Bindungsarbeit mit Mutter und Kind

Am Beispiel des Programms SAFE in einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung


Bachelor Thesis, 2018

119 Pages, Grade: 1,0

Anonymous


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Bindung und Beziehung - Bindungspsychologische Theorieansätze
2.1 Bindungstypen
2.2 Wie entsteht eine sichere Bindungsperson-Kind-Bindung?
2.3 Warum ist eine sichere Bindung notwendig?
2.4 Die Rolle von Ersatzbindungspersonen

3. Vollstationäre Mutter-Kind-Einrichtung
3.1 Vorüberlegungen
3.2 Definition des Begriffes ,Vollstationäre Mutter-Kind-Einrichtung‘
3.3 Rechtliche Grundlagen
3.4 Ansätze und Aufgaben

4. Programme für die ,Bindungsstärkung‘
4.1 Das Netzwerk ,Frühe Hilfen‘
4.2 Bindungsorientierte Programme allgemein
4.3 Präventive Hilfsangebote
4.3.1 Inhalte, Methoden und Ziele
4.3.2 Marte Meo
4.3.3 STEEP™
4.3.4 Das Baby verstehen
4.3.5 SAFE®
4.4 Zwischenfazit

5. Die Arbeit im Familienhaus
5.1 Zielgruppe und Bedarfslage
5.2 Art und Ziel der Leistungen
5.3 Methodische Grundlagen

6. Qualitative Analyse
6.1 Forschungsmethode
6.2 Durchführung der Analyse
6.2.1 Fallvergleich und Auswertung
6.2.2 Ergebni sse

7. Schlussbetrachtung
7.1 Bezug auf qualitative Evaluationen
7.2 Fazit
7.3 Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vorwort

Zu Beginn möchte ich hiermit dem gesamten Team des Familienhauses danken, die mir die Chance geboten haben, einen detaillierten und tollen Einblick in die pädagogische Arbeit des Familienhauses zu erhalten.

Herzlich bedanken möchte ichmich außerdem bei meiner Großcousine, die mir das Praktikum erst ermöglichte. Sie ist ein herzensguter Mensch und bat mir die Möglichkeit innerhalb von sechs Wochen sehr viele verschiedene Einblicke sowohl in die Arbeit der A.p.e. Familienhilfe als auch in das Leben unter­schiedlicher Menschen zu bekommen.

Ein besonderer Dank gilt außerdem den beiden Pädagoginnen, mit denen ich die Interviews und somit einen wichtigen Teil dieser Arbeit führen durfte.

Weiter bedanke ich mich recht herzlich bei meinem Betreuer Herr Prof. Dr. C. Durch seine hilfreiche Begleitung und Beratung wurde mir sehr beim Verfassen der Arbeit weitergeholfen.

Zudem möchte ich mich noch herzlich bei meiner langjährigen, guten Freundin bedanken. Ohne ihr Korrekturlesen wäre meine Bachelorarbeit in dieser Weise nicht zu Stande gekommen.

Zuletzt bedanke ich mich bei meinem Freund und meiner Familie, die mir stets den Rücken gestärkt haben. Durch ihre seelische Unterstützung und dadurch, dass sie immer hinter mir und meinen Entscheidungen standen, konnte ich mein Studium erfolgreich meistern.

Hildesheim, August 2018

1. Einleitung

„Eine sichere Bindungsentwicklung hilft Kindern ein Leben lang. Damit sie gelingt, brauchen Eltern frühzeitig Unterstützung.“ (Brisch 2012: 11)

Dochwie entsteht eine sichere Bindung? Wie können Maßnahmen und Programme eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind stärken? Wie kann diese Bin­dungsarbeit in einem Mutter-Kind-Haus am besten umgesetzt werden?

Im April und Mai dieses Jahres hat die Verfasserin ein sechswöchiges, freiwilliges Praktikum in einem vollstationären Familienhaus inBayern absolviert, wodurch ihr persönliches Interesse an dem Thema Bindung zwischen Mutter und Kind geweckt wurde. Da in der Einrichtung das Präventionsprogramm SAFE® zur Unterstützung von sicherer Bindung durchgeführt wird, bat sich eine Analyse dieses Themas in der Bachelor-Thesis an.

