Dieselthematik und Abgasmanipulationen. Adäquate Krisenreaktionsstrategien anhand der Twitterkommunikation des Volkswagenkonzerns


Dossier / Travail de Séminaire, 2018

47 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Problemstellung

2. Definitionen, Kriterien und Strategien der (Krisen)-PR
2.1 Public Relations und Krisen PR
2.2 Situational Crisis Communication Theory (SCCT)
2.3 Die VW-Abgasaffäre
2.4 Funktionales Operatorenmodell

3. Krisenreaktion des Volkswagenkonzerns auf Twitter
3.1 Methode: Qualitativen Inhaltsanalyse
3.2 Operationalisierung der Fragestellung
3.3 Vorbereitung und Durchführung der Erhebung
3.4 Vorstellung und Interpretation der Ergebnisse

4. Schlussbetrachtung

5. Literatur

6. Anhang
i Funktionales Operatorenmodell: Ebenen der Twitterkommunikation
ii Kodierregeln

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1 Crisis Response Strategies by level of responsibility acceptance

Tabelle 2 Crisis types by level of crisis responsibility

Tabelle 3 Formale Aspekte der Twitter-Accounts

Tabelle 4 Funktionales Operatorenmodell: Ebenen der Twitterkommunikation

Tabelle 5 Kodierregeln qualitative Inhaltsanalyse

1. Einleitung und Problemstellung

Der Abgasskandal1, in dessen Zentrum der Automobilhersteller Volkswagen steht, verliert seit seiner Aufdeckung Ende September 2015 nicht an Brisanz. Regelmäßig stehen neue Ent- wicklungen im Fokus der Medienberichterstattung. Jüngst, im August 2018, wurde öffentlich diskutiert, ob VW bereits seit 2007 über die Manipulationen Bescheid wusste und diese billi- gend in Kauf nahm2. Der Konzern behauptet zeitgleich mit der Öffentlichkeit, im September 2015, von den Manipulationen erfahren zu haben. US-Aufseher kritisieren in diesem Zuge die mangelnde Transparenz von Volkswagen im Umgang mit dem Abgasskandal3. Betroffene verklagen Volkswagen wegen Verletzungen des Kündigungsschutzes und auf Schadensersatz. Staatsanwaltschaft und Polizei ermittelt gegen den Konzern. Die Vorkommnisse in Verbin- dung mit dem Dieselgate sind inzwischen so zahlreich, dass mehrere deutsche Medien eigens Chroniken entwickelt haben4, um es Rezipierenden zu erleichtern dem Geschehen zu folgen. Nahezu alle Meldungen in Bezug auf die Dieselthematik und den VW-Konzern sind negativ. Der Abgasskandal stellt eine schwere Krise für den Konzern dar. Neben Klagewellen und wirtschaftlichem Schaden ist vor allem der Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in die Marke eine negative Konsequenz der Krise. Aus diesem Verlust des öffentlichen Vertrauens resultie- ren schwere Reputationsschäden für den ehemaligen Vorzeigekonzern. Krisen-PR ist eine kommunikative Maßnahme mit der Unternehmen dieses verlorene Vertrauen und das Wohl- wollen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen können. Mittels Krisen-PR lassen sich weiter Reputations- und Imageschäden bewältigen. Die Strategien und Maßnahmen dieser Form der Public-Relations-Arbeit sind auf die Umsetzung der Bedürfnisse und Ziele von Organisatio- nen in Krisenphasen ausgerichtet.

Welche Krisenreaktionsstrategie nutzt Volkswagen? Gibt es eine „richtige“ Strategie im Um- gang mit einer Krise wie der um die Abgasmanipulationen? Welche Faktoren haben Einfluss darauf mit welchen Reputationsschäden ein Unternehmen eine Krise überwindet? Welche Prämissen und Faktoren sind ausschlaggebend bei der Wahl einer Krisenreaktionsstrategie? Diese Fragen bilden das Fundament der Forschungsfrage: Welche Krisenreaktionsstrategie ist anhand der Twitterkommunikation des Volkswagenkonzerns, nach Bekanntwerden der Diesel- Thematik erkennbar und inwieweit erfüllt sie die Prämissen für effektive Krisenkommunikati- on?

Ziel der hier vorgestellten Fallstudie ist die Beantwortung dieser Fragestellung. Dazu wird im Folgenden der Untersuchungsgegenstand theoretisch fundiert. Die empirische Untersuchung wird mittels einer qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt. Im Rahmen dieser werden Tweets des Konzerns aus dem Untersuchungszeitraum analysiert.

