Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Coming-of-Age Filme
2.1. Entwicklung des Coming-of-Age Films & Beschreibung genreprägender Beispiele
2.2. Zentrale Merkmale des Genres
3. Boyhood und The Kids Grow Up als Coming-of-Age Filme
3.1. Boyhood (Linklater, USA 2014)
3.1.1. Merkmale des Coming-of-Age Films in Boyhood
3.1.2. Besonderheiten von Boyhood
3.2. The Kids Grow Up (Block, USA 2009)
3.2.1. The Kids Grow Up als Coming-of-Age Film?
4. Vergänglichkeit und Gegenwart in Boyhood und The Kids Grow Up
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
7. Filmverzeichnis:
1. Einleitung
Die Jugend ist die meist prägendste Phase im Leben eines Menschen. Dies ist allgemeiner Konsens in der Psychologie, aber auch in die Welt der Kunst und Kultur ist unser Erwachsenwerden ein wiederkehrendes Thema. So gibt es Bücher, Lieder, Theaterstücke, Serien und natürlich auch Filme über das Erwachsenwerden. Von eben diesen sogenannten Coming-of-Age Filmen soll diese Arbeit handeln. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf deren Zeitkonstrukte gelegt und deren Darstellung von Vergänglichkeit und Gegenwart genauer beleuchtet werden. Um eben dies zu tun, scheinen die Filme BOYHOOD (Linklater, USA 2014) und THE KIDS GROW UP (Block, USA 2009) als geeignete Untersuchungsobjekte, da beide Filme zum einen das Genre Coming-of-Age auf eine eher unkonventionelle Art und Weise bedienen und beide dabei zum anderen spezieller Zeitdarstellungen verwenden.
Diese Arbeit soll dabei der Frage nachgehen, inwiefern solche Coming-of- Age Filme durch den Einbezug dokumentarischer Charakteristika besondere Zeitkonstrukte entwickeln. Zunächst soll zu diesem Zweck das Genre des Coming-of-Age Films von anderen Genres abgegrenzt werden. Dies geschieht durch eine kurze filmhistorische Herleitung, die den Ursprung des Genres im Jugendfilm beschreiben soll. Daraufhin sollen anhand eines für den Coming-of-Age Film typischen Beispiels die wesentlichen Merkmale des Genres beschrieben werden. Diese wesentlichen Merkmale sollen dabei die Grundlage für die Untersuchung der beiden Filme BOYHOOD und THE KIDS GROW UP auf ihre genretypischen Ausprägungen sein. Dabei soll ebenfalls herausgearbeitet werden, inwiefern die beiden Filme sich von typischen Coming-of-Age Filmen unterscheiden. Im Folgeschritt soll näher auf den dokumentarischen Charakter der beiden Filme eingegangen und dabei untersucht werden, auf welche Art und Weise durch diesen besondere Zeitkonstrukte zu Stande kommen, welche der Narration der beiden Filme auch in ihrer Eigenart als Coming-of-Age Filme zuträglich sind. Schlussendlich soll ein Fazit gezogen werden und im selben Schritt ein Ausblick auf weitere Untersuchungs- ansätze gegeben werden, die sich auf Grundlage dieser Arbeit ergeben könnten.
2. Coming-of-Age Filme
Es ist schwierig den Coming-of-Age Film als Genre klar zu definieren, da er keine so starken ikonographischen Stilmittel herausgebildet hat, wie klassische Genres dies getan haben (vgl. Schmidt 2002: 38). So kann man zum Beispiel bei einem Western sehr schnell verschiedene Merkmale herausarbeiten, die einen Film als Western kennzeichnen, während Filme, die dem Genre Coming-of-Age angehören, dagegen eine Vielzahl verschiedener Stilmittel aus verschiedenen Genres verwenden können (vgl. ebd.). Die Definition bleiben relativ vage, so z.B. auch die von Wegener (2011: 129): „Mit der Bezeichnung Coming-of-Age ist eben solchen Filmen ein Name gegeben, die die Sicht der späten Kindheit einnehmen und den Übergang in die Erwachsenenwelt thematisieren.“
Um den Coming-of-Age Film noch detaillierter beschreiben, besondere Merkmale des Genres benennen und von anderen Genres wie z.B. dem Jugendfilm abgrenzen zu können, soll daher in diesem Kapitel auf seine Entwicklung eingegangen und genreprägende Filmbeispiele beschrieben werden. Danach werden die für ihn charakteristischen Elemente - unter anderem anhand eines typischen Beispiels - herausgestellt.
