Kein Thema ist in der Schulpolitik so umstritten wie das der Inklusion. Die Politik fordert mehr Inklusion. Die Lehrerverbände fordern hingegen mehr Zeit, da sich die Lehrkräfte der Aufgabe nicht gewachsen fühlen. Denn bisher gibt es keinerlei Anleitungen zum inklusiven Unterricht und didaktische Lehrbücher sprechen meist nur allgemeine Aspekte im Umgang mit Behinderungen an.
Wie kann die schulische Inklusion möglichst entlastend und gewinnbringend für alle Beteiligten funktionieren? Isabel Kern stellt in ihrer Publikation geeignete Unterrichtsmethoden, Hilfsmittel und Lernstrategien für den inklusiven Fremdsprachenunterricht mit sehbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern vor. Die Autorin ist selbst blind und hinterfragt kritisch das derzeitige Schulsystem.
Kern stellt internationale Inklusionsansätze vor und erklärt, inwieweit diese als Vorbilder für Deutschland gelten. Daneben stellt sie spezielle Sensibilisierungsmethoden für sehende Lernerinnen und Lerner vor, die die Kooperation der Schülerinnen und Schüler im inklusiven Unterricht fördern.
Aus dem Inhalt:
- Sonderpädagogik;
- Didaktik;
- Spracherwerb;
- Bildungspolitik;
- UN-Behindertenrechtskonvention
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund und Definitionen
2.1 Definitionen
2.2 Theoretischer Hintergrund
3 Spracherwerb bei sehbeeinträchtigten Kindern
3.1 Erstspracherwerb
3.2 Fremdspracherwerb
4 Die verbesserten Fähigkeiten der Blinden und deren Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht
5 Inklusiver Fremdsprachenunterricht mit sehbehinderten und blinden Lernenden
5.1 Methoden zur Sensibilisierung der sehenden Lernenden
5.2 Erstellung und Nutzung von Arbeitsmitteln
5.3 Methoden für den inklusiven Fremdsprachenunterricht
6 Reflektion
7 Fazit
Bibliographie
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Internetquellen
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die durch ihre fachliche und persönliche Unterstützung jeglicher Art zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben.
Besonderer Dank geht an Dr. Annette Marek, die sich für die Betreuung dieser Arbeit zur Verfügung gestellt hat und mir bei der Gliederung meiner Arbeit und der Literaturrecherche sowie mit vielen guten Anregungen zur Seite stand.
Kristin Tschernig danke ich herzlichst für die Bereitschaft, die Aufgaben der Zweitprüferin zu übernehmen und mich ebenfalls bei meiner Arbeit zu unterstützen.
Prof. Dr. Sven Degenhardt (Universität Hamburg) danke ich für seine Anregungen bezüglich des spezifischen Curriculums für blinde und sehbehinderte Menschen und des Hinweises auf die Unzugänglichkeit von Sprachlehrbüchern für blinde und sehbehinderte Lernende.
Meiner Freundin Ann-Kathrin Hesse danke ich ganz besonders dafür, dass sie mich beim Korrekturlesen meiner Arbeit so gut und gewissenhaft unterstützt hat und mir viele hilfreiche und konstruktive Tipps und Verbesserungsvorschläge gab. Meiner Schwester Annemarie Arnold, Holger Baars sowie Saji Chavarattil danke ich ebenfalls dafür, dass sie mich tatkräftig beim Korrekturlesen unterstützt haben.
Angelika Luckert (Blindenassistenz der Universität Hannover) danke ich ganz besonders dafür, dass sie mir alle benötigten Quellen in kürzester Zeit eingescannt und/oder barrierefrei aufbereitet hat. Während der sechs Jahre meines Studiums begleitete sie mich bei Gängen zum Prüfungsamt und unterstützte mich in vielerlei Hinsicht. Ich bedauere sehr, dass ich nach Abschluss meines Studiums nicht mehr auf deine Unterstützung zurückgreifen kann, hoffe aber, dass du der Uni noch sehr lange erhalten bleiben wirst!
1 Einleitung
Der Wandel in der Bildungspolitik schreitet voran: In der Schule erhält die Inklusion1 eine völlig neue Schwerpunktsetzung, sodass dieses Thema für alle Akteure, insbesondere für die Betroffenen selbst, eine maßgebliche Rolle spielt. Seit sich Deutschland am 20. März 2007 der UN-Behindertenrechtskonvention angeschlossen hat, besteht für Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem Förderbedarf nun die Möglichkeit zwischen einer Beschulung in einer Förderschule und der inklusiven Beschulung an Regelschulen zu wählen (vgl. Asmussen 2018: 51). Das Ziel der Konvention ist es, „von vornherein allen Menschen die uneingeschränkte Teilnahme2 an allen Aktivitäten möglich zu machen“ (Praetor Intermedia uG: Inklusion). Somit sollen behinderte3 Kinder gemeinsam und gleichberechtigt mit nicht behinderten Kindern in einem „einbeziehenden (inklusiven), hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht“ (Praetor Intermedia uG: Bildung) beschult werden.
Für viele Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf ist dies ein großer Meilenstein. Sehbehinderte und blinde4 Schülerinnen und Schüler konnten beispielsweise bisher nur an zwei Fördergymnasien in ganz Deutschland (in Brandenburg und Hessen) ihr Abitur leisten. Eine inklusive Beschulung eröffnet den seheingeschränkten Schülerinnen und Schülern somit die Möglichkeit, ihren Schulabschluss in ihrem gewohnten Umfeld zu erzielen, sofern die Rahmenbedingungen stimmen.
Dass das Abitur für blinde Schülerinnen und Schüler an einer Regelschule jedoch nicht leicht ist, zeigt ein Zeitschriftenartikel der Schulverwaltung Niedersachsen (2011), in dem beschrieben ist, wie erstmals ein blinder Schüler am Zentralabitur in Niedersachsen teilnahm (157). Die Vermutung liegt daher nahe, dass ein Großteil der blinden Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe das Regelgymnasium5 verlässt und zur Förderschule überwechselt, um dort am Abitur teilnehmen zu können. Das liegt vor allem daran, dass die Lehrkräfte an Regelschulen nicht für die Bedürfnisse der sehgeschädigten Schülerinnen und Schüler ausgebildet sind und eine volle Teilhabe für die betroffenen Jugendlichen derzeit noch nicht möglich ist. Dieses Problem bezieht sich allerdings nicht nur auf den inklusiven Unterricht mit Sehbehinderten und Blinden, sondern ist ein generelles Problem, wie Melanie Pospischil (2018) in ihrem Aufsatz Der Index of Inclusion – ein international anerkanntes Instrument auf dem Weg zur Inklusion ausführt: „Neben den zahlreichen Diskussionen, Forderungen und Ansprüchen an die Inklusion fehlen konkrete Anleitungen für die Praxis, wie Inklusion im Alltag, in der Schule oder auch im außerschulischen Bereich umgesetzt werden kann. Aus welchen Gründen auch immer für eine inklusiv gestaltete Schule plädiert wird, es stellt sich somit die Frage nach dem Wie “ (34). Das fehlende sonderpädagogische Fachwissen stellt dabei eine hohe Belastung für die betroffenen Schülerinnen und Schüler dar, die „überfordert sein und im schlimmsten Fall psychisch erkranken und sozial ausgegrenzt werden [könnten]“ (Rodney 2016: 9).
