Funktionelle Rollen der Frauenfiguren in Gottfrieds "Tristan"

Isolde 1, Isolde 2, Isolde 3 und Brangæne


Term Paper, 2019

22 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

I) Einleitung (Gottfrieds Quellen, Fragestellung, Forschungsüberblick)

II) Handlungstragende Frauen
A) Isoldes funktionelle Rollen
B) Brangæne als Komplizin und Substitut: die vierte Isolde

III) Fazit

IV) Literaturverzeichnis

I) Einleitung (Gottfrieds Quellen, Fragestellung, Forschungsüberblick)

Gottfried von Straßburg hat als Vorlage für seinen um 12101 verfassten Versroman „Tristan“, der unvollendet geblieben ist2, den altfranzösischen Dichter Thômas von Britanje (V. 150)3, dessen Tristanwerk nur in Fragmenten überliefert ist, benutzt. Es ist in der Forschung umstritten, ob Gottfried Eilharts Tristanroman kannte, jedoch distanziert der mittelhochdeutsche Epiker sich explizit von seinen Vorgängern im Prolog (vgl. V. 131‒134).

Wenngleich die mittelhochdeutsche Literatur weitgehend von männlichen Protagonisten dominiert scheint und die Titel der Werke nur den Rittersnamen widergehen (z. B. Erec, Iwein, Parzival), sind die handlungstragenden weibliche Figuren in Gottfrieds Tristan auffällig. In der Forschung wurden bereits verschiedene funktionelle Rollen von Frauen, wie die Frau als Heilige, Mutter4, Herrscherin, Dichterin, untersucht5. Auch fokussiert die Tristanforschung häufig Figurenkonstellationen, vor allem die Dreierkonstellation Tristan-Isolde-Marke6, allerdings wurden beide Forschungsinteressen bis jetzt noch nicht verbunden und zu einer Viererkonstellationen erweitert. Die vorliegende Arbeit soll deshalb die funktionellen Rollen der vier weiblichen Figuren des Vierer-Schemas Isolde 1, Isolde 2, Isolde 3 / Brangaene untersuchen.

Auf die Formkraft des 1, 2, 3 / 4-Schemas, einem methodisch nachgewiesenen, indo-europäischen Ordnungsprinzips, weist erstmals Reinhard Brandt hin.7 Das Muster hat eine simple Form einer in sich abgeschlossenen Dreiheit von Elementen, zu denen ein viertes Element gehört. Das Trio sei gleichrangig und vollständig, bedürfe aber einer weiteren Komponente als Impuls der Bewegung bzw. Reflexion der Dreiheit. Das vierte Element leistet die begründende Einheit der anderen drei Glieder. Es handelt sich nicht um eine Zwangsvorstellung, sondern eine erzählerische Kohärenzbildung – die Reihe (der vier Isolden) ist nicht beliebig erweiterbar. Diese universelle Matrix soll in Gottfrieds Tristan am Schema der Isoldefiguren (Mutter Isolde, blonde Isolde, Isolde Weißhand / Brangaene) herausgearbeitet werden. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass Brangaene das notwendige Bindeglied zwischen den ersten drei Isolden ist.

Aufgrund der Tatsachen, dass Gottfrieds beteuerte Quellentreue (V. 149‒172) in der Forschung bezweifelt wird, der Umfang seiner Änderungen nicht nachweisbar ist8 und Spekulationen verhindert werden sollen, wird sich die Analyse nur auf das gottfriedsche Fragment beziehen.

