Die vorliegende Diplomarbeit thematisiert die Methode des Case Managements in der Arbeit mit Suchtkranken unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Netzwerkarbeit. Case Management als ein Konzept der Sozialen Arbeit, findet in vielen sozialpädagogischen Fachrichtungen Verwendung und wird auch in anderen Bereichen, wie beispielsweise im Gesundheitswesen eingesetzt. Ich stelle diese Methode in der Arbeit mit Suchtkranken vor, einem Klientel mit vielfältigen und komplexen Problemlagen.
Sucht, Verlust von Wohnung oder Arbeit, Verschuldung und Krankheit sind Auswirkungen eines nicht gelingenden Lebens. Die Problemlagen dieser Klientel wirken sich in alle Lebensbereiche aus und die Selbsthilfepotenziale sowie die Ressourcen, welche ein Netzwerk zur Verfügung stellt, können von den Betroffenen nicht verwirklicht und genutzt werden.
Das Ziel Sozialer Arbeit liegt in der selbstständigen Lebensführung der Betroffenen ohne institutionellen Einfluss, einem Selbstmanagement im Kontext des sozialen Netzwerkes. Case Management dient hier als Intervention, um in die Lebensphase eines Menschen einzugreifen, welcher nicht in der Lage ist, seine Alltagsbezüge zu bewältigen. Nach dem dem ökosozialen Ansatz von Wendt (1991, S. 29) werden Menschen nicht als isolierte Individuen betrachtet, sondern immer in ihrer Umgebung, dem jeweiligen sozialen Umfeld wahrgenommen. Die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Individuum beeinflussen die Lebenssituation eines Menschen. Soziale Probleme können dann entstehen, wenn die Bedürfnisse eines Menschen und seine soziale Umwelt schlecht aufeinander abgestimmt sind, wenn also die Bedürfnisse einer Person durch die Umwelt nicht erfüllt werden und die zur Verfügung stehenden individuellen Ressourcen nicht für die Schaffung von entsprechenden Umweltressourcen genutzt werden können (Klug 2003, S. 18/19).
Ziel ist es, die Person so zu stärken, dass sie selbstständig Ressourcen erschließen und eigenständig die Lebensführung übernehmen kann. Mit dem Konzept des Case Managements soll durch eine effektive Hilfeleistung, durch Koordination und unter Partizipation der Betroffenen auf diesen verzweigten Hilfebedarf suchtkranker Menschen eingegangen werden.
Im ökosozialen Ansatz wird ein Individuum immer in seinen sozialen Netzwerkbezügen wahrgenommen, seinen Beziehungen und Verbindungen in unterschiedliche Lebensbereiche. Dies war für mich ausschlaggebend, Case Management unter dem Aspekt der sozialen Netzwerkarbeit zu untersuchen. [...]
Inhaltsverzeichnis:
0. Einleitung
1. Grundaspekte von Sucht
1.1 Definition von Sucht
1.2 Entstehung von Sucht
1.3 Problemlagen suchtkranker Menschen
2. Das Konzept von Case Management
2.1 Definition von Case Management
2.2 Entwicklung von Case Management
2.3 Schwerpunkte von Case Management
2.3.1 Klientenorientierter und Einrichtungsorientierter Schwerpunkt
2.3.2 Ethische Probleme
2.4 Funktionen von Case Management
2.5 Verlaufsmodell von Case Management
2.6 Arbeitsschritte von Case Management
2.6.1 Assessment
2.6.2 Hilfeplanung
2.6.3 Intervention
2.6.4 Monitoring
2.6.5 Evaluation
3. Das Konzept der Sozialen Netzwerkarbeit
3.1 Definition eines sozialen Netzwerkes
3.2 Gesellschaftliche Modernisierung und soziale Netzwerke
3.3 Merkmale und Beschreibungsdimensionen sozialer Netzwerke in der Netzwerkanalyse
3.4 Das Konzept der Sozialen Unterstützung
3.4.1 Definition sozialer Unterstützung
3.4.2 Inhaltliche Typologie sozialer Unterstützung
3.5 Negative Aspekte sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützung
3.5.1 Formen der belastenden Unterstützung
3.5.2 Belastende Aspekte in den Netzwerken von Drogenabhängigen
3.6 Soziale Netzwerkarbeit in der Praxis
3.6.1 Netzwerkinterventionen
3.6.2 Praktische Techniken in der Sozialen Netzwerkarbeit
3.7 Prinzipien der Sozialen Netzwerkarbeit
4. Netzwerkorientiertes Interview
4.1 Theoretische Vorüberlegungen
4.2 Durchführung des Interviews
4.3 Beschreibung des sozialen Netzwerkes von Martin
4.3.1 Struktur und Inhale im Netzwerk von Martin
4.3.2 Soziale Unterstützung im Netzwerk von Martin
4.3.3 Gewünschtes Netzwerk von Martin
4.4 Netzwerkorientierte Interventionsmöglichkeiten im Netzwerk von Martin
5. Schlussbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
7. Anhang: Transkribiertes Interview .
0. Einleitung
Die vorliegende Diplomarbeit thematisiert die Methode des Case Managements in der Arbeit mit Suchtkranken unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Netzwerkarbeit. Case Management als ein Konzept der Sozialen Arbeit, findet in vielen sozialpädagogischen Fachrichtungen Verwendung und wird auch in anderen Bereichen, wie beispielsweise im Gesundheitswesen eingesetzt. Ich stelle diese Methode in der Arbeit mit Suchtkranken vor, einem Klientel mit vielfältigen und komplexen Problemlagen. Sucht, Verlust von Wohnung oder Arbeit, Verschuldung und Krankheit sind Auswirkungen eines nicht gelingenden Lebens. Die Problemlagen dieser Klientel wirken sich in alle Lebensbereiche aus und die Selbsthilfepotenziale sowie die Ressourcen, welche ein Netzwerk zur Verfügung stellt, können von den Betroffenen nicht verwirklicht und genutzt werden. Das Ziel Sozialer Arbeit liegt in der selbstständigen Lebensführung der Betroffenen ohne institutionellen Einfluss, einem Selbstmanagement im Kontext des sozialen Netzwerkes. Case Management dient hier als Intervention, um in die Lebensphase eines Menschen einzugreifen, welcher nicht in der Lage ist, seine Alltagsbezüge zu bewältigen. Nach dem dem ökosozialen Ansatz von Wendt (1991, S. 29) werden Menschen nicht als isolierte Individuen betrachtet, sondern immer in ihrer Umgebung, dem jeweiligen sozialen Umfeld wahrgenommen. Die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Individuum beeinflussen die Lebenssituation eines Menschen. Soziale Probleme können dann entstehen, wenn die Bedürfnisse eines Menschen und seine soziale Umwelt schlecht aufeinander abgestimmt sind, wenn also die Bedürfnisse einer Person durch die Umwelt nicht erfüllt werden und die zur Verfügung stehenden individuellen Ressourcen nicht für die Schaffung von entsprechenden Umweltressourcen genutzt werden können (Klug 2003, S. 18/19). Ziel ist es, die Person so zu stärken, dass sie selbstständig Ressourcen erschließen und eigenständig die Lebensführung übernehmen kann. Mit dem Konzept des Case Managements soll durch eine effektive Hilfeleistung, durch Koordination und unter Partizipation der Betroffenen auf diesen verzweigten Hilfebedarf suchtkranker Menschen eingegangen werden.
Im ökosozialen Ansatz wird ein Individuum immer in seinen sozialen Netzwerkbezügen wahrgenommen, seinen Beziehungen und Verbindungen in unterschiedliche Lebensbereiche. Dies war für mich ausschlaggebend, Case Management unter dem Aspekt der sozialen Netzwerkarbeit zu untersuchen. Inwieweit kann das Konzept der sozialen Netzwerkarbeit für einen erfolgreichen Case Management-Prozess dienlich sein und wie kann eine professionelle Fachkraft beide Methoden miteinander verbinden. Wie ist es möglich, eine Netzwerkanalyse durchzuführen und deren Ergebnisse so in den Hilfeprozess zu integrieren, dass die Ziele des Case Managements, eine Ablösung aus den Bezügen des institutionellen Sektors und die Zurückgabe der Rollen und Funktionen des Case Managers an das informelle Netz, ermöglicht werden. M.E. stellt die soziale Netzwerkarbeit durch das Erschließen des sozialen Umfeldes eines Klienten, eine effektive Möglichkeit dar, die Hilfemaßnahmen individuell an die Problemlagen der betreffenden Person anzupassen und das Netzwerk so zu verändern, dass es Stabilität erhält und soziale Unterstützung bereitstellen kann. Durch die Einbeziehung der sozialen Netzwerkarbeit kann meiner Ansicht nach die Effektivität des Case Management-Prozesses verstärkt werden. Es stellt sich die Frage, inwieweit Case Management soziale Unterstützungsarbeit zur Verbesserung des persönlichen Netzwerkes auf der einen Seite und Vernetzungsarbeit in und mit dem professionellen Dienstleistungssystem auf der anderen Seite, erfüllen kann.
In Kapitel eins meiner Diplomarbeit werde ich auf die Gründe und Entwicklung einer Suchterkrankung eingehen und die Problemlagen drogenabhängiger Menschen thematisieren. Wie vielfältig die Einflüsse suchtentstehender Komponenten sind, welche Folgen dies für die sozialen Netzwerke drogenabhängiger Menschen entwickelt und welche Konsequenzen für die Soziale Arbeit entstehen, wird im ersten Kapitel erläutert.
In Kapitel zwei wird die Methode des Case Managements vorgestellt. Dabei geben die Ausführungen einen Einblick in die historische Entwicklung sowie in Schwerpunkte und Funktionen von Case Management. Abschließend werde ich den Prozess des Case Managements aufzeigen, welcher idealtypisch in fünf Schritten abläuft und skizzieren, in welchen Phasen die soziale Netzwerkarbeit als Methode verortet werden kann.
Weiter wird in Kapitel drei das Konzept der sozialen Netzwerkarbeit vorgestellt. Auch hier beginne ich mit einem historischen Abriss, um die Bedeutung sozialer Netzwerke aufzuzeigen. Im dritten Kapitel liegt der Schwerpunkt auf den Beschreibungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke - als Grundlage für eine Netzwerkanalyse und für die Implementierung netzwerkorientierter Interventionen. Dabei gebe ich einen Überblick über praktische Techniken in der sozialen Netzwerkarbeit. Weiter werde ich die Funktion von sozialen Netzwerken, die soziale Unterstützung aufzeigen, da sozialpädagogische Interventionen auf eine Verbesserung der sozialen Unterstützung in Netzwerken hinzielen. Dabei stehen auch die belastenden Aspekte sozialer Unterstützung und sozialer Netzwerke im Vordergrund, wie sie m.E. bei drogenabhängigen Menschen überwiegend vorzufinden sind.
Beenden werde ich meine Diplomarbeit mit einem Interview, welches ich mit einem suchtkranken Menschen geführt habe. Schwerpunkt dieses Interviews stellen die sozialen Netzwerkbeziehungen sowie die Bereiche, in welche die Person involviert ist, dar. Auf Grundlage der angefertigten Netzwerkkarte habe ich das Netzwerk analysiert und dessen Struktur und Funktion genauer betrachtet. Ich habe festgestellt, inwieweit soziale Unterstützung vorhanden ist, welche belastenden Netzwerkbeziehungen existieren und Überlegungen angestellt, welche Möglichkeiten der Hilfemaßnahmen effektiv sein könnten und wie im Case Management die Netzwerkstruktur des Drogenabhängigen verbessert werden könnte.