Dass sich die Lehrkräfte und Schulen mit der Inklusionsaufgabe derzeit noch stark überfordert fühlen, zeigt auch eine vom Verwaltungsgericht abgewiesene Klage einer Bremer Schulleiterin gegen die Einführung einer Inklusionsklasse mit wahlweise fünf geistig oder körperlich behinderten und 19 nicht behinderten Schülerinnen und Schülern (vgl. Freie Hansestadt Bremen 2018; Spiegel Online 2018b). Zuvor hatte bereits der Deutsche Lehrerverband (DL) ein Moratorium der schulischen Inklusion gefordert und wurde dabei von der Gewerkschaft Wissenschaft und Erziehung (GEW ) mit der Begründung, dass es an finanziellen Mitteln und der Vorbereitung der Schulen auf die Inklusion fehle (vgl. Zeit Online 2018), unterstützt. Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern und Berlin lehnten die Forderung des Deutschen Lehrerverbands jedoch entschieden ab und in Schleswig-Holstein wird die inklusive Beschulung bereits seit den 1990er Jahren praktiziert und weiterhin gefördert (vgl. Spiegel Online 2018a).
Wie die Forderungen der GEW, des Deutschen Lehrerverbands und die Klage der Bremer Schulleiterin zeigen, fehlt es jedoch an Anleitungen, um eine fachlich fundierte Inklusion der Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten. Dieser Auffassung ist auch Pospischil (2018), die in ihrem Artikel aufzeigt, dass es „neben der Verinnerlichung der inklusiven Idee und einer positiven Haltung vor allem auch eines hohen Maßes an Kompetenz und Professionalisierung [bedarf], um Inklusion nachhaltig alltäglich werden zu lassen und einer halbherzigen Umsetzung entgegen zu wirken“ (33 f.). Zwar häufen sich die Fachbücher über inklusive Didaktik auf dem Büchermarkt derzeit geradezu, allerdings „erschließt sich aus den Titeln der Veröffentlichungen nur in seltenen Fällen, um wessen inklusive Erziehung es geht“ (Leonhardt 2018: 30). Ein großer Teil bezieht sich dabei auf den Förderschwerpunkt Lernen und emotionale Entwicklung (vgl. ebd.) und Schülerinnen und Schüler mit Sinnesbeeinträchtigungen finden in der Fachliteratur kaum Beachtung, obwohl die inklusive Beschulung mit beispielsweise sehbehinderten und blinden Schülerinnen und Schülern sehr komplex ist. Grund für die wenige Fachliteratur zum inklusiven Unterricht mit Sehbehinderten und Blinden ist vermutlich die vergleichsweise geringe Zahl sehbehinderter und blinder Schülerinnen und Schüler im Gegensatz zu Schülerinnen und Schülern mit anderen Förderschwerpunkten.
2014 lag die Zahl der sehbehinderten und blinden Lernenden mit sehbehindertentechnischer Förderung in Deutschland bei 7.949, wobei Schülerinnen und Schüler mit weiteren Beeinträchtigungen nicht erfasst wurden (vgl. Lang/Thiele 2017: 10 f.). Im Vergleich dazu, gab es in Deutschland im Schuljahr 2015/16 8.004 Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Sehen und in etwa 190.376 Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen (vgl. Leonhardt 2018: 21). Dabei stieg die Prozentzahl inkludierter Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Sehen von 24,7% im Schuljahr 2007/08 auf 42,5% im Schuljahr 2015/16 rapide an (vgl. Leonhardt 2018: 20 f.). Aus diesen Zahlen lässt sich ableiten, dass die Zahl der sehbehinderten und blinden Kinder und Jugendlichen an Regelschulen im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention weiterhin steigen wird und die Lehrkräfte der Regelschulen somit mit einer Beeinträchtigung der Schülerinnen und Schüler konfrontiert werden, die im Vergleich zu anderen Beeinträchtigungen von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf in Regelschulen nur sehr selten vertreten ist. Die Herausforderung ist dadurch umso größer, zumal die Regelschule bzw. -pädagogik „in zentraler Weise auf die Möglichkeit visueller Wahrnehmung ausgerichtet [ist]“ (Lang/Thiele 2017: 41), was sich auch an den nicht barrierefreien6, höchst visuell ausgerichteten Lehrbüchern (speziell im Fremdsprachenunterricht) beobachten lässt.
Die wenige Fachliteratur zum Förderschwerpunkt Sehen spiegelt sich auch in der Bibliographie dieser Arbeit wider. Für die Erstellung dieser Arbeit standen lediglich sechs Bücher, Zeitschriften und Broschüren zur Sonderpädagogik und Didaktik des Unterrichts mit Sehbehinderten und Blinden zur Verfügung, wobei sich dabei kein Titel explizit auf den Fremdsprachenunterricht mit Sehbehinderten und Blinden bezieht, sondern nur auf die allgemeine Didaktik bzw. Sonderpädagogik.
Mit den zunehmenden Flüchtlingszahlen in Deutschland – darunter auch blinde Flüchtlinge – wird die Didaktik des inklusiven Fremd- und Zweitsprachenunterrichts jedoch zusätzlich immer wichtiger, zumal es lediglich vier Sprachschulen in ganz Deutschland (in Hannover, Hamburg, Chemnitz und Stuttgart)) für blinde Flüchtlinge gibt (vgl. Korinth 2018). Die Zahl der blinden und sehbehinderten Kinder und Jugendlichen an Regelschulen wird sich also höchstwahrscheinlich in den nächsten Jahren noch zusätzlich erhöhen, was eine entsprechende sonderpädagogische Fachdidaktik unabdingbar macht.