II) Handlungstragende Frauen

A) Isoldes funktionelle Rollen

A.1) Isolde 1 als Herrscherin und Heilerin

Die irische Königin wird von ihrem Bruder Morold als mächtige Heilerin9, deren Fähigkeiten Tristans einzige Überlebenschance darstellen, eingeführt (vgl. V. 6944‒53; 72293‒99). Die heilenden Fähigkeiten der arzât (V. 7791), wie sich die Königin selbst nennt, übersteigen die der universitär-ausgebildeten Ärzte, sodass deren Erwähnung nicht nur zur Betonung von Tristans Notwendigkeit der Inanspruchnahme von den Heilkünsten der Königin10, sondern auch zur Erhöhung der Figur, dienen: arzâte man besande / von bürgen und von lande / die allerbesten die man vant. / wie dô? Die wâren besant, / die leiten allen ir sin / mit arzâtlichem liste an in / waz truoc daz vürr oder waz half daz? / im was doch nihtes deste baz. / daz s’alle samet wisten / von arzâtlichen listen, / daz enmohte im niht zu staten gestân. (V. 7257‒67)

Nicht nur die Ärzte in Cornwell, sondern auch die irischen Ärzte bei Tristans Ankunft scheitern (vgl. V. 7753‒57). Die Königin wird oft als wîse (V. 7401) charakterisiert und ihre Lobpreisung als weise Königin11 ist besonders oft in Verbindung mit ihren Fähigkeiten als Heilerin verbunden: „Diu wîse küniginne / diu kêrte alle ir sinne / und alle ir witze dar an, / wie sî generte einen man, / umbe des lîp und umbe des leben / si gerne haete gegeben / ir lîp und alle ir êre“ (V. 7911‒17); „diu wîse Îsot diu sach in an / und sach wol, daz er lebete“ (V. 9404f.); Sie macht nicht nur eine schnelle Diagnose, sondern weiß auch das richtige Gegenmittel für Tristan: „trîaken nam diu wîse dô, / diu listege künigîn / und vlôzte im der also vil în, / biz das er switzen began“ (V. 9436‒39).

Gottfried arbeitet „two Isoldes out of one“12 heraus, denn in seiner Vorlage von Thomas wird die Konstellation von Mutter-Tochter Isolde nur angedeutet. Die Herausarbeitung des Konzepts der Mutter Isolde / Tochter Isolde hat zur Folge, dass der Großteil der Handlung, die bei Thomas und Eilhart von Isolde der Schönen ausgetragen wird, der irischen Königin zugeschrieben wird. Laut Altpeter-Jones sei die Funktion der Abspaltung der heilenden Isolde von der liebenden Isolde die Aufhebung der Spannung, welche die Wahrnehmung von unerfüllter Liebe im Minnesang konstituiert: In der Minnesang-Lyrik sind Frauen diejenigen, die heilen als auch verletzen und das glückliche Ende bzw. den Tod bedeuten können.13 Dem ist entgegenzubringen, dass die junge Isolde nur vom materiellen Bereich der Heilung ausgeschlossen ist, sodass eine „Spaltung des arzatie -Bereiches in eine materielle und eine metaphorische Sphäre, in der aber sowohl Mutter wie Tochter eine heilende Wirkung“14 haben, festzustellen ist.15. Auch wenn „s’in ouch generte“ (V. 11945) sich auf den ersten Blick auf Isolde 2 beziehen könne, setzt sich das Heilen der Mutter von der Ausbildung der Tochter durch die Verwendung des Reflexivpronomens deutlich ab (V. 11947f.): „wie si selbe in sîner pflege […] lernete“. Die Darstellung der heilenden Königin ist ambivalent.16 Einerseits heilt sie Tristan, andererseits vergiftete sie das Schwert ihres Bruders mit der Racheintension, dass wenn Morold sterben würde, sein Gegner ebenfalls stirbt, da die einzige Rettung sie selbst ist. Mit der Verwundung Tristans ist folglich seine unausweichliche Reise nach Irland verbunden, sodass die Königin auch hier den bewegenden Grund erschaffen hat, die Handlung vorantreibt und letztlich sich selbst in die Handlung vor ihrem eigentlichen Auftritt einführt. Tristan enthält der Königin seine wahre Identität vor, indem er sich als der Spielmann Tantris ausgibt und erhandelt seine Genesung durch das Versprechen, sich der Erziehung ihrer Tochter anzunehmen. Die Ambivalenz wird ebenfalls deutlich, wenn die alte Isolde ihre bewusste Machtposition über Leben und Tod17 Tristans äußert und somit die Gegenleistung von Tristan erpresst: „dar umbe will ich dir dîn leben / und dînen lîp ze miete geben / wol gesunt und wol getân / diu mag ich geben unde lân, / diu beidiu sint in miner hant“ (V. 7855‒59). Auch die erneute Verletzung durch den Drachenkampf wird von Isolde 1 geheilt. Folglich ist die Funktion der alten Isolde die Kontrastierung zu dem schwachen, da verwundeten und vor ihr abhängigen Helden.

