Systemische Arbeit in der stationären Jugendhilfe. Drei Perspektiven auf Nutzen und Probleme


Thèse de Bachelor, 2017

106 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Systemtheoretische Grundlagen
2.1 Definition System
2.2 Autopoiese
2.3 Konstruktivismus
2.3.1 Radikaler Konstruktivismus
2.3.2 Operativer Konstruktivismus
2.4 Die Systemtheorie nach Luhmann
2.4.1 Kybernetik 1. und 2. Ordnung
2.4.2 Kommunikation

3 Systemische Soziale Arbeit
3.1 Definition systemischer Sozialarbeit
3.2 Inhalt systemischer Sozialen Arbeit
3.2.1 Exkurs Alltags- und Lebensweltorientierung nach Thiersch
3.3 Systemische Merkmale in der Sozialen Arbeit
3.4 Systemische Grundhaltung
3.5 Systemisches Menschenbild
3.6 Ein systemisches Verständnis von Problemen
3.6.1 Definition Problem
3.6.2 Die Problemerzeugung
3.6.3 Nützlichkeit von Problemen
3.7 Handlungsformen der systemischen Sozialen Arbeit

4. Kinder- und Jugendhilfe
4.1 Die stationäre Jugendhilfe
4.2 AdressatInnen der stationären Jugendhilfe
4.3 Zahlen und Fakten
4.4 Gründe für eine stationäre Unterbringung
4.5 Familienstrukturen
4.6 Erziehung

5 Systemische Elternarbeit
5.1 Definition Elternarbeit
5.2 Rechtliche Grundlagen
5.2.1. Beteiligungs- und Mitwirkungsrecht
5.3 Ziele systemischer Elternarbeit
5.3.1 Partizipation
5.4 Begründung systemischer Elternarbeit
5.5 Spezifische Anwendung systemischer Elternarbeit
5.6 Systemisches Denken in der Elternarbeit
5.7 Schwierigkeiten systemischer Elternarbeit
5.7.1 Probleme auf Seiten der Eltern
5.8 Methoden systemischer Elternarbeit
5.9 Systemische Elternberatung
5.10 Exkurs Empowerment und systemische Elternarbeit
5.10.1 Definition Empowerment
5.10.2 Empowerment und systemische Elternarbeit

6 Empirie
6.1 Begriffsbestimmung
6.2 Methodik
6.2.1 Einzelfallanalyse
6.2.2 Qualitative Inhaltsanalyse
6.2.3 Die Analysetechnik „Zusammenfassung“ der qualitativen Inhaltsanalyse
6.3 Vorgehen
6.3.1 Der Untersuchungsplan der Einzelfallanalyse
6.3.2 Die Bestimmung des Ausgangsmaterials
6.3.3 Die Fragestellung der Analyse
6.3.4 Verlauf der Befragung
6.4 Analyse
6.4.1 Darstellung der Kategorien
6.4.2 Analyse Interview I
6.4.3 Analyse Interview II
6.4.4 Analyse Interview III

7 Ergebnisse

8 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Das folgende Kapitel soll dem Leser/ der Leserin das Erkenntnisinteresse der Verfasserin, so wie die Fragestellung der Bachelorarbeit näherbringen, den Bezug zur Sozialen Arbeit veranschaulichen und einen Überblick über das methodische Vorgehen der Arbeit verschaffen.

Die Themenauswahl der vorliegenden Arbeit erfolgte durch den Praxisbezug im Rahmen einer Anstellung der Verfasserin in einer Jugendhilfeeinrichtung. Die Jugendhilfeeinrichtung zeichnet sich durch ihre systemische Haltung in der Arbeit mit ihren KlientInnen aus. Den SozialarbeiterInnen wird ermöglicht eine systemische Ausbildung zu absolvieren und diese in der Einrichtung unter anderem als Berater auszuführen. Die Jugendlichen in der Wohngruppe kommen alle aus verschiedenen Lebensverhältnissen und haben alle individuelle Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt. Jeder/ Jede Einzelne verfügt über eine andere Beziehung zu seinen/ ihren Eltern, bei manchen besteht Kontakt zu beiden Elternteilen, bei manchen nur zu einem Elternteil. Des Weiteren leben Jugendliche, aus unsicheren Herkunftsländern, mit Fluchthintergrund in der Einrichtung. aufgrund von der Flucht aus einem unsicheren Land.

So einzigartig die Jugendlichen auch sind, sind auch ihre Eltern. Auch sie haben ihre eigene Geschichte und dennoch, haben alle die Gemeinsamkeit, dass ihre Kinder nicht mehr bei ihnen leben und stattdessen in einer Wohngruppe von SozialarbeiterInnen und ErzieherInnen erzogen werden. Dennoch ist die Einbindung der Eltern in das Leben ihrer Kinder enorm wichtig und notwendig für den Hilfeverlauf und die Entwicklung des Kindes. Durch das Implizieren des systemischen Ansatzes in die Elternarbeit, können die Eltern in den Alltag ihrer Kinder verstärkt miteinbezogen werden.

Je nach Zielführung wird entweder an der Rückführung in die Herkunftsfamilie oder an einer Verselbstständigung des/ der Jugendlichen gearbeitet. Hierfür erweist sich der systemtheoretische Ansatz als besonders praktikabel und gewinnbringend. Im Rahmen des systemischen Ansatzes wird davon ausgegangen, dass die Familie, über ausreichend Ressourcen verfügt, welche mittels systemischer Interventionen (Methodenkoffer) per turbiert werden. Der Leitgedanke der systemischen Arbeit besteht darin, dass jeder Mensch die Lösung für sein „Problem“ in sich trägt.

Was heißt es systemisch zu arbeiten und was macht systemische Elternarbeit aus? Welchen Nutzen hat die Elternarbeit von dem systemischen Ansatz und welche Schwierigkeiten können auftreten? Welche Erfahrungen konnten mithilfe systemischer Elternarbeit gemacht werden? Mit diesem Fragen beschäftigt sich die Forschungsfrage in dieser Arbeit. Systemisches Arbeiten zeichnet sich unter anderem durch die verschiedenen Sichtweisen aus, welche mittels einer Vielzahl an Interventionen entstehen können. So entsteht mithilfe der Leitfadeninterviews, mit drei verschiedenen Zugangspersonen, ein multiperspektivischer Blick auf die systemische Elternarbeit, welcher mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet wird.

Die Arbeit teilt sich in zwei Bereiche, den theoretischen Grundlagen und der Empirie. Der erste Teil besteht aus vier Theorieblöcken, die aus dem Titel der Arbeit entstanden sind. So folgt erst eine Einführung in die systemtheoretischen Grundlagen, welche sich in dieser Arbeit nach Luhmann richten. Aufbauend darauf, wird die Systemische Soziale Arbeit definiert und beschrieben. Hier wird Bezug zu der Systemtheorie nach Luhmann genommen und einzelne systemische Methoden der Sozialen Arbeit erläutert. Im Anschluss erfolgt eine Auseinandersetzung mit stationärer Hilfe zur Erziehung gem. § 34 SGB VIII. Anhand dieser wird im Rahmen der vorliegenden Bachelorarbeit ein Praxistransfer hergestellt. Das letzte theoretische Kapitel beschreibt die systemische Elternarbeit. Hier erfolgt zunächst eine Definition und im späteren Verlauf wird Bezug auf den systemischen Ansatz genommen, in dem systemische Haltungen und Methoden auf die Elternarbeit bezogen werden. Der zweite Teil dieser Bachelorarbeit beinhaltet den empirischen Teil. Dort wird nach der Ausformulierung der vorzugehenden Methode nach Mayring, das Vorgehen und die Analyse mit Auswertung beschrieben.

2 Systemtheoretische Grundlagen

Im folgenden Kapitel werden Begrifflichkeiten, welche für die Systemtheorie prägnant sind, erläutert und dann auf die Systemtheorie nach Luhmann eingegangen.