In die Diplomarbeit fließen eigene Erfahrungen aus einem sechsmonatigen Praktikum ein, welches ich in einer Drogenhilfeeinrichtung mit niedrigschwelligem Ansatz absolvierte.
1. Grundaspekte von Sucht
Im Folgenden werde ich einen Einblick in den Themenkomplex der Sucht geben und in die Problemlagen abhängiger Menschen einführen. Die meist vielfältigen und komplexen Belastungen dieser Klientel sind besonders ausgeprägt und erfordern adäquate und individuelle Hilfemaßnahmen. Eine Einführung in die spezifischen Problembereiche von drogenabhängigen Menschen und ihren Besonderheiten erscheint m.E. notwendig, um das Arbeitsspektrum für professionelle Fachkräfte aufzuzeigen und um die Vielschichtigkeit sozialpädagogischer Interventionen einschätzen zu können. Bevor ich in Kapitel zwei das Konzept des Case Managements als eine mögliche Methode in der Arbeit mit suchtkranken Menschen vorstelle, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf das Gesamtspektrum der Abhängigkeit und auf die multifaktoriellen Problembereiche drogenabhängiger Menschen.
1.1 Definition von Sucht
Das exzessive Verlangen nach einer Droge wird im allgemeinen Sprachgebrauch als Sucht bezeichnet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellte erstmals 1957 folgende Merkmale auf, die zur Definition von Sucht anzuführen sind (Fricke 2000, S. 4):
- das unstillbare Verlangen nach der Droge
- die Tendenz zur Dosissteigerung
- physische und psychische Abhängigkeit
- schädliche Wirkung für das Individuum und die Gesellschaft
Diese Definition wird mit der International Classification of Diseases (ICD-10)[1] durch die Hinzunahme detaillierter Kennzeichen weiter spezifiziert. Für die Diagnose einer Abhängigkeit müssen nicht alle sieben der folgenden Kriterien gelten. Eine Abhängigkeit liegt dann vor, wenn im Zeitraum eines Jahres mindestens drei der Kriterien gleichzeitig existierten.
Die Diagnosekriterien nach ICD-10 (Schmidt 1997, S. 13):
1. Die Existenz eines starken Wunsches oder eine Art Zwang ein Suchtmittel zu konsumieren.
2. Das Vorhandensein einer verminderten Kontrollfähigkeit bzgl. des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums.
3. Der Drogenkonsum mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern und der entsprechenden positiven Erfahrung, dass dieses Verhalten wirkt.
4. Der Nachweis einer Toleranz und das Auftreten eines körperlichen Entzugssyndroms.
5. Ein eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit der Droge.
6. Eine fortschreitende Vernachlässigung des sozialen Netzwerkes und anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand für den Konsum der Droge oder für die Erholung der Folgen.
7. Ein anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (körperlicher, sozialer oder psychischer Art).
1964 führte die WHO den Terminus „Drogenabhängigkeit“ ein und bezeichnet diesen als einen Zustand des wiederholenden Konsums einer Droge mit periodischen oder durchgängigen Verbrauch. Dabei wurde als gemeinsames Kennzeichen aller variierenden Abhängigkeitsformen die psychische Abhängigkeit festgelegt (Solms/Steinbrecher 1975, S. 11). Der Begriff „Drogenmissbrauch“ wird in der Fachliteratur unterschiedlich definiert. Einige Autoren setzen Missbrauch mit Abhängigkeit gleich oder definieren den Gebrauch einer Droge bereits als Missbrauch. Ich orientiere mich in meinen Ausführungen an der von der ICD-10 benutzten Ausdruckweise, die den schädlichen Gebrauch eines bestimmten Stoffes als Missbrauch definiert.
Die WHO fasst die stoffgebundenen Drogen in elf Substanzgruppen zusammen (Fricke 2000, S. 7):
- Schnüffelstoffe · Nikotin
- Opiate · Cannabis
- Phencyclidin (PCP) und verwandte Substanzen · Kokain
- Sedativa, Hypnotika und Anxiolytika · Halluzinogene
- Amphetamine und verwandte Substanzen · Alkohol
- Koffein
Die Mehrzahl der drogenabhängigen Menschen ist nicht im Gebrauch einer einzigen Droge, sondern bedient sich einem Mix unterschiedlicher Substanzen, um die Wirkungsweise und das Rauscherlebnis zu erhöhen. Auch das Vorhandensein der Droge und die finanzielle Lage des Betroffenen bedingen die Auswahl des Suchtmittels. Drogen werden auch im Wechsel eingenommen, wie z.B. Heroin für die Dämpfung einer Kokainwirkung (Becker/Brömer/Rießelmann 1997, S. 227-232). Eine Mehrfachabhängigkeit wiederum begünstigt die Suchtentwicklung, da die körperliche und psychische Beeinträchtigung zunimmt.