Hinzu kommt, dass sehbehinderte und blinde Schülerinnen und Schüler im inklusiven Fremdsprachenunterricht durch das Fehlen bzw. die Einschränkung der visuellen Wahrnehmung mit einigen Defiziten im Bereich des Spracherwerbs, des Leseverstehens, beim Schreiben und bei der Grammatikvermittlung konfrontiert sein können, die innerhalb des inklusiven Unterrichts ausgeglichen werden müssen. Durch das Fehlen der visuellen Wahrnehmung entwickeln Blinde jedoch auch oft eine sogenannte „Hyperkompensation“ (Röder/Rösler 2004: 255), d.h. sie verbessern bestimmte Fähigkeiten wie das Gedächtnis, die Sprachverarbeitungsgeschwindigkeit, den Tastsinn etc. über das herkömmliche Maß Sehender hinaus. Diese hyperkompensierten Fähigkeiten können im inklusiven Unterricht mit einbezogen werden und eine gleichberechtigte Teilhabe am Unterricht fördern.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, Unterrichtsmethoden bzw. -konzepte für den inklusiven Unterricht mit sehbehinderten und blinden Schülerinnen und Schülern zu entwerfen oder bereits aus der Fachdidaktik bekannte Unterrichtskonzepte, die in ihrer Grundform für den inklusiven Unterricht geeignet sind, zu analysieren und für sehbeeinträchtigte Schülerinnen und Schüler zugänglich zu machen, um einen inklusiven Fremdsprachenunterricht zu gewährleisten, der die die Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf nicht separiert und für die gesamte Klasse gewinnbringend ist. Demnach sollen die Unterrichtsmethoden und -materialien für sehende und nicht sehende möglichst gleich sein. Dies beugt einer eventuellen Ausgrenzung der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf vor, stärkt ihr Selbstbewusstsein und erleichtert dabei die Unterrichtsgestaltung für die Lehrkräfte, da sie bestenfalls keine individuellen Anpassungen ihres Unterrichts für die blinden und sehbehinderten Kinder und Jugendlichen mehr vornehmen müssen. Außerdem hinterfragt diese Arbeit das derzeitige Schulsystem und dessen Eignung für den inklusiven Unterricht im Allgemeinen, und sucht dabei nach Lösungswegen, die die schulische Inklusion möglichst entlastend und gewinnbringend zugleich für alle Beteiligten ermöglichen.
Um diese Ziele erreichen zu können, orientiert sich diese Arbeit an den unterschiedlichen Kompetenzbereichen im Niedersächsischen Kerncurriculum für das Fach Englisch der Sekundarstufe I, an den curricularen Vorgaben für das Fach Deutsch als Zweitsprache des niedersächsischen Kultusministeriums sowie am spezifischen Curriculum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung: für die Handlungsfelder Schule, Übergang von der Schule in den Beruf und berufliche Rehabilitation. Die verschiedenen curricularen Vorgaben und Empfehlungen ergeben, zusammen mit diversen neurolinguistischen Studien zum Spracherwerb von Sehbehinderten und Blinden sowie Empfehlungen aus der Sonderpädagogik, die Grundlage für die Entwicklung der Unterrichtsmethoden für den inklusiven Fremdsprachenunterricht mit Sehbehinderten und Blinden in dieser Arbeit und werden durch die Diskussion verschiedener internationaler Inklusionsansätze sowie durch eigene Überlegungen zu einer Reform des Schulsystems ergänzt.
Die Arbeit ist folgendermaßen strukturiert: Im ersten Teil von Kapitel 2 werden für diese Arbeit wichtige grundlegende Termini definiert und voneinander abgegrenzt. Daran anschließend werden Im zweiten Teil des Kapitels verschiedene internationale Inklusionsansätze vorgestellt und diskutiert, die für die inklusive Bildung in Deutschland relevant sind. Es folgt ein kurzer Überblick über sehbehinderten- bzw. blindenspezifische Hilfsmittel, die im Unterricht mit sehbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern häufig eingesetzt werden. Ebenso werden relevante Aspekte der Blindenschrift vorgestellt, die die Teilhabe von Blinden im Fachunterricht sowohl positiv als auch negativ beeinflussen können. Insgesamt dient Kapitel 2 dazu, Lehrkräften einen Einblick in die wichtigsten blinden- und sehbehindertenspezifischen Aspekte des schulischen Alltags zu geben, um eventuell aufkommende Schwierigkeiten antizipieren und Lösungswege entwerfen zu können.
In Kapitel 3 werden Besonderheiten im Spracherwerb sehbehinderter und blinder Kinder beschrieben, die sich vom Spracherwerb sehender Kinder unterscheiden und auch im Fremd- bzw. Zweitspracherwerb auftreten können. Komplementär behandelt Kapitel 4 die kompensatorische Plastizität, und damit die veränderten Hirnstrukturen Blinder, und gibt dabei Aufschluss darüber, wie dadurch eine Hyperkompensation, also eine Verbesserung der übrigen Sinne über das normale Maß hinaus, bewirkt wird. Der Schwerpunkt wird dabei auf Fähigkeiten gesetzt, die den inklusiven Fremdsprachenunterricht positiv beeinflussen können.
In Kapitel 5, dem Hauptteil dieser Arbeit, werden, ausgehend von den vorangegangenen Kapiteln, Methoden für den inklusiven Fremdsprachenunterricht entwickelt, die sich an den verschiedenen Kompetenzbereichen und Empfehlungen der verschiedenen Curricula orientierten. Dazu werden zunächst Sensibilisierungsmethoden für sehende Lernerinnen und Lerner vorgestellt, die die Kooperation der Schülerinnen und Schüler im inklusiven Unterricht fördern sollen. Anschließend wird auf einige Aspekte für die Erstellung und Nutzung barrierefreier Unterrichtsmaterialien eingegangen, was zusammen mit dem Kapitel zur Sensibilisierung der sehenden Lerngruppe und den vorangegangenen Überlegungen zum inklusiven Unterricht, die Grundlage für die einzelnen Kapitel zur Schulung der verschiedenen Kompetenzen des Fremdsprachenunterrichts bildet.
In Kapitel 6 werden die Ergebnisse der Arbeit durch meine eigenen Erfahrungen als ehemals sehbehinderte bzw. später blinde Schülerin, die sowohl inklusiv als auch an einer Förderschule unterrichtet wurde und nun Lehramtsstudentin ist und an einer Sprachschule für blinde Flüchtlinge arbeitet, reflektiert. Dabei wird auch auf die universitäre Lehre als möglicher Wegweiser für die schulische Inklusion sehbeeinträchtigter Schülerinnen und Schüler eingegangen. Abschließend werden in Kapitel 7 die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und die nötigen Bedingungen für eine erfolgreiche schulische Inklusion dargestellt.
