Umständen als belastend und unausweichlich erfährt.
2.2.1.3 Kognition
Unter dem theoretischen Begriff der Kognition werden nach Schelp und Kemmler „ konstruktive Prozesse eines aktiven, sich seine subjektive Welt schaffendenden Individuums [verstanden, Anm. des Verf.], die den Erwerb, die Organisation und den Gebrauch von Wissensinhalten umfassen.“[25] Durch die kognitiven Prozesse werden die bewussten und unbewussten Informationen über sich selbst und die Welt, also die Gesamtheit des Erlebens umgesetzt. Diese Informationen werden möglicherweise verringert, weiterverarbeitet, gespeichert, wieder hervorgeholt und schließlich benutzt. Im Gegensatz zu den Emotionen werden die Kognitionen als bewusst steuerbar und kontrollierbar angesehen. In ihrer Funktion als Handlungssteuerung beinhaltet die Kognition die intellektuelle, die Emotion die motivationale Steuerung. Die Planung und Kalkulation von Handlungen und Handlungszielen, sowie der Erwerb neuer Fähigkeiten werden der Kognition zugeschrieben. Routinierte Handlungsabläufe, Notfall- und Schutzreaktionen werden jedoch durch die Emotionen gesteuert.
2.2.1.4 Verhalten
Über die genauen Zusammenhänge von Emotion und Kognition bestehen in der wissenschaftlichen Diskussion Meinungsverschiedenheiten. Einigkeit herrscht jedoch in der Annahme, dass es eine wechselseitige Beeinflussung gibt, die sich im Verhalten niederschlägt. Verhalten ist „ der theoretische Begriff für jedes menschliche Tun, jedes Abweichen aus dem Ruhezustand. Verhalten wird als Oberbegriff sowohl für zielgerichtete, bewusste und reflektierbare Handlungen im Sinne der Handlungstheorie verwendet als auch für gelernte, gewohnheitsmäßig-automatische und nicht notwendigerweise bewusst ablaufende Verhaltensweisen im Sinne der behavioristischen Theorie.“[26]
Singen kann nach dieser Definition als ein Verhalten betrachtet werden. Es
steht außer Frage, dass Emotion und Kognition auch dieses Verhalten beeinflussen: Ich verspüre Lust zu singen (Emotion) und will nach dem Mittagessen damit beginnen (Kognition).
Dass aber das Verhalten selbst wiederum einen Einfluss auf Kognitionen und Emotionen haben kann, wird deutlich, wenn man die Ergebnisse betrachtet, die Karl Adameks Untersuchung in Bezug auf das Singen als emotionale Bewältigungsstrategie hervorbrachte.
2.2.2 Singen als Bewältigungsstrategie
Nicht bewältigte Emotionen können, wie es die Psychoneuroimmunologie belegt, die Gesundheit beeinträchtigen. In gleicher Weise werden Emotionen, wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten, die Wahrnehmung und die Wirklichkeit des einzelnen verändern bzw. verzerren und somit seine Lebensbewältigung erheblich erschweren. Aber Emotionen müssen ein Teil unseres Bewusstseinsinhalts sein. Ohne sie würden uns bestimmte Erkenntnisse fehlen. Ohne emotionale Qualifizierung, die motivational realitätsbezogene Einschätzungen und Handlungen steuert, wäre ein Großteil unserer Meinungen und unseres Wissens psychisch irrelevant. Hier wird deutlich, wie zentral es für die Lebensbewältigung ist, Strategien zu entwickeln, die eine emotionale Balance ermöglichen. Bewältigungsstrategien sind letztlich alle Anstrengungen, die unternommen werden, um mit Belastungssituationen umzugehen. Der kalkulierte Effekt eines Verhaltens hängt von den subjektiven Intentionen ab.
In der Coping- oder Bewältigungsforschung werden vier Regulationsziele unterschieden: die Regulation von Emotionen, die Lösung des zugrunde liegenden Problems, die Erhaltung des Selbstwertes und die Steuerung von sozialen Interaktionen.
Die Effizienz einer Bewältigungsstrategie wird nach drei Kriterien gemessen: Da ist zunächst das Kriterium des Inhalts. Es umfasst Aspekte wie psychisches Wohlbefinden, psychische und physische Gesundheit, aber auch den Aspekt des Sozialverhaltens, bei dem entscheidend ist, wie sozialverträglich bzw. sozialschädlich eine Bewältigungsstrategie ist. Auch soziale Abkapselung, aggressive Reaktionen oder der Konsum von Genussmitteln und Drogen sind Strategien zur Bewältigung von Emotionen. Das zweite Moment zur Messung der Effizienz ist das Kriterium der Zeitspanne. Es bezieht sich auf die Dauerhaftigkeit der Bewältigung. Ein drittes Kriterium, das der Urteilsinstanz, berücksichtigt, ob der Betroffene selbst oder ein außenstehender Beobachter die Bewältigung als effektiv beurteilt.