1.2 Entstehung von Sucht
Die nachfolgenden Ausführungen über die Entstehung von Sucht konzentrieren sich auf das Modell des Suchtdreiecks, dass Zusammenwirken der drei Faktoren Person, Umwelt und Droge (siehe Abbildung 1). In der Fachliteratur wird dahingehend weiter differenziert und es sind vielfältige Theorien mit unterschiedlichen Ansatzpunkten (z.B. medizin-biologische, psychologische, soziologische-psychoanalytische und politisch-ökonomische Theorien) zur Suchtentstehung entwickelt wurden (Ramström 1984, S. 37-40). Trotz der unterschiedlichen theoretischen Ansätze zur Suchtentstehung ist es nicht möglich, die Entwicklung einer Suchtkarriere vorherzusagen und feste Rahmenbedingungen zu entwickeln, die bei jedem Menschen zwangsläufig zum Drogenkonsum führen. Das alleinige Vorhandensein einer Droge führt nicht zur Abhängigkeit, vielmehr geht man in der Fachliteratur von einem komplexen und individuellen Ursachenbündel suchtfördernder Variablen aus, die sich aus dem ausgiebigen Wechselspiel zwischen Person, Umwelt und Droge zusammensetzen. Um ein Verständnis für süchtiges Verhalten zu erlangen, müssen Fachkräfte Kenntnis über diese vielfältigen Wechselbeziehungen entwickeln (Schwehm 1994, S. 9, Christiani/Stübing 1973, S. 69). In dem hier angeführten Bedingungsgefüge von suchtentstehenden Faktoren befinden sich Professionelle der Sozialen Arbeit wieder. In der Arbeit mit Suchtkranken werden sie mit einem Klientel verzweigter und vielschichtiger Problemlagen mit den verschiedensten Ursachen konfrontiert. Dabei ist die Entwicklung einer Abhängigkeit ein individuelles Geschehen. Bei jedem Klienten hat die Sucht individuelle und meist mehrere Ursachen. Die Autoren sprechen zwar von unzähligen suchfördernden Variablen, wie „broken-home-Situationen“, traumatischen Kindheitserlebnissen, die Einnahme weicher Drogen u.a., jedoch bedingt keine dieser Variablen eine Abhängigkeit (Solms/Steinbrecher 1975, S. 13).
Abbildung 1: Suchtdreieck (Drei-Faktoren-Modell der Suchtentstehung):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Tretter/Müller 2001, S. 37
Die Faktoren, welche bei der Entstehung von Sucht mitwirken, werden meist in Form eines Suchtdreiecks dargestellt. In diesem Entstehungsschema wird das Zusammenwirken der drei Faktoren als multifaktorielle Ursache von Suchtverhalten betrachtet. Zu dem Faktor Droge spielen Art der Applikation, Dosis, Gewöhnung, Dauer der Einnahme und individuelle Reaktion auf ein Rauscherlebnis eine Rolle. Für den Faktorenkomplex Person werden körperliche und seelische Dispositionen, wie Erblichkeit, Sozialisation und aktuelle Erwartungshaltungen an die Droge gezählt. Für den Einfluss der Umwelt sind die familiäre und berufliche Situation, Sozialstatus und allgemeine Lebensbedingungen aber auch sozialer Wandel, Konsumgewohnheiten, Einstellung und Verfügbarkeit von Drogen und Werbe- und Modeeinflüsse von Bedeutung (Schwehm 1994, S. 10, Ausubel 1983, S. 23).
Die Entstehung einer Suchterkrankung erfolgt nach Tretter und Müller (2001, S. 23) in einem fließenden Übergang von einem gelegentlichen Konsum über einen Missbrauch des Rauschmittels zum schädlichen Gebrauch bis hin zur Abhängigkeit. Ein gelegentlicher, episodischer Konsum hat nicht unmittelbar eine Suchtkarriere zur Konsequenz und der Prozess kann in dieser Probierphase zum Stillstand gelangen. Der Übergang von einem dauernden Gewohnheitskonsum bis zum riskanten Konsum, den Missbrauch von Suchtmitteln, sind schädigende Wirkungen und negative Folgen, wie gesundheitliche Probleme, Verlust von Arbeit und sozialem Umfeld, Begleiterscheinungen dieses Stadiums. Der schädliche und exzessive Gebrauch einer Droge, einhergehend mit Kontrollverlust, bildet das letzte Stadium bei der Entstehung einer Sucht und es entwickeln sich soziale, psychische und physische Beeinträchtigungen. Obwohl auch in diesem Stadium die Möglichkeit des Ausstiegs besteht, gelingt dies nur in geringen Fällen (Dijk 1983, S. 176/177). Menschen im Stadium des exzessiven Konsums gehören zu dem Klientel, die in dieser Arbeit beschrieben werden und an die sich das Konzept des Case Managements richtet.
1.3 Problemlagen suchtkranker Menschen
Die Problemlagen suchtkranker Menschen sind komplex gestaltet und ihre Lebenssituation ist von unterschiedlichsten Belastungen geprägt. Dies stellt einen hohen Anspruch an die Arbeit professioneller Fachkräfte dar, da Menschen mit Abhängigkeitsproblematik durch ihren verzweigten Hilfebedarf eine umfassende und komplexe Betreuung erfordern. Die Lebenssituationen und Problemlagen der Betroffenen müssen für eine adäquate Hilfe erkannt und analysiert werden. Oftmals beschränken sich die Belastungen der Klientel nicht nur auf den Faktor Droge, sondern sind in alle Lebensbereiche des Menschen eingegliedert.
Nach Wendt (1997, S.191) spiegelt die Sucht kein isoliertes Symptom wieder, sondern ist eingebunden in verzweigte und unterschiedliche Problembereiche. Die sozialen Lebensumstände drogenabhängiger Menschen sind aufgrund des Suchtverhaltens sehr prekär. Wohnungs- und Arbeitslosigkeit, psychisch und physisch erkrankt, meist mehrfachabhängig und ohne sozialen Anschluss können Merkmale sein, mit denen die Lebenssituation der Klienten adäquat zu beschreiben ist. Die Folgen des Drogenkonsums weiten sich in alle Lebensbereiche eines Menschen aus und lassen sich differenzieren in soziale, psychische und physische Folgen. Dabei stehen sie in Wechselbeziehung zueinander, psychische Erkrankungen wie Depressionen können die Ursache physischer und sozialer Folgen, z.B. von chronischen Erkrankungen und sozialer Isolation sein. Der soziale Abstieg kann sich aber auch als Konsequenz von seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen entwickeln.