Diese Bachelor-Thesis geht dabei der Frage „Inwieweit gelingt es mit einem Programm wie SAFE® die Bindung zwischen Mutter undKindin einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung zu unterstützen?“ nach.

Die Forschungsfrage basiert auf einer Forschungslücke, die nach der tatsächlichen Umsetzung des SAFE®-Programms ineiner vollstationären Mutter­Kind-Einrichtung und nach dem Erfolg beim Aufbau einer sicheren Bindung zwischen Mutter und Kind fragt. Weitere Überlegungen, die an die Forschungsfrage in der Abschlussarbeit anschließen, sind ,Was macht eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind aus?‘, ,Wie kann diese Bindung gestärkt beziehungsweise unterstützt werden?‘ und ,Wie wirken sich Bindungsprogramme auf die Bindung zwischen Mutter und Kind aus?‘. In dem ersten Teil der Abschlussarbeit wird sichdie Verfasserin somit auf die Ansätze der Bindungspsychologie von Bowlby, Ainsworth, Ahnert und Grossmann beziehen. Zum Einstieg in die bindungspsychologischen Theorieansätze wird auf die verschiedenen Bindungstypen nach Ainsworth und die Bindungsstörungen eingegangen. Das Thema einer sicheren Bindungsperson-Kind-Bindung und dessen Gründe und Funktionen werden anschließend analysiert. Zum Schluss des Kapitels wird in Bezug auf das Präventionsprogramm SAFE® die Rolle von Ersatzbin- dungspersonen thematisiert. Das nächste Kapitel umfasst die Darstellung undBe- griffserklärung einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung mit deren rechtli­chen Grundlagen, deren Auftrag und den wesentlichen Aufgaben der Maßnahme. Darauffolgend schließt sich das Kapitel über Programme zur Bindungsstärkung an. Neben einer allgemeinen Schilderung überjene Interventionsprogramme und Pra­xisgebiete, in denen diese relevant sind, werden die präventiven Hilfsangebote ,Marte Meo‘, ,STEEP™‘, ,DasBaby verstehen‘ und ,SAFE®‘ sowie deren Inhalte, Methoden und Ziele behandelt.

Der zweite Teil der Abschlussarbeit umfasst den empirischen Teil. Dieser behan­delt die Untersuchung der Umsetzung und Anwendung des SAFE®-Programms in der Mutter-Kind-Einrichtung mithilfe von leitfadengestützten Experteninterviews und einem Einbezug der qualitativen EvaluationenvonSAFE®. Im fünften Kapitel wird zunächst die Arbeit in dem Familienhaus anhand ihrer Konzeption beschrieben. Danach folgen eine ausführliche Erläuterung der gewählten Forschungsmethode und ihrer Durchführung, die Auswertung sowie die Ergebnisse der Interviews. Anschließend wird sich auf aktuelle Forschungen und Studien über Evaluationen des Programms SAFE® berufen. Zum Schluss werden ein Ergebnis undein Fazit aus der Verbindung beider Teiledieser Arbeit gezogen. Ziel der Arbeit soll eine Darstellung sein, inwiefern das Programm SAFE® der Mutter hilft eine sichere Bindung zu ihrem Kind aufzubauen und inwieweit das Programm in der besuchten Einrichtung und generell in vollstationären Mutter­Kind-Einrichtungen umsetzbar ist. Des Weiteren soll die Arbeit aufzeigen, an welchen Stellen die theoretischen Ansätze von SAFE® und die praktische Umsetzung auseinander gehen und welche Umsetzungspunkte sich somit letztendlich als erfolgreich und sinnvoll erweisen.

Neben der Literatur von Bowlby, Ainsworth und dem Ehepaar Grossmann wird sich diese Arbeit außerdem stark auf die Publikationen von Karl Heinz Brisch beziehen. Diese sind relevant, da sowohl das von ihm entwickelte SAFE®- Programm als auch seine Ansichten zu Bindungsthemen eine Grundlage inder Bindungsarbeit und in der pädagogischen Arbeit darstellen.