2 Theoretischer Hintergrund und Definitionen
In diesem Kapitel werden die wichtigsten Definitionen und theoretischen Hintergründe für den inklusiven Unterricht mit Sehbehinderten und Blinden dargestellt. Diese dienen als Grundlagen und Anregungen für die Planung von Unterrichtsstunden inklusiven Unterrichts und antizipieren eventuell aufkommende Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf und erläutern, wie diese Schwierigkeiten abgemildert werden können.
2.1 Definitionen
2.1.1 Sehbehindert und blind
Für die Begriffe sehbehindert und blind gibt es klare Definitionen, die sich nach dem Visus, der „Sehschärfe“ oder dem Gesichtsfeldausfall der betroffenen Person bei bester Korrektur (also mit Brille oder Kontaktlinsen) richten. Dabei zählen stets der Visus und das Gesichtsfeld des besseren Auges. Eine 100%ige Sehkraft besteht bei einem Visus von 1,0.
Sehbehindert ist nach Angaben der Deutschen ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) (2011), wer einen Visus von weniger als 1/3 bis ausschließlich 1/20 auf dem besseren Auge hat; hochgradig sehbehindert ist, wer weniger als 1/20 bis ausschließlich 1/60 Sehkraft hat, und blind im Sinne des Gesetzes ist, wer bis zu 1/50, also 2% Sehkraft auf dem besseren Auge hat oder durch ein stark eingeschränktes Gesichtsfeld7 gleichermaßen beeinträchtigt ist (vgl. Lang/Thiele 2017: 9). Das bedeutet, dass eine Person, die blind im Sinne des Gesetzes ist, eine Zahl, die eine gesunde Person aus 50 m Entfernung lesen kann, lediglich aus einer Entfernung von höchstens einem Meter lesen kann.
Ist das Gesichtsfeld stark eingeschränkt, können beispielsweise nur noch Dinge wahrgenommen werden, auf die der Blick direkt gerichtet ist. Dies kann z.B. das Lesen und Schreiben durch einen fehlenden Überblick oder das Verlieren der Zeilen, aber auch das Laufen durch Übersehen von Hindernissen, stark beeinträchtigen.
Eine Sehbeeinträchtigung (dieser Begriff schließt die Begriffe Sehbehinderung und Blindheit ein) kann sowohl angeboren sein, als auch erst später durch eine Krankheit oder einen Unfall erworben werden. Zu beachten ist, dass eine Sehbehinderung sich stets individuell äußert. Auch wenn zwei Personen über denselben Visus verfügen, bedeutet dies nicht, dass beide ihre Umwelt auf die gleiche Weise wahrnehmen. Zusätzlich zu der verminderten Sehleistung können noch andere Einschränkungen, wie z.B. Farbblindheit, extreme Lichtempfindlichkeit, Nachtblindheit u.v.m. auftreten, sodass eine Sehbeeinträchtigung stets individuell zu betrachten ist und die individuellen Einschränkungen im Alltag berücksichtigt werden sollten.
2.1.2 Zweit- und Fremdsprachenunterricht
Die Termini Zweitsprache und Fremdsprache unterscheiden sich hauptsächlich in der Form, in der die Zielsprache (L2) erworben wird. Während die Fremdsprache „außerhalb des zielsprachigen Raums“ (Riemer 2010: 276) beispielsweise an weiterführenden deutschen Schulen von der Lehrperson gesteuert erlernt wird, wird die Zweitsprache zumeist ungesteuert, d.h. „durch Kontakt mit der L2 in Begegnungssituationen“ (ebd.) im zielsprachigen Land erlernt. Dennoch kann der Zweitspracherwerb nicht eindeutig vom Fremdspracherwerb abgegrenzt werden, da die Zweitsprache beispielsweise oft durch Integrationskurse gefördert wird, die dem Fremdsprachenunterricht gleichkommen. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit sowohl der Fremdsprachenunterricht, als auch der Zweitsprachenunterricht gleichermaßen angesprochen und in ihrem Unterrichtskonzept überwiegend als identisch verstanden.
2.1.3 Inklusion und Integration
Generell versteht man unter Integration bzw. Inklusion die gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Förderbedarf. Wie diese gemeinsame Beschulung genau aussieht, wird sehr unterschiedlich aufgefasst, weshalb die Begriffe Inklusion und Integration nicht klar voneinander abgegrenzt bzw. definiert werden können. Teilweise werden sie synonym für dieselben Konzepte verwendet. In anderen Ländern werden die beiden Begriffe wiederum unterschiedlich aufgefasst (vgl. Leonhardt 2018: 30). „So wird in Frankreich die Sonderklasse in der allgemeinen Schule überwiegend als Integration und Inklusion verstanden, Portugal versteht unter Inklusion die Einbeziehung aller Kinder in die allgemeine Schule [und] Norwegen hat Projekte entwickelt, die das gesamte Umfeld mit in die Verantwortung nehmen, um sich zu einer inkludierenden Schule zu entwickeln" (Hausotter 2008: 79).
Die Begriffe Inklusion und Integration werden also, je nach Land, für zum Teil gleiche Konzepte verwendet. Während der Begriff Integration in Deutschland bereits seit einigen Jahren verwendet wird, wurde der Begriff Inklusion erst vor nicht allzu langer Zeit eingeführt. Reiser (2003) kritisiert jedoch, dass der neue Begriff „keine theoretische Vertiefung oder Erweiterung mit sich“ bringe (305), und erachtet es als „fragwürdig, die Begriffe Integration und Inklusion als Leitbegriffe unterscheidbarer Konzepte gegeneinander zu setzen" (308). In Deutschland wird Inklusion oft als eine „konsequent umgesetzte Integration“ (Ahrbeck 2018: 57) verstanden.
In dieser Arbeit wird der Begriff Inklusion ebenfalls so verstanden. Das heißt, dass Inklusion hier als ein Konzept begriffen wird, das sich durch einen durchgängig gemeinsamen und gleichen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit und ohne Förderbedarf auszeichnet. Integration wird hier hingegen als Unterricht verstanden, in dem Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf an Regelschulen dauerhaft oder zeitweilig vom Regelunterricht getrennt unterrichtet werden oder abweichende Aufgabenstellungen bzw. Methoden mit einem individuellen Unterrichtsziel erhalten.
2.2 Theoretischer Hintergrund
In diesem Abschnitt werden für den inklusiven Unterricht relevante Aspekte der derzeitigen internationalen Inklusionspolitik erörtert und ein Überblick über die aktuell im Unterricht verwendbaren Hilfsmittel geliefert. Zusätzlich werden, nach einer kurzen Darstellung der Blindenschrift, positive und negative Eigenschaften dieser erläutert.