Physische Folgen
Alle Drogen erzeugen mehr oder weniger eine Schädigung des Immunsystems. Durch die Einnahme von Drogen wird das Krankheitsrisiko erhöht und die Lebenserwartung verkürzt. Auch die Beimischung von Streckmitteln, die in illegalen Drogen enthalten sind, kann ebenfalls zu erheblichen körperlichen Folgen führen. Durch die intravenöse Einnahme der Drogen erhöht sich das Risiko einer Hepatitis -und H.I.V – Infektion und die Gefahr, sich an anderen übertragbaren Krankheiten anzustecken. Die Liste möglicher körperlicher Folgen bei Drogenkonsum ist lang. Zu vernachlässigen sind auch nicht die körperlichen Schäden, die durch den sozialen Lebensstandard hervorgerufen werden. Nicht nur die primäre Einnahme einer Droge, auch Obdachlosigkeit, geringe Nahrungszufuhr und unhygienische Lebensbedingungen haben physische Konsequenzen.
Psychische Folgen
Depressive Störungen treten bei drogenabhängigen Menschen deutlich häufiger auf, als bei Menschen ohne Suchtproblematik (BMG 1996, S. 27). Im ICD-10 werden die verschiedenen Persönlichkeitsbilder, die der Sucht zugrunde liegen können, benannt. Dabei wird zwischen paranoiden, schizoiden, dissozialen, emotional instabilen, infantilen und hysterischen Persönlichkeitsstörungen unterschieden. Die Borderline-Störung ist bei Menschen mit Suchtproblematik, besonders bei opiatabhängigen Menschen, ein häufig anzutreffendes Persönlichkeitsmerkmal (Brömer 1994, S. 108).
Soziale Folgen
Die Lebenssituation drogenabhängiger Menschen ist oft gekennzeichnet durch Wohnungs- und Arbeitslosigkeit, hohe Verschuldung und soziale Isolation aus der gewohnten Umgebung. Der soziale Abstieg ist als deutliches Merkmal einer Abhängigkeit festzuhalten. Auch die Kriminalitätsrate ist unter drogenabhängigen Menschen, aufgrund von Beschaffungskriminalität oder Prostitution, deutlich erhöht. Drogenabhängige Menschen befinden sich in einem Kreislauf, aus dem es mit der Dauer der Sucht immer schwieriger wird auszubrechen. Die Folgen des sinkenden Lebensstandards sind nicht mehr zu kompensieren. Durch die veränderte Lebenssituation in der Abhängigkeit befinden sich die Betroffenen in anderen, neuen sozialen Netzwerken wieder. Alte soziale Kontakte, wie zu Arbeitskollegen, drogenfreien Freunden oder in die Nachbarschaft gehen verloren oder werden durch andere, drogenabhängige Menschen ersetzt. Oftmals sehen sich suchtkranke Personen immer mehr der Isolation ausgesetzt, da sich aufgrund des süchtigen Verhaltens die Mitglieder des sozialen Netzwerkes abwenden. Die Beziehungen Abhängiger sind dementsprechend gering oder von negativer Art (Dealer - Klient) geprägt (Feineis 1998, S. 127). Auf die Besonderheiten der sozialen Netzwerke, deren Struktur und inhaltliche Bedeutung für drogenabhängige Menschen, werde ich in Kapitel 3.5.2 meiner Diplomarbeit zurückkommen und an dieser Stelle differenzierter beleuchten.
Je länger sich eine Person in dem Kreislauf der Abhängigkeit befindet und die Folgen der Sucht immer gravierender werden, desto schwieriger wird es für Professionelle geeignete Hilfemaßnahmen zu entwickeln und den Ausstieg zu bewirken. Sie benötigen ein umfassendes Wissen über die Schwierigkeiten der Klientel sowie über die Merkmale und Folgen einer Abhängigkeit. Suchtkranke benötigen in den verschiedensten Bereichen Unterstützung, wie z.B. im medizinischen, psychologischen, juristischen, finanziellen und sozialpädagogischen Sektor. Als eine Methode, um dem verzweigten und komplexen Hilfebedarf suchtkranker Menschen entgegen zu kommen, wird im folgenden Kapitel das Konzept des Case Management vorgestellt. Case Management wurde u.a. vor dem Hintergrund eingeführt, für Menschen mit vielschichtigen und komplizierten Problemlagen individuelle Dienstleistungspakete zu entwickeln und ein adäquates, leicht zugängliches Hilfesystem zur Verfügung zu stellen (Wendt 1991, S. 11). Im Mittelpunkt von Case Management steht die Verknüpfung von professionellen und informellen Hilfen, um die selbstständige Lebensführung der Person zu erlangen. Komplexe Probleme behindern oftmals ein Selbstmanagement von Menschen. Wenn das Alltagsmanagement misslingt und die Problemlagen von Betroffenen vielfältige und aufeinander abgestimmte Hilfemaßnahmen erfordern, stellt das Case Management eine Methode dar, um diesem umfassenden Hilfebedarf adäquat zu begegnen.
2. Das Konzept von Case Management
2.1 Definition von Case Management
Da sich das Konzept des Case Managements von verschiedenen Sichtweisen aus betrachten lässt, werde ich in den folgenden Ausführungen einige unterschiedliche Definitionen von Case Management aufzeigen. Dabei möchte ich vorweg nehmen, dass bislang keine allgemein gültige Definition von Case Management existiert. Obwohl sich Case Management aus der Sozialen Arbeit heraus entwickelt hat (Raiff/Shore 1997, S. 22), bedienen sich auch andere Berufsgruppen dieser Anwendung. Allerdings nehmen sich diese gegenseitig nur bedingt wahr und setzen ihre eigenen Akzente in der Definition von Case Management (Wendt 1997, S. 20). Nach Riet/Wouters (2003, S. 38) kann sich somit die Definition von Case Management nur aus den Aufgaben der spezifischen Arbeitsfelder erklären, in welchen mit dieser Methode gearbeitet wird. Dabei orientiert sich Case Management an den jeweiligen organisatorischen Rahmenbedingungen und im Kontext der gegebenen Umgebung (Raiff/Shore 1997, S.14). Mit welchen Case Management Modellen gearbeitet und welche Funktion ihnen zugeschrieben wird, ist oft von der Struktur und der Arbeitsweise der jeweiligen Institution abhängig.