2.1 Definition System

Ein System lässt sich als eine aus irgendwelchen Elementen, die materieller und geistiger Art sein können, geordnete und zusammengesetzte Ganzheit bezeichnen (vgl. Simon/ Stierlin 1984). So lassen sie sich als Gebilde darstellen, in denen verschiedene Elemente verknüpft sind und sich nach Luhmann (1984) in Maschinen, Organismen, psychische und soziale Systeme unterscheiden lassen. Willke definiert ein System, als ein Netz zusammengehöriger Operationen, welches sich von einem Aussenstehendem von nicht dazugehörigen Operationen abgrenzen lässt. Eine Operation ist hierbei eine Aktivität des Systems, welche sich von anderen Systemen unterscheidet (vgl. Hosemann/ Geiling 2013, 15). Somit entwirft ein System sich, durch die Abgrenzung zu seiner Umwelt.

Systeme besitzen Aufgaben und Funktionen, reagieren auf Veränderungen ihrer Umwelt und weisen Integrationsleistungen auf. Menschen leben in den sozialen Systemen und sie regeln ihr Leben, in dem sie Kontakt untereinander aufnehmen, anbieten, vermeiden oder ablehnen. Soziale Systeme sind ein Ausdruck für Sinneszusammenhängen von Elementen, die von einem Beobachter außerhalb des Systems als eine Einheit verstanden werden können und sich so von anderen Systemen unterscheiden. Um miteinander in Verbindung zu treten haben soziale Systeme viele verschiedene Möglichkeiten. In der Kommunikation miteinander werden wiederkehrenden Interaktionsmuster, die vermehrt vorkommen, bevorzugt. Diese Interaktionsmuster werden zu Beziehungsregeln, wodurch ein begrenztes Beziehungsgeflecht für eine bestimmte Zeitspanne konstituiert wird (vgl. Beushausen 2010, 3).

Soziale Systeme lassen sich in Subsysteme unterteilen und differenzieren. Parsons schreibt einem sozialen System vier Funktionen zu: 1.Die Anpassung an die Umwelt, 2.die Zielverwirklichung, 3.die Integration und 4. die Strukturerhaltung. Diese Funktionen ordnete er einer Innen/ Außen- Dimension und einer zeitlichen Dimension zu, um das Problem der Bestandserhaltung zu erfassen.

Heute stehen nicht die allgemeinen Problemstellungen für das Handeln in und von sozialen Systemen im Vordergrund, sondern die Konzepte der Theorieentwicklung, welche den Bezug eines Systems zu sich selbst stärker hervorbringen. Dazu gehören die Aspekte der Selbstreferenzialität, Selbstorganisation, operationale Geschlossenheit und Autopoiese (vgl. Hosemann/ Geiling 2013, 16).

2.2 Autopoiese

Autopoiese kommt aus dem altgriechischen und bedeutet „selbstschaffen“. Geprägt wurde der Begriff von dem Biologen Humberto Maturana. Niklas Luhmann übertrug diesen später auf die Theorie sozialer Systeme (vgl. Stangl, 1989). Maturana entwickelte 1982 den Begriff im Kontext biologischer Zusammenhänge. Luhmann übernahm seine Annahmen und definierte seine Systemtheorie als „Theorie der sich selbst herstellenden, autopoietischen Systeme“ oder als eine „Theorie autopoietischer, selbstreferentieller, operativ geschlossener Systeme“ (1984, 28/ 1997, 79). Autopoiese ist somit nach Luhmann die „Selbstproduktion des Systems auf der Basis seiner eigenen Elemente (1995, 189). Systeme operieren in Differenz zu ihrer Umwelt und in Autopoiese. Das bedeutet, damit Systeme existieren und sich neuschaffen können, müssen sie operieren, sodass neue Anschlussoperationen entstehen können. Um diese Anschlussfähigkeit sicher zu stellen, müssen Systeme ihre Operationen, durch eine Reflexion des Verhältnisses ihrer Operationen zu den Ergebnissen, kontrollieren und die dafür benötigten Strukturen aufbauen. Diese Fähigkeit nennt Luhmann „Reflexivität“ (1984, 601).

Ein weiteres Merkmal der Autopoiese ist, dass Systeme operativ geschlossen operieren. Dies meint die Festlegung bisheriger Operationen und die Bildung von Rahmenbedingungen für weitere Anschlussoperationen. Autopoiese kann nicht rückgängig gemacht werden oder neu beginnen (vgl. Luhmann 1997, 475). Das heißt, wenn einmal operiert wurde und eine Anschlussoperation getätigt wurde, kann diese nicht zurückgenommen werden. Obwohl ein System nach innen operativ geschlossen ist, ist es nach außen hin zur Umwelt offen verbunden, hier ist Irritation und Einfluss möglich. Dies geschieht mithilfe offener Grenzen nach außen, welche sich gegenseitig beeinflussen und aufeinander einwirken (vgl. Luhmann

1984, 35). Die äußere Beeinflussung von Systemen funktioniert jedoch nur, wenn das System bereit dazu ist und es zulässt (vgl. Luhmann 1984, 34). Foerster spricht davon, dass Systeme „order from noise“ (2001, 119) machen und meint damit die Selektion aus verschiedenen Irritationen, Reizungen und Störungen von außen.

2.3 Konstruktivismus

Um die Systemtheorie zu verstehen, muss man sich mit dem Begriff des Systems befassen, welcher wie jeder Begriff eine Konstruktion ist. Die Umwelt in Systemen wahrzunehmen ist demnach nur eine Interpretation, welche uns hilft die Welt zu verstehen und neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickelt, mithilfe welcher wir handeln können. Die Unterteilung der Welt in Systeme dient der Orientierung (vgl. Schwing/ Fryszer 2012, 22). Die Sichtweise der Systemtheorie ist geprägt vom Konstruktivismus, welcher eine Erkenntnistheorie ist: Jeder erfindet sich und seine eigene Wirklichkeit in jedem Augenblick seines Lebens aufs Neue selbst. Somit ist die Wirklichkeit ein Prozess, welcher fortwährend läuft. Es gibt keine absolute Wahrheit und keine Welt bzw. Wirklichkeit die unabhängig von der Beobachtung des Individuums besteht. Es bestehen demnach nur Theorien, welche abhängig von unserer Wahrnehmung und Erkenntnis sind und keine Darstellung der Realität sind. Somit sind Begriffe und Definitionen konstruiert von uns Menschen und „können ‚so‘ oder auch ‚anders‘ ausfallen“ (Lambers 2010, 24). Unterschieden wird zwischen dem radikalen und dem operativen Konstruktivismus, welche im Folgenden beschrieben werden.

2.3.1 Radikaler Konstruktivismus

Der radikale Konstruktivismus geht davon aus, dass keine ontologische Struktur gegeben ist und, dass unsere Sinne nicht in der Lage sind Dinge und Gegebenheiten objektiv so bildlich darzustellen, wie sie tatsächlich beschaffen sein könnten (vgl. Lambers 2010, 24). Wittgenstein ist der Meinung, Bilder würden nur mit falsch oder wahr bewertbar sein, wenn wir diese mit der Wirklichkeit vergleichen (vgl. 1963, 19). Hier stellt sich jedoch die Frage der realen Wirklichkeit, wenn das Bild, welches verglichen werden muss, erst in unserer Vorstellung gebildet werden muss. Außerdem kommt hinzu, dass jeder eine andere Wirklichkeit besitzt und somit eine Vielfalt von Bildern entsteht (vgl. Lambers 2010, 25). Somit geht der radikale Konstruktivismus davon aus „ dass Erkenntnis nicht als eine bildgleiche Erklärung einer externen Realität möglich ist, sondern stets auf der Grundlage von niemals vollständigen und bildgleichen Beobachtungen und damit als Konstruktion zustande kommt“ (Lambers 2010, 25). Hejl spricht von einem Prozess, welcher Realitätskonstruktionen erzeugt und meint damit drei Gegebenheiten: Erstens die Annahme menschliches Wahrnehmungsvermögen sei keine Option der objektiven Erfassung von Realität gegeben. Zweitens entstehe durch den Versuch des konsensuellen Beschreibens von Wissen über die soziale Welt, jedoch ist das Erzielen von Konsens nicht als letzte Wahrheit anzusehen. Und drittens sei das was als Umwelt beobachtet wird nicht als etwas Unveränderbares gegeben, sondern es wird von den Systemen verändert (vgl. 1991, 304). Zusammenfassend beinhaltet der radikale Konstruktivismus den Leitgedanken, dass jede Erkenntnis eine subjektive Beobachtung ist. Beobachtungen entstehen jedoch nur durch das Unterscheiden und Bezeichnen. Jede Beobachtung enthält „Blinde Flecken“, da es sich immer nur um eine Beobachtung 1. Ordnung. handelt. Um blinde Flecken zu erkennen werden Beobachtungen 2. Ordnung benötigt. Und weiterführend ist auch diese Beobachtung wieder geprägt von neuen blinden Flecken, welche wieder durch eine weitere Beobachtung aufgedeckt werden können.