2.2.1 Internationale Inklusionsansätze
Vergleicht man die Statistiken zum Anteil der segregierten (in Förderschulen untergebrachten), integrierten und inkludierten Schülerinnen und Schüler in Europa, fällt schnell auf, dass Deutschland mit einem Anteil von 78,7 % segregierter Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf im Jahr 2012 nach Belgien – und im Gegensatz zu Zypern mit einem Anteil von nur 5 % segregierter Schülerinnen und Schüler – den höchsten Anteil segregiert beschulter Schülerinnen und Schüler aufwies (vgl. Leonhardt 2018: 15) und somit noch einiges tun muss, um den Inklusionsgedanken verwirklichen zu können. Zu dieser Einschätzung kam auch Bernd Ahrbeck (2018) und erläuterte: „Deutschland verfehlte die Ziele der Inklusion. Auch deshalb, weil Kinder mit Behinderung nur auf einem qualitativ niedrigen Niveau gefördert wurden“ (57). Dabei wurde bereits festgestellt, dass „die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an Regelschulen unterrichtet wurden, signifikant höhere Kompetenzen im Lesen, Zuhören und in der Mathematik aufwiesen als die SchülerInnen, die an Förderschulen unterrichtet wurden“ (Arnade 2018: 77).
Die verschiedenen europäischen Integrations- und Inklusionsansätze sind in ihrem Kern einander sehr ähnlich. Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf werden z.B. an der Regelschule in speziellen Klassen, die ausschließlich aus Förderschülerinnen und -schülern bestehen, unterrichtet, zeitweise in den Regelunterricht eingebunden oder werden im besten Fall vollständig inklusiv mit den entsprechend notwendigen Rahmenbedingungen beschult. Wirklich bewährt hat sich die Inklusion, mit Blick auf die Zahlen der in den einzelnen europäischen Ländern segregierten und inkludierten Schülerinnen und Schüler, bisher nicht. Grund zur Hoffnung geben jedoch die USA, die bereits „seit Jahrzehnten“ (Felder 2018: 189) Inklusion umsetzen und diskutieren und „die Bildungsrechte behinderter Kinder […] durch vielfältige rechtliche Grundlagen abgesichert [haben]“ (ebd.).
Trotz einer bereits über 40 Jahre durchgeführten Inklusion, ist jedoch auch in den USA bisher keine vollständige Inklusion zu verwirklichen gewesen und 61,8 % der Kinder und Jugendlichen nehmen in etwa zu 80% der Zeit am Regelunterricht teil (vgl. Felder 2018: 191). Im Vergleich zu europäischen Studien ist dies jedoch bereits ein gutes Ergebnis, dass die USA nicht zuletzt durch bestimmte Fortbildungsprogramme der Lehrerinnen und Lehrer und mithilfe spezieller Konzepte realisieren konnten.
Um qualitativ hochwertigen inklusiven Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf zu gewährleisten, müssen die Lehrkräfte alle fünf Jahre eine Weiterbildung machen, um weiterhin unterrichten zu dürfen (vgl. Felder 2018: 195). Zusätzlich wurde ein stufenförmiges Konzept entwickelt, das aufkommende Probleme von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Förderbedarf verhindern bzw. frühzeitig lösen soll, indem die Schülerinnen und Schüler „in immer kleineren Gruppen und mit höherer Intensität gefördert werden“ (ebd.). Das soll verhindern, „dass Kinder überhaupt Probleme entwickeln, die dann nur über sonderpädagogische Intervention gelöst werden können“ (Felder 2018: 194). Hinzu kommt, dass alle Kinder – mit und ohne Förderbedarf – an staatlich finanzierten Schulen „am allgemeinbildenden Curriculum des jeweiligen Bundesstaates teilnehmen müssen“ (Felder 2018: 195 f.). Dabei müssen die Schulen auch Fortschritte nachweisen können, was zu mehr Bildungsqualität führt (vgl. ebd.). Zwar wird der Aspekt, dass Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf am regulären Curriculum teilnehmen müssen auch kritisch betrachtet, andererseits werden so verbindliche Bildungsstandards für alle Kinder und Jugendlichen gewährleistet.
Die rechtlichen Regelungen der USA für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf sowie die Qualitätssicherung durch spezielle Unterrichtskonzepte und Weiterbildungen sollten auch in Deutschland Beachtung finden, um einen qualitativ hochwertigen Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten.
Die Unterrichtsqualität allein reicht jedoch nicht aus, damit schulische Inklusion erfolgreich umgesetzt werden kann. „Damit Inklusion erfolgreich sein kann, ist es essenziell, die spezifischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu betrachten“ (Rodney 2016: 9). Wichtig ist auch die gesellschaftliche Haltung und Einstellung zu Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen (vgl. Troltenier 2016: 4; Rodney 2016: 9), die wie schon in der Einleitung angedeutet wurde, in Deutschland mit Vorurteilen und Berührungsängsten belastet zu sein scheint. Solche Vorurteile und Berührungsängste seitens der Lehrkräfte verhindern eine ausreichende Motivation und Bereitschaft, Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf voll in den Unterricht mit einzubeziehen und den Unterricht so umzugestalten, dass eine vollständige Teilhabe für alle Kinder und Jugendliche gleichermaßen möglich ist. In einem Beitrag zur Inklusion sehgeschädigter Schülerinnen und Schüler führt Dieter Hudelmayer (2009) aus:
Der einzelne Regellehrer muß bereit sein, den sehgeschädigten Schüler in seine Verantwortung voll einzubeziehen und ihn nicht als einen von außen aufoktroyierten Mitläufer zu betrachten; d.h. er müßte […] Modifikationen in seinem Unterrichtsverhalten vornehmen und seinen Unterricht genauer vorausplanen; er muß auf diese Tätigkeit vorbereitet, über die potentiellen Probleme des sehgeschädigten Schülers informiert sein und schließlich gut mit dem unterstützenden Sehgeschädigtenlehrer zusammenarbeiten. (191).
