Die Grammatikalisierung von "la" im Guadeloupe-Kreol


Thèse de Bachelor, 2018

42 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Entstehung des Guadeloupe-Kreol

3. Grammatikalisierung
3.1 Parameter der Grammatikalisierung
3.2 Unidirektionalität von Grammatikalisierung
3.3 Reanalyse und Grammatikalisierung
3.4 Kreolisierung und Grammatikalisierung

4. Funktionen von in gesprochenen Französisch
4.1 Das pragmatische
4.2 Das grammatische

5. Funktionen von la im Guadeloupe Kreol
5.1 Aktuelle Forschung und Hypothesen
5.2 Die grammatischen Funktionen von la
5.2.1 la als nachgestellter definiter Determinierer
5.2.2 la als Teil des Demonstrativdeterminierers
5.3 la als pragmatischer Marker
5.4 la als allgemeiner restriktiver Marker
5.5 la als Marker restriktiver Relativsätze

6. Ergebnisdiskussion
6.1 Korpusauswertung
6.2 Diskussion der Hypothesen zur Grammatikalisierung

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Guadeloupe-Kreol ist eine Kreolsprache, die aufgrund ihrer politischen Verbundenheit, im engen Sprachkontakt mit ihrer Lexifizierersprache, dem Französischen, steht. Dieser Sprachkontakt kann Auswirkungen auf das betreffende Sprachsystem haben, die sich in der Grammatikalisierung bestimmter sprachlicher Elemente zeigen. Über einen solchen auf Grammatikalisierung beruhenden Zusammenhang zwischen den beiden Sprachen scheinen (Französisch) und la (Guadeloupe-Kreol) zu verfügen. Diese Partikel kommt sowohl im Französischen als auch im Guadeloupe-Kreol eine Vielzahl an Funktionen und Bedeutungen zu, die zum Teil ähnliche semantische und/oder ähnliche morphosyntaktische Eigenschaften aufweisen.

Ziel dieser Arbeit ist es, zu analysieren, wie genau diese unterschiedlichen Funktionen zusammenhängen, ob es sich dabei tatsächlich um Grammatikalisierung handelt und welche Grammatikalisierungsprozesse ggf. stattgefunden haben (können).

Die Arbeit beinhaltet zunächst einen kurzen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Guadeloupe-Kreol und bietet dann eine allgemeine Einführung in die Grammatikalisierungs- theorie. Dabei wird erklärt, welche allgemeinen Merkmale bei Grammatikalisierungsprozessen zu finden sind und wie Grammatikalisierung festgestellt werden kann. Darüber hinaus werden auch die Spezifika der Grammatikalisierung benannt, die im Rahmen der Kreolisierung eine Rolle spielen. Die darauf folgenden Kapitel dienen der konkreten Analyse der Partikel la und dessen Funktionen und Verkommen im gesprochenen Französisch, sowie im Guadeloupe Kreol. Dazu wurde unter anderem ein kreolsprachiger Korpus (siehe Anhang) erstellt, der Daten aus zwei unterschiedlichen Quellen, einem Buch sowie Äußerungen von Informanten, beinhaltet. Die Analyse der Funktionen kann dann im letzten Kapitel, der Ergebnisdiskussion, in Rückbezug auf die zuvor beschriebenen Theorie und die im Korpus gesammelten Daten mögliche auf Grammatikalisierung beruhende Zusammenhänge untersuchen.