Im Fokus des radikalen Konstruktivismus steht immer das Individuum, welches die Welt mit eigenen Konstrukten subjektiv definiert (vgl. Esposito 2005, 300). Luhmann ist der Auffassung, der Gedanke des radikalen Konstruktivismus wäre noch nicht ausreichend und die Welt sei nicht nur eine Produktion von Einbildungen (vgl. 1996, 18f.). Für Luhmann steht nicht das Individuum im Zentrum, sondern die Kommunikation. Er verfolgt den Gedanken des operativen Konstruktivismus.

2.3.2 Operativer Konstruktivismus

Der operative Konstruktivismus beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie Erkenntnis möglich ist, obwohl kognitive Systeme nicht zwischen den Bedingungen der Existenz von Realobjekten und denen ihrer Erkenntnis unterscheiden können, da kein erkenntnisunabhängiger Zugang zu diesen Realobjekten besteht (vgl. Luhmann 1996, 17).

Ausgangspunkt des operativen Konstruktivismus ist die Autopoiese und die damit verbundene Selbstregulation von Systemen. Soziale Systeme operieren durch Kommunikation und Kommunikation erzeugt nach Luhmann weitere Kommunikation. Soziale Systeme sind nach innen geschlossen, sie sind also operativ geschlossen, und nach außen in Bezug auf ihre Umwelt offen. Wenn diese Systeme geschlossen operieren, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien sie nach außen operieren und steuern. An dieser Stelle spricht Luhmann von den Sinnen. Menschen handeln durch Sinneszuschreibungen. Die Psyche des Menschen und das Soziale werden als Systeme angesehen, die sich durch ihre Sinneszusammenhänge steuern. (vgl. Lambers 2010, 28). Wie der Sinn entsteht, erklärt Luhmann durch die Systemtheorie, in der Handlungen durch die Beobachtung ihrer Konsequenzen erklärbar werden. Diese Konsequenzen sind nicht nur auf einen Einzelnen zurückzuführen, sondern auf das Zusammenspiel vieler Handelnder. Somit kann nur ein System von Handlungen etwas Neues schaffen. Luhmann nennt dies die Emergenz (vgl. Lambers 2010, 29). Im Mittelpunkt des operativen Konstruktivismus steht somit nicht die einzelne Person, sondern die Kommunikation der verschiedenen Menschen über das Verhalten der Einzelperson. Kommunikation ist nach Luhmann also das System.

2.4 Die Systemtheorie nach Luhmann

Luhmanns Systemtheorie baut auf Parsons Strukturfunktionalismus auf und beinhaltet die Kybernetik, den Ansatz der Kommunikationstheorie und den Aspekt des Konstruktivismus. Im Vordergrund steht das System im Verhältnis zur Umwelt und die bestehende Differenz beider. Luhmann kategorisiert Systeme in biologische, psychische und soziale Systeme, welche nicht aus Elementen zusammengesetzt sind, sondern aus den Beziehungen der Elemente. Die Beziehungen sind nicht willkürlich, sie unterliegen einem Steuerungsprozess, der sogenannten Konditionierung (vgl. Luhmann 1984, 44f.). Ein System unterliegt immer der Systemdifferenzierung, welche die Differenz zwischen den Systemen und der Umwelt beschreibt (vgl. Luhmann 1984, 41). Die Umwelt umfasst hier alles, was nicht in dem bestehenden System umfasst ist und ist in jedem System individuell. Die Umwelt und das System existieren nur bei gegenseitiger Bedingung (vgl. Luhmann 1984, 243f.). Ein weiterer Prozess ist das Beobachten des Systems, um die oben genannte Differenz zu erkennen. Hierbei ist es nicht nur die Selbstbeobachtung des Systems, sondern auch die der Umwelt und die der anderen Systeme gemeint (vgl. Luhmann 1995, 189). „Lebende Systeme erzeugen, regulieren und erhalten sich selbst, sind also von außen nicht „determinierbar“ (von Schlippe/Schweitzer 1999: 69) Dieses Phänomen wird in der Systemtheorie als Autopoiese beschrieben. Daraus kann man schließen, dass Systeme sich nur selbst verändern können und von außen nur irritiert werden können, sodass das System durch diesen Anreiz in die Lage kommen kann sich zu ändern (vgl. Doppler 2011, 138). Autopoetisch sind Systeme nach Luhmann, aufgrund der Fähigkeit ihre eigenen Elemente selbst zu reproduzieren (vgl. Luhmann 1995,184). Wichtig bei autopoietischen Systemen ist die Anschlussfähigkeit. Systeme sind nicht statisch, sondern dynamisch und operieren, um existieren zu können. Dabei müssen geeignete Strukturen aufgebaut werden und immer wieder reflektiert werden, ob die Operationen für andere anschlussfähig sind. Luhmann spricht hier von der Reflexivität des Systems (vgl. Berghaus 2004, 54). Wenn Operationen in einem System getroffen worden sind, sind diese nicht veränderbar und können nicht zurückgenommen werden. Es kann immer nur verglichen werden oder erinnert (vgl. Luhmann 1997, 145). Jede Anschlussoperation basiert auf den vorhandenen autonomen, autopoietischen Systembedingungen. Somit ist ein System operativ geschlossen (vgl. Berghaus 2004, 58). Im Gegenzug zu dieser Geschlossenheit steht die Umweltoffenheit der Systeme. Systeme erhalten sich nach außen, durch offene Grenzen zu ihrer Umwelt und werden mithilfe diese immer wieder irritiert oder beeinflusst (vgl. Luhmann 1984, 35).

Zudem sind die Komplexität und die Kontingenz zentrale Begriffe der Systemtheorie. Diese weisen darauf hin, dass es unmöglich ist, alles zu erfassen und mit linearen Denkweisen zu handeln. Komplexität ist nach Luhmann die Summe aller Handlungen und Ereignisse in der Welt (vgl. Luhmann 1987, 31f.). Jedoch kann der gesamte Komplex eines Systems nicht erfasst werden, sondern immer nur ein Bruchteil der Elemente und der Verknüpfungen (vgl. Luhmann 1988, 46). Daraus lässt sich schließen, dass vieles kontingent bleibt und somit unbestimmt und außerhalb unserer Wahrnehmung. Da jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit hat, nimmt jedes Individuum den Bruchteil wahr, den er für besonders wichtig empfindet (vgl. Miller 99, 43).

Luhmann unterscheidet zwischen drei Systemtypen, welche in Differenz zur Umwelt und in Autopoiesis operieren, jedoch hat jeder Systemtyp eine individuelle Operationsweise. Das biologische System operiert durch Leben, das psychische System durch verschiedene Bewusstseinsprozesse und das soziale System durch Kommunikation.

Soziale Systeme werden in der Systemtheorie zwischen der Gesellschaft, der Organisation und der Interaktion unterschieden. Die Gesellschaft zählt zu den komplextesten und umfassendsten sozialen Systemen, welche die Gesamtheit der Kommunikation einschließt. Immer wenn Kommunikation stattfindet, so Luhmann, spricht man von einem sozialen System, somit können Kommunikation und soziale Systeme als Synonyme verwendet werden (vgl. Berghaus 2004, 63).

Lebende Systeme, wie das soziale System, hängen von ihren internen Zuständen und ihrer individuellen Systemgeschichte ab und sind somit nicht im Vorfeld zu bestimmen. Luhmann spricht von nicht trivialen Maschinen (vgl. Hosemann/ Geiling 2013, 52). Das bedeutet, sie sind nicht wie Maschinen bestimm- und berechenbar, jedoch lern- und entwicklungsfähig. Soziale Systeme bestehen immer in gegenseitiger Beeinflussung mit anderen Umwelten.