Um einen theoretischen Bezugsrahmen zu schaffen, werden vorab die Prämissen und Theo- rien um Krisen-PR vorgestellt und erörtert (vgl. Kap.2). Im Zentrum des Theorieteils steht die Situational Crisis Communication Theory (SCCT) von Timothy Coombs (2009) (vgl. Kap. 2.2). Sie bildet Anknüpfungspunkte für die Entwicklung von Kategorien für die Inhaltsanaly- se. Anhand der SCCT kann die VW-Krisensituation kategorisiert werden. Basierend auf die- ser Kategorisierung wird eine wirkungsvolle Krisenreaktionsstrategie evaluiert. Die Bespre- chung und Einordnung der Dieselkrise schließt an (vgl. Kap. 2.3). Diese bildet die Blaupause für die datenbasierte Diskussion der von VW gewählten Kommunikationsstrategie. Für die Analyse wird weiter auf das funktionale Operatorenmodell der Twitterkommunikation von Caja Thimm, Jessica Einspänner und Mark Dang-Anh (2012) zurückgegriffen (vgl. Kap. 2.4). Anhand des Modells lässt sich Twitterkommunikation anhand der eingesetzten Operatoren untersuchen.

Im Anschluss an die theoretische Fundierung wird der Untersuchungsablauf erörtert (vgl. Kap. 3). Beginnend mit der Vorstellung der gewählten Methode (vgl. Kap. 3.1), folgt die Operationalisierung in deren Zentrum die Kategorienentwicklung steht (vgl. Kap. 3.2) sowie das Vorgehen im Rahmen der Analyse (vgl. Kap. 3.3). Anschließend werden die Ergebnisse in Bezug auf die Forschungsfrage diskutiert und interpretiert (vgl. Kap. 3.4). In der Schlussbe- trachtung (vgl. Kap. 4) werden abschließend die Vorgehensweise der Arbeit sowie die Ergeb- nisse und deren Interpretation reflektiert5.

2. Definitionen, Kriterien und Strategien der (Krisen)-PR

Die Forschungsfrage lautet: Welche Krisenreaktionsstrategie ist anhand der Twitterkommuni- kation des Volkswagenkonzerns, nach Bekanntwerden der Diesel-Thematik erkennbar und inwieweit erfüllt sie die Prämissen für effektive Krisenkommunikation? Um diese zu beant- worten, und die Fallstudie insgesamt wissenschaftlich zu fundieren, bedarf es einer knappen Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Feld der Public Relations (PR). Im Zentrum steht eine Arbeitsdefinition von PR (Kap. 2.1.1). Darauf basierend wird das Arbeitsfeld Kri- senkommunikation/Krisen-PR vorgestellt. Mit welchen kommunikativen Strategien Ak- teur_Innen Krisen begegnen können steht hier im Fokus (Kap. 2.1.2). Im Aufbau folgt weiter die Situational Crisis Communication Theory (SCCT) (Kap. 2.2). Sie bildet das Framework für die inhaltliche Systematisierung und Analyse der VW-Krise. Die anschließende knappe Darstellung des Abgasskandals dient der Bestimmung des Krisentypus und zur Begründung des Untersuchungszeitraumes (vgl. Kap. 2.3). Nachfolgend wird das funktionale Operatoren- Modell der Twitterkommunikation (Kap. 2.4) vorgestellt. Während die SCCT den inhaltlichen Anknüpfungspunkt für die Evaluation der Krisenreaktionsstrategie bildet, ist das funktionale Operatorenmodell die methodische Basis zur Erforschung der Tweets.

2.1 Public Relations und Krisen PR

Public Relations, kurz PR, bezeichnet bestimmte Aspekte der Kommunikationsarbeit von politischen (bspw. Parteien), gesellschaftlichen/sozialen (z. B. NGOs) und kommerziellen Akteur_Innen (bspw. Unternehmen). PR-Abteilungen finden sich in nahezu allen gesellschaft- lichen Bereichen: im ökonomischen, politischen, öffentlichen und gesellschaftlichen Sektor (Löffelholz/Schwarz 2008, 23). Um die Komplexität der PR-treibenden Sektoren zu reduzie- ren, werden im Folgenden die Begriffe Unternehmen oder Organisationen genutzt. Sie be- zeichnen PR-treibende Akteur_Innen. Die Deutsche Gesellschaft für Public Relations e.V. nutzt im Diskurs über diese Kommunikationsarbeit die Begriffe Öffentlichkeitsarbeit und PR, PR-Arbeit und Public Relations als Äquivalente (2005, 10). Im Rahmen der vorliegenden Hausarbeit werden diese Begriffe ebenfalls synonym eingesetzt.