2. Bindung und Beziehung - Bindungspsychologische Theorieansätze

Die Bindungstheorie gilt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine der bedeutendsten Theorien der modernen Entwicklungspsychologie (vgl. Cierpka 2012: 58). Die Grundannahmen der Bindungstheorie stellen den Begriff Bindung1 als lediglich ein Teil des komplexen Beziehungssystems zwischen Mutter und Kind dar. Die Bindungstheorie beschäftigt sich generell mit der Entstehung, Organisation und Entwicklung von emotionalen Bindungen von der Geburt bis in das hohe Er­wachsenenalter des Menschen. Sie versucht die Entstehung und Veränderung von starken, gefühlsmäßigen Bindungen zwischen Individuen darzustellen (vgl. Brisch 2009: 35). Die bekanntesten und größten Vertreter der Bindungstheorie sind John Bowlby, Mary Ainsworth sowie Karin und Klaus Grossmann. John Bowlby ist der ursprüngliche Vertreter der Bindungstheorie. Er, so wie auch Mary Ainsworth, spe­zialisierte sich hauptsächlich auf Bindung in der frühen Kindheit, wobei Mary Ains­worth intensive, naturalistische Beobachtungen von Mutter-Kind-Interaktionen in häuslichen Umgebungen durchführte, um Bindungstypen zu bestimmen (vgl. Main 2002. In: Brisch et al.: 167). Das Ehepaar Grossmann thematisierte die Bindung in der späteren Kindheit, in der Jugend und im Erwachsenenalter und entwickelte dadurch die Theorie weiter. Sie sind diejenigen, die die Bindungstheorie in Deutschland bekannt machten (vgl. Cierpka 2012: 58,59).

Seit langer Zeit ist bewiesen, dass die ersten menschlichen Beziehungen des Kindes den Grundstein zu seiner Persönlichkeit legen. Im Laufe der Geschichte haben sich vier Haupttheorien herauskristallisiert, die das starke Band zwischen Mutterfigur2 und Kind versuchten zu erklären.

Eine Theorie besagt, dass das Kind eine Reihe von physiologischen Bedürfnissen, vor allem jene nach Nahrung und Wärme, verspürt und die Mutter für das Kind als Quelle der Befriedigung gilt. Diese Theorie von Bowlby nennt sich die „Theorie vom Sekundärtrieb“ (Bowlby 1975: 171). Sie war lange Zeit die weitverbreitetste Theorie über Bindungsverhalten3, bis Beweismaterial gegen diese Ansicht vor lag (vgl. Bowlby 1975: 171,172). Forscher fanden heraus, dass das Bindungsverhalten eines Menschen sich entwickeln und auf ein Objekt richten kann. Dieses Objekt muss dem Kind, entgegen der vorherigen Annahme, keine traditionellen Belohnun­gen wie Wärme, Essen oder Sex anbieten (vgl. ebd.: 200,201).

Nach Bowlby kann Bindungsverhalten als Aufsuchen und Aufrechterhalten der Nähe eines anderen Lebewesens definiert werden (vgl. ebd.: 186). Er beschreibt Bindung als „emotionales Band zwischen Kind und einer oder mehreren vertrauten Bezugspersonen“ (Cierpka 2012: 59). Die Existenz von Bindungsbeziehungen zeigt sich im Wesentlichen durch sechs beobachtbare Verhaltensweisen - Weinen, Lächeln, Arme ausstrecken, Annähern, Nachfolgen und Anklammern (vgl. Cierpka 2012: 59). Durch Untersuchungen, wie beispielsweise der Versuch von Harlow4 mit Affenbabys, einer Draht-Ersatzmutter und einer Stoff-Ersatzmutter (Harlow 1961: 204), wurde deutlich, dass Bindungen entstehen können, auch wenn die Bin­dungsperson nichts unternommen hat, um die physiologischen Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Die Wahl der Bezugsperson geschieht lediglich durch die Promptheit der Reaktion der Person auf das Kind und der Intensität dieser Reaktion (vgl. Bowlby 1975: 205,206). Die Funktion des Bindungsverhaltens wurde somit überdacht und wandelte sich zu der Annahme, dass das Bindungsverhalten in erster Linie zur Sicherheit und zum Schutz des Kindes dienen soll (vgl. ebd.: 212).