Unter ihre heilenden Fähigkeiten fällt schließlich auch das Brauen des magischen Minnetranks18.

Die irische Königin geniest einen guten Ruf und große Bekanntheit: „wan von ir vlouc ein mære / in allen den bîlanden, / diu ir namen erkanden: / diu wîse Îsôt, diu schœne Îsôt / diu liuhtet alse der morgenrôt“ (V. 7288‒92). Mit morgenrôt wird proleptisch ihre Tochter, die sunne (V. 8280), angekündigt.

In der Rolle der Herrscherin, die sich ihrer Pflichten bewusst ist, hindert Isolde 1 ihre impulsive Tochter daran, den schutzlosen im Bad sitzenden Helden zu töten und erinnert diese an das geschworene Gastrecht, welches nicht gebrochen werden darf (vgl. 10207‒216). Gleichzeitig übt sie aber auch ihrer Funktion als Mutter aus, wenn sie ihre Tochter auf ihre altruistische mütterliche Liebe aufmerksam macht: „nu vürhte ich eine nôt von dir, / entriuwen tohter, diu gât mir / vil nâher danne jeniu tuo. / mir wart nie niht sô liep sô duo“ (V. 10293‒6) Das politische Interesse an ihrem Verzicht auf die Rache am Brudermörder darf jedoch nicht vernachlässigt werden: Um die Gefahr der standesunmäßigen Ehe, durch die das Ansehen ihrer Familie verloren wäre, abzuwenden, benötigt sie die Mithilfe des richtigen Drachentöters.19

Die alte Isolde hat militärische Verfügung über ihren Bruder Morold, der sie persönlich in anderen Ländern vertritt, um diese in ihrem Namen zu unterwerfen. Im Vergleich zur seiner Gemahlin wirkt der irische König eher schwächlich. Die einzige politische Handlung Gurmûns ‒ die Verbannung der Engländer als Reaktion auf den Mord seines Schwiegerbruders ‒ wird vom Erzähler als nicht angemessen kommentiert. Des Weiteren glaubt Gurmûn dem Truchsessen unüberlegt und ist nicht in der Lage seine Tochter alleine zu beschützen. Positiv am König wird sein Vertrauen in seine kluge Frau dargestellt, sodass sie eine harmonische Gemeinschaft bilden, in der Isolde 1 auf Wunsch Entscheidungen überlassen werden (vgl. V. 10630‒10658). Während der Ermittlungen um den wahren Drachentöter seien es immer die Entscheidungen der Königin und ihr sicheres Handeln, die die einzelnen Ereignisse ins Rollen bringen.20 Vor dem Gerichtsprozess bittet Gurmûn seine Frau um Rat, die schon längst alles in die Wege geleitet hat. Während des ersten Gerichtstages geht die Gesprächsführung von der Königin aus. Auch wenn der Truchsess versucht die Königin zum Schweigen zu bringen, indem er darauf hofft, dass der unvorbereitete König sprechen wird („der kann doch selbe sprechen wol“ V. 9827), bekräftigt der König die Legitimation der Rede seiner Frau: „‘vrouwe, sprechet ir / vür iuch, vür Îsôt und vür mich!‘“ (V. 9830f.) Die Tochter entscheidet weder in dieser noch in anderen politischen Entscheidungen mit, weil sie allein dem Minnebereich ‒ zu dem ihre Mutter mit Ausnahme des Minnetranks wiederrum keinen Bezug hat ‒ zugeordnet ist wie später gezeigt wird. Sie spricht zwar am Anfang des zweiten Gerichtstages, allerding nur auf der emotionalen Ebene (vgl. V. 9853ff., 9864f.), wodurch die argumentative Ebene der Mutter vorenthalten ist. Somit unterscheiden sich die Richtungen des Handelns von Königin und Prinzessin: Isolde 1 agiert primär öffentlich nach außen, Isolde 2 hingegen nach innen im Minnebereich21.