2.4.1 Kybernetik 1. und 2. Ordnung

Die Kybernetik ist eine Bezeichnung eines wissenschaftlichen Programms zur Beschreibung der Steuerung und Regelung von komplexen Systemen. Dies lässt sich auch auf menschliche Systeme anwenden. So unterliegen dem kybernetischen Konzept die Vorstellungen, wie ein System ist: es hat Grenzen, Regeln, Subsysteme, Koalitionen etc. (vgl. von Schlippe/Schweitzer 2008, 53). Systeme werden als Regelkreise verstanden, welche durch Rückkopplung auf einen Gleichgewichtszustand, die Homöostase, sich immer wieder einpendeln müssen. Unterschieden wird zwischen der ersten und der zweiten Ordnung der Kybernetik.

Die Kybernetik erster Ordnung bezieht sich auf die Möglichkeit zielgerichteter Beeinflussung eines Systems aus. Demzufolge kann ein Außenstehender das System beeinflussen (vgl. Schmidt/ Vierzigmann 2006, 219).

Voraussetzung für die Kybernetik zweiter Ordnung ist die Annahme des Konstruktivismus. Jeder Außenstehende ist Teil der von ihm konstruierten Wirklichkeit und kann somit kein Experte des Systems sein, da das System sein eigener Experte ist. Somit kann man über Systeme keine objektiven Aussagen treffen oder zielgerichtet ein System manipulieren (vgl. von Schlippe/ Schweitzer 2003, 53).

2.4.2 Kommunikation

Die Konstruktion unserer Wirklichkeit wird beeinflusst, durch unsere Wahrnehmung, Erfahrungen, Werten, Normen und der Umwelt in der wir leben. Diese beeinflusst wiederum unsere Kommunikation. Zwischenmenschliche Kommunikation besteht aus Prozessen, in denen sich bei der zirkulären Betrachtung die Kommunikationspartner immer wechselseitig beeinflussen.

Die Systemtheorie bezieht sich in ihren Überlegungen darauf, dass Systeme operieren, in dem sie kommunizieren. Nach Berghaus ist Kommunikation „ die Art von Operationen, durch die soziale Systeme sich autopoietisch bilden, erhalten und von ihrer Umwelt abgrenzen“ (2005, 79).

Jedoch ist Kommunikation nicht immer geprägt von Erfolg, da der Mensch nur in der Lage ist einen Ausschnitt seiner Umwelt zu erfassen und somit selektiv wahrzunehmen. Durch die unterschiedlichen Konstrukte der Wirklichkeit entstehen unterschiedliche Wahrnehmungen, welche in der Kommunikation zu Konflikten führen kann. Ein anwendbares Kommunikationsmodell in der Systemtheorie ist das komplexe Modell von Paul Watzlawick. In seinem Modell stellt Watzlawick fest, dass jede Kommunikation einen Inhaltsaspekt und einen Beziehungsaspekt beinhaltet. So wird neben der reinen Information immer die bestehende Beziehung zu seinem Gegenüber transportiert. Wenn ein Problem auf der Inhaltsebene, durch Kommunikation nicht lösbar ist, kann das ein Zeichen dafür sein, dass das Problem auf der weniger gut sichtbaren Beziehungsebene besteht. Nach Watzlawick kann die Beziehungsebene entweder symmetrisch oder komplementär sein. In seinen 5 Axiomen beschreibt Watzlawick die Grundeigenschaften von Kommunikation, jedoch differenziert er Kommunikation an subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten. Wie Kommunikation funktioniert wird jedoch nicht beschrieben (vgl. Lambers 2010, 81ff.).

Luhmann fügt seinem Verständnis von Kommunikation die Selektion und Kontingenz hinzu. Somit ist Kommunikation die Auswahl an Informationsinhalten (Selektion) und der damit verbundenen Erwartungsunsicherheit (Kontingenz). Da die Unsicherheit auf beiden Seiten besteht, spricht er von doppelter Kontingenz. Die Selektion besteht aus drei Prozessen: der Information, der Mitteilungen und dem Verstehen (vgl. Luhmann 1997, 190). Erst der dritte selektive Prozess des Verstehens entscheidet darüber, ob Kommunikation stattgefunden hat und ein Anschluss der Kommunikation möglich ist (vgl. Lambers 2010, 85). Die Auswahl der Selektionen ist begrenzt durch den Sinn, da nicht alles sinnvollerweise kommuniziert werden kann. Dabei bestimmt Kommunikation selber was Sinn macht, da sie „aus dem aktuellen Verweisungshorizont, den sie selbst erst konstruiert, etwas herausnimmt und anderes beiseitelässt“. (Luhmann 1984, 194).

3 Systemische Soziale Arbeit

Soziale Arbeit ist eine Profession, die sich mit Menschen befasst. Menschen leben nicht isoliert, sondern immer in einer Beziehung, bestehend aus dem Austausch und der Wechselwirkung ihrer Umwelt. In den Anfängen der Sozialen Arbeit mussten hilfebedürftige Menschen sich mit ihren Verhaltensweisen und Einstellungen an die Erwartungen und Erfordernisse der Gesellschaft anpassen. Soziale Arbeit hatte den Auftrag, Not zu lindern und den Menschen bei der Anpassung an die Gesellschaft verhelfen (vgl. Lambers 2010, 20). Jane Addams erkannte, dass die Soziale Arbeit nicht nur den Menschen, sondern auch die bestehenden Bedingungen der Umwelt, in die Hilfe mit einbeziehen und auf diese einwirken muss (vgl. Staub- Bernasconi 2007, 49). Der Mensch darf somit nicht alleine als Einzelperson, mit seinen vorhandenen materiellen Ressourcen und sozialen Beziehungen, betrachtet werden, sondern immer im Kontext der Wechselwirkungen seiner Umwelt. Hier fängt der systemische Ansatz in der Sozialen Arbeit an. Geprägt wurde die systemische Soziale Arbeit in den Anfängen durch Dirk Baecker, Peter Fuchs, Johannes Herwig-Lempp, Wilfried Hosemann, Heiko Kleve und Niklas Luhmann (vgl. Deller/ Brake 2014, 201).

3.1 Definition systemischer Sozialarbeit

In der Sozialen Arbeit hat sich der systemische Ansatz in den letzten Jahren etabliert und zum Teil ist die wissenschaftliche Reflexion und Theorieentwicklung in der Sozialen Arbeit an der Systemtheorie orientiert. Durch systemische Herangehensweisen entsteht in der Praxis Raum für unterschiedliche Arbeitsfelder, methodische Konzepte und Ebenen der Interventionen. Soziale Arbeit ist systemisch, wenn sie sich auf die verschiedenen Systeme und deren Geschichte bezieht, diese in ihrem Eigensinn und ihren wechselseitigen Abhängigkeiten in den Blick nimmt, die systemischen Grundsätze des Vorgehens als Orientierungsmaßstab in der Praxis nutzt, sich mit den verschiedenen Systemen als verbunden betrachtet und sich dabei immer wieder selbst mit in die Beobachtung nimmt und die Systeme in Bezug auf die soziale Teilhabe beobachtet (vgl. Hosemann/ Geiling 2013, 23).

Nach Herwig- Lempp (2014) richtet sich der systemische Blick dabei auf verschiedene Aspekte in der Praxis der Sozialen Arbeit. Je nachdem wie der Kontext in einer bestimmten Situation ist, kann menschliches Verhalten verschieden betrachtet und verstanden werden. Systemische Sozialarbeit arbeitet multiperspektivisch und ist sich dessen bewusst, sie bezieht verschiedene Perspektiven mit ein.

Die Aufträge, die systemische Sozialarbeit bearbeitet, sind immer auf alle Beteiligten bedacht und orientieren sich an den Bedürfnissen aller. Außerdem ist die Ressourcenorientierung ein weiterer wichtiger Aspekt, da vorhandene Stärken und Fähigkeiten von Menschen immer im Vordergrund stehen und diese auch immer in der Arbeit miteinbezogen werden. Systemische Sozialarbeit ist lösungsorientiert und nicht problembezogen. Sie sieht ihre KlientInnen als Experten für ihre eigenen Lösungsstrategien an, welche mittels systemischer Interventionen aufgedeckt werden müssen. Dabei ist immer die Selbstbestimmung von größter Bedeutung, da die systemische Sozialarbeit von der Würde und Selbstständigkeit aller Menschen ausgeht und somit diese die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen, besitzen.