Außerdem unterscheiden sich Bowlbys Standpunkte von Bindung von der psycho­analytischen Sicht nach Freud (vgl. ebd.: 19). Die psychoanalytische Sicht betitelt die Bindung zwischen Mutter und Kind als Objektbeziehung, wohingegen die Be­griffe ,Bindung‘ und ,Bindungsfigur‘ in den neuen Bindungstheorien im Zentrum stehen (vgl. ebd.: 171). Es existieren somit verschiedene Ansichten über Bindung und dazugehörige Theorien, darunter auch einige gescheiterte Bindungsbewegun­gen (vgl. Erickson 2002. In: Brisch et al.: 290). Diese Arbeit wird sich jedoch aus­schließlich auf den bindungspsychologischen Theorieansatz beziehen.

Die bindungsbasierte Psychotherapie entstand aus der Bindungstheorie nach Bow- lby. Aus dieser haben sich präventive, bindungsbasierte Interventionen mit Kin­dern, Jugendlichen und Erwachsenen entwickelt (vgl. Brisch 2009: 117), auf die sich im vierten Kapitel und im weiteren Verlauf dieser Arbeit fokussiert wird.

Da nun die Geschichte der Bindungstheorie kurz skizziert wurde, sollen im nächs­ten Abschnitt die unterschiedlichen Bindungstypen, nach Mary Ainsworth, aufge­zeigt werden.

2.1 Bindungstypen

Mary Ainsworth entwickelte ein standardisiertes Verfahren, den Fremde-Situatio- nen-Test5, zur Erfassung der Bindungsqualität zwischen Mutter und Kind (vgl. Main 2002. In: Brisch et al.: 190). Die Beurteilung wird einerseits nach dem Explo­rationsverhalten des Kindes und andererseits nach dem Aufsuchen von Nähe zur Bezugsperson bei Gefahr bestimmt (vgl. Egeland 2002. In: Brisch et al.: 310). Das Vorhandensein von Bindungsbeziehungen lässt sich am Bindungsverhalten festma­chen (vgl. Cierpka 2012: 59).

Aufgefallen ist hierbei, dass zwischen der Organisation der Bindung, die ein Kind zu seiner Mutter hat und der Art und Weise, wie die Mutter im ersten Lebensjahr des Kindes auf seine Signale reagiert und mit ihm kommuniziert, Parallelen beste­hen (vgl. Main 2002. In: Brisch et al.: 190). Es besteht ein eindeutiger Zusammen­hang zwischen den Bindungserfahrungen der Eltern, dem Verhalten der Eltern ge­genüber dem eigenen Kind und dem Bindungsmuster des Kindes (vgl. Brisch 2010: 52).

Das Bindungsverhaltenssystem, das durch den Test erkennbar gemacht wird, wird erst durch eine Stresssituation beim Kind aktiviert. So können innere Belastungen, wie Müdigkeit und Hunger, als auch äußerer Stress, wie eine Trennung von der Bindungsperson, Auslöser sein (vgl. Cierpka 2012: 59). Das Klassifikationssystem zur Beurteilung der Qualität der frühen Mutter-Kind-Bindungsbeziehung nach Ainsworth wird im Folgenden dargestellt. Die Bindungsorganisationen können zwar auf jegliche Bindungspersonen angewandt werden, jedoch steht bei dieser Ar­beit die Bindung zwischen Mutter und Kind im Vordergrund.