2.1.1 Public Relations

Eine einheitliche und übereinstimmende wissenschaftliche Definition von PR gibt es in der Fachliteratur nicht. Unterschiedliche Autor_Innen betonen verschiedene Ziele, Interessen und Schwerpunkte der PR-Arbeit. Die „wohl bekanntesten wissenschaftlichen PR-Definition“ (Köhler 2006, 79) lieferten James Grunig und Todd Hunt. Die Forscher definierten PR kurz und bündig als das Management der Kommunikation zwischen einer Organisation und ihren Teilöffentlichkeiten (1984, 6). Zwei elementare Dimensionen der PR: kommunikativer Aus- tausch im Allgemeinen und die adressierte Ansprechgruppe, werden mittels dieser Definition hervorgehoben. Die jeweilige Teilöffentlichkeit, die Adressat_Innen der Botschaft- repräsen- tieren die Ansprechgruppe oder Stakeholder_Innen. Auf ihr Wohlwollen sind Unternehmen zur Erfüllung ihrer Ziele angewiesen (Grossenbacher 1986, 725). Ansprechgruppen besitzen daher eine machtstrategische Position und Sanktionspotential (in Form von beispielsweise Boykott). Auf dem Auf- und Ausbau der Beziehungen zwischen Organisation und ihrer An- sprechgruppe, als Schwerpunkt von PR, liegt der Fokus zahlreicher PR-Definitionen (vgl. u.a. Botan 1992, 20; Cutlip et al. 1999; 6, Köhler 2006, 23). Gegenseitige Akzeptanz, Aufbau von Vertrauen und Zustimmung, sowie Konflikt- und Krisenmanagement zählen daher zu den Kernaufgaben der PR-Arbeit (vgl. u.a. Oeckl 1964, 42; Bentele 1997, 22f; Köhler 2006, 86; Ronneberger 1996, 16; Coombs 2009, 174f; DPRG 2010, 8). Weiter hat PR-Arbeit zum Ziel, die Interessen des Unternehmens durch Informationen darzustellen (Ronneberger 1996, 16).

Online-PR

Zur Umsetzung dieser Ziele stehen der PR-Arbeit alle kommunikativen Mittel, von Pressemit- teilungen in Zeitungen über Pressekonferenzen bis hin zu der Nutzung von Snapchat zur Ver- fügung. Klassische, also analoge, PR-Maßnahmen werden ergänzt und erweitert durch die digitalen Möglichkeiten des Internets (Pleil 2007, 16). Thomas Pleil segmentiert PR-Arbeit im Internet in drei Typen (2007, 16). Der erste Typ, die digitalisierte PR, bezeichnet PR-Arbeit die Maßnahmen nicht eigens auf die Möglichkeiten des Internets abstimmt. Das Web dient lediglich als weiterer Distributionskanal (bspw. Pressemitteilungen bei Facebook posten), die Kommunikation bleibt monologisch (Pleil 2007, 16). Informieren ist das Hauptziel dieses Typus. Der zweite Typus, die Internet-PR, unterscheidet sich durch den (meist indirekten) Rückkanal. Um die eigenen Ziele zu erreichen, gehen PR-Treibende via Internet mehr auf die Bedürfnisse ihrer Ansprechgruppe ein (z. B. über Feedback- und Kommentarfunktionen) (Pleil 2007, 17). Dieser Typus hat als Hauptziel Persuasion. Der dritte Typ, Cluetrain-PR, zeichnet sich durch sein netzwerk- und dialogorientiertes Kommunikationsmodell aus (Pleil 2007, 18). Die Kommunikationsarbeit „spiegelt die von internen und externen Stakeholdern formulierten Ansprüche an den Realitäten des eigenen Handelns“ (Pleil 2007, 18). Die Ver- ständigung steht im Mittelpunkt. Online-PR in sozialen Netzwerken, wie zum Beispiel Twit- ter, bietet PR-Schaffenden drei Funktionen: „[D]as Informations-, Identitäts- und Bezie- hungsmanagement“ (Schmidt 2006, 37).