2.1. Entwicklung des Coming-of-Age Films & Beschreibung genreprägender Beispiele
Der Coming-of-Age Film wird in der wissenschaftlichen Literatur als Herausbildung des Jugendfilms gesehen. Um sich dem Genre Coming-of- Age nähern zu können, orientieren sich viele Genreforscher zunächst am amerikanischen Jugendfilm der 1950er Jahre. Hierbei spricht Doherty (2002: 2) von sogenannten Teenpics und Shary (2014: 2) von sogenannten Teen Films. Ihnen gemeinsam sei grundsätzlich die Jugendlichkeit der Protagonisten und in den 1950er Jahren verstärkt das Image des Rebellen des Hauptcharakters (vgl. Schumacher 2013: 302). Als Beispiele sind hier James Dean (REBEL WITHOUT A CAUSE, Ray: USA 1955) und Marlon Brando (THE WILD ONE, Benedek: USA 1953) zu nennen. Rebellion gegen das Elternhaus war zu dieser Zeit (und noch in 1960er Jahre hinein) zentraler Bestandteil des amerikanischen Jugendfilms (vgl. Schumacher 2013: 302). Laut Schumacher (ebd.) sei REBEL WITHOUT A CAUSE als erster Film mit Elementen des heutigen Coming-of-Age Dramas anzusehen.
In REBEL WITHOUT A CAUSE steht vor allem das Erwachsenwerden des Protagonisten Jim Stark (James Dean) im Vordergrund (vgl. Schumacher 2013: 303). Laut Slocum (2005: 127) wird durch verschiedene Metaphern im Film der Übergang des Protagonisten von der Jugend ins Erwachsensein sowie die Trennung von der eigenen Rebellion gezeigt. Da diese Rebellion charakteristisches Hauptmerkmal der Jugendlichen in REBEL WITHOUT A CAUSE ist, trenne der Protagonist sich somit metaphorisch gesehen auch von (zumindest einem Teil) seiner Jugend (vgl. ebd.). Laut Considine (1985: 90) könne REBEL WITHOUT A CAUSE hauptsächlich als Familiendrama angesehen werden, da Jim Stark, wie alle Dean- Charaktere, als Junge zu verstehen sei, dessen Eltern an seiner Erziehung gescheitert sind (vgl. ebd: 59). Dennoch sei REBEL WITHOUT A CAUSE durch verschiedene Kriterien gekennzeichnet, die heute als charakteristisch für Coming-of-Age Dramen gelten (vgl. Schumacher 2013: 303f). Der Film erzähle nach Schumacher (ebd.) von einem seelischen Reifungsprozess, der im Erwachsenwerden mündet. Um den Status des Erwachsenseins zu erlangen, müsse sich Jim moralisch behaupten. Darüber hinaus habe Jim Stark lernen müssen Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen und sich weniger mit den Ansichten anderer Menschen zu beschäftigen, was laut Küffner (2015: Kindle Position 1459-1461) zentrales Element jedes Coming-of-Age Films sei.
Nach REBEL WITHOUT A CAUSE wurde in den 1950er Jahren eine Vielzahl von Jugendfilmen gedreht und durch ihre verschiedenen Ausprägungen etliche Unterkategorien, wie Science Ficiton, Horror und Actionadventure Teenpics, jugendliche Comedy-Romanzen oder Rock`n`Roll-Musicals, des Genres begründet (vgl. Schmidt 2002: 44). In den 1960er Jahren folgte dann eine Serie von BEACH PARTY Filmen (Asher/Weis, USA 1963-1968) (vgl. Schmidt 2002: 44f), in denen aber eher eine Abfolge von verschiedenen Partys und jugendliche Liebesreigen eine Rolle spielten und der jugendliche Reifungsprozess, der für Coming-of-Age Filme zentral ist, eine untergeordnete Rolle spielte (vgl. Schumacher 2013: 304). Allerdings gab es in den 1960er Jahren auch durchaus Jugendfilme, die einen Reifungsprozess in den Mittelpunkt stellten, und so das Coming-of-Age Thema weiterhin aufgriffen. Hier ist z.B. THE GRADUATE (Nichols, USA 1967) zu nennen, in welchem sich der Protagonist Benjamin Braddock (Dustin Hoffman) der emotional verarmten Welt in seinem Mittelklassen- umfeld bewusst wird und realisiert, dass er nicht mehr nach den Regeln dieser Welt spielen muss, wenn er es schafft ihren beklemmenden Erwartungen zu entsagen und Liebe zu finden (vgl. Schmidt 2002: 32ff).