Und nicht nur die Einstellung und Haltung der Lehrkräfte ist entscheidend. Eine Studie in Dänemark hat festgestellt, dass 51% der Schülerinnen und Schüler nicht neben einer blinden Person und 31% nicht neben einer/einem Rollstuhlfahrer/in sitzen wollen würden und 70% gaben sogar an, dass sie es peinlich fänden, „in der Öffentlichkeit mit einer blinden Person gesehen zu werden“ (Rodney 2016: 10 f.). Um Inklusion erfolgreich umzusetzen, bedarf es jedoch einer positiven Grundeinstellung aller Beteiligten, insbesondere der betroffenen Schülerinnen und Schüler, denn Inklusion kann nur erfolgreich sein, wenn die Voraussetzungen stimmen (vgl. Rodney 2016). Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf, die inklusiv beschult werden wollen, müssen Rodney zufolge über Bindungsfähigkeit, Impulskontrolle, die Fähigkeit zur Perspektivübernahme sowie über „die Fähigkeit mit Frustration umzugehen, sich motivieren zu können und die eigenen Ziele zu verfolgen sowie die Fähigkeit zu wählen und die Folgen der Wahl zu verstehen bzw. abschätzen zu können“ (Rodney 2016: 11 f.) verfügen. Dies würde jedoch bedeuten, dass jüngere Schülerinnen und Schüler, die beispielsweise noch in der Primarstufe sind, nicht inklusiv beschult werden könnten, da eine derartige Kontroll- und Reflektionsfähigkeit in diesem Alter in der Regel noch nicht gewährleistet ist. Jüngere Kinder müssten demnach intensiver durch Lehrkräfte und Eltern gefördert werden, um diese fehlenden Fähigkeiten zu kompensieren.
Zusammenfassend gesagt, muss Deutschland für eine gelingende Inklusion einige Aspekte, wie eine entsprechende Aus- und Weiterbildung der Regelschullehrkräfte, einen qualitativ hochwertigen Unterricht für alle durch Modifikation des Unterrichts, die gesellschaftliche Haltung zu Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf sowie die entsprechend notwendigen Rahmenbedingungen und spezifischen Voraussetzungen der Förderschülerinnen und -schüler beachten und auch durch gesetzliche Regelungen die Bildungsqualität und die Bildungsstandards für alle Schülerinnen und Schüler anpassen. Dazu reicht es allerdings nicht aus, Inklusion als ein von der Gesellschaft isoliertes Konzept anzusehen, das ausschließlich in der Schule praktiziert wird. Vielmehr muss Aufklärungsarbeit innerhalb der gesamten Gesellschaft geleistet werden, um ein tieferes Verständnis für Menschen mit Beeinträchtigungen zu erlangen und dadurch die Kooperation von behinderten und nicht behinderten Menschen im Alltag zu fördern, sodass Inklusion als ein vollständig in die Gesellschaft integriertes Konzept angesehen wird.
2.2.2 Blinden- und sehbehindertenspezifische Hilfsmittel
Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits dargelegt, dass für eine erfolgreiche Inklusion vor allem die Rahmenbedingungen stimmen müssen. Dazu gehört für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler insbesondere die richtige Ausstattung mit Hilfsmitteln, die für eine optimale Nutzung des Sehrestes bzw. für eine möglichst gute Kompensation des fehlenden Sehvermögens sorgen. Dabei ist zu beachten, dass die vorhandenen Hilfsmittel abhängig vom Sehvermögen, Gesichtsfeld und anderen Faktoren, wie z.B. der Praktikabilität im Unterricht nicht für alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen geeignet sind, sondern für jeden Lernenden individuell die richtigen Hilfsmittel gefunden werden müssen. Die bloße Bereitstellung dieser reicht jedoch nicht aus, um eine Teilhabe am Unterricht zu ermöglichen. Der Umgang mit den Hilfsmitteln muss oftmals vorab trainiert werden, damit die Hilfsmittel möglichst effizient und effektiv eingesetzt werden können (vgl. Lang/Thiele 2017: 37).
Die verschiedenen Hilfsmittel unterscheiden sich anhand ihrer Zielgruppen, denn Blinde und Sehbehinderte nutzen unterschiedliche Hilfsmittel: Lernerinnen und Lerner mit einem vergleichsweise hohen Sehrest benötigen meist nicht viele Hilfsmittel. Ein Lesestein bzw. -stab (eine spezielle Lupe) oder eine Bifokalbrille, also eine geteilte Brille, die im unteren Teil ein Glas mit erhöhter Nahaddition besitzt, reichen oft schon aus, damit die Kinder und Jugendlichen Texte lesen und schreiben können. Für die Ferne wird oft ein Monokular, d.h. ein Fernglas für nur ein Auge, verwendet, um Tafelbilder erkennen zu können. Der Nachteil dabei ist, dass immer nur ein kleiner Ausschnitt des Tafelbildes zu erkennen ist und beim Abschreiben die vorangegangene Textstelle erneut gesucht werden muss, was sehr zeitaufwendig sein kann.
Für Schülerinnen und Schülern mit geringerem Sehrest werden häufig mobile Kamerasysteme verwendet, die an ein Laptop angeschlossen werden. Das Tafelbild wird dann auf den Bildschirm projiziert, jedoch ist auch hier, je nach Vergrößerungsgrad, nur ein Ausschnitt des Tafelbildes zu sehen. Um einen ausreichenden Kontrast zu erhalten, muss die Tafel frei von Kreideschleiern sein. Um ein häufiges Ab- und Aufbauen des Kamerasystems zu vermeiden, sollten Raumwechsel möglichst selten stattfinden.
Reicht eine Lupe oder Bifokalbrille für das Lesen und Schreiben nicht aus, kommt ein Bildschirmlesegerät zum Einsatz. Auch hier wird über eine Kamera das Bild auf einen Monitor übertragen. Die Kontraste (z.B. gelb auf schwarz, schwarz auf weiß) lassen sich zumeist verändern. Auch hier ist wieder immer nur ein Ausschnitt des Textes zu sehen. Bücher oder Arbeitsblätter müssen unter dem Gerät hin und her geschoben werden, wodurch der Lesefluss beeinträchtigt wird. Für Sehbeeinträchtigte mit eingeschränktem Gesichtsfeld gestaltet es sich daher meist schwierig, die nächste Zeile direkt zu finden. Bildschirmlesegeräte sind zumeist stationär und das Lesen und vor allem Schreiben an ihnen muss eingeübt werden (vgl. Lang/Thiele 2017: 33). Für viele ist letzteres so umständlich und ungewohnt, dass sie lieber auf das Schreiben mit dicken schwarzen Filzstiften oder am Computer zurückgreifen (hierfür muss allerdings das Zehn-Finger-System beherrscht werden). Generell fällt das Schreiben vielen Sehbehinderten schwer, da es eine hohe Auge-Hand-Koordination erfordert (vgl. Lang/Thiele 2017: 37).