Die systemische Soziale Arbeit hat das Ziel, die Handlungsoptionen zu erhöhen, mittels Hilfe zur Selbsthilfe.

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der systemischen Sozialarbeit ist die Wertschätzung und der neutrale und respektvolle Umgang. Jeder Beteiligte wird ernst genommen und würdig behandelt.

Nach Kühling (2004) ist systemische Sozialarbeit das allparteiliche Vermitteln zwischen den unterschiedlichen Wirklichkeitsbeschreibungen, Interessens- und Auftragslagen, Beschreibungen von Schwierigkeiten und Ressourcen, mit dem Blick der Wertschätzung und Würdigung der Menschen. Dabei sind SozialarbeiterInnen nur in der Lage verschiedene Impulse und Ideen einzubringen, da sie niemals den/die KlientIn zielgerichtet steuern oder ändern können.

Staub- Bernasconi (2004) beschreibt die systemische Soziale Arbeit als Profession, welche sich, aufgrund der vorhandenen Systemabhängigkeiten der Menschen, mit sozialen Problemen beschäftigt. Präsent ist diese aufgrund dessen in verschiedenen Systemen der Mikro-, Meso- und Makroebene (Familie, Nachbarschaft, lokales, nationales und internationales sozialräumliches/ politisches Gemeinwesen). Dabei beinhalten die Arbeitsweisen und Methoden der systemisch orientierten Sozialen Arbeit kommunikative und visualisierende Techniken, sowie komplexes Veränderungswissen in Bezug auf psychische, soziale und kulturelle Systeme.

3.2 Inhalt systemischer Sozialen Arbeit

Der Inhalt systemischer Sozialer Arbeit lässt sich in drei Kategorien darstellen und zeigt, dass sich diese theoretisch und empirisch betrachten lässt:

I. Gegenstandsbestimmung

Unter der Bezugnahme sozialer Entwicklungen von Systemen beobachtet und beeinflusst die Soziale Arbeit soziale Situationen für die Erweiterung des Handlungsraumes, die Erbringung sozialer Leistungen auf den verschiedenen Ebenen von Bund/ Ländern/ Kommunen und die Beteiligung an der Entwicklung der Gesellschaft über Gesetze, Konflikte und Reformen. Zu den Bezugsdimensionen der Sozialen Arbeit gehören die AdressatInnen und KlientInnen, Organisationen, soziale Räume, Funktionssysteme und die Gesellschaft. Die konkrete systemische Ausgestaltung der Praxis basiert auf der Grundlage von Interpretationen und Reflexionen, mit dem Ziel zusätzliche soziale Optionen und Teilhabechancen zu schaffen (vgl. Hosemann/ Geiling 2013, 25f.).

II. Ort der Leistung

Der Ort der Sozialen Arbeit liegt systemisch zwischen den Systemen. Dafür bedarf es einem hohen Maß an Wissen, Kommunikationsgeschick und Verantwortungsübernahme, um Engagement für die KlientInnen, den effizienten Einsatz eigener Ressourcen und die Gestaltung nachhaltiger Lösungen leisten zu können. Da die Soziale Arbeit immer in einem Netz, mit vielen verschiedenen Beteiligten und Interessen steht und diese bedienen muss, ist oben genanntes eine große Herausforderung. In der stationären Jugendhilfe ist dies beispielsweise die Beziehung zwischen dem Jugendamt, den Eltern, dem/ der Jugendlichen, der Schule und anderen Kontexten (Mikro, Makro und Mesoebene). Die Soziale Arbeit ist systemisch zwischen all diesen Parteien und agiert, vermittelt und kommuniziert mit ihnen.

III. Theorieentwicklung

Systemtheoretische Ausrichtung bedarf einer Vielzahl an theoretischen und praktischen Verbindungen. Sie bezieht nach Thiersch die Alltags- und Lebensweltorientierung ein. Gleichzeitig werden Bereiche gesellschaftlicher Beteiligung und soziale Gerechtigkeit fokussiert (vgl. Heiner 2004, 158).

An die systemische Soziale Arbeit besteht der Anspruch zur Reflexionsleistung, welche systemtheoretisch durch Luhmann bestimmt ist. Die Reflexionsleistungen sind auf die Einheiten der Systeme ausgerichtet, wodurch eine professionelle Selbstvergewisserung und Weiterentwicklung entsteht. Sie dienen nach Hosemann und Geiling Theorien zum Justieren von Grundüberzeugungen und Handlungsausrichtungen (vgl. 2013, 27).

Systemische Forschung beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Forschungsmethodik, sondern ist gekennzeichnet durch eine spezifische systemtheoretische Fundierung. Nach Schiepek (2010) besteht der Gegenstand der empirisch und theoretisch ausgerichteten Systemforschung aus der Struktur, Funktion und Dynamik von Systemen und ihren Interaktionen sowie System- Umwelt- Relationen (vgl. Hosemann/ Geiling 2013, 28).

3.2.1 Exkurs Alltags- und Lebensweltorientierung nach Thiersch

Der lebenswelt- und alltagsorientierte Ansatz nach Thiersch richtet sich nach der Annahme, dass Menschen, deren Ressourcen nicht mehr ausreichen um ihr Leben angemessen zu gestalten, sich Hilfe von außen holen, um lösungsorientiert Erklärungen zu finden.

Mithilfe von SozialarbeiterInnen sollen so Ansätze gefunden werden, um neue Alltagsroutinen zu finden, mit denen ihnen der Alltag wieder gelingt.

Alltag ist für Thiersch die Bewältigung von gegebenen Lebensproblemen oder auch die Lebenserfahrung der Menschen.

Für diese Bewältigung bedarf es an Routinen und Regeln, damit der Lebensalltag wieder gelingt.

So ist der Alltag bestimmt durch die subjektiven Verstehens- und Handlungsmuster von Lebenswelten. Die Orientierung am Alltag befasst sich somit mit der Konfrontation der Vielfältigkeit von Problemen, sowie Aufgaben und den Kompetenzen und Ressourcen der jeweiligen Menschen.

Dabei handelt es sich um allgemeine Alltagschwierigkeiten und vor allem gering scheinenden und unauffälligen Problemen.

Die Lebenswelt besteht aus verschiedenen Lebensbereichen, der zeitlichen Dimension und sozial-räumlichen Komponenten wie der Familie, Freunde, Nachbarn, Orte, Straße usw. Jeder Mensch besitzt eine individuelle Handlungs- und Bedeutungsraumbildung.

Thiersch vertritt drei grundlegende Orientierungen in seinem Ansatz: die Ressourcenorientierung an der Lebenswelt und dem Alltag, die beraterunabhängige Lösungsvielfalt, bei der es vor allem um den Aufbau von Kompetenzen versus den Abbau von Komplexität geht und fordernde Verstärkerprozesse durch erfolgsfördernde und notwendige Wiederholungen.

Außerdem ist der Begriff der Hermeneutik ein bedeutender, welcher das Verstehen von Sinneszusammenhängen beinhaltet. Dabei geht es vor allem darum, zu verstehen was das Leben des KlientIn ausmacht und konsequent Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, für ein autonomes und selbstbestimmteres gelingendes Leben der Menschen (vgl. Deller/ Brake 2014 nach Thiersch 2012).

3.3 Systemische Merkmale in der Sozialen Arbeit

Mithilfe der Begrifflichkeiten und theoretischen Aussagen Luhmanns lassen sich empirisch beobachtbare Probleme und Phänomene aus der Praxis der Sozialen Arbeit nicht nur beschreiben und einordnen. Durch den systemischen Ansatz können Gegenstands-, Aufgaben- und Funktionsbestimmungen Sozialer Arbeit durchgeführt werden (vgl. Miller 1999, 95).

Wie oben benannt gibt es einige Begrifflichkeiten die die Systemtheorie nach Luhmann definieren. Wie diese sich in der Praxis der Sozialen Arbeit vereinbaren lassen, wird im Folgenden betrachtet.

Autopoesie besagt, dass soziale Systeme sich nicht von außen verändern lassen, sondern sich nur selbst steuern und von innen verändern können. Wie ist es dann der Sozialen Arbeit möglich, Systeme dennoch von außen zu verändern und auf sie einzuwirken, bzw. unter welchen Bedingungen ist es die Beeinflussung und Steuerung der Systeme von außen möglich?