Zusammenfassend lässt sich PR-Arbeit definieren als kommunikatives Interessenmanage- ment, bei dem vor allem das bewusste, vertrauensvolle Kommunizieren mit Ansprechgruppen eine zentrale Rolle einnimmt. PR-Treibende nutzen dazu alle verfügbaren digitalen und ana- logen Kommunikationskanäle. Ein Arbeitsfeld der Public-Relations, bei dem Vertrauensauf- bau und Imagepflege von elementarer Bedeutung sind, ist Krisen-PR (DPRG 2005, 10).

2.1.2 Krisen-PR

Während die Abläufe und Maßnahmen ähnlich denen regulärer PR-Arbeit sind, besteht für das Arbeitsfeld Krisen-PR eine andere Ausgangssituation – die der Krise.

Krisen

Krisen lassen sich allgemein als „Bruch einer Entwicklung“ definieren (Merten 2005 nach Thimm et al. 2015, 17). Sie sind „ungeplante und ungewollte Prozesse von begrenzter Dauer und Beeinflussbarkeit“ mit ungewissem Ausgang (Krystek/Lentz 2013, 31).

Die Ursachen für Krisen sind vielfältig. Neben einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage (bspw. Insolvenz) zählen vor allem ethische Verstöße (z. B. Manipulation von Abgas- werten) oder Wertediskrepanzen zwischen einem Unternehmen und seiner Ansprechgruppe (z. B. Primark und Kinderarbeit) oder Fehltritte von Führungskräften (z. B. Ergo und Bor- dellbesuche) zu möglichen Krisenquellen (Köhler 2006, 28; Roselieb 2002, 108). Krisen und ihre Quellen definieren sich somit durch „Multikausalität“, „Mehrstufigkeit“ und „Multiloka- lität“ aus (Köhler 2006, 30; Roselieb 1999, 91f). Neben multiplexen Ursachen zeichnen sich Krisen durch verschiedene, dynamische Phasen aus, deren Abfolge nicht zwangsweise chro- nologisch ist (Thimm et al. 2015, 19). Die einzelnen Krisenphasen können dynamisch inei- nander übergehen, Rückschritte machen oder Phasen überspringen (Krystek/Lentz 2013, 38). Am häufigsten wird zur Darstellung von Krisen das Vier-Phasen-Modell von Rainer Müller (1986, 25f) herangezogen. Das Modell umfasst die vier Phasen potenziell, latent, akut und nachkritisch (Müller 1986, 25f). Krisenkommunikation setzt nicht erst „in akuten bzw. exis- tenzgefährdenden Krisensituationen“ ein (Köhler 2006, 28). Jede der vier Krisenphasen ver- langt andere kommunikative Handlungsweisen und -Strategien (vgl. u.a. Krystek/Lentz 2013, 39; Thimm et al. 2015, 18; Köhler 2006, 25). Ganz trennscharf sind die Maßnahmen nicht voneinander abzugrenzen. Vielmehr überlagern sich im Rahmen der Krisenkommunikation präventive und bewältigende Maßnahmen und gehen ineinander über (Köhler 2006, 28; Mül- ler 1986, 27; Krystek 1987, 30). Wurde den Phasen potenziell und latent, in welchen Krisen- signale kaum wahrnehmbar sind, mit adäquaten Kommunikationsmaßnahmen begegnet, lässt sich die akute Phase abwenden. Das Unternehmen erreicht wieder den Normalzustand.

Im Falle der VW-Kommunikationsstrategie war dies nicht der Fall und die Abgasaffäre ging am 20.09.2015 in die akute Phase über. An diesem Tag wurde die Krise „unternehmensextern und -intern erkennbar“ (Krystek 1980, 64). Der Einsatz von Krisen-PR war gefordert.

Kommunikationsarbeit in Krisenzeiten: Krisen-PR

Krisen-PR beschreibt die spezifischen Funktionen und Aufgaben regulärer PR im Krisenkon- text (Herbst 2004, 98). Sie ist der kommunikative Teil des Krisenmanagements und bildet die Verbindung zwischen Konzern und (kritischer) Umwelt. Krisen sind „[…] durch kommunika- tive Leistungen nicht nur vermittel-, sondern auch beeinflussbar – was auf die herausragende Bedeutung der Public Relations als Mittel der Prävention und Bewältigung hinweist“ (Köhler 2006, 22). Krisen-PR beschreibt:

[A]lle internen und externen kommunikativen Maßnahmen der Public Relations […], die zur aktiven Vorbeugung gegen Krisen (Frühwarnsysteme), zur akuten Verhinderung und Eindämmung von sich abzeichnenden Krisen, sowie zur Sta- bilisierung, Rückgewinnung und zum Ausbau des Verständnisses, Vertrauens, Glaubwürdigkeit und Loyalität in einer akuten Krise und nach einer Krise ge- genüber dem Unternehmen beitragen können (Pflaum/Linxweiler 1998, 197).

Einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert in der Bewältigung der Krise und der Wahl einer Krisenstrategie nimmt die Ansprechgruppe ein. Eine Krise führt dazu, dass Ansprechgruppen das Vertrauen in einen Konzern verlieren, sich nicht mehr mit diesem und seinem Image iden- tifizieren (Klenk 2005, 89). Weiter besitzen Stakeholder_Innen hohes Sanktionspotential. Die Handlungen der Ansprechgruppe haben so direkten Einfluss auf die (ökonomische) Lage des Unternehmens (Köhler 2006, 79f). Zu den Kernfunktionen der Krisen-PR zählt daher das Vertrauen der Ansprechgruppen zu gewinnen, zu erhalten oder wiederherstellen (vgl. u.a. Grossenbacher 1986, 725; Botan 1992, 20; Cutlip et al. 1999, 6; Köhler 2006, 23). Im Krisen- kontext schafft PR das Fundament für eine problemzentrierte Auseinandersetzung zwischen „Unternehmen und strategiekritischen Ansprechgruppen“ (Köhler 2006, 79f). Eine weitere Kernaufgabe der Krisenkommunikation ist die Instandhaltung der Reputation (Coombs 1995, 448; Coombs/Holladay 2014, 45). Natürlich zählen auch Krisenprävention und- Abwehr zu den Hauptfunktionen der Krisenkommunikation. Ziel ist weiter die Eingrenzung und Mini- mierung des Schadens (Köhler 2006, 16). Konsens in der Auseinandersetzung mit Krisen-PR besteht darüber, dass vor allem eine präventive Kommunikationsstrategie, die nicht erst im akuten Krisenfall, sondern weitaus früher greift, vonnöten ist (vgl. u.a. Apitz 1987, 194f; Puchleitner 1994, 34f; Töpfer 1999, 60f; Krystek/Lentz 2013, 39; Krystek 1987, 30).

Parameter erfolgreicher Krisenkommunikation

Drei Parameter werden in Publikationen zu Krisenkommunikation besonders betont (vgl. u.a. Köhler 2006, Coombs 2009, Löffelholz/Schwarz 2008): „Be quick, be consistent, be open“ (Coombs 2009, 171). Tritt eine Krisensituation auf müssen die betroffenen Akteur_Innen schnell handeln. Innerhalb der ersten Stunde nach Bekanntwerden der Krise sollte das Unter- nehmen alle Informationen antizipieren, die es die Krise betreffend besitzt (Coombs 2009, 171). Andernfalls besteht die Gefahr, dass Fehlinformationen und Spekulationen die Öffent- lichkeit erreichen. Eine schnelle Reaktion erzeugt hingegen den Eindruck, das Unternehmen habe die Kontrolle (Coombs 2009, 172). Der größte Fehler in Krisenzeiten sei es, nach Mi- chael Kunczik, Andrea Heintzel und Astrid Zipfel, eine abschottende, verzögernde Kommu- nikationsstrategie zu wählen (1995, 158). Darunter fällt konkret die verzögerte Information der Betroffenen, das Nichteingestehen von Fehlern und eine Einweg-Kommunikation (Köhler 2006, 86). Weiter sollte die Organisation stets offen für Austausch zu Aspekten die Krise be- treffend sein, um nicht den Anschein von Abschottung und Kontrollverlust zu vermitteln (Coombs 2009, 173). Eine intransparente Informationspolitik gefährdet die Beziehung zur Ansprechgruppe und Stakeholder_Innen. „Stakeholders may become angry if they learn months or years later than an organization withheld certain information about the crisis” (Business Insurance 1999, 3f). Eine defensive, zögerliche PR-Strategie wirkt krisenintensivie- rend (vgl. u.a. Köhler 2006, 86; Bühler 2003, 45; Coombs/Holladay 2014, 42f). Die dritte Maxime für gelungenes Krisenkommunikationsmanagement betrifft die Konsistenz der Bot- schaften (Coombs 2009, 173). Alle Kommunikator_Innen müssen übereinstimmende Inhalte kommunizieren. Inkonsistenz führt zu Unglaubwürdigkeit der Nachricht (Coombs 2009, 173). Zudem sollten Organisationen, um das Wohlwollen und Vertrauen der Stakeholder_Innen zu wahren, Sympathie und Rücksicht für Opfer zeigen (Coombs 2009, 171). Denn Ansprech- gruppen und Teilöffentlichkeiten schreiben Unternehmen die Verantwortung für Krisen zu (Coombs 2009, 183). Die Verantwortungsakzeptanz, die das Unternehmen in seiner Krisenre- aktion ausdrückt, muss mit dem Maß der durch die Ansprechgruppe attribuierten Verantwor- tung korrelieren. Über diese Korrelation können Vertrauensverlust und Reputationsschäden minimiert werden, so die Kernannahme der Situational Crisis Communication Theory.