A.2) Isolde 1 und 2 als Mutter und Tochter

Entgegen der von Rasmussens aufgestellten Feststellung ‒ „women’s instrumental function and the sexualization of women, the reduction of women to their function as sexual objects, go hand in hand, pervading medieval representations of mothers and daughters“22 ‒, soll bewiesen werden, dass Gottfried eine emotional enge Mutter-Tochter-Beziehung entfaltet, die die zweite Funktion der alten Isolde als Vertreterin der mütterlichen Liebe verdeutlicht.

Die Beziehung von Isolde 1 und 2 sei eng mit politischen Entscheidungen verbunden und beruhe nichtsdestotrotz auf einem „erstaunlich engen Gemeinschaftsgefühl der zwei Frauen“23. Die alte Isolde hat von Kindesalter eine gute Ausbildung „an maneger guoten lêre, / mit manegem vremdem list“ (V. 7712f.) durch einen Pfaffen, welcher auch ihre Tochter unterrichtet, erhalten. Um die Weitergabe des Wissens an ihr einziges Kind ist die Königin seit dem Zeitpunkt, an dem ihre Tochter aufnahmefähig war, mit alle ir vlîzekeit (V. 7721) bemüht gewesen. Die Königin heilt Tristan unter der Bedingung, dass er ihre Tochter in den Fähigkeiten unterrichtet, die ir meister (V. 7853) und sie selbst nicht beherrschen. Hier wird deutlich, dass die alte Isolde darauf aus ist, ihre Tochter Allen – sich selbst eingeschlossen ‒ in jedem Bereichen überlegen zu machen. Die Schönheit der Mutter (vgl. V. 7291) wird von der ihrer Tochter übertroffen, sodass schoene das Epitheton letzterer ist24. Am zweiten Gerichtstag beschreiben 139 Verse den Auftritt von Mutter und Tochter, von denen 122 auf die Königstochter entfallen. Diese ungleichgewichtige Beschreibung zeigt die typologische Überbietung einerseits in der Metaphorik, andererseits auf der formal-quantitativen Ebene.

Nach dem Drachenkampf betont Gottfried durch eine Anadiplose die gute Zusammenarbeit von Mutter und Tochter bei der Pflege des Verwundeten: „Die küniginne beide, / beide âne underscheide, / si nâmen in ze handen“ (V. 9613ff.). Die Rolle der Mutter wird exponiert, wenn die junge Isolde in Tränen ausbricht und an Selbstmord denkt (vgl. V. 9286ff.) nach sie die Nachricht erhält, den Truchsess heiraten zu müssen: Aktiv nimmt die alte Isolde die Sache in die Hand und handelt gegen den Beschluss ihres Ehemannes. Der Einfluss auf den Charakter ihrer Tochter und die Ähnlichkeit von Mutter und Tochter werden transparent durch die Worte der Königin: „ez ist ir g’artet von mir“ (V. 9937).

So wie die Tochter Männer magisch anzeigt, so hat die Mutter magisch-hellseherische Fähigkeiten (vgl. V. 9298ff., 9357). Den Minnetrank braut die Mutter, um sicher zu stellen, dass ihre Tochter eine glückliche Ehe führt, denn ihre Tochter sei ihr beste leben (V. 11471) und mit der Übergabe an Brangæne vertraut die Mutter ihr zwei Leben an: „ich unde sî sîn dir ergeben“ (V. 11472). Die Trennung der drei Verwandten bei der Abreise von Irland wird emotional charakterisiert, obwohl die irische Königin indirekt ihren Einfluss auf ihre Tochter einerseits durch den Minnetrank und andererseits durch die Obhut Brangænes (vgl. V. 11469f.) sichergestellt hat. Classen sieht in der englischen Königin eine „machtvolle Repräsentantin ihrer Mutter“25, da sie an Markes Hof mithilfe von Brangæne ihren eigenen Gelüsten folgen könne, ohne ihre rechtlichen Verpflichtungen zu vergessen. Der Gebrauch des Adjektivs ‚machtvoll‘ erscheint jedoch unangemessen, weil die blonde Isolde weder politischen Einfluss anstrebt noch von Marke um Rat bei politischen Entscheidungen gefragt wird.