2. Zur Entstehung des Guadeloupe-Kreol

Die Geschichte der auf Guadeloupe gesprochenen Kreolsprache (im Folgenden mit GuaKr abgekürzt) begann 1493, als Christoph Kolumbus die Insel einnahm. Zu dem Zeitpunkt war Guadeloupe von indigenen Völkern wie den Arawak bewohnt. Im Zuge der Gründung der Handelsgesellschaft Compagnie des Isles d’Amérique begann die Kolonisierung durch Frankreich. In den kommenden Jahren wurden sukzessiv Franzosen nach Guadeloupe gebracht, um dort im Zuckerrohranbau tätig zu sein. Da diese aber der hohen Nachfrage an Arbeitskräften nicht gerecht wurden, wurden Sklaven aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern importiert. Bis 1870 war der Sklavenhandel so weit fortgeschritten, dass 92 % der Bevölkerung Schwarze waren und nur 8 % Weiße. Dies führte zu einer linguistisch sehr heterogenen Zusammensetzung der Bevölkerung Guadeloupes, vor allem deshalb, weil gleichsprachige Sklaven oft auf unterschiedliche Plantagen gebracht wurden, um eine Verständigung und mögliche Auflehnung gegen die Kolonialherren zu vermeiden (vgl. Reutner 2005: 5-8). Um die alltägliche und arbeitsrelevante Kommunikation zu gewährleisten, wurde ein Sprachsystem benötigt, das die sprachlich diverse Bevölkerung gemeinsam nutzen konnte. Diese Notwendigkeit und der ökonomisch und sozio-linguistisch hohe Status des Französischen zwang die Sklaven zum raschen Erlernen der Sprache bzw. eines „français approximativ“ (ebd.: 7). Sukzessiv wurden immer weitere Skalven nach Guadeloupe gebracht und es begann durch den Sprachkontakt der afrikanischen Sprachen der neu angekommenen Sklaven mit dem français approximativ der Kreolsklaven ein Kreolisierungsprozess. So hatte sich die Kreolsprache auf Guadeloupe bis Ende des 19. Jahrhunderts etabliert (ebd.: 8).

Durch die Abschaffung der Sklaverei 1848 und mit der Departementalisierung Guadeloupes 1946 ergaben sich soziale und politische Umstrukturierungen, die sich auch auf die Sprachsituation auswirkten. Französisch wurde offizielle Amts-, Bildungs- und Verwaltungssprache, französische Medien wurden auf Guadeloupe verbreitet und es entstand insgesamt ein enger Kontakt zwischen GuaKr und Französisch. Heute werden drei Varietäten auf Guadeloupe gesprochen: Standard-Französisch, GuaKr und lokales Französisch (vgl. Schnepel 2004: 66-70).

3. Grammatikalisierung

3.1 Parameter der Grammatikalisierung

„Grammaticalization is the gradual drift in all parts of the grammar toward tighter structures, toward less freedom in the use of linguistic structures at all levels.“ (Haspelmath 1998: 318)

Haspelmath nennt mit dieser Definition das grundlegende Merkmal von Grammatikalisierung, den graduellen Wandel von grammatischen Strukturen. Diese Definition bedarf allerdings einer Erweiterung und Erklärung. So kann allgemein von einem graduellen Sprachwandelprozess gesprochen werden, bei dem aus einem lexikalischen Zeichen ein grammatisches wird oder eine bereits grammatische Form noch grammatischer wird (vgl. Schon 2016: 54). Hopper (1991: 22) formuliert für eine genauere Definition der Grammatikalisierung fünf allgemeine Prinzipien

1) Layering: Die durch Grammatikalisierung entstandene neue Bedeutung eines Elements verdrängt nicht notwendigerweise sofort die Bedeutung der Form, aus der sie hervorgegangen ist, sondern es kann für eine bestimmte Zeit zu einer Koexistenz kommen.
2) Divergence: Durchläuft ein lexikalisches Element einen Grammatikalisierungsprozess, aus dem dann ein grammatisches Element hervorgeht, so kann die Ursprungsform als autonomes lexikalisches Element erhalten bleiben. Die Funktionen der neuen Form divergieren also von der Funktion der ursprünglichen Form. Dies kann auch als ein spezieller Fall des Layerings verstanden werden.
3) Specialization: Das grammatikalisierte Element erfährt eine Spezialisierung, der Gebrauch der grammatikalisierten Form wird dadurch in bestimmten Kontexten immer obligatorischer und eine Beschränkung der freien Distribution des Elements stellt sich ein.
4) Persistence: Es besteht eine Relation zwischen der Bedeutung und Funktion der grammatikalisierten Form und der lexikalischen Form, aus der das Element hervorgeht. Diese Polysemie ist zunächst noch erkennbar, wird allerdings im Zuge der Grammatikalisierung opak.
5) Decategorialization: Durch Grammatikalisierung verliert eine Form ihre Zugehörigkeit zu der Wortart, der sie zuvor angehörte.

