In dieser Arbeit wird untersucht, welche Risikofaktoren die sozioemotionale Entwciklung im frühesten Kindesalter beeinflussen. Zudem wird überprüft, wie man im Falle einer Risikobelastung die kindliche Entwicklung durch Frühförderung unterstützen kann.
Eine Vielzahl von Faktoren nimmt Einfluss auf die Entwicklungsrichtung ei nes Kindes. Besonders in den ersten drei Lebensjahren spielt jedoch die primäre Sozialisierungsinstanz – die Familie – die größte Rolle. Durch Bindungstraumatisierungen, wie zum Beispiel Trennungserlebnissen oder Regulationsstörungen in der Eltern-Kind-Beziehung, wird das Bindungssystem langfristig in Mitleidenschaft gezogen. Es gibt verschiedene psychoanalytische und pädagogische Maßnahmen, bei einem solchen Risiko die Entwicklung des Kindes und die Eltern-Kind-Beziehung bestmöglich zu unterstützen. Dazu zählt unter anderem die Frühförderung.
Um eine theoretische Grundlage für die Arbeit zu bilden, werden für ein besseres Verständnis zunächst folgende Begriffe definiert und näher erläutert: sozioemotionale Entwicklung und Bindung. Die zwei einführenden Kapitel geben einen Einblick in vorherrschende entwicklungspsychologische und bindungstheoretische Konzepte und Erkenntnisse. Es werden grundlegende Entwicklungsschritte von der Geburt an bis zum dritten Lebensjahr erklärt, unter anderem anhand der Entwicklungsmodelle von Sigmund Freud und Erik Erikson sowie der Bindungstheorie nach John Bowlby. Im Kernbereich werden laut Literaturrecherche vorrangige Einflussfaktoren auf die kindliche Entwicklung genannt. Anschließend wird ein Überblick über den Aufbau, das Angebot und die Arbeitsweise der Frühförderung gegeben. Es werden verschiedene Interventions- und Präventionsmaßnahmen thematisiert, welche die Entwicklung unter Risikobelastungen fördern können.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die sozioemotionale Entwicklung der frühen Kindheit
2.1 Psychoanalytische Entwicklungsmodelle
3. Die Bindungstheorie
3.1 Grundlegende Konzepte und Modelle der Bindungstheorie
3.2 Bindungsstörung und -traumatisierung
3.3 Bindung und Psychoanalyse
4. Risiken der frühkindlichen Entwicklung
4.1 Interne Risikobelastungen
4.2 Externe Risikobelastungen
4.3 Frühkindliche Störungen
5. Frühförderung
5.1 Geschichte und rechtliche Basis
5.2 Definition und Zielsetzung
5.3 Grundlagen der Frühförderung
5.4 Angebote der Frühförderung
5.5 Psychoanalytisch-pädagogische Frühförderung
5.6 Ausgewählte Programme
5.7 Wirksamkeit und Kritik
6. Zusammenfassung und Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Laufe meines Bachelorstudiums der Erziehungswissenschaften galt Themen der Psychoanalyse und frühen Kindheit meine besondere Aufmerksamkeit. Diverse Lehrveranstaltungen an der Universität Innsbruck, vor allem die Vorlesung „Handlungsfelder psychoanalytischer Pädagogik und psychosozialer Arbeit" beiund das Vertiefungsseminar „Psychoanalytische Pädagogik" weckten mein Interesse an der psychoanalytischen Pädagogik. Durch dort besprochene Lehrinhalte, wie psychoanalytisch-pädagogische Frühförderung, frühkindliche Entwicklung und Bindung, wurde mir der enorme Einfluss von Bin-dungserfahrungen der frühen Kindheit auf die sozioemotionale Entwicklung bewusst. Mich hat diese Thematik von Beginn an sehr fasziniert, da ich durch ein Praktikum bei dem Verein „Start pro Mente" schon mit Menschen arbeitete, die von schwerwiegenden Entwicklungsdefiziten aufgrund von frühkindlichen Traumatisierungen innerhalb der Familie betroffen sind.