A.3) Isolde 2 als Ehefrau

Obwohl Marke den Betrug der Hochzeitsnacht26 nicht erkennt und dadurch rechtlich betrachtet nicht der legitime Ehemann27 Isoldes 2 ist, erfüllt die junge Isolde ihre teidinc (V. 12672) als Ehefrau in der Öffentlichkeit, gleichwohl sich die Bezeichnung êlîch wîp in Bezug auf Isolde 2 kein einziges Mal findet. Die Gabe des Ringes an Tristan durch Isolde stellt hingegen ein symbolisches Verlöbnis dar, welches achronistisch erscheint, da die Hochzeitsnacht zuerst vollzogen wurde. Auch Barandun erkennt in der Beziehung eine rechtskräftige Friedelehe durch die Gesamtheit folgender Elemente an: die respektive Konsenserklärung (vgl. V. 12026ff.), Brangaenes Ehepredigt28 sowie der einunge an in beiden (V. 12174).29

So wie ihre Mutter deckt auch Isolde 2 Mängel von männlichen Figuren auf. Die Königstochter wird wie ein Objekt bei der Heiratsverhandlung behandelt wie ist selbst bemerkt: „ine weiz, wie ich verkoufet bin“ (V. 11590). Mehr noch als Gurmûn wird Marke als König systematisch demontiert, denn Markes Verwirrung im privaten Bereich (Hochzeitsnacht) äußert sich als Versagen in königlichen Fragen. Er scheitert als Herrscher, der Gandin unüberlegt jeglichen Rechtsanspruch gewährt (vgl. V. 13193ff.) und als Ehemann, der seine Ehefrau nicht zu beschützen vermag30. Die huote in der Ehe werde laut Johnson weder aufgrund des Konzepts der Ehefrau als Privatbesitz noch aufgrund von allgemeinem Besitz ausgeübt, sondern sei eine Folge von g elange 31, einem blinden, extremen Verlangen, welches der Rationalität entgeht. Marke sowohl als auch Tristan und Isolde verfallen diesem Gefühl, dennoch überwacht Tristan seine Geliebte im Gegensatz zu Marke nicht, sodass Johnsons notwendige Verknüpfung zurückzuweisen ist und zwei verschiedene Vorstellungen von Liebesbeziehungen32 zu erkennen sind. Während eine erboste33 Frau, der unrehte (V. 17867) in Form von Bewachung vom Mann angetan wurde, der huote durch Klugheit stets zu entwischen vermag, wird die aktive huote von der liebenden Frau durch sîne liebe (V. 17916) automatisch praktiziert: „der guoten darf man hüeten niht, / sie hüetet selbe, als man giht.“ (V. 17875f.) Die Frau wird für unschuldig erklärt und der bewachende Mann des Selbstbetrugs bezichtigt, denn die Handlungen der erbosten Frau, die ihre Gefühle offen darlegt, seien weder Täuschung noch Betrug, da „gelange der ist daz lougen“ (V. 17794). Die Minnevorstellung Markes, welcher für den typischen Zeitgenossen Gottfrieds steht34, dass Liebe erzwungen werden kann, wird als überholter Brauch angeklagt (V. 17917-17924):

[...]


1 Zu einer Übersicht zur Diskussion über die Datierung des Tristan vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 3: Kommentar, Nachwort und Register. Stuttgart 31991, S. 317‒321. Wird im Folgenden mit Kommentar, S. zitiert.