Eine etwas andere, aber sich zum Teil mit Hoppers Prinzipien überschneidende Systematisierung von Grammatikalisierung beschreiben Heine & Kuteva (2002: 2). Sie unterscheiden semantische, pragmatische, morphosyntaktische und phonetische Mechanismen wie folgt:

1) Extension (auch Kontextgeneralisierung): Gebrauch in neuen Kontexten
2) Desemanticization (auch semantic bleaching): Verlust semantischer Bedeutung
3)Dekategorialisierung: Verlust morphosyntaktischer Funktionen, die für lexikalische oder andere weniger grammatikalisierte Formen charakteristisch sind.
4) Erosion (auch phonetische Reduktion): Verlust phonetischer Substanz

Um Grammatikalisierung auf morphosyntaktischer Ebene genauer analysieren zu können, ist es sinnvoll, die Parameter der Grammatikalisierung von Lehmann (2002) heranzuziehen. Dazu definiert er zunächst den Begriff der Autonomie eines sprachlichen Zeichens, die die Relation zwischen einem Sprecher und dem sprachlichen Zeichen, das er benutzt, betrifft. Anhand dieser Autonomie kann der Grad der Grammatikalisierung erfasst werden:

[…] the more freedom with which a sign is used, the more autonomous it is. Therefore the autonomy of a sign is converse to its grammaticality, and grammaticalization detracts from its autonomy. Consequently, if we want to measure the degree to which a sign is grammaticalized, we will determine its degree of autonomy. (Lehmann 2002: 109)

Die Autonomie sprachlicher Zeichen kann anhand von drei Parametern gemessen werden:

a) Gewicht: Darunter werden die Prominenzeigenschaften eines sprachlichen Zeichens gefasst. Das beutetet, dass ein Zeichen dann besonders viel Gewicht hat, wenn es eine besonders umfangreiche Unterscheidbarkeit von anderen Zeichen seiner Klasse und eine besonderer Auffälligkeit im Syntagma aufweist. Wenig grammatikalisierte sprachliche Zeichen besitzen also mehr Gewicht und sind autonomer (vgl. Diewald 1997: 22).
b) Kohäsion: Diese Eigenschaft nimmt durch Grammatikalisierung zu. Sie bezieht sich auf die Relation des sprachlichen Zeichens mit anderen Zeichen. Je weniger ein Zeichen in die Relation mit anderen integriert ist, desto autonomer ist es. Stark grammatikalisierte Zeichen sind weniger autonom, da sie stärker an das Vorkommen anderer Zeichen gebunden sind (vgl. ebd.).
c) Variabilität: Diese Eigenschaft bezieht sich auf die Freiheit der Verschiebbarkeit des sprachlichen Zeichens in verschiedenen Kontexten in Bezug auf andere sprachliche Zeichen. Mit steigender Variabilität steigt auch die Autonomie eines sprachlichen Zeichens und seine Grammatikalisierung nimmt ab (vgl. ebd.).

Diese drei Parameter können also Aufschluss über Grammatikalisierung geben: Die Zunahme von Kohäsion sowie die Abnahme von Variabilität und Gewicht sind feststellbare Aspekte der Grammatikalisierung. Um diese Parameter als Analysekriterien operationalisieren zu können, hat Lehrmann sie weiter unterteilt (siehe Abbildung 1), sodass jeder der Parameter auf zwei unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden kann: auf der paradigmatischen Achse und auf der syntagmatischen Achse.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Parameter der Grammatikalisierung (Lehmann 2002: 110)

Bei der Analyse des Gewicht eines sprachlichen Zeichens auf der paradigmatischen Achse wird von der Integrität des Zeichens gesprochen. Integrität bezieht sich auf den substanziellen Umfang des Zeichens aus semantischer und phonologischer Sicht (vgl. Lehmann 2002: 110). Sie kann also durch Erosion oder Desemantisierung (siehe oben) abnehmen und demzufolge bei stark grammatikalisierten Formen schwächer als bei wenig grammatikalisierten Formen (vgl. Diewald 1996: 23). Das syntagmatischen Gewicht eines Zeichens wird als Skopus bezeichnet und beschreibt die Reichweite eines Zeichens in Bezug auf die Konstruktion in der es vorkommt oder die es bildet. Auch der Skopus nimmt also mit zunehmender Grammatikalisierung ab (vgl. Lehmann 2002: 110).

Die Kohäsion eines sprachlichen Zeichens auf der paradigmatischen Achse wird Paradigmatizität genannt. Diese bezieht sich auf den Grad der Eingliederung in ein Paradigma, und beschreibt, in welchem Ausmaß es darin integriert und davon abhängig ist. Syntagmatische Kohäsion wird auch Fügungsenge genannt und gibt Aufschluss darüber, inwieweit das Zeichen mit anderen Zeichen verschmolzen ist (ebd.).