2.2 Situational Crisis Communication Theory (SCCT)

Die Situational Crisis Communication Theory, zu Deutsch Theorie der situativen Krisen- kommunikation, wurde von Thimothy Coombs entwickelt. Coombs rekurriert dabei auf die Attributionstheorie des Psychologen Bernard Weiner (1986). Im Rahmen der Attributionsthe- orie konstatiert Weiner, dass Menschen „Voreinstellungen im Hinblick auf die Zuschreibung von Ursachen für bereits eingetretene Ereignisse“ treffen (Weber/Rammsayer 2012, 101). In Bezug auf Krisen bedeutet das, so Coombs, dass Menschen die Verantwortung für die Entste- hung von Krisen bestimmten Akteur_Innen zuschreiben (2009, 183). Hat ein Unternehmen eine Krise, schreiben die Stakeholder_Innen ihm ein, je nach Krisensituation variierendes, Maß an Verantwortung für die Entstehung der Krise zu. Diese Verantwortungsattribution re- sultiert in Reputationsschäden für das Unternehmen (Coombs 2009, 183f). Im Fokus der SCCT stehen daher die Vermeidung und Eindämmung von Reputationsschäden von Unter- nehmen in Krisenphasen mittels kommunikativer Maßnahmen. Dafür muss das Ausmaß der wahrgenommenen Verantwortlichkeit seitens relevanter Ansprechgruppen mit der, über seine Botschaften vermittelten, Verantwortungsanerkennung des betroffenen Unternehmens korre- lieren (Coombs 2009, 187; Löffelholz/Schwarz 2008, 28f). Zu diesem Zweck stimmt Coombs in der SCCT die Zuschreibung von Verantwortung mit der in der Krisenreaktion dargestellten Akzeptanz von Verantwortung ab. Aus dieser Abgleichung leitet er die effektivste Krisenre- aktionsstrategie her. So formuliert Coombs in der Situational Crisis Communication Theory ein theoriegeleitetes Schema nach dem PR-Treibende die adäquate Krisenkommunikations- strategie, abgestimmt auf den jeweiligen Krisentyp, treffen können.

SCCT identifies a set of crisis response strategies and recommends which strate- gy(ies) would be most effective crisis situations (Coombs 2009, 175).

Coombs beschreibt die zentralen Elemente der SCCT als 1) Liste möglicher kommunikativer Reaktionen auf Krisen; 2) Ein Framework zur Kategorisierung von Krisen; 3) Methode zur Abstimmung von Reaktion und Krisentypus (2009, 176).

1) Liste möglicher Reaktionen:

Die Liste der Strategien mit denen adäquat auf Krisensituationen reagiert werden kann, er- stellte Coombs unter Rückbezug auf Image-Theorien von William Benoit (1995), Richard Ice (1991) und Myria Watkins Allen und Rachel Caillouet (1994). Aus den Studien der For- scher_Innen zur Imagerestauration von Unternehmen in Krisen, synthetisierte Coombs eine Liste an adäquaten Reaktionsstrategien für Unternehmen. Diese ergänzte er für jede Reaktion um die nötige Akzeptanz von Verantwortung durch die Unternehmen (vgl. Tab. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1 Crisis Response Strategies by level of responsibility acceptance; Quelle: Coombs 2009, 182

Die von Coombs aufgestellten Reaktionsmöglichkeiten unterscheiden sich im Grad der Aner- kennung von Verantwortung, die in der Botschaft des Unternehmens ausgedrückt wird. Eine volle Entschuldigung drückt beispielsweise das höchste Maß an Verantwortungsakzeptanz aus, wohingegen eine Leugnung der Krise keine Verantwortungsakzeptanz zum Ausdruck bringt.