2 Die von Mergell vertretene These, dass es sich um ein vollendetes Werk handelt (vgl. Bodo Mergell: Tristan und Isolde. Ursprung und Entwicklung der Tristansage im Mittelalter. Mainz 1949, S. 269.), ist nicht haltbar, weil das Akrostichon unvollständig ist.

3 Alle Zitate nach Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1: Text. Stuttgart 51990. bzw. Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 2: Text. Stuttgart 31985., mit Versangabe im Text. Alle Hervorhebungen von der Verfasserin.

4 Vgl. Ann Marie Rasmussen: 'Ez ist ir G'Artet von mir': Queen Isolde and Princess Isolde in Gottfried von Strassburg's Tristan und Isolde. In: Arthurian Women: A Casebook. Hrsg. v. Thelma Fenster. New York 1996, S. 41‒57.

5 Vgl. Albrecht Classen: Die Mutter spricht zu ihrer Tochter: Literarhistorische Betrachtungen zu einem feministischen Thema. In: German Quarterly 75 (2002), H. 1, S. 71‒87, hier S. 71.

6 Vgl. Anina Barandun: Die Tristan-Trigonometrie des Gottfried von Strassburg : zwei Liebende und ein Dritter. Tübingen/Basel 2009.

7 Vgl. Reinhard Brandt: D'Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip in der europäischen Kulturgeschichte 1,2,3/4. München 1998.

8 Vgl. Kommentar, S. 342.

9 Altpeter-Jones Hauptthese lautet, dass Gottfrieds weibliche Heilerinnen (Isolde 1, Isolde 2 und Blanscheflur) die Idee der Gender Disparität betonen, die im Zusammenhang stehe mit medizinisch-wissenschaftlichen und literarischen Darstellungen von Liebeskummer. (Vgl. Katja Altpeter‐Jones: Love Me, Hurt Me, Heal Me—Isolde Healer and Isolde Lover in Gottfried's Tristan. In: German Quarterly 82 (2009), H. 1, S .5‒23, hier S. 6.) Wie im folgenden herausgearbeitet wird, muss man jedoch die Spaltung des Heilens in den materiellen Bereich der Mutter Isolde und den seelischen Bereich der Tochter beachten.

10 Vgl. Peter Meister: The Healing Female in the German Courtly Romance. Göppingen 1990, S. 137.

11 Keine männliche Figur des Romans ist durchgehend durch Intelligenz charakterisiert wie die alte Isolde, welcher nur Tristan in wisheit (V. 2775, 6260, 7885) ebenbürtig ist. Hinsichtlich der geistigen Fähigkeit ist die alte Isolde der „positivsten männlichen Hauptfigur“ gleichrangig, bezüglich ihrer Position als Heilerin jedoch überlegen. (Marion Mälzer: Die Isolde-Gestalten in den mittelalterlichen deutschen Tristan-Dichtungen : ein Beitrag zum diachronischen Wandel. Heidelberg 1991, S. 93.) Insgesamt wird die Königin 17 Mal als wîse bezeichnet.

12 Altpeter-Jones: Love, S. 6.

13 Vgl. ebd. Die Rolle der Heilerin von liebesverwundeten Männern, welche die einzige Kur kenne, sei frequenter als der männliche Liebesheiler. Dies stehe im starken Kontrast zur medizinischen Realität. Wie Wack hervorhebt, war das Diagnostizieren und Heilen von Liebeskummer eine die hochrangigen Männer betreffende Krankheit, die Aufgabe von universitätsgebildeten Ärzten, welche mit wenigen Ausnahmen männlich waren. (vgl. Mary Frances Wack: Lovesickness in the Middle Ages. Philadelphia 1990, S. XI.) Diese zeitgenössische Realität verdeutlicht die Aufwertung von Isolde 1.