Die syntagmatische Variabilität bezieht sich auf die Möglichkeit der freien Verschiebung des sprachlichen Zeichens im Syntagma. So können wenig grammatikalisierte Elemente beispielsweise an unterschiedlichen Positionen im Satz vorkommen, wohingegen stark grammatikalisierte Elemente eine fest vorgeschriebene Position besitzen. Die paradigmatische Variabilität beschreibt die Möglichkeit der freien Verwendbarkeit des Zeichens, also die Möglichkeit, es durch anderen Zeichen zu ersetzen oder es wegzulassen (vgl. ebd.). Je stärker grammatikalisiert ein sprachliches Zeichen ist, desto größer ist seine Obligatorik und desto schwächer ist seine paradigmatische Variabilität. Die Obligatorik eines sprachlichen Zeichens kann als eines der wesentlichen Kriterien der Grammatikalisierung gedeutet werden. Dennoch ist dies kein absolutes Kriterien (vgl. Diewald 1997: 23).

Diese sechs beschriebenen Eigenschaften sprachlicher Zeichen sind genau genommen keine direkten Parameter der Grammatikalisierung, sondern vielmehr Parameter, anhand derer die Autonomie des sprachlichen Zeichens gemessen werden kann und die somit darüber Aufschluss geben, in welchem Ausmaß ein Zeichen grammatikalisiert ist. Eine Variation, also ein Stärkung oder Schwächung der Ausprägung des Parameter löst einen Prozess aus, der das betreffende sprachliche Zeichen verändert. Somit kann Grammatikalisierung als Prozess verstanden werden, der mit der Variation der Gesamtheit dieser Parameter korreliert. Zwar bedingen sich die Parameter gegenseitig insofern, als die Veränderung eines Parameters die Veränderung eines oder mehrerer anderer Parameter nach sich zieht, doch ist es möglich, die Parameter auch unabhängig voneinander zu messen (vgl. Lehmann 2002: 111) Voraussetzung für den Vergleich zweier sprachlicher Zeichen in Bezug auf ihren Grammatikalisierungsgrad ist ihre funktionale Ähnlichkeit. Dies ist allerdings kein formales Kriterium, sondern vielmehr eine logische Schlussfolgerung, da es wenig sinnvoll wäre, zwei Elemente zu vergleichen, die keinerlei Zusammenhang oder Ähnlichkeit aufweisen (vgl. ebd.: 111f).

3.2 Unidirektionalität von Grammatikalisierung

Ein weiterer Aspekt der Grammatikalisierung ist die Hypothese der Unidirektionalität (vgl. u.a. Lehmann 1995, Hopper & Traugott 2003). Nach dieser Hypothese handelt es sich bei Grammatikalisierung um einen unidirektionalen und somit irreversiblen Prozess. Die Beziehung zwischen zwei Stadien A und B eines Grammatikalisierungsprozesses verhält sich demzufolge so, dass A vor B kommt und nicht andersherum (vgl. Hopper & Traugott 2003: 100). So verhalten sich auch grammatische Elemente zu lexikalischen Elementen. Erste können aus Letzteren hervorgehen, andersrum ist dies aber nicht möglich (Bruyn 2008: 388).

Die Unidirektionalitätshypothese wurde allerdings von unterschiedlichen Linguisten kritisiert bzw. zu widerlegen versucht. Vor allem die Degrammatikalisierung scheint ein eindeutiges Gegenargument der Unidirektionalitätshypothese zu sein. Dabei ist laut Hopper und Traugott (2003: 133f) zu unterscheiden, ob es sich um eine tatsächliche Degrammatikalisierung, also eine Umkehrung des oben beschrieben Prozesses, oder eine Lexifizierung handelt. Letztere bezeichnet einen Prozess, bei dem aus einem grammatischen Element ein lexikalisches wird, ohne dass dabei die Grammatikalisierungsphasen rückwärts durchlaufen werden. Dabei wird also das Lexikon einer Sprache erweitert. Ein Beispiel dafür ist das englische Lexem ism, das aus dem Nominalisierungssuffix -ism hervorgeht (vgl. Schon 2016: 59). Auch Haspelmath (2004: 27ff) stellt fest, dass der Begriff Degrammatikalisierung für eine Vielzahl an Beispielen verwendet wird, die ihm per Definition nicht entsprechen, sondern ebenfalls eher Beispiele für Lexifizierung oder andere Prozesse sind. Deshalb führt er den Begriff Antigrammatikalisierung ein und beschreibt damit einen Prozess, der am Endpunkt einer Grammatikalisierung beginnt und an deren Anfangspunkt endet, wobei dieselben Zwischenschritte in umgekehrter Reihenfolge durchlaufen werden. Festzuhalten ist, dass echte Degrammatikalisierung oder Antigrammatikalisierung nur sehr selten auftreten. Sie können demzufolge als Ausnahmeerscheinungen interpretiert werden und stehen der allgemeinen Auffassung der Unidirektionalität von Grammatikalisierung nicht entgegen (vgl. Schon 2016: 60).