Wie wichtig es ist, Emotionen wirklich zu regulieren, sie also weder zu unterdrücken noch ungehemmt auszuleben, wird deutlich, wenn man einem interessanten Ergebnis der Copingforschung glaubt. Untersuchungen ergaben, dass es gleichermaßen zu gesundheitlichen Schäden führen kann, der Emotion Ärger freien Lauf zu lassen wie den Ärger herunterzuschlucken. Nur die Krankheitssymptome sind unterschiedlich.[27]
Für die Gesundheitsvorsorge scheint es also zweckmäßig zu sein, die Lebensbewältigung so einzurichten, dass Emotionen zum Beispiel bei der Konfrontation mit Ärgerreizen gezielt reguliert werden und dadurch subjektiv weniger Ärger empfunden wird.
Dem Singen wird als Bewältigungsstrategie eine wesentliche Bedeutung zugeschrieben, auch wenn sie nur selten bewusst, sondern viel eher als spontaner Selbstausdruck angewandt wird. Man singt oder summt vor sich hin, ohne es zu merken oder gar darüber zu reflektieren.
Die prägnantesten Ergebnisse der Befragung durch Adamek ergaben, dass über 80% der Befragten alleine für sich singen wenn sie besonders glücklich sind. Für 58,4% ist Singen ein Ausdruck von innerer Zufriedenheit und Ausgeglichenheit und immerhin 50% werden durch die Stimmung „Tatendrang“ zum Singen angeregt. Bei diesen Personen ist das Singen in Glückssituationen funktional für die Integration überschäumender Gefühle. Es zielt darauf ab, überschüssige Energie zu kanalisieren und zu integrieren. Dabei wird das Glücksgefühl zwar transformiert, aber nicht qualitativ verändert, wie es zum Beispiel erfahren wird, wenn man sich aus einer schlechten Laune in eine gute singt. Die Copingforschung besagt, dass dies zum größten Teil unbewusst geschieht.
Auch beim Auftreten physischer Erschöpfungszustände wird gesungen. Mehr als 45% der Befragten sind sich der Bewältigung solcher Situationen bewusst und sagten aus, dass sie beim Singen Energie auftanken können und sich dadurch eindeutig besser fühlten.[28]
Die Bewältigung von Emotionen durch das Singen geschieht also entweder durch eine Transformation überschüssiger Energie oder durch Freisetzung zusätzlicher Energie. Dieser Prozess kann sich auf unterschiedlichen Ebenen der Selbstwahrnehmung vollziehen. Er kann bewusst oder unbewusst ablaufen, wodurch seine Qualität verändert wird.
Bei der Betrachtung der Untersuchungsergebnisse muss beachtet werden, dass der hohe Anteil spontaner, unbewusster Reaktionen nicht dokumentiert wird, da nur die Personen selbst befragt wurden und Beobachtungen von Außenstehenden nicht mit einbezogen wurden.
[...]
[1] Vgl. Bastian, Musikerziehung und ihre Wirkung, 2000.
[2] Vgl. Derbolowsky, Atem ist Leben, 1996.
[3] Saatweber, Einführung in die Arbeitsweise Schlaffhorst - Andersen, Idstein 1994, S.15.
[4] Alavi Kia, Stimme-Spiegel meines Selbst, 1994, S. 57.
[5] Vgl. Hirler, Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik, 1999, S. 9.
[6] Vgl. Hirler, Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik, 1999, S. 13.
[7] Hirler, Sabine: Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik,1999, S. 42.
[8] Hirler, Sabine: Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik,1999, S. 42f.
[9] Hirler, Sabine Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik,1999, S. 43.
[10] Anmerkung: Begriffe wie dieser werden hier geschlechtsneutral genutzt.
[11] Vgl. Revers; Rauhe, Musik, Intelligenz, Phantasie. 1978, S. 14.
[12] Revers; Rauhe, Musik, Intelligenz, Phantasie. 1978, S. 13.
[13] Vgl. Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996.
[14] Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996, S. 79.
[15] Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996, S. 202.
[16] Vgl. Chatwin,: Traumpfade, 1990.
[17] Morgan, Traumfänger, 1995, S. 95.
[18] Sachs, The Wellsprings of Music, 1962, S83.
[19] Grün, Chorgebet und Kontemplation, 1989, S. 48f.
[20] Vgl. Höting, Die sechs heiligen Laute, 1988.
[21] Vgl. Schelp; Kemmler, Emotion und Psychotherapie, 1988.
[22] Schelp; Kemmler: Emotion und Psychotherapie,1988. S.25.
[23] Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996.
[24] Vgl. Scherer, Psychologie der Emotionen, 1990.
[25] Schelp; Kemmler, Emotion und Psychotherapie, 1988. S.26.
[26] Schelp; Kemmler, Emotion und Psychotherapie, 1988. S.26.
[27] Vgl. Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996, S. 56.
[28] Vgl. Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996, S. 77.
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