14 Mälzer: Isolde-Gestalten, S. 89.

15 Tax argumentiert dafür, dass die schöne Isolde metaphorisch auch als Heilerin auftrete, da die Metaphern vom Verwundet werden und Heilen in der ersten sexuellen Begegnung von Tristan und Isolde auffällig ähnlich sind zu den Metaphern von Liebe und sexueller Erfüllung. (vgl. Petrus Tax: Wounds and Healings. Aspects of salvation and tragic love in Gottfried’s Tristan. In: Gottfried von Strassburg and the Medieval Tristan Legend. Hrsg. v. Adrian Stevens and Roy Wisbey. Cambridge 1990, S. 223‒33, hier S. 224.) Streng abzulehnen ist Altpeter-Jones‘ Begründung der Isolde 1- Isolde 2 Spaltung, welche behauptet, dass die Separation dazu diene, Isolde 2 von negativen Konnotationen zu befreien. (vgl. Altpeter-Jones: Love, S. 16.) Wie im Folgenden gezeigt wird, verurteilt der Erzähler Isoldes 2 fehlende mâze.

16 Altpeter-Jones weist darauf hin, dass die von der Frau ausgeübte Macht über den verwundeten Mann die historisch-gesellschaftliche Ordnung invertiere, sodass „the tension associated with this inversion of a traditionally gendered hierarchy also drives […] the portrayals of women as the healers.” (ebd., S 15.) Auch die Tochter der Königin wird ambivalent konnotiert durch das Sirenengleichnis (vgl. V. 8085ff.).

17 Das Vorenthalten der Heilung eines leidenden Mannes wird in der Episode von Tristans Tod bei Thomas vorgeführt: Tristan ist mit Isolde Blanchemain verheiratet und leitet an einer vergifteten Wunde. Er ruft die blonde Isolde, um ihn zu heilen, stirbt jedoch vor ihrer Ankunft, weil seine Frau ihn belügt und glauben lässt, dass Isolde nicht auf dem Schiffe sei. Meister sieht treffenderweise Isolde Blanchemain als einen „reverberation of the Queen Isolde type“ an. (vgl. Meister: The healing female, S. 123.) Neil Thomas betont hingegen, dass indem Isolde 3 ihrem Ehemann die letzte Chance auf körperlich-seelische Heilung nehme, sie ihn zum Tode verdammt, anstatt ihn in die Hände ihrer Rivalin zu geben. Isolde 2 stehe in einem besseren Lichte, da sie die beständige Separation von Tristan akzeptiert, anstatt ihn zu bitten bei ihr zu bleiben. Zudem zögert sie nicht, dem Verwundeten zu Hilfe zu eilen. (vgl. Neil Thomas: The Isolde of the White Hands Sequence. In: A companion to Gottfried von Strassburg’s Tristan. Hrsg. v. Will Hasty. Rochester 2003, S. 183‒201, hier S. 185.)

18 Das Trinken des weinähnlichen Minnetranks erinnert an das Schließen von Blutsbrüderschaften (siehe Nibelungenlied).

19 Mälzer übersieht Isoldes Rolle als Mutter, wenn sie behauptet, dass das Truchsess-Motiv in der Entscheidung zweitrangig sei, da die Souveränität der Herrscherin vorrangig exponiert werden solle. (vgl. Mälzer: Isolde-Gestalten, S. 116.)

20 Vgl Albrecht Classen: Matriarchy versus Patriarchy: The Role of the Irish Queen Isolde in Gottfried von Strassburg's "Tristan". In: Neophilologus 73 (1989), H. 1, S. 77‒89, hier S. 82.

21 Die erste selbstständige Handlung der jungen Isolde ist das Ersinnen der Hochzeitsnacht-List. Brangaenes beide Bereiche umfassende Position wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass sie in Irland politische Ratgeberin gewesen ist und in England ihr Handeln auf die Minne des Paares beschränkt.

22 Ann Marie Rasmussen: Mothers and daughters in Medieval German Literature. Syracuse 1997, S. 23.

23 Classen: Die Mutter spricht, S. 79f.

24 Vgl. V. 7817, 7973, 7984, 8071, 8083, 8123, 8132.

25 ebd., S. 80.