3.3 Reanalyse und Grammatikalisierung

Im Zusammenhang mit Grammatikalisierung wird häufig auch der Prozess der Reanalyse benannt. Eine klassische Definition des Begriffs formulierte Langacker: „change in the structure of an expression or class of expressions that does not involve any immediate or intrinsic modification of its surface form.” (Langacker 1977: 59). Es ist zu ergänzen, dass diese Umstrukturierung oder Umdeutung eines Elements vom Hörer ausgeht. Dieser interpretiert das vom Sprecher Formulierte abweichend von dessen eigentlicher Intention. Im Gegensatz dazu wird der Sprachwandel durch Grammatikalisierung durch den Sprecher ausgelöst (vgl. Detges & Waltereit 2002: 152). So kann Reanalyse als ein abrupt auftretender und plötzlich stattfindender Prozess interpretiert werden, wohingegen Grammatikalisierung ein gradueller Prozess ist. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Grammatikalisierung und Reanalyse (vgl. Schon 2016: 78). Haspelmath (1998: 318-327) konstatiert darüber hinaus einen weiteren Unterschied: Grammatikalisierung sei ein unidirektionaler Prozess, wohingegen Reanalyse bidirektional sei. Trotz seiner klaren Formulierung von Unterschieden zwischen den beiden Prozessen ist Haspelmaths Auffassung nicht allgemeingültig. So vertreten unter anderem Hopper und Traugott (2003: 39) die Ansicht, dass Reanalyse eindeutig an Grammatikalisierung gekoppelt sei. Es ist also unklar, ob und inwieweit es sich bei den beiden Prozessen um voneinander abhängige oder zum Teil sogar identische Vorgänge handelt, oder ob sie gänzlich losgelöst voneinander betrachtet werden können oder gar müssen.

3.4 Kreolisierung und Grammatikalisierung

Sprachwandelprozesse wie Grammatikalisierung können sowohl als sprachinterne Prozesse als auch als kontakt-induzierte Prozesse auftreten. Durch Sprachkontakt kann sich ein solcher Sprachwandel beschleunigen (vgl. Schon 2016: 63). Bei extremen Kontaktsituationen wie beispielsweise bei Kreolisierungsprozessen kann eine besonders starke Beschleunigung von Grammatikalisierung festgestellt werden (vgl. Bruyn 2008: 397). Demnach scheint es sinnvoll, die kontakt-induzierte Grammatikalisierung genauer zu betrachten und daraus Spezifika der Grammatikalisierung in Bezug auf die Kreolisierung abzuleiten. Eine zentrale Fragestellung in diesem Zusammenhang ist die Frage, welche Rolle die Lexifizierersprache und die Substratsprache(n) oder weitere Kontaktsprachen spielen. Wenn vorausgesetzt wird, dass die Entstehung einer Kreolsprachen ausgehend von der Lexifizierersprache eine radikal diskontinuierliche, divergente Entwicklung darstellt, so kann darauf geschlossen werden, dass die Grammatikalisierung in der Kreolsprache selbst stattfindet, und demzufolge unabhängig von möglichen Entwicklungen in der Lexifizierersprache ist. Wird allerdings vorausgesetzt, dass die Lexifizierersprache, nicht aber andere Sprachen, maßgeblich die Kreolsprache prägt, so kann ein Grammatikalisierungsprozess als unmittelbar auf ‚verwandte‘ Strukturen des Lexifizierers zurückzuführende Entwicklung angesehen werden, der nach der Kreolisierung stattfindet. Werden beide Prämissen abgelehnt, so kann angenommen werden, dass Grammatikalisierung auf alle an der Kreolisierung beteiligten Sprachen zurückzuführen ist, was auch als Polygrammatikalisierung bezeichnet wird (vgl. Hopper & Traugott 2003: 224f).