To protect a reputation, the responsibility acceptance of the organization’s crisis response must be consistent with the stakeholder’s attribution of crisis responsi- bility generated by the crisis. (Coombs 2009, 175)

2) Krisenarten

Die Art der Krise (z. B. Unfall, Naturkatastrophe, Insolvenz etc.), so das Postulat der Theorie, beeinflusst die Ansprechgruppe darin, wem sie wie viel Verantwortung an der Krisensituation zuschreibt (Coombs 2009, 175). Die Krisenart evaluiert Coombs über einen Zweischritt. Eine Auswahl an 1) Krisentypen destillierte Coombs (2009, 182) aus den Arbeiten zu Krisenma- nagement anderer Forscher_Innen (vgl. u.a. Lerbinger 1997, Mitroff 1988, Mitroff/Pauchant 1992). Dabei nahm er lediglich relevante Krisentypen in sein Panel auf. Die Häufigkeit der Nennung veranschlagte Coombs als Indikator für Relevanz (2009, 182). Die einzelnen Kri- sentypen unterscheiden sich zum einen durch die Krisensituation (z. B. Unfall oder Korrupti- on). Andererseits durch das Maß an Mitverantwortung, dass die Stakeholder_Innen dem Un- ternehmen aufgrund des Krisentypus zuschreiben.

SCCT argues that each crisis-type will generate certain attributions of crisis re- sponsibility – how much a stakeholder believes the organization is responsible for the crisis event (Coombs 2009, 182).

Weiter identifizierter Coombs 2) Attribute/Modifikationen als Variablen im Krisenkategorisie- rungsprozess (Coombs 2009, 181f). Die Attribute (modifiers) intensivieren den Grad der zu- geschriebenen Mitverantwortung. Sie sind zum einen die Unternehmenshistorie, zum anderen der Schweregrad der Krise. Für die Variable Unternehmenshistorie sind bisherige Krisen und der Umgang mit Ihnen von Relevanz. Unternehmen, die schon mehrfach in der Kritik standen und Krisen durchlaufen haben, vertrauen die Ansprechgruppen weniger und schreiben ihnen mehr Verantwortung an Krisen zu (Coombs 2009, 183). Der Schweregrad der Krise bemisst sich am entstandenen Schaden. Das Ausmaß des Schadens korreliert mit der Verantwortung des Unternehmens in der Wahrnehmung der Stakeholder_Innen (Coombs 2009, 183). Da die Unternehmenshistorie und der Schweregrad der Krise das Maß an Verantwortung intensiviert, das die Ansprechgruppe dem Unternehmen zuschreibt, müssen diese Parameter bei der Wahl einer Kommunikationsstrategie berücksichtigt werden. Coombs (2009, 183) ordnete die Kri- sen anhand ihres Ursprungs in Kategorien. Daraufhin verknüpfte er die jeweiligen Krisenty- pen mit der durch Ansprechgruppen attribuierten Verantwortung (vgl. Tab. 2).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2 Crisis types by level of crisis responsibility; Quelle: Coombs 2009, 183

Die wahrgenommene Verantwortlichkeit steht in Zusammenhang mit bestimmten Krisenty- pen (z. B. Unfälle, Korruption, Naturkatastrophen, Gerüchte) und hängt zudem vom Scha- densausmaß der Krise und der Krisenhistorie einer Organisation (Häufigkeit der Verwicklung in Krisen) ab (Löffelholz/Schwarz 2008, 28f).

3) Matching Process

Der dritte Schritt der SCCT ist die Abstimmung von Krisentyp und Reaktionsstrategie. Dieser Schritt ermöglicht PR-Schaffenden die Auswahl einer effektiven Strategie zur Gestaltung von Botschaften im Krisenfall. Die Kluft zwischen der von der Ansprechgruppe wahrgenomme- nen Verantwortlichkeit eines Unternehmens und der von diesem (über kommunikative Mittel) gezeigten Verantwortung muss so gering wie möglich sein, um Reputationsschäden zu ver- meiden. Die Unternehmenshistorie sowie der Schweregrad der Krise müssen evaluiert wer- den, um festzustellen, ob die gewählte Kommunikationsstrategie angepasst werden muss. Diese Faktoren intensivieren das Maß an zugeschriebener Verantwortung (Coombs 2009, 181f). Basierend auf dem Grad der zugeschriebenen Verantwortung, kann daraufhin eine Kommunikationsstrategie ausgewählt werden. Kernpunkt ist, dass das Maß an eingestandener Verantwortung durch das Unternehmen die Einschätzung der Ansprechgruppe erfüllt (Coombs 2009, 183f).