Im Allgemeinen ist festzuhalten, dass Case Management als eine Verfahrensweise in Sozial- und Gesundheitsdiensten eingesetzt wird, mit der auf den Einzelfall bezogen die nötige Unterstützung sowie Behandlung und Versorgung von Personen geleistet wird. Es wird als eine Prozesslenkung für Sozialdienste angesehen, mit der Vorgänge transparent, handhabbar, kontrollierbar, bewertbar und abrechbar gemacht werden sollen (Wendt 1997, S. 28) und in welcher der individuelle Hilfebedarf eines Menschen mithilfe der verfügbaren Ressourcen abgedeckt wird, indem eine Planung, Koordinierung, Überwachung und Evaluation der Dienstleistungen erfolgt (Ewers 2002c, S. 56). Dabei kommt dem Case Management eine Verknüpfungsaufgabe zwischen dem Bewältigungssystem des Klienten und dem formalen Ressourcensystem zu (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Die Verknüpfungsaufgabe des Case Managements
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Wendt 1997, S. 30
Green legt in seiner, speziell auf die Sozialarbeit bezogene Definition besonderen Wert darauf, dass Case Management ein Prozess ist, der auf einer Beziehung zwischen dem Case Manager und einem Klienten basiert und welcher den Aufbau von Unterstützungsnetzwerken beinhaltet. Einerseits soll die Koordination von Dienstleistungen auf der Klientenebene erfolgen und anderseits soll die Effektivität auf der Organisationsebene realisiert werden (Ewers 2002c, S. 56). Dabei geht es im Case Management um eine kontinuierliche und integrative Versorgung mit einer ganzheitlichen Sichtweise auf eine bestimmte Klientenproblemlage sowie um das gemeinsame Aushandeln der für den Klienten benötigten und gewünschten Dienstleistungen (Riet/Wouters 2003, S. 55). Mit einer ganzheitlichen Ausrichtung verfolgt das Konzept des Case Managements die Theorie des ökosozialen Ansatzes, in welchem Menschen immer in ihrer Lebensumgebung und nicht als isolierte Wesen betrachtet werden (Klug 2003, S. 18). Nach Ballew und Mink (1991, S. 56) weist Case Management zwei weitere Akzente auf. Einerseits die Entwicklung oder Verbesserung eines Ressourcen Netzwerkes, anderseits die Stärkung der Fähigkeiten des Klienten, diese Netzwerke auch intensiv zu nutzen (Gögercin 1997, S.102). Case Management wird als das Verbindungsglied zwischen formellen und informellen Hilfen angesehen (Wendt 1995, S. 102). Einem Case Manager kommt dabei die Aufgabe zu, ein Netzwerk aus formellen und informellen Unterstützungen zu organisieren, koordinieren und zu unterhalten (Wendt 1991, S. 23).
2.2. Entwicklung von Case Management
In den folgenden Ausführungen werde ich die historischen Entwicklungen des Case Management Konzeptes beschreiben, um die Ausbildungen der differenzierten Ansatzpunkte dieses Konzeptes herauszuarbeiten. Dabei befasse ich mich vorwiegend mit der US-amerikanischen Entstehungsgeschichte, da dort die Konzeption des Case Managements ihren Anfang nahm und Amerika als „Ursprungsland des modernen Case Managements" (Ewers 2002b, S. 30) bezeichnet wird. Im Laufe der Entwicklung verbreitete sich das Case Management im angelsächsischen Raum bis hin nach Deutschland. Auf eine detaillierte Beschreibung der Entstehungsgeschichte in den europäischen Staaten werde ich nur bedingt eingehen.
Obwohl bereits 1863 im Rahmen der US-amerikanischen Siedlungsbewegung und den damit verbundenen koordinierten sozialpflegerischen Diensten der Charity Organisation Societies (COS) die Rede von einer Frühform des Case Managements war (Ewers 2002b, S. 41), lässt sich die Entstehung des modernen Case Managements in den USA als Konsequenz auf die Deinstitutionalisierungsdebatte Mitte der 70er Jahre zurückführen. Psychisch Kranke, geistig Behinderte und pflegebedürftige Menschen wurden aus Heimen und Anstalten entlassen, da man es nicht mehr mit den Menschenrechten vereinbar ansah, diese Personen in stationären Einrichtungen festzuhalten. Ebenso ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass Klinikaufenthalte kostenintensiv sind und den betroffenen Menschen eher schaden sowie zur Lebensuntüchtigkeit beitragen (Wendt 1997, S. 14). Die stationären Angebote wurden reduziert, der Trend ging in Richtung offene Hilfen. Es musste nun für eine ausreichend ambulante Versorgung durch soziale und medizinische Dienste gesorgt werden, um eine hinreichende Betreuung der o.g. Personengruppen zu gewährleisten. Doch der Sektor der ambulanten Dienste war ein unkoordiniertes, nicht aufeinander abgestimmtes Nebeneinander von verschiedenen Hilfeangeboten. Die sozialen Dienste wurden im Laufe der Zeit immer differenzierter und spezialisierter, sodass das tatsächlich vorhandene Hilfsangebot für viele Betroffene unübersichtlich und somit der Zugang zu diesem erschwert wurde (Klug 2002, S. 64). Dieser Prozess erzwang eine Neugestaltung ambulanter Betreuungsmöglichkeiten und die Ausbildung eines Unterstützungsmanagements (Wendt 1991, S. 18). Case Management, welches seine Wurzeln in der Gemeinwesenarbeit hat und sich an der klassischen Einzellfallhilfe (case work) orientiert (Neuffer 1990, S. 467), sollte als sinnvolles Vernetzungskonzept diesem Problem entgegenwirken.