Eine Vielzahl von Faktoren nimmt Einfluss auf die Entwicklungsrichtung eines Kindes. Besonders in den ersten drei Lebensjahren spielt jedoch die primäre Sozialisierungsinstanz - die Familie - die größte Rolle. Durch Bindungstraumatisierungen, wie z.B. Trennungserlebnissen oder Regulationsstörungen in der Eltern-Kind-Beziehung, wird das Bindungssystem langfristig in Mitleidenschaft gezogen. Es gibt verschiedene psychoanalytische und pädagogische Maßnahmen, bei einem solchen Risiko die Entwicklung des Kindes und die Eltern-Kind-Beziehung bestmöglich zu unterstützen. Dazu zählt unter anderem die Frühförderung. Diese Art der Frühintervention hat sich auf Basis aktuellster entwicklungspsychologischer Forschung entwickelt und vor allem im letzten Jahrzehnt als fixer Bestandteil staatlicher Sozialleistungen etabliert.
In der hier vorliegenden Bachelorarbeit wird untersucht, welche Risikofaktoren die sozioemotionale Entwicklung im frühen Kindesalter beeinflussen. Zudem wird überprüft, wie man im Falle einer Risikobelastung die kindliche Entwicklung durch Frühförderung unterstützen kann.
Dies ist eine literarische Arbeit. Nach ausführlicher Literaturrecherche sowie Überprüfen und Zusammentragen der Quellen wurden diese gezielt nach für meine Forschungsfrage relevanten Abschnitten durchsucht, durchgearbeitet und zusammengefasst.
Um eine theoretische Grundlage für die Arbeit zu bilden, werden für ein besseres Verständnis zunächst folgende Begriffe definiert und näher erläutert: sozioemotionale Entwicklung und Bindung. Die zwei einführenden Kapitel geben einen Einblick in vorherrschende entwicklungspsychologische und bindungstheoretische Konzepte und Erkenntnisse. Es werden grundlegende Entwicklungsschritte von der Geburt an bis zum dritten Lebensjahr erklärt, unter anderem anhand der Entwicklungsmodelle von Sigmund Freud und Erik Erikson sowie der Bindungstheorie nach John Bowlby.
Im Kernbereich werden laut Literaturrecherche vorrangige Einflussfaktoren auf die kindliche Entwicklung genannt. Anschließend wird ein Überblick über den Aufbau, das Angebot und die Arbeitsweise der Frühförderung gegeben. Es werden verschiedene Interventions- und Präventionsmaßnahmen thematisiert, welche die Entwicklung unter Risikobelastungen fördern können.
Personenbezogene Bezeichnungen, welche sich zugleich auf Frauen und Männer beziehen, werden zur besseren Lesbarkeit in der männlichen Form angeführt. Des Weiteren steht der Begriff „Mutter" stellvertretend für die Hauptbezugsperson des Kindes und „Eltern" für die Erziehungsbeauftragten. Durch dieses Vorgehen soll kein Geschlecht diskriminiert und der Gleichheitsgrundsatz in keiner Weise verletzt werden.
2. Die sozioemotionale Entwicklung der frühen Kindheit
Die soziale und emotionale Entwicklung des Menschen gehen Hand in Hand. In der Interaktion mit sozialen Kontakten, im frühen Kindesalter primär repräsentiert durch die Mutter, den Vater oder engere Familienmitglieder, erlernen wir grundlegende soziale Kompetenzen und gesellschaftliche Regeln sowie den Umgang mit den eigenen Emotionen (Vgl. Frey et al 2014, S. 31).
„Die ersten Jahre sind entscheidend für die weitere Entwicklung jedes Kindes. Zu keiner anderen Zeit wächst es schneller oder lernt mehr neue Dinge hinzu. Zu keiner anderen Zeit durchläuft sein Gehirn größere Veränderungsprozesse. Wenn alles gut geht, kann das Kind schließlich gehen, sprechen, denken, sich in Gemeinschaften einordnen und eigene Bedürfnisse oder Gefühle ausdrücken. Dabei werden wichtige Weichen für das spätere Leben gestellt." (Frey et al 2014, S. 22)
Im ersten Kapitel des theoretischen Teils wird als Basis für diese Arbeit eine grundlegende Definition von „emotionaler" und „sozialer Entwicklung" geschaffen, indem der aktuelle Forschungsstand zu den beiden Thematiken aufgezeigt wird. Anschließend werden die Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit anhand ausgewählter psychoanalytischer Entwicklungsmodelle näher dargestellt.