Die SCCT postuliert, dass die Art und Weise wie ein Unternehmen auf eine Krise reagiert, große Auswirkungen auf das Image/die Reputation des Unternehmens und dessen Legitimati- on bei der Ansprechgruppe hat. Effektive, abgestimmte Krisenkommunikation ist unabding- bar.

Im Folgenden wird der VW-Abgasskandal skizziert. Dabei können nur die groben Abläufe und Kernpunkte zusammengefasst werden, die zur Bearbeitung der Fragestellung von Rele- vanz sind. Dies dient der anschließenden Zuordnung zu einem Krisentypus. Darauf basierend folgt die Ermittlung der passenden Krisenreaktionsstrategie, basierend auf der SCCT.

2.3 Die VW-Abgasaffäre

„Der Abgas-Skandal hat dem Volkswagen-Konzern die wohl schwerste Krise der Unterneh- mensgeschichte beschert“ resümiert der NDR auf seiner Homepage (2018). Ausgelöst wurde die Krise durch das Aufdecken von Manipulationen an Dieselmotoren des Typs EA 189 durch US-Umweltbehörden im Jahr 2014 (Frankfurter Allgemeine Zeitung Online 2016). Nachdem die US-Umweltorganisationen im Mai 2014 den Manipulationsverdacht an die US- Umweltbehörde weitergeleitet hatte, veranlasste diese eine Untersuchung (vgl. u.a. Cieschin- ger et al. 2016; Breitinger 2018; NDR Online 2018). Daraufhin verweigerten die US- Behörden die Zulassung und Zertifizierung neuer VW-Modelle (vgl. u.a. Cieschinger et al. 2016; Breitinger 2018; NDR Online 2018). Angesichts dieser Drohung gestand der Konzern die Manipulation am 3. September 2015 vor US-Umweltschutzbehörden ein. Gegenüber der Öffentlichkeit schwieg Volkswagen. Weder gestand er öffentlich Fälschungen, noch Manipu- lationen ein. Erst die US-Umweltbehörde EPA machte die Vorwürfe gegen VW öffentlich (vgl. u.a. Cieschinger et al. 2016; Breitinger 2018; NDR Online 2018). Am 20.09.2015, fast ein Jahr nach den ersten Anschuldigungen, gab der Konzern daraufhin die Abgasmanipulation öffentlich zu (Breitinger 2018).

[...]


1 auch: Diesel-Thematik, Dieselaffäre, Abgasaffäre, VW-Affäre, Abgasskandal uvm.

2 Zeit Online (2018), NDR Online (2016)

3 Tagesspiegel Online (2018); Krüger (2018); Tatje (2018).

4 Breitinger (2018); Frankfurter Allgemeine Zeitung Online (2015); Ciesinger et al. (2016); NDR Online (2018); Spiegel Online (2017)

5 Der Verweis Klammer auf Z Punkt Zahl Klammer zu (Z. Zahl) steht für die Kodierzeile in der Kodiertabelle in der das genannte Beispiel aufzufinden ist.

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Résumé des informations

Titre
Dieselthematik und Abgasmanipulationen. Adäquate Krisenreaktionsstrategien anhand der Twitterkommunikation des Volkswagenkonzerns
Université
University of Bonn
Note
1,0
Auteur
Année
2018
Pages
47
N° de catalogue
V504369
ISBN (ebook)
9783346055439
ISBN (Livre)
9783346055446
Langue
allemand
Mots clés
Qualitative Inhaltsanalyse, Inhaltsanalyse, Mayring, Codierung, Situational Crisis Communication Theory (SCCT), SCCT, Funktionales Operatorenmodel, Twitter, PR, Public Relations, Krisen-PR, Krisenkommunikation, VW-Abgasaffäre, Krisenreaktion des Volkswagenkonzerns auf Twitter, Indikatoren, Kategorien, Generalisierung, Paraphrasierung, Reduktion, deduktive Kategorien, strukturierenden Inhaltsanalyse
Citation du texte
Felicitas Schneider (Auteur), 2018, Dieselthematik und Abgasmanipulationen. Adäquate Krisenreaktionsstrategien anhand der Twitterkommunikation des Volkswagenkonzerns, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/504369

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