In den USA gab es mehrere Versuche, durch die Förderung von Modellprogrammen die verschiedenen Hilfsangebote zu integrieren, die sozialen Dienste auf kommunaler Ebene zu vernetzen und somit ein erschließbares Dienstleistungssystem aufzubauen. Mit Hilfe von Case Management sollte der Zugang zu staatlichen Programmen gefördert werden. Die Akteure der Regierung sahen sich einem starken Innovations- und Handlungsdruck ausgesetzt, da sie vor steigenden Versorgungsproblemen und Zugangsbarrieren der sozialen Dienste sowie einer hohen Kostenexplosion standen (Ewers 2002a, S. 10). 1977 spielte Case Management im „Community Support Programm” welches das National Institute of Mental Health festlegte, erstmals eine zentrale Rolle (Wendt 1997, S. 15). Dieses Programm wurde entwickelt, um für psychische Kranke die Dienste im Gemeinwesen zu erschließen und diese zu koordinieren. Daneben gab es eine Reihe von Bundesgesetzen, welche für bestimmte Personengruppen Case Management als adäquate Hilfe anbot.
Nach Moxley (Klug 2002, S. 37ff.) gab es weitere Faktoren, die bei der Entstehung des Case Managements von entscheidender Bedeutung waren - der zunehmende Wettbewerb im Gesundheitswesen, die Dezentralisierung sowie Kostenexplosion der sozialen Dienste, schwerfällige Zugangsbarrieren zu sozialen Einrichtungen, immer komplexere Problemlagen der Klientel sowie deren fehlenden sozialen Netzwerke. Es wurde die Forderung nach Effektivität und Effizienz laut, wie könnte mit dem geringsten Kostenaufwand die bestmögliche Hilfe gewährt werden. Ziel sollte es sein, Kosten einzudämmen und gleichzeitig die Wirksamkeit der Dienstleistungen zu steigern (Klug 2002, S. 39). Dies war auch zentraler Punkt der Debatte in Großbritannien unter der Regierung Thatchers, welche die Reform der öffentlichen Dienste an der freien Marktwirtschaft orientierte. Dabei sollte Case Management im Rahmen von Rationalisierungsmaßnahmen eine zentrale Rolle zukommen (Wendt 1997, S. 16ff).
Remmel-Faßbender (2002, S. 72) thematisiert einen weiteren Aspekt, der für die Einführung des Case Managements, vor allem in Deutschland, Bedeutung zukam. Die gesellschaftlichen und sozialpolitischen Veränderungen und deren Auswirkungen, wie Arbeitslosigkeit, Strukturreformen, veränderte Lebenslagen, wirtschaftliche Veränderungen u.a., bedeuteten eine neue Herausforderung für die Soziale Arbeit. Immer neue Problemlagen der Klientel erforderten neue, umfassende Konzepte und Unterstützungssysteme, um eine hinreichende Betreuung zu erreichen und Personen mit vielschichtigem und verzweigtem Unterstützungsbedarf vor Ausgrenzung zu schützen. Unter Beachtung der Kosten-Nutzen-Relation erforderten Menschen mit komplexen Problemlagen ein individuell zugeschnittenes Angebot und unterstützende Begleitung bei der Schaffung eines sozialen Netzwerkes und deren Nutzung (Remmel-Faßbender 2002, S. 75).
Case Management wurde eingeführt, um Versorgungs- und Betreuungsleistungen für das Klientel effektiver zu gestalten und die Wirksamkeit einzelner Hilfemaßnahmen zu erhöhen. Das Hilfesystem sollte auf den Klienten abgestimmt werden und durch sinnvolle Koordination den Zugang erleichtern. Die Case Management Konzepte, welche im 19. Jahrhundert in den USA entwickelt worden, verfolgen diesen Ansatz. Case Management wurde aber auch vor dem Hintergrund der steigenden Ökonomisierung eingeführt, wie beispielsweise in England oder später auch in den USA, in welcher die Effizienz und die Kosten der Dienstleistungen im Vordergrund stehen. Nach welchem Case Management Ansatz gearbeitet wird, hängt von der Definition der einzelnen Einrichtung ab (vgl. Kapitel 2.1). M.E. lassen sich in der Sozialen Arbeit beide Ansätze schlecht voneinander trennen und finden sich in der Praxis zu beiden Teilen wieder.
2.3. Schwerpunkte von Case Management
2.3.1 Klientenorientierter und Einrichtungsorientierter Schwerpunkt
Wie bereits erwähnt, ist bei der Entstehung des Case Managements die Entwicklung von einem weiteren Faktor wesentlich beeinflusst worden, der Frage nach Effektivität und Effizienz. In diesem Kapitel möchte ich die zwei Schwerpunkte beschreiben, nach denen das Case Management ausgerichtet wird, um das Spannungsgefüge aufzuzeigen, in welchem sich professionelle Fachkräfte der Sozialen Arbeit befinden. In der Literatur wird dies häufig im Zusammenhang mit der Ethik des Case Managements diskutiert und mit unterschiedlichen Begriffen belegt. Klug (2002, S. 45) bezeichnet die zwei Typen als „consumer-driven-system" und "system-driven-system", bei Riet und Wouters (2003, S. 50) wird es als „Klientenorientiertes vs. Einrichtungsorientiertes" Vorgehen bezeichnet und Löcherbach (2002, S. 202) redet von „Fall- und Systemmanagement". Alle Begriffe beinhalten jedoch die gleiche Vorstellung, auf der einen Seite werden die Bedürfnisse und Ziele des Klienten in den Vordergrund gestellt, auf der anderen Seite der Wunsch nach Effektivität und Effizienz, der optimalen interorganisatorischen Organisation einer Einrichtung (Klug 2002, S. 46).