Soziale Entwicklung
Inzwischen überholte Theorien der Sozialisationsforschung insistierten auf die passive Rolle des Neugeborenen, dessen Sozialverhalten primär auf der Nahrungsaufnahme und Bedürfnisbefriedigung basiere. Laut den aktuellsten entwicklungspsychologischen Forschungsergebnissen wird der Säugling vom Tag seiner Geburt an als soziales Wesen angesehen. Ihm wird aktiver Einfluss auf seine soziale Umwelt zugeschrieben. Grundlegend wichtig für den Zugang zu sozialer Interaktion ist die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen belebten und nicht-belebten Objekten. Die selektive Wahrnehmung des Säuglings untermauert, dass er zu einer solchen Unterscheidung von Beginn an im Stande ist und insbesondere auf soziale Reize reagiert. Eine Reaktion, welche den Beweis für die frühe Differenzierungsfähigkeit des Kindes zwischen sozial und nicht-sozial liefert, ist zum Beispiel das Lächeln. Die erste Zeit nach der Geburt noch endogen ausgelöst, lächeln wenige Wochen alte Säuglinge schon aufgrund exogener, sozialer Stimuli. (Vgl. Schmidt-Denter 1994, S. 17f)
Ein weiterer wichtiger Schritt in der sozialen Entwicklung des Kleinkindes ist die Strukturierung seiner sozialen Umwelt. Durch den Prozess des Ordnens aller sozialen Interaktionspartner konstruiert es ein soziales Netzwerk, ein strukturiertes Beziehungssystem, welches die Erfüllung gewisser Funktionen, wie Schutz, emotionale Zuwendung, Spiel und Kontrolle, zum Ziel hat. Innerhalb dieses Netzwerkes finden vielfältige Wechselwirkungen statt. (Vgl. ebd. 1994, S. 20ff)
Einen weiteren Meilenstein in der frühkindlichen Entwicklung stellt die Entstehung des „Ichs" dar.
„Die erste Etappe vollzieht sich im Mutterleib während der letzten Wochen vor der Geburt. Die Sinnesorgane und die primären Sinneszentren des Gehirns sind zu dieser Zeit bereits aufnahmefähig, ebenfalls hat das limbische System als zentrales Bewertungssystem des Gehirns seine Arbeit aufgenommen und trifft seine ersten Unterscheidungen über Lust und Unlust, Angenehm und Unangenehm. Die Phasen der nachgeburtlichen Ich-Entwicklung sind charakterisiert durch die grobe Unterscheidung von Körper und Nicht-Körper, und das Erlernen der Perspektivität des Körpers (die Welt vom Körper aus gesehen); dies geschieht ab dem 5. Monat nach der Geburt. Es folgt das langsame Begreifen der Tatsache, daß andere Menschen denken, Absichten und Pläne haben (Intentionalität); dies geschieht etwa ab dem 9. Nachgeburtlichen Monat. Schließlich vollzieht sich die Ausbildung des Eigentlichen Ich, die mit dem ersten Gebrauch der Worte „ich" und „mein" gegen Ende des zweiten Lebensjahres einen vorläufigen Höhepunkt erfährt und auch im Erwachsenenalter noch nicht abgeschlossen ist [...]" (Pauen & Roth 2001, S. 203)
Emotionale Entwicklung
In der Entwicklungspsychologie wurde die emotionale Entwicklung lange Zeit auf Themen wie die Bandbreite der Emotionen des Kindes ab der Geburt und im weiteren Verlauf der Kindheit sowie das Erlernen von Kontrolle und Anpassung der Emotionen reduziert. Seit den 1990er Jahren scheint sich der Begriff jedoch auszudehnen. Hinzu kam z.B. die Thematik der „emotionalen Intelligenz". (Vgl. Friedlmeier & Holodynski 1999, S. VIII)