Als Meilenstein für den Jugendfilm wird außerdem vielfach AMERICAN GRAFFITI (Lucas, USA 1973) genannt, welcher laut Schumacher (2013: 304) als Prototyp des retrospektiv erzählten Jugendfilms zu verstehen sei. In AMERICAN GRAFFITI würde demnach die, in den 1960er Jahren durch die BEACH PARTY Reihe populär gewordene, episodische Erzählweise und der Einbezug von Popmusik zwar aufgegriffen, vor allem aber wieder stärker mit dem Coming-of-Age Thema verbunden. Außerdem lasse er sich als Vorlage für die beiden Genres, das Teen Movie und das Coming-of-Age Drama lesen (vgl. ebd.: 314). Da er als Prototyp und als genreprägendes Beispiel des Coming-of-Age Films gesehen werden kann soll hier zunächst eine kurze Beschreibung des Films erfolgen, da dieser im folgenden Kapitel auch als Beispiel bei der Beschreibung zentraler Merkmale des Genres dienen soll.
Der Film1 handelt von 4 Jugendlichen: Curt Henderson (Richard Dreyfuss), Steve Bolander (Ron Howard), Terry Fields (Charles Martin Smith) und John Milner (Paul Le Mat). Curt und Steve haben gerade die High School abgeschlossen und sind kurz davor aufs College zu gehen, Terry und John bleiben in der gemeinsamen Heimatstadt der vier Jugendlichen. Der Film erzählt von der letzten Nacht bevor Curt und Steve (planmäßig) die Stadt verlassen. Jeder der Protagonisten verfolgt in dieser Nacht bestimmte Ziele. Jeder der vier Protagonisten wird im Verlauf der Story allerdings seine Pläne ändern bzw. seine Ziele verfehlen.
Curt, der daran zweifelt, wirklich die Stadt zu verlassen, und versucht, eine schöne Unbekannte in einem weißen T-Bird zu finden, findet diese nicht und verlässt die Stadt am Ende in Richtung College, trotz der Aussicht, sie in der nächsten Nacht auf der Hauptstraße zu treffen. In der letzten Szene des Films, in der Curt im Flugzeug sitzt und aus dem Fenster schaut, sieht er auf einer Landstraße parallel zu seiner Flugbahn einen weißen T-Bird entlangfahren. Schumacher (2013: 316) deutet diesen als metaphorische Darstellung seiner Sehnsucht, welche ihn zwar begleite, aber gleichzeitig, genau wie seine Jugend selbst, in weite Ferne gerückt sei. Dieses Bild ist demnach einerseits eine metaphorische Darstellung seines Erwachsen-werdens. Andererseits zeigt sie seine zunehmende Entfernung von Träumereien und einer idealistischen Sichtweise auf sein Leben, zugunsten derer er eine eher realistische Position einnimmt.
Steve, der sich von seiner Freundin Laurie trennen will, um auf dem College viele sexuelle Erfahrungen machen zu können, bemerkt, dass er Laurie liebt und entschließt sich deshalb doch in der Stadt zu bleiben. Auch Steve verabschiedet sich hier von idealistischen Vorstellungen und Träumereien von einem aufregenden Leben mit vielen sexuellen Erfahrungen auf dem College, lernt zu schätzen, was er an Laurie hat und nimmt somit ebenfalls eine realistischere Perspektive gegenüber seinem Leben ein.