Um ganze Bücher zu lesen/hören empfiehlt es sich für Sehbeeinträchtigte auch, auf so genannte DAISY-Bücher 8 zurückzugreifen, die mithilfe eines Daisyplayers (einer Art MP3-Player speziell für Blinde) akustisch wiedergegeben werden. Bei den Büchern handelt es sich um Hörbücher, die speziell für Blinde so aufbereitet wurden, dass sie mithilfe des Daisyplayers Kapitel, Seiten und Überschriften direkt ansteuern können und somit wie in einem normalen Buch navigieren können. Die Wiedergabegeschwindigkeit lässt sich dabei auch verringern bzw. erhöhen. Für Sehbehinderte sind oft auch E-Book-Reader eine gute Lösung, um Bücher selbstständig lesen zu können. Die Schriftgröße kann hier stark vergrößert werden (vgl. Barrierefreiheit – Schulung und Beratung o.J.).
Die Mehrheit der sehbeeinträchtigten Jugendlichen arbeitet mit Laptops, da Schulbücher für sie digitalisiert (also barrierefrei in Word aufbereitet) werden, Kontraste, Schriftgrößen und -arten beliebig verändert werden können und sich das Schreiben am Computer für sie meist einfacher gestaltet. Der Bildschirminhalt kann zudem durch spezielle Vergrößerungsprogramme wie z.B. ZoomText oder Magix stark vergrößert werden. Auch hier ist es jedoch wichtig, dass die Lernenden im Umgang mit Word und den anderen Programmen ausreichend geschult sind.
Sofern die Verwendung der Maus nicht mehr oder nur eingeschränkt möglich ist, muss auf Tastenkombinationen zurückgegriffen werden, um in Dokumenten zu navigieren und Dokumente zu formatieren (vgl. Lang/Thiele 2017: 35). Werden diese Kenntnisse nicht vorab trainiert, ist eine Teilhabe am Unterricht nicht gewährleistet, da z.B. Seiten in den digitalisierten Büchern nicht schnell genug gefunden werden. Blinde arbeiten meist ausschließlich mit dem PC. Dabei nutzen sie häufig die Sprachausgabe Jaws, die Inhalte auf dem Bildschirm akustisch wiedergibt und ebenfalls durch Tastenkombinationen gesteuert wird. Mit Jaws lassen sich auch längere Texte vorlesen, wodurch der Überblick über Texte erleichtert werden kann. Zusätzlich zur Sprachausgabe nutzen die meisten Blinden noch eine sogenannte Braillezeile9. Das ist ein Gerät, das an den Computer oder Laptop angeschlossen wird und Texte auf dem Bildschirm auf einer Zeile in Blindenschrift umwandelt. Dabei können jedoch immer nur Ausschnitte des Textes gelesen werden, und um im Satz fortzufahren, muss man ein Rädchen drehen oder per Tastenkombination im Dokument springen. Durch Knöpfe über der Zeile mit der Brailleschrift ist es außerdem möglich, direkt zu der in Punktschrift abgebildeten Stelle im Dokument zu springen und diese dann zu bearbeiten. Braillezeilen funktionieren ausschließlich in Verbindung mit einer Sprachausgabe (vgl. Adam 2009: 95).
Braillezeilen ersetzen heute zumeist Punktschriftbücher, da diese sehr platzraubend und schwer in der Schultasche zu transportieren sind. Werden Texte jedoch in Punktschrift in ausgedruckter Form benötigt (z.B. für Referatsnotizen oder für einen besseren Überblick), können diese jedoch mithilfe eines Punktschriftdruckers auf Punktschriftpapier gedruckt werden. Zusätzlich gibt es noch Punktschriftschreibmaschinen, an denen man Texte selbst direkt in Punktschrift schreiben kann (vgl. Lang/Thiele 2017: 48). Die Nutzung muss jedoch wiederum erst erlernt werden und kann den Unterricht durch die hohe Geräuschproduktion stören.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Braillezeile (aus Burger 2003: 294).
Wie sich zeigt, gibt es zahlreiche Hilfsmittel für Sehbehinderte und Blinde, die sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringen. Die Liste der hier vorgestellten Hilfsmittel ist dabei nicht abschließend und präsentiert lediglich die am häufigsten genutzten Hilfsmittel sehbeeinträchtigter Menschen. Wichtig ist, dass Lehrkräfte über die Nachteile ausreichend informiert sind, um beispielsweise ein geringeres Lesetempo oder andere Schwierigkeiten im Unterricht berücksichtigen zu können. Die Wahl der Hilfsmittel sollte gut überlegt sein und sich an den individuellen Bedürfnissen der Sehbeeinträchtigten orientieren.
Der Umgang mit dem Computer und die Verwendung von speziellen Tastenkombinationen können dabei in den Unterricht mit integriert werden (z.B. in EDV oder im Deutschunterricht). Davon profitieren nicht nur die sehbeeinträchtigten Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Kinder und Jugendlichen ohne Förderbedarf, da gute PC-Kenntnisse und die Verwendung von Word und Excel heutzutage im Berufsleben häufig vorausgesetzt werden.
2.2.3 Die Blindenschrift
Bei der Blindenschrift handelt es sich um eine taktile Schrift, in der, je nach Kürzungsgrad, Buchstaben, Lautkombinationen, Silben oder auch ganze Wörter und natürlich Interpunktions- und Sonderzeichen mithilfe von Punktkombinationen dargestellt werden. Die Punktkombinationen bestehen aus sechs Punkten, die wie die Sechs auf einem Würfel angeordnet sind. Die Punkte werden von oben links nach unten links (Punkt 1 bis Punkt 3) und anschließend von oben rechts nach unten rechts (Punkt 4 bis Punkt 6) gezählt (vgl. Hubert 2018). Je nach Verwendungszweck gibt es verschiedene Schriftsysteme, wie die Mathematikschrift, die Notenschrift u.v.m., die extra erlernt werden müssen (vgl. ebd.; Adam 2009: 24).10
Insgesamt gibt es für das herkömmliche Schriftsystem in Büchern vier Kürzungsgrade: die Basisschrift, die Vollschrift, die Kurzschrift und die Stenographie. Von jüngeren Kindern und Späterblindeten wird meist nur die Vollschrift beherrschst, während bereits längerfristig Erblindete zumeist die Kurzschrift beherrschen. In der Basisschrift stellt ein Zeichen einen Buchstaben dar. Werden im Deutschen noch Lautkombinationen wie /ch/, /sch/, /sp/, /st/, /ei/, /ie/, /eu/ etc. ergänzt11 (vgl. Adam 2009: 45), spricht man von der Vollschrift. Diese umfasst in etwa 65 Punktkombinationen, während die Kurzschrift mit ca. 300 Kürzungen (vgl. Adam 2009: 47) weitaus umfangreicher und schwieriger zu erlernen ist. In der Kurzschrift werden Silben und Wörter mit verschiedenen Punktkombinationen dargestellt.