Emotionen leiten unsere Handlungen maßgeblich. Bei Kindern ist dies jedoch mehr der Fall als bei Erwachsenen. Kinder erfahren und drücken Emotionen öfter, intensiver und unkontrollierter aus. Die Bandbreite der Emotionen wächst zwar mit steigendem Alter, das Erleben dieser wird im Gegensatz zur Kindheit immer schwächer und seltener. Der Mensch ist im Erwachsenenalter eher in der Lage, seine Handlungen danach auszurichten, sich vor negativen Gefühlen zu schützen bzw. sich nicht mehr hauptsächlich von seinen Emotionen lenken zu lassen. Die Kompetenz, seine Emotionen gar beeinflussen zu können und sowohl mit den eigenen als auch mit den Gefühlen anderer Menschen angemessen umgehen zu können, nennt man „emotionale Intelligenz", welche man sich im Laufe seines Lebens aneignet. Diese bildet die Voraussetzung, um die eigenen unterschiedlichsten Gefühle erkennen, benennen und regulieren zu können und Gefühle von anderen nachvollziehen, um mit ihnen situationsgemäß in Beziehung treten zu können. (Vgl. ebd. 1999, S. 2ff)
Geht man einerseits davon aus, dass die Entwicklung der Emotionen bis zu einem gewissen Punkt genetisch veranlagt ist, ist es ebenso notwendig, die kulturelle Perspektive miteinzubeziehen. Je nachdem welchen Anspruch die Gesellschaft an die emotionale Entwicklung des Kindes stellt, wird das Kind den Ausdruck und die Kontrolle gewisser Emotionen eher erlernen als die anderer. (Vgl. ebd. 1999, S.2ff)
Emotionen können sich als Gefühl, Körperzustand oder Ausdruck bemerkbar machen und erfüllen einen fundamentalen Zweck innerhalb des Bindungssystems. Sie erlauben eine Bewertung von Situationen hinsichtlich dessen, ob sie der Bedürfnisbefriedigung dienen oder nicht und lösen gegebenenfalls Mechanismen zur Bewältigung aus, sowohl beim Kind, als auch bei der Bindungsperson. Somit haben Emotionen Selbst- und Fremdregulationsfunktion. Holodynski und Friedlmeier nennen dies in ihrem Buch zur emotionalen Entwicklung „intrapsychische Regulationsfunktion“ und „interpsychische Regulationsfunktion“. Einerseits regen Emotionen den Emotionsträger zu Bewältigungshandlungen an und andererseits bewirkt der Ausdruck eines emotionalen Zustandes eine Reaktion beim Kommunikationspartner. Die „interpsychische Regulationsfunktion“ von Emotionen nimmt vor allem in den ersten paar Lebensmonaten enorme Wichtigkeit ein, da die Fähigkeit des Säuglings, seine Emotionen zu regulieren noch nicht hinreichend ist und das Kind somit in Abhängigkeit von der Fremdregulation der eigenen Gefühle durch feinfühliges Verhalten der Bezugsperson ist. (Vgl. ebd. 1999, S. 5ff)
Obwohl die Wahrnehmung des Selbst und der eigenen Gefühle als Grundlage der Empathie gilt, sind Kleinkinder im Stande, empathisch zu empfinden, schon bevor sie zwischen Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden vermögen. Dieses Mitgefühl bei Emotionsregungen anderer wird zunächst noch als eigene Erregung wahrgenommen und nicht als abgegrenzt vom eigenen emotionalen Erleben verstanden. (Vgl. Goleman 1997, S. 127ff) Durch das Erleben des emotionalen Ausdrucks anderer lernen Kinder die explizite Bedeutung der verschiedenen Emotionen anhand der Verknüpfung derer mit den gegebenen Umständen und darauffolgenden Verhaltensweisen. (vgl. Fonagy et al 2004, S.160)
2.1 Psychoanalytische Entwicklungsmodelle
Während sich die Psychoanalyse einst bei ihren Entwicklungstheorien hauptsächlich auf die Triebentwicklung fokussierte, steht heute vor allem das Entstehen des Ichs und der Persönlichkeit im Mittelpunkt. Das bedeutet, dass sozialen Beziehungen besondere Wichtigkeit zugemessen wird.
Sie sind nicht nur für die Triebbefriedigung, sondern auch für die Ich-Ent- wicklung unabdingbar. (Vgl. Lohaus & Vierhaus 2015, S. 13)
Das „Wörterbuch Psychologie" schlägt zur Definition des Wortes „Trieb" folgende Erklärung vor: „[...] die dynamische, energetisierende Komponente zielgerichteter Verhaltensweisen, die den Organismus dazu >antreibt< oder >energetisiert<, ein Bedürfnis zu befriedigen." (Fröhlich 2010, S. 489)
Es werden nun zwei vorherrschende psychoanalytische Modelle der Entwicklungspsychologie beschrieben. Zu Gunsten meiner Forschungsrichtung konzentriere ich mich auf die Phasen bzw. Stadien der ersten drei Lebensjahre.