Terry hat die ganze Nacht versucht sich vor der attraktiven, aber naiven Debbie (Candy Clark) als richtigen Kerl und Draufgänger darzustellen. Terrys Fassade fliegt auf und Debbie geht. Was Terry aus den Geschehnissen dieser Nacht lernen sollte ist, dass er noch so sehr versuchen kann, jemand zu sein, der er nicht ist, am Ende wird sein tatsächliches Ich immer zum Vorschein kommen. Allerdings lässt sich auch anzweifeln, dass Terry etwas aus dieser Nacht gelernt hat: Ein Gespräch mit John deutet daraufhin, dass Terry es eigentlich gut fand so zu tun als wäre er jemand anders. Unter der Annahme Terry würde seine Lektion lernen, könnte man sagen, auch Terry verabschiede sich von Träumereien, die hier aber eher sein Selbstbild betreffen. Er würde zu einem realistischeren Selbstbild gelangen.
John, der sein Image als Draufgänger und bester Rennfahrer der Stadt erhalten will, ist zunächst von seiner jungen Mitfahrerin Carol genervt, stellt aber im Verlauf der Story fest, dass er sie mag und sie wiedersehen will. Hier rückt er von seinem Image ab und akzeptiert seine Rolle als Anfang 20-Jähriger unter Teenagern. Das finale Autorennen, bei dem es um den Ruf als bester Rennfahrer der Stadt geht, gewinnt er zwar, sieht diesen Sieg allerdings als Niederlage, weil sein Konkurrent einen Unfall hatte und eigentlich an John vorbeigezogen wäre. John sieht also den Erhalt seine Images am Ende als Niederlage an. Er lernt, dass die Meinung die andere von ihm haben, nicht so wichtig ist, wie die Meinung, die er selbst von sich hat.
In der letzten Szene des Films werden über dem Himmel und der Fluglinie von Curts Flieger die Biografien der vier Protagonisten eingeblendet. Diese lauten wie folgt:
„John Milner was killed by a drunk driver in December 1964. Terry Fields was reported missing in action near An Loc in December 1965. Steve Bolander is an insurance agent in Modesto, California. Curt Henderson is a writer living in Canada.“ (Lucas 1973: 1:48:00)
Hieraus lässt sich deuten, dass jeder der vier seine Träume nicht weiter verfolgt hat - es bleibt aber offen, ob tatsächlich jeder von ihnen etwas aus der Nacht gelernt hat oder nicht (z.B. Terry). Allerdings sind diese Interpretationen hochspekulativ und schlussendlich auch weniger interes- sant als die Einblendung der Biografien selbst, denn: Hiermit offenbart der Film seine retrospektive Erzählhaltung (vgl. Speed 1998: 26). Der finale Katalog über den Werdegang der Protagonisten deute laut Speed (ebd.) auf einen erwachsenen Erzähler hin, der von den Geschehnissen dieser Nacht berichtet (vgl. auch Schumacher 2013: 316 f). Die retrospektive Erzählhaltung des Films ist deshalb so interessant, da sie zusätzlich den Prozess des Erwachsenwerdens in den Mittelpunkt der Erzählung stellt. Es wird gezeigt, dass die Biografien der Protagonisten über das Ende des Films hinaus fortgesetzt wurden. Dies unterstreicht nochmals die Wichtig- keit der im Film beschriebenen Nacht für den weiteren Verlauf dieser Biografien und stellt diese Nacht somit zusätzlich als lebensverändernden Wendepunkt dar: Die Charaktere sind erst durch diese Nacht erwachsen geworden. Mit seinen Themen stellt AMERICAN GRAFFITI einen typischen Coming-of-Age Film dar, dessen Merkmale im Folgekapitel genauer herausgearbeitet werden sollen.
Nachdem durch AMERICAN GRAFFITI das Coming-of-Age Thema wieder stärker im Fokus lag, griffen dies auch andere Filme wieder stärker auf. In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelte sich der Coming-of-Age Film stetig weiter und wurde in Filmen wie THE BREAKFAST CLUB (Hughes, USA 1985) oder DEAD POETS SOCIETY (Weir, USA 1989) durch das Konzept der Peer Groups erweitert, welches sich auch in aktuelleren Coming-of-Age Filmen, wie THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER (Chbosky, USA 2012), wiederfinden lässt. Die zentralen Merkmale, die das Genre im Laufe der Zeit herausgebildet haben, sollen nun näher behandelt werden.