Darüber hinaus ist es sinnvoll, an dieser Stelle die Scheingrammatikalisierung (apparent grammaticalization) von der echten Grammatikalisierung abzugrenzen. Vor allem im Zusam- menhang mit Kreolsprachen ist diese Unterscheidung unerlässlich, da hier vermehrt Scheingrammatikalisierung auftritt. Unter Scheingrammatikalisierung versteht Bruyn (2008: 401) solche Fälle, bei denen kein echter Grammatikalisierungsprozess im Sinne der oben definierten Schritte stattgefunden hat, sondern „a replication of […] the polysemy pattern“ (Bruyn 2008: 401), sodass das Ausgangsstadium und das Endstadium des Sprachwandelprozesses ‚kopiert‘ werden.1 In Bezug auf die echte Grammatikalisierung definieren Heine & Kuteva (2005) zwei Subtypen:

a) ordinary contact-induced grammaticalization:

[…]speakers of language A “notice” that language B, the model or source language, has a grammatical category, and, using material available in language A, gradually develop an equivalent category by drawing on universal strategies of grammaticalization, independent from the particular way the category came into being in the model B. (Bruyn 2008: 400).

b) replica grammaticalization:

„[…] speakers of the replica language repeat a grammaticalization process they assume to have taken place in the model language.“ (Bruyn 2008: 401).

Grammatikalisierung und Kreolisierung sind zwei Prozesse, die eng miteinander verknüpft sind oder zumindest ist Grammatikalisierung maßgeblich an der Herausbildung einer Kreolsprache beteiligt (vgl. u.a. Hopper & Traugott: 2003). Allerdings finden sich widersprüchliche Thesen bezüglich der Fragen, ob es sich bei Grammatikalisierung und Kreolisierung um identische Prozesse handelt oder ob die Entstehung neuer grammatischer Funktionen bei extremen Sprachkontaktsituationen wie der Kreolgenese einen gänzlich anderen Prozess beschreibt als die Entstehung neuer grammatischer Wörter aus lexikalischen Wörtern innerhalb eines bestimmten (monogenetischen) Sprachsystems. Festzuhalten ist, dass Kreolisierung als „un changement typologique au sein de la même famille linguistique“ (Véronique 1999: 189) verstanden werden kann und dass diese typologische Veränderung mitunter auf Grammatikalisierung (und Reanalyse) beruht (vgl. ebd.: 192). Gemäß der Auffassung, dass sich Kreolsprachen aus Pidginsprachen entwickelt und damit zunächst eine starke Reduktion des morphosyntaktischen Repertoires der Lexifizierersprache durchlaufen haben, scheint es eine logische Konsequenz zu sein, dass die weitere Entwicklung der Kreolsprache von extremer Beschleunigung der Grammatikalisierungsprozesse geprägt wird, um die für die Etablierung als Erstsprache (im Gegensatz zur Verwendung als reine Pidginsprache) notwendige Komplexität der Sprache aufzubauen (vgl. Bruyn 2008: 385).

4. Funktionen von là im gesprochenen Französisch

Im gesprochenen (Frankreich-)Französisch kommt die Partikel in zwei unterschiedlichen Funktionen vor, nämlich einerseits als grammatisches Morphem und andererseits als pragmatischer Marker (vgl. Ludwig & Pfänder 2003: 271).

4.1 Das pragmatische là

Das als Adverb kategorisierte fungiert zum einen als Ortsangabe und bildet mit ici ein Paradigma (vgl. Ploog & Reich 2006: 31)

(1) (Ploog & Reich 2006: 31)

Où sont mes lunettes ? - Je les ai posées ici/ .

‘Wo ist mein Brille? - Ich habe sie hier/da/dort hingelegt.’

Neben der lokativen Bedeutung kann auch eine situativ-temporale Bedeutung besitzen.