Die psychosexuelle Entwicklung nach Sigmund Freud
Laut Freud strukturiert sich die Persönlichkeit eines Menschen in drei Instanzen: Das nach den Triebbedürfnissen ausgerichtete Es, das Über-Ich, welches Erfüllung von Normen und Werten fordert, und das zwischen den beiden vermittelnde Ich. (Vgl. Gerrig & Zimbardo 2008, S. 518) „Das Es ist ganz amoralisch, das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann hypermoralisch und dann so grausam werden wie nur das Es." (Freud 1923, S. 70) In den ersten paar Lebensmonaten ist der Säugling Knecht seiner Triebe. Das Es verlang von Geburt an nach Befriedigung der Triebbedürfnisse. Mit steigendem Alter bemerkt das Kind, dass seiner Triebbefriedigung soziale Anforderungen und Normen zuwiderlaufen. Es sieht sich gezwungen, sozialen Vorschriften und Werten zu folgen, welche im Über-Ich repräsentiert werden. (Vgl. Lohaus & Vierhaus 2015, S. 11) „Wie das Kind unter dem Zwange stand, seinen Eltern zu gehorchen, so unterwirft sich das Ich dem kategorischen Imperativ seines Über-Ichs." (Freud 1923, S. 61) In Mitten des Konflikts zwischen Es und Über-Ich steht das Ich. Es ist fortan bemüht den beiden anderen Instanzen gerecht zu werden. (Vgl. Lohaus & Vierhaus 2015, S. 11)
Freuds Modell zur psychosexuellen Entwicklung besteht aus verschiedenen Entwicklungsphasen mit jeweils unterschiedlichen im Vordergrund stehenden erogenen Zonen als „Quellen der Triebbefriedigung“. (vgl. ebd. 2015, S. 11)
Ab einem Alter von ca. zwei bis drei Monaten beginnt der Neugeborene seiner Lust und Unlust Ausdruck zu verleihen. In den ersten zwölf Monaten nach der Geburt geschieht dies mittels Saugen oder Beißen vor allem während der Nahrungsaufnahme. Die erogene Zone dieser sogenannten „oralen Phase“ ist der Mund. (Vgl. Tyson & Tyson 2001, S. 63ff)
In der „analen Phase“ findet das zwischen einem und drei Jahren alte Kind im Zuge der Sauberkeitserziehung Lust am Zurückhalten und kontrolliertem Ausstoßen des Kots und Urins. Die Quelle der Triebbefriedigung ist der Anus. (Vgl. ebd. 2001, S. 66)
Mit ca. drei bis sechs Jahren tritt bei Kindern ein reges genitales Interesse auf. Es wird verstärktes Lustempfinden im Bereich der Genitalien entdeckt. In vielen Lehrbüchern wird dies oft als „phallische Phase“ bezeichnet. Phyllis und Robert Tyson1 argumentieren diesbezüglich jedoch für die Bezeichnung „infantil-genitale Phase“ um eine klare Unterscheidung mit der genitalen Phase in der Pubertät und eine Abgrenzung zum phallozentrischen Modell zu schaffen. (Vgl. ebd. 2001, S. 68f)
Das psychosoziale Entwicklungsmodell nach Erik Erikson
Die Identitätstheorie von Erikson ist ein (laut Conzen2 genetisch gedachtes) in acht sich überlappende Entwicklungsstadien unterteiltes Modell. Es stellt Eriksons Auffassung der psychosozialen Entwicklung im Laufe des Lebens dar. Jeder Teilbereich bringt einen Entwicklungskonflikt mit sich, dessen Überwindung über den weiteren Verlauf der Entwicklung entscheidet. (Vgl. Conzen 1990, S. 192ff) Erikson konzentriert sich im Gegensatz zu Freud stärker auf die Ich-Entwicklung und beschreibt die menschliche Entwicklung als einen Prozess, welcher sich über das ganze Leben ausdehnt. (vgl. Lo- haus & Vierhaus 2015, S. 12)
Im Säuglingsalter, zeitgleich mit der oralen Phase Freuds, steht für Erikson die Ausbildung eines Urvertrauens bzw. Urmisstrauens im Vordergrund. Ur- vertrauen bedeutet eine vertrauensvolle, Urmisstrauen eine misstrauende Einstellung zu sich selbst und seiner Umwelt. Prägend dafür sind Erfahrungen mehr oder minder liebevoller, sicherheitsspendender Fürsorge und Befriedigung der Triebe durch die Bindungsperson im ersten Lebensjahr. (Vgl. Conzen 1990, S. 195ff)
Mit ca. eineinhalb Jahren lernen Kinder das Laufen und Sprechen. Somit ergibt sich ein erweiterter Handlungsspielraum, welcher dem Kind ermöglicht, seine Umwelt zu explorieren und zu manipulieren. Durch das Ausleben eines solchen Explorationsverhaltens kann ein Gefühl der Autonomie, bei Einschränkung dessen Selbstzweifel entstehen. (Vgl. Gerrig & Zimbardo 2008, S. 389) Im Zwiespalt zwischen dem Drang, die eigenen Interessen durchzusetzen und der Pflicht, die Forderungen der sozialen Umwelt zu erfüllen, sieht Erikson die Verbindung zur Sauberkeitserziehung und analen Phase: Das Kind ist hin- und hergerissen zwischen Selbst- und Fremdkontrolle. (Vgl. Lohaus & Vierhaus 2015, S. 12)