2.2. Zentrale Merkmale des Genres
Im vorherigen Kapitel wurden der Übergang in die Erwachsenenwelt und der jugendlichen Reifeprozess (mit den damit verbundenen Lernprozessen und Verantwortungsübernahmen) bereits als typische Themen für den Coming-of-Age Film genannt.
Schmidt (2002: 76) beschreibt, dass amerikanische Jugendfilme, die dem Genre Coming-of-Age zugerechnet werden, auch als „Rite-of-Passage Filme“ oder „kinematographische Bildungsromane“ bezeichnet werden. Der gemeinsame Grundsatz dieser Filme könne wie folgt beschrieben werden:
„As young protagonists move into and through new lifestages, they are confronted with situations involving new types and forms of life experience in which they can potentially (but not always) achieve greater self-awareness, more mature knowledge of the world around them, practical and ethical insights into human existence, and finally a more adult identity.“ (Schmidt 2002: 77)
Dabei würden manche Filme von Kindheit, der Beziehung zu den Eltern oder anderen Familienangehörigen oder dem Eintritt des Kindes in neue soziale Bereiche, welche über den Familienkreis hinausgehen, handeln. Andere beschäftigen sich eher mit der Jugend und dabei besonders mit dem wachsenden Bewusstsein über die Rolle, die die jugendliche Person innerhalb der Familie oder einer „Peer group“ einnimmt und oft mit den Problemen, die Teenager dabei haben, mit ihrer gerade erwachenden Sexualität umzugehen. Wieder andere bilden den Übergang von der Jugend in das junge Erwachsenenalter ab, in welchem sich das Individuum neuen emotionalen Herausforderungen stellen muss, die sich aus der Notwendigkeit zwischenmenschlicher Intimität in einer reifen sexuellen Beziehung ergeben. Auch gehe es in diesen Filmen darum die Herausforderungen beim Verlassen des Elternhauses und dem Eintritt in die Arbeitswelt zu bewältigen und in manchen Fällen auch um die Aussicht auf Mutter- und Vaterschaft (vgl. Schmidt 2002: 77).
Die Bezeichnung „Rite-of-Passage“ ist dem französischen „rites-de- passage“ entlehnt, welcher für ein Ritual steht, welches mit einer Veränderung des Status oder mit Lebenskrisen (wie dem Schulabschluss, Heirat, Krankheit oder Tod) des Individuums verbunden ist. In nahezu jeder Gesellschaft markieren Riten oder Zeremonien wichtige Wendepunkte im Leben eines Individuums, normalerweise in Verbindung mit dem Übergang einer Person von einem Stadium des menschlichen Lebenszyklus zum nächsten, d.h.: Von Kindheit zu Jugend, den Teenagerjahren zum Erwachsenenalter, dem mittleren ins hohe Alter und schlussendlich von den letzten Lebensjahren in den Tod (vgl. Schmidt 2002: 78f).
Die Rites-of-Passage wurden auf anthropologischer Ebene von Arnold van Gennep (1960) erforscht. Dieser beschreibt den Prozess des Erwachsen- werdens in Initiationszeremonien in seinen Studien zu vormodernen Kulturen als einen in drei unterschiedliche Phasen aufteilbaren Vorgang. Dabei bestünde ein kompletter Übergangsritus aus präliminalen Riten (Riten der Absonderung), liminalen Riten (Riten des Wandels) und postliminalen Riten (Riten der Eingliederung) (vgl. Van Gennep 1960: 11). Nach Schmidt (2002: 82) seien diese drei Phasen auf den amerikanischen Jugendfilm als Coming-of-Age Film übertragbar. Die Riten der Ab- sonderung seien durch die Dynamiken in der Beziehung zwischen dem pubertierenden Kind und den Elternteilen dargestellt; die Riten des Wandels würden dargestellt durch die Verbindung zu einer Peer Group und die damit verbundene Entwicklung hin zu einer autonomeren Persönlich- keit; die Suche nach einem Platz in der Erwachsenenwelt im Anschluss an die Jugend stelle die Riten der Eingliederung dar und schließe die Rites-of- Passage ab (vgl. ebd.: 82f).