Ziel der Sozialen Arbeit ist es, zielgerichtet auf Systeme einzuwirken und durch Interventionen Entwicklungsanstöße zu geben. Jedoch ist diese nur dann erfolgreich, wenn das System offen für das Intervenieren und die Kommunikation von außen ist.

Wenn somit beispielsweise AdressatInnen nicht bereit sind oder nicht freiwillig die Hilfe aufsuchen, ist der Anfang des Hilfeprozesses erschwert. Jedem Hilfesuchenden obliegt die Verantwortung der Hilfe und kann somit selbst bestimmen, ob er die Hilfe annehmen möchte, oder die angebotenen Interventionen, verdreht oder sogar verwirft.

Hier kommt der Begriff der Selbstorganisation und Selbstverantwortung ins Spiel. Die Soziale Arbeit hat nicht die Macht über die AdressatInnen, sondern jeder kann Eigenverantwortlich und mit eigener Initiative entscheiden, ob er die Hilfe annehmen möchte und den Hilfeprozess voranbringen möchte oder nicht (vgl. Miller 1999, 98).

Anpassung von Systemen und deren Mitgliedern hat eine funktionale Bedeutung und dient der Systemstabilität. Diese Anpassung kann nach Luhmann auf legalem oder auch illegalem Wege geschehen.

Die Frage, die sich die Soziale Arbeit stellen muss, ist, welchen Sinn die funktionale Abweichung von Systemen hat. Den Sinn zu erfassen ist nicht immer möglich, wenn es jedoch gelingt, kann dies für den Hilfeprozess sehr wegweisend sein.

Daran schließt sich die Anforderung der normativen Kategorisierung, um das abweichende Verhalten bewerten zu können (vgl. Miller 1999, 98). Hier reicht Luhmanns Unterteilung nicht aus, denn abweichendes Verhalten kann auch autonomiefördernd und befreiend sein.

Eine weitere Frage ist, wenn wir kategorisieren, wer sagt bzw. bestimmt was normal und was unnormal ist? Steht hier nicht auch das Konzept des Konstruktivismus im Weg, da jeder seine eigene Wirklichkeit hat und somit jeder eine andere Wahrnehmung von Normal und Unnormal hat?

Somit bedarf es einer allgemeingültigen Kategorisierung, welche auf die Gesamtheit der Systeme anwendbar ist. In der Sozialen Arbeit haben sich daraus fünf verschiedene Typen von Abweichungen entwickelt: Die freiwillige Abweichung, welche beispielsweise durch Anforderungen der Umwelt entstehen. Die intendierte Abweichung, durch gezielte Interventionen von Sozial Arbeitern als Unterstützungs- und Entwicklungsmaßnahme. Die geforderte Abweichung, bei der eine Abweichung vorgeschrieben wird, um eine Besserung zu bewirken. Die normalisierte Abweichung, welche durch zum Beispiel die Änderung des Wertesystems in der Gesellschaft entsteht und akzeptiert wird. Und zuletzt die erzwungene Abweichung, bei der eine Person durch eine zweite beispielsweise erpresst wird.

Diese Abweichungen können gestützt, geduldet, negativ sanktioniert oder auch geahndet werden. In der Sozialen Arbeit muss in der Praxis nun bestimmt werden, wie das abweichende Handeln zu bewerten ist. Welchen Sinn und welche Folgen diese mit sich tragen und welche spezifischen Bedingungen herrschen, damit es zu diesen Abweichungen kommt.

Jedes System wird jedoch auf Abweichungen unterschiedlich reagieren und diese bewerten. In jedem System, abhängig von den Milieus, Subkulturen, Lebensformen und -stilen, wird Abweichung mehr oder weniger als normal angesehen (vgl. Miller 1999, 99f.). In der Sozialen Arbeit ist Abweichung ein traditionelles Problem und kann mit den Begriffen „Verhaltensauffälligkeit“, „Dissozialität“ oder „Kriminalität“ assoziiert werden (vgl. ebd.).

Das Beobachten ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt der systemischen Betrachtung Sozialer Arbeit, denn es ist eines der Basiselemente bei der Erschließung von Wirklichkeiten. Dabei kommt es immer zu Selektionsprozessen, da es nie möglich ist die Gesamtheit zu beobachten. Somit ist es in der Praxis immer eine Herausforderung eine Entscheidung zu treffen, ohne die Gewissheit wie eine Handlung „wirklich“ geschehen ist. So entstehen Handlungsräume, Freiräume und eine große Verantwortung des Beobachters, da jede Beobachtung durch Erfahrungen, Eindrücke etc. des Beobachters geprägt sind und somit nie objektiv sein können.

Hier kommt der Begriff des Blinden Flecks hinzu, denn jede Beobachtung ist geprägt durch die eigene Wirklichkeit, sodass immer ein Teil der Beobachtung unbeachtet bleibt. Dieser Teil wird vom Beobachter nicht wahrgenommen und wird als „Blinder Fleck“ bezeichnet. Um den blinden Fleck zu erkennen und unterschiedliche Wahrnehmung aufzufassen, bedarf es einer Reflexion des Beobachters (vgl. Hosemann/Geiling 2013, 39f.). Diese Reflexion entsteht durch die Beobachtung zweiter Ordnung, bei der die konstruierte Beobachtung beobachtet werden. Dies ist der Ausgangspunkt nach weiteren Deutungen zu suchen und diese zuzulassen und nicht, zu deklarieren ob eine Beobachtung richtig oder falsch ist. Es geht vielmehr darum festzustellen, welche Folgen eine Beobachtung hat und ob diese nachvollziehbar ist, um dann soziales Verhalten zu fördern. Die Beobachtung erster und zweiter Ordnung sind für das professionelle Handeln in der Sozialen Arbeit als Reflexion des eigenen Handelns enorm wichtig und können zum Beispiel durch Supervision gesichert werden (vgl. Hosemann/ Geiling 2013, 50).

Systeme grenzen sich wie in Kapitel 2 beschrieben von ihrer Umwelt ab, in dem sie sich intern unterscheiden. Außerdem besteht immer eine operationale Geschlossenheit und gleichzeitig eine Offenheit. Die Soziale Arbeit bezieht sich in der Praxis immer auf diverse Systeme und für den Moment bedeutsame Umwelten. Die strukturelle Koppelung stellt die Beziehung zwischen den Systemmitgliedern dar. In den Beziehungen bestehen systemstabilisierende Interaktionen, welche in Wechselwirkung stehen und die Entwicklung des Systems anregen. Bestehende Interaktionsmuster dienen der Strukturbeibehaltung, dabei werden die bestehenden Differenzen überbrückt und eingefangen, ohne die Grenzen zwischen ihnen aufzulösen. Gearbeitet wird in der sozialen Arbeit mit einer selbstreferenziellen geschaffenen Beschreibung von sozialen Konstellationen. So sind alle Formen der Offenheit an die operative Geschlossenheit gebunden. Dadurch, dass im Systemen Voraussetzungen für bestimmte Fremdbezüge bestehen, ist Offenheit möglich (vgl. Hosemann/ Geiling 2013, 79).

3.4 Systemische Grundhaltung

In der Arbeit des systemischen Ansatzes besteht eine Grundhaltung, welche aus den Eckpfeilern Neutralität, Zirkularität und dem Hypothetisieren besteht. Die Neutralität ist zum einen die innere Haltung, die der Betrachter hat und zum anderen das Erleben der Mitglieder eines Systems. Sie ist die Voraussetzung für eine Akzeptanz als kompetenter systemischer Berater in einem System und dem Schutz vor dem Einbau eigener Wirklichkeiten in bestehende Beziehungsmuster.

Neutralität ist nicht der Ausdruck von Meinungslosigkeit oder Distanz (vgl. von Schlippe/Schweitzer 2008, 199). Eine absolute Neutralität ist jedoch ein unrealistisches Ziel, besser ist davon auszugehen das die Neutralität eine Allparteilichkeit ist und somit zu jedem Systemmitglied gleich ist. Jedes Mitglied sollte sich dadurch gleichbehandelt und keines bevormundet oder vernachlässigt fühlen.