Den Entwicklungskonflikt des dritten Stadiums nennt Erikson „Initiative vs. Schuldgefühl.“ Mit ca. drei Jahren sind Kinder langsam gefestigt in ihren bisher erlernten Fähigkeiten und es macht sich eine übersteigerte Neugier bzw. Selbstinitiative breit. Sie beginnen danach zu streben, Leistung zu erbringen und sich mit Erwachsenen zu identifizieren. Wird diesen Bedürfnissen Genüge getan, ist der Entwicklungskonflikt hinreichend gelöst. Geht diese Entwicklungsphase jedoch mit Verboten einher und wird der kindli- chen Initiative zu wenig Raum zur Entfaltung gelassen, resultiert dies in einem verminderten Selbstwert- und anhaltendem Schuldgefühl. (Vgl. Con- zen 1990, S. 219ff)
3. Die Bindungstheorie
„Bindung {attachment). Bezeichnung für eine emotionale Beziehung zwischen Menschen, die sich z. B. in Form der Kontaktsuche, Aufrechterhaltung der Nähe zur Bezugsperson insbesondere angesichts fremder Personen oder unvertrauter Ereignisse [...] oder der sog. Trennungsangst (Furcht vor Abwesenheit oder Abwendung einer Bezugsperson) äußert." Bindung ist eine der „[...] wesentliche[n] Voraussetzungen einer harmonischen Persönlichkeits- und sozialen Entwicklung." {Fröhlich 2010, S. 108f)
Der Mensch neigt von Natur aus dazu, emotionale Bande zu anderen Menschen zu knüpfen. Das Bindungsverhalten besteht von Geburt an und ist evolutionsbiologisch gesehen notwendig für das Überleben des Individuums. Es sorgt für Schutz, Sicherheit und Fürsorge. Insbesondere die Bindungserfahrungen der ersten drei Lebensjahre prägen die Persönlichkeitsentwicklung und Handhabung der zwischenmenschlichen Beziehungen langfristig. (Vgl. Bowlby 2006, S. 45ff) In diesem Kapitel erläutere ich die wichtigsten Konzepte und Begriffe der Bindungstheorie nach Bowlby und Ainsworth und stelle sie der Psychoanalyse gegenüber.
Als Pionier der Bindungstheorie gilt der britische Kinderpsychiator und Psychoanalytiker John Bowlby. Durch seine Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern Mitte des 20. Jahrhunderts erkannte er erstmals den Zusammenhang zwischen frühkindlichen Trennungs- und Deprivationserfahrungen3 und der sozioemotionalen Entwicklung sowie der Beziehungsgestaltung im weiteren Lebensverlauf. Ebenfalls betonte er die Importanz der MutterKind-Beziehung. Seine Theorien stießen zu Beginn auf große Ablehnung und Feindseligkeit. In den 1950er Jahren gründete Bowlby eine Forschungsgruppe, um anhand verhaltensbiologischer Beobachtungen und empirischer Forschung seine Theorien zu erweitern. Mitglieder der Gruppe waren unter anderem James und Joyce Robertson4 sowie Mary Ainsworth, Begründerin des berühmten „Fremde-Situations-Tests". (Vgl. Suess et al 2001, S. 29ff) Bowlby und Ainsworth sorgten für die Einführung des Begriffs Bindung („attachment"), welcher den bis zu dieser Zeit üblichen Begriff der Abhängigkeit („dependency") ablöste. (vgl. Grossmann & Grossmann 2014, S. 68ff)
3.1 Grundlegende Konzepte und Modelle der Bindungstheorie
Basis der Bindungstheorie bildet die Annahme eines „gesunden" Modells der Mutter-Kind-Beziehung, welche von liebevoller Zuneigung, Nähe, Sicherheit, Fürsorge und Schutz durchzogen ist und somit die ideale Grundlage für eine freie Erkundung der Umwelt schafft. Unter nicht hinreichender Fürsorge und ungenügendem Schutz, womöglich aufgrund emotionaler Belastung oder psychischer Beeinträchtigung der Eltern, kann die seelische Entwicklung des Kindes leiden. (Vgl. Grossmann & Grossmann 2014, S. 67) Frühkindliche Bindungserfahrungen determinieren die Bindungsentwicklung und Bindungsorganisation maßgeblich. (vgl. Bowlby 2006, S. 47) Auf diese und weitere grundlegende Begriffe der Bindungstheorie wird im Folgenden näher eingegangen.