Die meisten Punktschriftbücher sind in Kurzschrift verfasst, da Punktschriftzeichen im Vergleich zu Schwarzschriftbuchstaben12 sehr groß sind. Werden die Bücher in Kurzschrift gedruckt, lässt sich der Umfang um einiges reduzieren.13 Dabei ist die Kurzschrift sprachenabhängig, d.h. jede Sprache hat ihr eigenes Kurzschriftsystem (vgl. Hubert 2018). Im Fremdsprachenunterricht muss demnach entweder die Kurzschrift der jeweiligen Sprache erlernt werden oder auf die Basisschrift zurückgegriffen werden, die keinerlei Lautkombinationen enthält.
Das Lesen der Punktschrift hat sowohl Vor- als auch Nachteile. Der eindeutige Vorteil ist natürlich, dass auch Blinde noch Texte lesen können und nicht auf eine akustische Wiedergabe angewiesen sind. Nachteilig ist jedoch, dass bei der Verwendung von gedruckten Texten, und insbesondere an der Braillezeile, der Überblick über die Seite schneller verloren gehen kann und es schwieriger ist, sich auf einem Blatt oder in einem Dokument mit dem Tastsinn zu orientieren als mit den Augen in Schwarzschrifttexten. Hinzu kommt, dass die Lesegeschwindigkeit bei der Brailleschrift im Vergleich zur Schwarzschrift weitaus geringer ist. „Das Lesetempo ist etwa zwei- bis dreimal langsamer als beim visuellen Lesen“ (Lang/Thiele 2017: 45). Jedoch kann die Lesegeschwindigkeit von Punktschriftlesern durch sorgfältig strukturiertes Training wesentlich verbessert werden (vgl. Tobin/Greaney/Hill 2003: 252).
Die Lesefähigkeit und das Leseverstehen können laut einer qualitativen Studie von Barbara Dodd und Lucy Conn (2000) durch Brailleschrift jedoch negativ beeinflusst werden. Ihre Ergebnisse zeigten, dass die Orthographie der Brailleschrift einen negativen Effekt auf die phonologische Sprachentwicklung blinder Kinder haben kann. Dadurch, dass manche Kürzungen phonetische Kombinationen repräsentieren und andere wiederum Buchstabencluster (vgl. Dodd/Conn 2000: 3), fällt es den Kindern schwerer, Phoneme in Wörtern zu identifizieren (vgl. Dodd/Conn 2000: 1). „The Neale Analysis of Reading Ability indicated that the blind children were ten months behind sighted children's norms for reading accuracy age, and nine months behind for reading comprehension” (Dodd/Conn 2000: 8). Dieser Effekt konnte vor allem bei der Kurzschrift beobachtet werden (vgl. Dodd/Conn 2000: 9). Ob alle blinden Kinder diese Tendenz aufweisen, ist jedoch nicht zu prognostizieren, da sich die Studie auf nur wenige Blinde bezog und für eine generelle Aussage eine größere Stichprobe genommen werden müsste.
Bisher nicht erforscht, aber durchaus relevant, könnte auch der Einfluss der Punktschrift auf die Groß- und Kleinschreibung sein, denn in der Punktschrift wird grundsätzlich alles klein geschrieben (vgl. DBSV o.J.). Zwar gibt es auch ein Großschreibzeichen (vgl. ebd.), jedoch findet dieses in der Regel äußerst selten seine Anwendung. Im Sprachunterricht sollte, um Fehler in der Groß- und Kleinschreibung zu vermeiden, stets darauf geachtet werden, dass Großschreibzeichen im Text vorhanden sind, damit die Orthographie einerseits korrekt erlernt werden kann und andererseits auch nicht verlernt wird.
[...]
1 Zur Definition des Begriffs siehe Kapitel 2.1.3.
2 Die Begriffe Teilnahme und Teilhabe sind an dieser Stelle klar voneinander abzugrenzen. Während der Begriff Teilnahme lediglich beschreibt, dass es einer Person gestattet ist, bei etwas mitzuwirken, bezieht sich der Begriff Teilhabe darauf, dass diese Person auch tatsächlich aktiv miteinbezogen wird. Für eine erfolgreiche schulische Inklusion reicht die bloße Teilnahme am Regelschulunterricht jedoch nicht aus, da diese die Teilhabe der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf nicht gewährleistet.
3 Die Bezeichnungen behindert bzw. Behinderung sowie sehbehindert, blind bzw. Sehbehinderte und Blinde sind offiziell anerkannte Begriffe und keinesfalls als diskriminierend zu erachten. Sie werden in dieser Arbeit der Einfachheit halber verwendet.
4 Zur Definition der Begriffe sehbehindert und blind siehe Kapitel 2.1.1.
5 Als Regelgymnasium bezeichnet man ein reguläres staatliches Gymnasium, das nicht auf den Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf spezialisiert ist.
6 Barrierefreie Medien sind so gestaltet, dass sie auch von behinderten Menschen ohne Schwierigkeiten oder fremde Hilfe genutzt werden können.
7 Das Gesichtsfeld beschreibt den Teil, den eine Person an den äußeren Seiten (oben, unten, rechts und links) noch wahrnehmen kann, wenn ihr Blick auf einen Punkt geradeaus gerichtet ist.
8 Daisybücher können überwiegend kostenlos bei Blindenhörbüchereien ausgeliehen werden.
9 Siehe Abbildung 1.
10 Andere gebräuchliche Bezeichnungen für die Blindenschrift sind Punktschrift oder Brailleschrift (nach Louis Braille, dem Erfinder der Blindenschrift).
11 Je nach Sprache unterscheiden sich die Lautkombinationen, die in der Vollschrift ergänzt werden.
12 Unter Schwarzschrift versteht man die herkömmlich gedruckte Schrift in Büchern und Zeitschriften für Sehende.
13 Um Papier zu sparen, hat es sich bewährt, Texte an der Braillezeile zu lesen und diese nicht in Punktschrift auszudrucken. An der Braillezeile kann sowohl die Basis- als auch die Kurzschrift gelesen werden.
- Arbeit zitieren
- Isabel Kern (Autor:in), 2019, Inklusiver Fremdsprachenunterricht mit sehbehinderten und blinden Schülerinnen und Schülern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/468578
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