Die Zirkularität besagt, dass Beziehungen nicht aus eindeutigen und strikten Kausalbezügen bestehen, welche linear ein Verhalten festlegen und Kommunikation beschreiben können. Jedes Element eines Systems ist bedingt durch die Rückkopplung (vgl. Reich 2002, 298f.). Kommunikative Impulse in einer Kommunikation geben den Anlass zu einer Reaktion auf diese Impulse, welche wiederrum eine neue Reaktion hervorruft. Eine zirkuläre Sichtweise, welche davon ausgeht, dass jeder Impuls eine potentielle Anregung oder Verstörung des Systems mit sich bringt, hilft die Komplexität und Verflechtung interaktiver Bezüge zu erkennen.

Die Offenheit für Ursachen und Wirkungen ist größer als bei der kausalen Sichtweise und es werden verstärkt Unterschiedlichkeiten bei individuellen Ereignissen, die kommunikativ auftauchen, betrachtet. Durch diese Sichtweise wird unter anderen auch das Täter-Opfer- Prinzip aufgebrochen. Wenn eine Aktion lediglich die Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten und somit linear ist, kann die Verantwortung und Schuld einfach abgegeben werden. Durch die zirkuläre Sichtweise ist dies jedoch nicht ganz so einfach, da beide Verhaltensweisen sich gegenseitig bedingen. So wird der Stagnation und der Stabilisierung des Interaktionsmusters entgegengewirkt, da alles in einem wechselseitigen Austausch steht. Durch die Transparenzmachung der Zirkularität eines Systems können neue Interpretationsmöglichkeiten geschaffen werden und somit auch neue Handlungsmöglichkeiten (vgl. von Schlippe/ Schweitzer 2008, 116).

Systemisches Hypothesenbilden ist das Beschreiben von Beziehungen und Systemelementen auf den Ebenen des Individuums, der Familie, des Paares, des sozialen Netzwerkes, der Gesellschaft etc. Die aufgestellten Hypothesen haben immer einen zeitweisen Charakter und beschreiben immer nur einen bestimmten Zeitabschnitt eines Systems, sozusagen als Momentaufnahme. Auch hier ist der Begriff der Wirklichkeit ein wichtiger, denn die aufgestellte Hypothese ist nie die Wirklichkeit, sondern ein Konstrukt der Wirklichkeit, von jenem der diese aufstellte. Hypothesen können somit niemals falsch oder richtig sein. Sie bieten lediglich eine subjektive Aussage, welche entweder angenommen oder revidiert werden kann. Somit liegt der Wert einer Hypothese in der Nützlichkeit.

Es bestehen zwei verschiedene Funktionen von Hypothesen. Zum einen können sie eine Ordnungsfunktion haben, um verschiedene Informationen über ein System zusammenzufassen und diese zu ordnen. Zum zweiten können sie eine Anregungsfunktion haben, um neue Sichtweisen und Möglichkeiten zu eröffnen. Es geht beim Hypothetisieren nicht darum die eine richtige Hypothese aufzustellen, sondern eine Vielfalt zu schaffen, welche Perspektiven und Möglichkeiten aufzeigt (vgl. von Schlippe/Schweitzer 2008, 117). Die Nützlichkeit steigert sich durch die Einschließung von möglichst vielen Systemmitgliedern und die in Verbindungstellung von vielen Handlungen dieser Mitglieder.

Außerdem sollte sie so formuliert werden, dass entweder eine positive Absicht mit einer daraus resultierenden negativen Folge oder eine negative Auswirkung eines Problems mit einer positiven Nebenwirkung verbindet (vgl. von Schlippe/Schweitzer 2008, 118).

3.5 Systemisches Menschenbild

Systemische Soziale Arbeit bedarf einem Menschenbild, welches das systemische Denken unterstreicht und darüber hinaus allgemeine Aspekte menschlichen Lebens einbezieht, die von anderen Theorien behandelt wurden (vgl. Ritscher 2008, 55). So fließen in das systemische Menschenbild, neben den systemischen Paradigmen, ethische Maßstäbe und gesellschaftliche Normen mit ein (vgl. Schwing/ Fryszer 2012, 325):

Nach Herwig- Lempp ist das systemische Menschenbild bestimmt durch die Annahme der Eigensinnigkeit eines Menschen und durch die eigenständige Persönlichkeit. Demnach stellt der Mensch den Sinn über sein Erleben selbst her und entscheidet autonom über die ihm erkennbaren und zugänglichen Handlungsoptionen. Autonomie und Eigensinnigkeit werden als vorhanden vorausgesetzt (vgl. 2002, 45). Für das fachliche Handeln in der Praxis Sozialer Arbeit bedeutet dies die Beobachtung der Autopoiese von Systemen. Die Menschen schreiben ihre Geschichte des Lebens eigensinnig und nehmen das an, was für sie persönlich als sinnvoll angesehen wird (vgl. Schwing/ Fryszer 2012, 325).

Ein weiterer Aspekt des systemischen Menschenbildes legt Martin Buber fest mit der Aussage: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (1923). Erst in der Auseinandersetzung mit einem anderen Menschen, realisiert der Mensch, dass er Teil eines größeren Systems ist. Das Ich kann nach Buber nicht alleine existieren und ist immer auf sein Gegenüber mit einer bestimmten Haltung oder Intention bezogen. Resultierend ergibt sich daraus die Allparteilichkeit und Neutralität im Umgang mit sozialen Systemen. Bei der Anwendung von Interventionen müssen die Folgen und Konsequenzen für den Kontext des Gegenübers und auch für das Gegenüber bedacht werden. Demnach benötigt es einem Verständnis und Einfühlungsvermögen für die bestehenden Handlungen und einer Reflexion auf die Reaktion eine Intervention (vgl. Schwing/Fryszer 2012, 326).

Eine weitere Annahme des systemischen Menschenbildes ist die, dass Menschen sich ständig verändern, ihre Standorte ändern und kontextabhängig Denken, Fühlen und Handeln. In der Praxis der Sozialen Arbeit müssen die vermeintlich unveränderlichen Lebensphasen des Gegenübers, sowie die unterschiedlichen Verhaltensweisen in den verschiedenen Kontexten wahrgenommen werden und daraus Erkenntnisse, für die gewünschten Prozesse der Veränderung, gezogen werden. Dafür wird mit einer wohlwollenden und interessierten Neugier agiert (vgl. ebd.). Die Neugier hängt eng mit der Neutralität zusammen und sie bedingen sich gegenseitig. Neutralität ist offen für eine Haltung respektvoller Neugier und wird durch sie vereinfacht. Beides wird nach Ceechin, durch einen „ästhetischen Standpunkt“ gefördert, also durch das Interesse an Mustern und an der Vielfalt möglicher Muster (vgl. Ludwig 1988). Um eine „Neugierhaltung“ aufrechtzuerhalten, werden die technischen Mittel Hypothesenbildung und Zirkularität benötigt. Alle drei Aspekte erzeugen sich gegenseitig. Ohne die Vielfalt der Hypothesen, wird die Neugier nach weiteren Möglichkeiten gehindert. Neugier erzeugt eine Vielfalt an Möglichkeiten und einen großen Handlungsraum. Außerdem steht Neugier der Idee des vollständigen Durchschauens und Steuerns eines Systems entgegen. Sie interessiert sich für die Eigenlogik, welche keine Bewertung erfährt, denn jeder Eigenlogik obliegt eine bestimmte Funktion. Neugier impliziert ebenfalls eine Haltung der Unwissenheit mit dem Ziel der Verhinderung vorschneller Erkenntnisse (vgl. von Schlippe/ Schweitzer 2008, 121).

Außerdem ist das systemische Menschenbild geprägt durch die Auffassung, dass Menschen über unzählige Ressourcen und Potenzialen verfügen (vgl. Schwing/ Fryszer 2012, 326). Demnach gehen wir davon aus, es bestehen bereits alle Ressourcen, die ein System oder ein Mitglied des Systems benötigt, um eine Lösung für das bestehende Problem zu finden. Jedoch werden die Ressourcen zu diesem Zeitpunkt nicht genutzt oder sind nicht bekannt. Für die Entdeckung der Ressourcen geht man in der systemischen Sozialen Arbeit weg von der Problemorientierung und fokussiert sich auf die Konstruktion von Lösungen. Die Ressourcenorientierung richtet den Blick auf die Optionen, die ein Problem eröffnet oder auch verschließt und nicht auf die Feststellung von bestehenden Defiziten (vgl. von Schlippe/ Schweitzer 2008, 124). Die Orientierung an den Ressourcen bzw. die Annahme, dass jeder Mensch über unzählige Ressourcen verfügt, ist keine Technik die angewandt wird, sondern eine innere Haltung die dazu führen kann, Stärken und Ressourcen zu sehen, aufzudecken und zu nutzen (vgl. Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, online).