Im Coming-of-Age Filme werden diese Rites-of-Passage als eine Reise zur Selbstfindung (und weniger als an einen bestimmten Ort) beschrieben (vgl. Schumacher 2013: 309). Dabei sei das Motiv der Bewegung ein wesentliches im Coming-of-Age Film. Jugendliche können auf der Schwelle zum Erwachsenwerden an keinen festen Ort gebunden sein und müssen sich scheinbar zwingend weiterbewegen. Dieser zwingende Fortbewegung kann laut Schumacher (ebd.) nur durch das Erwachsenwerden durchbrochen werden. Auch die Protagonisten in AMERICAN GRAFFITI seien durch die nächtlichen Autofahrten durch Modesto in ständiger Bewegung dargestellt. Dabei seien die Zwischenstopps dieser Fahrten als Stationen der Rites-of-Passage zu verstehen, die die vier Protagonisten auf dem Weg zum Erwachsenwerden durchleben müssen (vgl. ebd.: 315).
Erste sexuelle Erfahrungen als Thema der Rites-of-Passage spielten bereits in den High-School Filmen der 60er Jahre eine Rolle und sind auch im Coming-of-Age Film, als Unterkategorie der Teen-Films, ein wieder- kehrendes Thema: Es gebe laut Driscoll (2011: 71) keinen Teen-Film, der nicht zu einem bestimmten Teil von Sex handele, da Pubertät, Gender und Sex für die Zeit der Jugend entscheidend seien.
Die Rites-of-Passage würden hier auf einem stark differenzierten Bild der Frau- und Mannwerdung fußen (vgl. ebd.). Dies kann man in AMERICAN GRAFFITI u.a. sehr gut an Terrys Rite-of-Passage sehen. Dieser will seine Mannwerdung durch sexuelle Erfahrungen beschleunigen und versucht aus diesem Grund Debbie mit Steves Auto und verschiedenen riskanten Aktionen zu beeindrucken. Darüber hinaus würden laut Schmidt (2002: 88) die Schwierigkeiten, die die jugendlichen Protagonisten dabei haben, sich von der Identifikation mit ihren Eltern zu befreien, oftmals durch romantische Beziehungen verdeutlicht.
Die Befreiung von normativen Zwängen, die das soziale Umfeld der Protagonisten diesen auferlegt, spielt seit den 1950er Jahren eine Rolle im Jugendfilm und ist so auch zentral für den Coming-of-Age Film geworden. Hier ist klar der Bezug zu Klassikern des Jugendfilm Genres wie REBEL WITHOUT A CAUSE und THE GRADUATE zu erkennen, in welchen das Rebellentum etabliert wurde (vgl. Kapitel 2.1). In AMERICAN GRAFFITI wird der Bezug zum Rebellentum einerseits durch John dargestellt, der in seinem Auftreten den Urrebellen James Dean und Marlon Brando ähnelt, andererseits werden aber auch normative Zwänge der Gesellschaft kritisiert, indem z.B. Curt sich bereits zu Beginn des Films der Erwartung widersetzen will aufs College zu gehen.
Während der Rites-of-Passage beginnen Jugendliche das eigene Selbst-und Weltbild in Frage zu stellen (vgl. Schmidt 2002: 77ff). Dies wird sowohl im amerikanischen Jugendfilm als auch im Coming-of-Age Film auf- gegriffen. In AMERICAN GRAFFITI wird dies bei allen vier Charakteren deutlich: Am Ende wollen doch alle etwas anderes, als sie sich am Anfang der Nacht vorgenommen hatten bzw. setzen ihre Pläne anders als gedacht um, weil sie sich in einer Phase befinden, in der sie beginnen sich und ihre Umwelt infrage zu stellen. Ebenso typisch für die Rites-of-Passage Thematik sind die Aufgaben oder Probleme, die Jugendliche/die Protago- nisten lösen müssen, um in die nächste Phase des Erwachsenwerdens übergehen zu können (vgl. Schmidt 2002: 82).
Die Suche nach sich selbst, erste sexuelle Erfahrungen, die damit auch oft verbundene Befreiung von den Eltern, und die Überwindung von Herausforderungen des Erwachsenwerdens, sowie die Infragestellung des eigenen Weltbilds sind also zentrale Themen, die die sogenannten Rites-of- Passage im Coming-of-Age Film prägen.
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1 Die Beschreibung des Films erfolgt anhand Schumacher (2013: S. 314-317) und eigener Sichtung.