Im Mittelpunkt der kundenorientierten Variante von Case Management stehen nach Moxley die Bedürfnisse des Klienten und im Sinne einer anwaltschaftlichen Funktion tritt der Case Manager für die Belange des Klienten ein (Klug 2002, S. 46). Dabei werden die betroffenen Personen aktiv in den Hilfeprozess integriert, sie bestimmen selber über die Art, den Umfang sowie den Inhalt der Dienstleistung und erhalten die ungeteilte Loyalität des Case Managers. Der Klient wird während des gesamten Case Management-Prozesses als Subjekt wahrgenommen und bestimmt dessen Richtung (Wendt 1997, S. 65). Als zentrales Anliegen geht es in solchen Modellen um die Selbstverfügung und -bestimmung eines Klienten, seiner Teilnahme an der Definition von Zielen und Bedürfnissen sowie der gemeinsamen Ausformulierung eines geeigneten Hilfeplans (Riet/Wouters 2003, S. 50). Ins Zentrum der Arbeit werden der Klient und die konkrete Unterstützungsarbeit zur Verbesserung der persönlichen Netzwerke gestellt (Löcherbach 2002, S. 202).
Dagegen hat der Typ des Systemmanagements andere Zielperspektiven im Blick. Ausschlaggebend sind eine bessere Koordination von sozialen Dienstleistungen, dass Vermeiden von Überschneidungen und somit eine optimale Nutzung der Ressourcen, immer im Hinblick auf Rationalisierung und Kostenmanagement. Teure Dienstleistungen sollen durch preiswertere, oft auch durch informelle Angebote, ersetzt werden. Nicht der Klient bestimmt seine Bedürfnisse, sondern der Case Manager wählt die für die Einrichtung effizientesten Möglichkeiten heraus und bestimmt weitestgehend die Ziele und den Hilfebedarf des Klienten (Klug 2002, S. 46). Dem Klienten wird ein vorprogrammiertes Hilfsangebot der jeweiligen Einrichtung präsentiert, welchem er sich anzupassen hat. Dabei wird er als Objekt des Dienstes und des professionellen Handelns wahrgenommen (Wendt 1997, S. 65) und seinen Bedürfnissen wird wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt (Riet/Wouters 2003, S. 50). Im Vordergrund des system-driven-Modells stehen die Organisationsstruktur, finanzielle und personelle Ausstattung der Einrichtung sowie das Umfeld der Dienste. Leistungen werden im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit und Ökonomie erbracht (Riet/Wouters 2003, S. 27).
2.3.2 Ethische Probleme
Als Antwort auf sich immer weiter entwickelnde managed care systeme2 formulierte 1992 die National Association of Social Work (NASW)3 ethische Standards für die Arbeit mit Case Management. Deren klare Prinzipien verfolgen einen kundenorientierten Ansatz und die Bedürfnisse des Klienten sollen, auch gegenüber der eigenen Organisation, in den Mittelpunkt gestellt werden (Klug 2002, S. 48). Diese Haltung birgt Konflikte im Zusammenhang mit den Zielen des einrichtungsorientierten Ansatzes. Case Management hat daher ein Problem des doppelten Mandates bzw. der doppelten Loyalität. Einerseits loyal gegenüber seinem Klienten (umfassende, ganzheitliche Hilfe), anderseits loyal gegenüber dem Dienstleistungssystem (effiziente, kostengünstige Versorgung) (Klug 2002, S. 57). Der Case Manager gerät somit in Widersprüche. Wem soll er sich gegenüber solidarisch verhalten? Nach Powell (Klug 2002, S. 48) gibt es für dieses Spannungsfeld keine klare Methode. Im Wesentlichen bestimmt der Auftraggeber den Schwerpunkt des Case Managements. Es ist entscheidend, ob der Case Manager bei einer privaten Profit- Organisation (z.B. Versicherung) oder bei einer öffentlichen oder privaten Non-Profit-Organisation angestellt ist.
Die weiteren Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf öffentliche Einrichtungen. Daher steht für mich im Case Management der kundenorientierte Ansatz im Vordergrund und er ist Ausgangspunkt für meine weiteren Überlegungen. Die o.g. Ausführungen lassen erahnen, in welchem Spannungsgefüge sich Case Management befindet und welche grundlegenden Fragen sich daraus ergeben. Die Frage der ethischen Verpflichtung gegenüber dem Klienten und der Wirtschaftlichkeit ist allerdings nicht Thema meiner Diplomarbeit. Wenn Professionelle jedoch mit dem Konzept des Case Managements arbeiten, sollten sie sich dieser Situation bewusst sein.
2.4. Funktionen von Case Management
Um ein umfassendes Unterstützungsnetzwerk zu akquirieren, sind im Case Management verschiedenste Funktionen verortet. Dabei kristallisieren sich drei Kernfunktionen heraus. Die Advocacy-, die Broker- und die Gate-Keeper-Funktion (Neuffer 1997, S. 186; Ewers 2002c, S. 63). Je nach Arbeitsbereich konzentrieren sich Professionelle auf eine der drei genannten Funktionen.
[...]
[1] ICD-10 bezeichnet das Diagnosesystem der WHO, mit welchen Krankheiten international klassifiziert werden können. 1994 trat die 10. Revision, als aktuelle Version der anfänglichen Diagnoseeinteilung in Kraft. Diese diagnostischen Kriterien haben zum Ziel, Professionellen einen Leitfaden zur genauen Symptomerkennung bereitzustellen. Die Kategorisierung nach ICD-10 bildet einen Kompromiss aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Es stellt auch ein Instrument der Gutachtenerstellung, besonders für Krankenkassen dar (Däbritz 1997, S. 558).
2 Managed Care Systeme verfolgen das Ziel, durch eine rigorose Kontrolle der Hilfsangebote sowie durch Kosteneinsparung die Effizienz zu erhöhen und die Qualität zu steigern (Wendt 1997, S. 22).
3 Berufsvereinigung der Sozialarbeiter
- Arbeit zitieren
- Gerda Schulz (Autor:in), 2005, Case Management in der Sozialarbeit mit Suchtkranken. Die Methode der sozialen Netzwerkarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50184
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