Der letzte Aspekt den das systemische Menschenbild beinhaltet, ist die Wirklichkeitskonstruktion.

„Menschen konstruieren ihre Wahrheiten und ihre Wirklichkeit, niemand kann für sich den Besitz objektiver Wahrheit beanspruchen“ (Schwing/ Fryszer 2012, 327)

Für die Praxis der Sozialen Arbeit bedeutet dies eine Haltung, die geprägt ist durch Respekt und einer neugierigen Bescheidenheit. Eine respektvolle Haltung ist gekennzeichnet durch die Achtung und Wertschätzung gegenüber den Systemen und ihren Mitgliedern. Alle Menschen sollen so geschätzt werden wie sie sind (vgl. Renolder 2008, 32). Die Haltung bezieht sich auf die KlientInnen, die Weltsicht die sie teilen, ihre Erlebnisse, ihre Schlussfolgerungen und ihre Entscheidungen. Der Mensch muss so akzeptiert werden wie er ist. Dadurch entsteht eine große Verantwortung projiziert auf die Entscheidungen und Handlungen jedes Einzelnen, da jeder Einzelne die Verantwortung für sich selbst trägt. In der Praxis können lediglich gemeinsam Wechselwirkungen, Hintergründe, Erfahrungen und Folgen einer Handlung reflektiert werden und ein Versuch des Aufbrechens von festgefahrenen Überzeugungen stattfinden, mithilfe von Interventionen, Impulsen und neuen Ideen. Welche Intervention geholfen hat, wird im weiteren Schritt mit Neugier verfolgt, um autonome Prozesse der Enzwicklung zu beobachten und die Erkenntnisse für den weiteren Hilfeverlauf zu nutzen (vgl. Schwing/ Fryszer 2012, 326).

Eine wertebasierende systemische Soziale Arbeit kann jedoch nur mit einer professionellen Auseinandersetzung mit seinem eigenen Leben geschehen. Jeder der systemisch arbeitet bringt seine eigene Wirklichkeit mit eigenen Perspektiven, Werten, Einstellungen und Reaktionsweisen mit in die Arbeit ein. Eigene persönlichen Haltungen müssen einem bewusst sein, damit Stärken genutzt werden und Schwächen, mithilfe von Achtsamkeit, ausgeglichen werden können. Selbsterfahrung kann außerdem die eigenen blinden Flecken realisierbar machen, sodass Verstrickungen in Systemen gemindert werden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familienkonstellation und -geschichte, durch beispielsweise Genogrammarbeit, Familienskulpturen oder Aufstellungsarbeiten, bringen eine Vielfalt an Lösungen für verschiedene Probleme. So wird das Verständnis für Herausforderungen und Lösungen im Familiensystem gestärkt. Durch die Reflexion eines Selbst entsteht ein Verstehen und Nachvollziehen von anderen Problemlagen und so wird der Zugang zu den KlientInnen vereinfacht. Mithilfe der Erfahrung von systemischen Methoden und Techniken an der eigenen Person entsteht ein Bewusstsein für Wirkmechanismen der systemischen Arbeit (vgl. Schwing/ Fryszer 2012, 327).

3.6 Ein systemisches Verständnis von Problemen

In der systemischen Sozialen Arbeit ist die Grundidee der Problementstehung nach von Schlippe/ Schweitzer die, dass nicht ein System ein Problem als zu ihm gehörendes Strukturmerkmal besitzt. Sondern um ein entstandenes Verhalten entsteht eine gehäufte Kommunikation, wodurch ein Problem geschaffen wird (vgl. 2008, 102). Dies beinhaltet die Annahme „Probleme werden nicht als Ausdruck einer inhärenten „Dysfunktionalität“ (einer Pathologie) eines sozialen Systems gesehen, sondern als Folge einer Verkettung von Umständen“ (von Schlippe/ Schweitzer 2008, 102). Die Probleme eines Systems können sich aus einer Vielfalt von Handlungen und Beteiligten auf verschiedenen Systemebenen zusammensetzen. So entsteht eine Auswahl vieler verschiedener lösungsorientierter Interventionen. Wichtig ist immer der Gedanke, dass sich die Kommunikation um das Problem verändern muss und nicht das System selber (vgl. von Schlippe/ Schweitzer 2008, 102).

3.6.1 Definition Problem

Der Begriff Problem kommt aus dem Griechischen und bedeutet „das, was (zur Lösung) vorgelegt wurde“ oder „das Vorgeworfene“ (vgl. Duden 2017, online).

Ludewig definiert ein Problem als ein Thema der Kommunikation, in dem etwas als unerwünscht oder unveränderbar beurteilt wird (vgl. 1992, 116). Von Schlippe/ Schweitzer sagen ähnlich wie Ludewig, dass ein Problem etwas ist „das von jemanden einerseits als unerwünschter und veränderungsbedürftiger Zustand angesehen wird, andererseits aber auch als prinzipiell veränderbar“ (2008, 103). Somit beinhaltet ein Problem einen Zustand, welcher von jemandem, als etwas Unerwünschtes und Unveränderbares angesehen wird, aber prinzipiell veränderbar ist. Wichtig, in der Praxis der systemischen Sozialen Arbeit, ist die Beteiligung aller Beteiligten Personen und Kommunikationen, die an der Entstehung des Problems mitwirken, zu identifizieren und sie in den Prozess der Lösungsfindung miteinzubeziehen.

Somit geht es um das Problemsystem, welchem eine Lösung, mithilfe verschiedener Interventionen geboten werden soll. Diese Lösungen können das Initiieren von neuen Prozessen sein, die positive Umdeutung von bisherigen Prozessen sein oder das Akzeptieren eines unveränderbaren Zustandes sein (vgl. von Schlippe/ Schweitzer 2008, 104).

3.6.2 Die Problemerzeugung

Die Erzeugung eines Problems entsteht nach Goolishan/ Anderson 1988, Ludewig 1992, Weber/ Retzer 1991 in einem Prozess aus vier Schritten:

Im ersten Schritt geht es um die Problementdeckung und Problemerfindung. Hier wird ein Verhalten von einem Außenstehendem oder von einem selbst beobachtet. Dabei wird die Erkenntnis gezogen, dass etwas nicht richtig ist.

Dann entsteht in zweiten Schritt ein problemdeterminiertes Kommunikationssystem. Die Kommunikation über das festgestellte Verhalten steht im Fokus der kommunikativen Beziehung der beteiligten Personen. Es werden immer mehr Personen miteinbezogen und die Aufmerksamkeit aller, auf das nicht richtige Verhalten vergrößert sich. Im dritten Schritt wird eine Problemerklärung gesucht und gefunden, welche so überzeugend ist, dass diese Erklärung bestehen bleibt und keine andere Lösung gefunden werden kann.

Im vierten und letzten Schritt geht es um die Handlungen, welche das Problem stabilisieren. Beteiligte Personen verhalten sich so, sodass es keinen Ausweg aus dem Problem gibt oder als sei eine Lösung für das Problem nur durch jemand anderen auffindbar.

[...]

Fin de l'extrait de 106 pages

Résumé des informations

Titre
Systemische Arbeit in der stationären Jugendhilfe. Drei Perspektiven auf Nutzen und Probleme
Université
University of Applied Sciences North Rhine-Westphalia Köln
Note
1,7
Auteur
Année
2017
Pages
106
N° de catalogue
V505474
ISBN (ebook)
9783346057716
ISBN (Livre)
9783346057723
Langue
allemand
Mots clés
systemische, arbeit, jugendhilfe, drei, perspektiven, nutzen, probleme
Citation du texte
Sarah Ledwon (Auteur), 2017, Systemische Arbeit in der stationären Jugendhilfe. Drei Perspektiven auf Nutzen und Probleme, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/505474

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