Bindungs- und Fürsorgeverhalten
„Da das Ziel des Bindungsverhaltens darin besteht, eine gefühlsmäßige Bindung aufrechtzuerhalten, ruft jede Situation, die die Bindung zu gefährden scheint, Aktionen hervor, die den Zweck haben, die Bindung zu erhalten; und je größer die Gefahr eines Verlusts erscheint, umso intensiver und unterschiedlicher sind die Aktionen, die hervorgerufen werden, um diesen Verlust zu verhindern." (Bowlby 2006, S. 47f)
Erst durch die Korrespondenz zwischen dem Bindungsverhalten des Säuglings und dem Fürsorgeverhalten der Bezugsperson kann ein emotionales Band geknüpft werden. Bei Wunsch nach Nähe und Sicherheit oder in belastenden Situationen wird das Bindungssystem aktiviert und das Bindungsverhalten sichtbar: Durch verschiedenste Laute und Bewegungen, wie Schreien, Weinen, Rufen, Deuten, Anklammern, Nachfolgen, Lächeln, Blickkontakt usw., signalisiert das Kind sein Bedürfnis nach Nähe und setzt somit das Fürsorgesystem der Bezugsperson in Bewegung. Diese Verhaltensweisen sind genetisch programmiert und gewährleisten die schnellstmögliche Bedürfnisbefriedigung und somit das Überleben des Kindes. (Vgl. Grossmann & Grossmann 2014, S. 72f) Entfernt sich die Bindungsperson beispielsweise in nicht bekannter Umgebung zu weit vom Baby, wird dieses negative Emotionen verspüren. Es wird nach der Bindungsperson suchen und zugleich seinen Gefühlen lautstark Ausdruck verleihen, um erneuten Näheaufbau zu erreichen. (Vgl. Spangler 1999, S. 179f) Erst anhand Beantwortung des durch Bindungsverhalten kommunizierten Bindungsbedürfnisses durch Fürsorgeverhalten, wie auf den Arm nehmen, liebkosen und beruhigen, kann das emotionale, beständige Band zwischen Kind und Erwachsenen geknüpft und die bemutternde Person überhaupt erst zur Bezugs- bzw. Bindungsperson werden. (vgl. Grossmann & Grossmann 2014, S. 73f)
Innerhalb des Bindungssystems des Kindes steht diesem das Explorationssystem gegenüber. In befremdlichen Situationen, in denen das Bindungssystem aktiviert und Bindungsverhalten sichtbar wird, wird das Explorationsverhalten zurückgehalten. Fühlt sich das Kind sicher, löst es sich kurzfristig von der Bindungsperson und startet die freie Erkundung, währenddessen das Bindungssystem ruht. Die Ausgeglichenheit zwischen den beiden Systemen ist bedeutsam für die spezifische Bindungsqualität eines Kindes. (Vgl. Schieche 2001, S. 298)
Bindungsentwicklung
Die Bindung zwischen dem Kind und der Bezugsperson beginnt sich in den ersten Monaten nach der Geburt aufzubauen. Eltern binden sich zuerst an die Kinder, da der Aufbau einer Bindung auch an gewisse kognitive Fähigkeiten, wie der Objektpermanenz5 und der Unterscheidung zwischen fremd und bekannt, geknüpft ist. Diese muss das Baby erst entwickeln. (Vgl. Lo- haus & Vierhaus 2015, S. 109)
John Bowlby unterteile die Bindungsentwicklung in vier Phasen. In der „Vorphase der Bindung" zeigt der null bis sechs Wochen alte Säugling Bindungsverhalten bei jeder Person, nicht nur der Bezugsperson. Sein vorrangiges Ziel ist die Bedürfnisbefriedigung. Mit einem Alter zwischen sechs Wochen und acht Monaten entstehen eigene Reaktionen und interaktive Muster zwischen Baby und Bezugsperson. Das Kind entwickelt Erwartungen gegenüber seinem Versorger und beginnt eine Bindung aufzubauen. Diese wird bei Kindern zwischen acht und 18 Monaten durch explizites Bindungsverhalten noch sichtbarer. Mit ca. eineinhalb bis zwei Jahren bildet sich auf Basis der bisherigen Bindungserfahrungen ein inneres Arbeitsmodell der Bindung. Dieses ist auch für spätere Beziehungen und Bindungen ausschlaggebend ist, denn es beeinflusst unsere Erwartungen in sozialen Situationen. (Vgl. ebd. 2015, S. 109f)