(2) (Ludwig & Pfänder 2003: 271)

non, mais c’est vrai ce que vous dites

‘nein, aber es ist wahr, was du da sagst’

In diesem Beispiel wird anaphorisch verwendet und verweist damit auf etwas, das zuvor im Diskurs geäußert wurde. Diese Aufhebung des auf Lokative beschränkten semantischen Wertes stellt an sich bereits einen Grammatikalisierungsprozess, genauer gesagt den Prozess der Desemantisierung dar (vgl. Ploog & Reich 2006: 31). wird dadurch zum diskursstrukturierenden Marker und verweist oft auf eine Präsupposition.

(3) (Ploog & Reich 2006: 31) Là, je ne suis pas d'accord.

‘Da(mit) bin ich nicht einverstanden.’

4.2 Das grammatische là

Eine syntaktisch und phonologisch weniger autonome und somit stärker grammatikalisierte Form von kommt im gesprochenen Französisch in Verbindung mit dem proklitischen Demonstrativdeterminierer ce (oder einer seiner von Genus und Numerus abhängigen Varianten cet/ces/cette) vor. Allerdings ist in dieser Verwendung mit einer Nominalphrase nicht obligatorisch (vgl. ebd.).

(4) ce livre(-là)

‘dieses Buch (da)’

(5) cet homme(-là)

‘dieser Mann (da)’

Dieses postnominale - (und in opposition dazu - ci) ermöglicht eine Verstärkung des Ausdrucks von Nähe und Distanz. In der diachronen Betrachtung lässt sich feststellen, dass im Gegensatz dazu die Demonstrativa im Altfranzösischen bereits allein diesen semantischen Inhalt transportierten (cest ‚ das hier‘, cel ‚ das da‘). Diese Entwicklung ähnelt der Grammatikalisierung der Negationspartikel ne…pas. In beiden Fällen kam es zur Verstärkung eines semantisch ‚geschwächten’ Ausdrucks durch Kombination mit einem Element mit lexikalischem bzw. pragmatischem Inhalt, nämlich là/ci bzw. pas (vgl. Syea 2017: 75).

Eine weitere stark grammatikalisierte Form von findet sich im gesprochen Französisch in den demonstrativen Pronomina celui/celle-là. Hier ist das enklitische -là obligatorisch. Darüber hinaus bildet es das semantische Zentrum, was im folgenden Beispiel durch Substitution mit einem Relativsatz verdeutlich wird (vgl. Ploog & Reich 2006: 31).

(6) (ebd.)

Je vais m'acheter celui-là/celui que j'ai vu hier/*celui.

‘Ich kaufe mir den (hier/den ich gestern gesehen habe)/diesen (hier/den ich gestern gesehen habe).’

Des Weiteren wird im gesprochenen Französisch als Definitheitsmarker für Nomina benutzt, die bereits mit einer anderen Determinanten vorkommen.

(7) (Korpus Blanche-Benveniste, zitiert in Schøsler 2001: 105f)

a) ben oui tous les gars à la mode là qui font des fetes...

'well, yes, all these fancy guys who organise parties’

b) c’est un couple là qui déménage... ils habitaient au quatrième...

'it is a couple who are moving out... they lived on the fourth floor'

c) c’est le pouvoir là qui qui qui mine tant…

'it is the power that that that destroys so much'

Bei dieses Beispielen handelt es sich um Spaltsatzkonstruktionen mit fokussierter Nominalphrase, in denen keinen lokativen Wert hat, sondern insofern Definitheit markiert, als es sich auf einen dem Sprecher bekannten, aber dem Hörer unbekannten Referenten bezieht. Dies scheint auch die Erklärung dafür zu sein, dass dieser Definitheitsmarker in Verbindung mit dem indefiniten Determinierer un vorkommen kann (7 b) (vgl. Schøsler 2001: 105)

[...]


1 Eine andere Bezeichnung ist daher auch polysemy copying (vgl. u.a. Heine & Kuteva 2005: 100ff).

Fin de l'extrait de 42 pages

Résumé des informations

Titre
Die Grammatikalisierung von "la" im Guadeloupe-Kreol
Université
Free University of Berlin  (Institut für Romanistik)
Note
1,3
Auteur
Année
2018
Pages
42
N° de catalogue
V470633
ISBN (ebook)
9783668954076
ISBN (Livre)
9783668954083
Langue
allemand
Mots clés
grammatikalisierung, guadeloupe-kreol
Citation du texte
Jana Hesselfeld (Auteur), 2018, Die Grammatikalisierung von "la" im Guadeloupe-Kreol, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/470633

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