26 Die Hochzeitsnachtkonstellation erinnert invertiert an das Nibelungenlied, wo Gunters körperliche Schwäche die Substitution durch Sigfried erfordert, um Brunhild in der Hochzeitsnacht zu überwinden. Den jeweils Substituierenden gemein ist, dass sie körperliche Eigenschaften (sei es die Jungfräulichkeit oder Stärke) aufweisen, die den Substituierten fehlen.

27 Kirchenrechtlich ist eine Ehe vollständig, wenn Ehegabe, elterliche Zustimmung, priesterlicher Segen und die geschlechtliche Vereinigung zusammenkommen. (vgl. Barandun: Trigonometrie, S. 76.)

28 Brangaenes Versprechen „ich will iu guote state ê lân“ (V. 12135) ähnele als Paraphrase der amtlichen Erklärung ego vos coniungo, welche in der priesterlichen Ehesegnung vorkomme. (vgl. ebd., S. 97.)

29 Vgl. ebd., S. 93.

30 Der Mangel an êre findet seinen Höhepunkt in Markes Unwillen zu kämpfen: „noch Marke selbe enwolde / niht vehten umbe Îsolde“ (V. 13249f.)

31 Vgl. Laurie Johnson: Reading the Excursus on Women as a Model of 'Modern' Temporality in Gottfried's Tristan. In: Neophilologus 82 (1998), H. 2, S. .247‒57, hier S. 249. Johnson schreibt allerdings fälschlicherweise diesen kausalen Zusammenhang Gottfried zu, indem er die Passage des Sündenfalls (V. 17931-17946) als Beleg angibt. Diese ist jedoch als Beispiel für Verbote angeführt und setzt sich mit ouch (V. 17925) deutlich von dem Problem der huote ab, da sonst blasphemisch impliziert wäre, dass Gott Eva aufgrund von gelange bestraft habe. Hervorzuheben ist jedoch, dass in Gottfrieds Begründung der angeborenen art (V. 17933) der Frauen, die Schuld des Sündenfalls allein Eva gegeben und der Einfluss der Schlange außer Acht gelassen wird. Dies ist nicht misogyn, sondern als vereinfachte Erklärung des Ursprungs auszuwerten.

32 Johnsons Einschränkung der huote auf die eheliche Beziehung ist nicht gerechtfertigt, da der Text offenlässt, in welcher rechtlichen Beziehung der Mann und die Frau zueinander stehen.

33 Rüdiger Krohns Übersetzung der Reclam Ausgabe impliziert eine Wertung der Frauen, die so im Text nicht gegeben ist. Weder ist mit übelen (V. 17875) eine Dichotomie von „böse[r] Frau“ vs. gute Frau gemeint, noch meint verlorn (V. 17924) „verdorben“. Es wurde nicht bœse verwendet, vielmehr muss man den Kontext einbeziehen, der hier die erboste Frau meint. Verlorn ist zu verstehen als Gegensatz zu gewinnen, da der bewachende Mann gar keine Aussichten auf eine wohlwollende Frau hat.

34 „Ahî, waz man ir noch hiute siht / der Marke und der Îsolde, ob man’z bereden solde, / die blinder oder alse blint / ir herzen unde ir ougen sint!“ (V. 17770-17774) Die Vielzahl wird noch einmal betont: „irn ist niht dekeiner, /ir ist maniger und einer“ (V. 17775f.)

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Details

Title
Funktionelle Rollen der Frauenfiguren in Gottfrieds "Tristan"
Subtitle
Isolde 1, Isolde 2, Isolde 3 und Brangæne
College
Humboldt-University of Berlin  (Deutsche Literatur)
Course
Vier gewinnt! Mustererkennung in vormoderner Literatur
Grade
1,0
Author
Year
2019
Pages
22
Catalog Number
V490827
ISBN (eBook)
9783668972896
ISBN (Book)
9783668972902
Language
German
Keywords
123/4-Schema, Mustererkennung, Mediävistik, Mittelhochdeutsch, Tristan, Gottfried von Straßburg, Isolde, Frauenfiguren, Brangäne
Quote paper
Alexandra Priesterath (Author), 2019, Funktionelle Rollen der Frauenfiguren in Gottfrieds "Tristan", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/490827

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