Das innere Arbeitsmodell von Bindung
Die Reaktionen und die Verfügbarkeit der Bindungsperson in emotional-kritischen Situationen werden vom Kind verinnerlicht und führen zum Aufbau eines motivationalen, inneren Schemas, welches das alltägliche Erleben strukturiert. Dieses sogenannte „inneren Arbeitsmodell von Bindung", wirkt sich wesentlich auf die weitere sozioemotionale Entwicklung und zukünftige Handhabung zwischenmenschlicher Beziehungen aus. Bowlby führte den Begriff ein und meinte damit spezifische, auf frühen Bindungserfahrungen basierende Erwartungen des Kindes der Bindungsperson gegenüber, welche in Form einer individuellen Bindungsorganisation Einfluss nehmen auf zukünftige Regulation von Verhalten und Emotionen besonders in Situationen der emotionalen Belastung. (Vgl. Spangler 1999, S. 178ff)
Mit fortlaufender Entwicklung löst die internale „Selbstregulation“ die external organisierende Funktion der Bezugsperson ab. Das „innere Arbeitsmodell“ ist beeinflusst diesen Vorgang maßgeblich. (Vgl. Grossmann et al 2000, S. 303)
„Auf die gleiche Weise, in der das Bindungsverhalten eines Individuums innerhalb seiner Persönlichkeit organisiert wird, gestaltet sich das Muster der gefühlsmäßigen Bindungen, die es im Lauf seines Lebens anknüpft.“ (Bow- lby 2006, S. 47)
Feinfühligkeit
Die Fähigkeit, die durch das Bindungsverhalten signalisierten Bedürfnisse eines Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und angemessen sowie prompt auf sie zu reagieren nennt man „Feinfühligkeit“. Feinfühliges Verhalten der Bezugsperson ist essentiell für das Fürsorgeverhalten und den Aufbau bzw. die Qualität der Bindung. Es ist, neben dem „Babytalk“ und der Aufnahme von Blickkontakt, Teil des „intuitiven Elternprogramms“, also evolutionsbiologisch entstandenem Verhalten, welches automatisch und intuitiv während der Interaktion mit dem Säugling zum Einsatz kommt. (Lo- haus & Vierhaus 2015, S. 106ff) Angemessene Reaktionen auf Signale des Kindes in bedrängenden Situationen sind zum Beispiel Trost und Körperkontakt, statt zu schimpfen. Bei der Kontaktsuche und dem Bedürfnis des Kindes nach Nähe, gilt es diese wiederherzustellen, statt Nahrung anzubieten. (Vgl. Grossmann 2001, S. 35f) Mary Ainsworth erstellte eine Skala zur Messung der mütterlichen Feinfühligkeit, deren Wert abhängig ist von Wahrnehmung, Interpretation sowie Angemessenheit und Promptheit der Reaktion. Die Ergebnisse können von „hochgradig feinfühlig“ über „unbeständig feinfühlig“ bis hin zu „hochgradig unfeinfühlig“ reichen.
[...]
1 Das Ehepaar Tyson forscht im Bereich psychoanalytischer Entwicklungstheorien. Beide therapierten und lehrten am Londoner Anna-Freud-Zentrum. Sie lehren heute „Psychiatrie“ an der University of California.
2 Dr. Peter Conzen, geboren 1955, stammt aus Bonn und ist Erziehungsberater. In seinem Buch über Erik H. Eriksons Theorien beschreibt er auf Basis von Eriksons Aufsätzen und Publikationen dessen wissenschaftliche, psychoanalytische Positionen, unter anderem die Identitätstheorie.
3 Nähere Definition „Deprivation" siehe Kapitel 4.2 - „Externe Risikobelastungen"
4 James Robertson war schottischer Psychoanalytiker. Er und seine Frau erbrachten wichtige Beiträge zur Bindungsforschung durch Beobachtung und Filmen von Kindern unter drei Jahren, welche kurzfristig von ihren Eltern getrennt waren.
5 Objektpermanenz ist „[d]ie Erkenntnis, dass Objekte unabhängig von den Handlungen oder dem Bewusstsein einer Person existieren; ein wichtiger kognitiver Erwerb im Säuglingsalter." (Gerrig & Zimbardo 2008, S. 739)
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