Die sichere Bindung

Eine sichere Bindung wird daran deutlich, dass das Kind auf eine Trennung von der Mutter mit Angst reagiert. Wenn ein sicher gebundenes Kind von seiner Mutter getrennt wird, protestiert es laut, weint, ruft, rennt ihr aktiv hinterher oder macht sich auf die Suche nach ihr (vgl. Brisch 2010: 40,41). Beim Wiedereintreffen der Mutter reagiert das Kind mit Freude. Es streckt zum Beispiel die Arme nach der Mutter aus und will getröstet werden. Sicher gebundene Kinder zeigen einen deut­lichen Wunsch nach Körperkontakt zur Mutter und können sich nach kurzer Zeit von ihr beruhigen lassen und ihren Aktivitäten weiter nachgehen (vgl. Brisch 2009: 51). Die Ursachen für eine sichere Bindung liegen dabei stets im Verhalten der Bin­dungsperson. Wenn die Mutter feinfühlig6 auf die Bedürfnisse des Kindes reagiert, wird dies vom Kind wahrgenommen und es kann eine emotionale Sicherheit und somit die damit verbundene sichere Bindung entstehen. Rund 60 bis 65 Prozent aller Kinder entwickeln im Laufe ihres ersten Lebensjahres eine sichere Bindung zu ihrer Mutter. 55 Prozent aller Kinder sind auch an ihren Vater sicher gebunden. Wenn Elternteile selbst in ihrer Kindheit sicher gebunden waren, wird die sichere Bindung meist an die eigenen Kinder weiter gegeben (vgl. Brisch 2010: 40,41). Eine sichere Bindung gilt als die zentrale Voraussetzung für eine spätere gesunde, psychische Entwicklung eines Kindes (vgl. Cierpka 2012: 66). Die Entstehung ei­ner sicheren Bindung und die dahinter stehenden Gründe werden in den folgenden Unterkapiteln weiter thematisiert und analysiert (siehe Kapitel 2.2 und 2.3).

Die unsicher-vermeidende Bindung

Gegenüber der sicheren Bindung steht die unsicher-vermeidende Bindung. Diese zeigt sich dadurch, dass bei einer Trennung des Kindes von der Mutter kaum oder wenig Protest eingelegt wird (vgl. Brisch 2010: 44-46). In der Regel verbleibt das Kind bei seinen vorherigen Aktivitäten an demselben Ort, wenn auch mit etwas weniger Begeisterung oder Ausdauer. Das Verschwinden der Mutter registrieren diese Kinder dennoch (vgl. Brisch 2009: 52). Bei der Rückkehr der Mutter verhält sich das Kind distanziert, wendet sich ab. Dieses Verhalten ist sehr auffällig und somit gut identifizierbar. Kinder mit dieser Art von Bindung erscheinen nach außen autonom und trennungsresistent. Dennoch ist genau das Gegenteil der Fall. Es be­steht ein sehr hoher Stress im Innern des Kindes. Demzufolge spielen Kinder mit einer unsicher-vermeidenden Bindung ihrer Bindungsperson aktiv ein Verhalten vor, das ihrer physiologischen Erregung und auch ihrem innerem Stresserleben nicht entspricht. Der erlebte Stress der Kinder drückt sich daher häufig in Körper­symptomen, wie zum Beispiel Bauch- oder Kopfschmerzen, aus. Wenn eine unsi­cher-vermeidende Bindung bei Kindern entsteht, ist dies ebenfalls auf die Bin­dungspersonen des Kindes zurückzuführen. Diese weisen die Signale des Kindes eher zurück und geben ihm das Gefühl, dass es alleine zurechtkommen muss. Dies hat den Grund, dass Bindungspersonen von bindungs-vermeidenden Kindern in der Regel in ihrer Kindheit selbst bindungsvermeidende Erfahrungen erlebt haben (vgl. Brisch 2010: 44-46). Zusammenfassend haben unsicher-vermeidend gebundene Kinder durch ihre Bezugspersonen wenig feinfühliges Verhalten erlebt und wurden bei Annäherungsversuchen eher bestraft. Somit konnten sie kaum Körperkontakt erfahren beziehungsweise erlebten diesen als wenig befriedigend.

Die unsicher ambivalente Bindung

Als dritte Bindungsorganisation lässt sich die unsicher zwiespältig-ängstliche Bin­dung, auch unsicher-ambivalente Bindung genannt, aufführen. Etwa 25 Prozent al­ler Kinder weisen diese Bindung zu ihrer Mutter auf (vgl. Brisch 2010: 40). Kinder, die diese Art von Bindung entwickeln, zeigen in Trennungssituationen oder in Si­tuationen, in denen sie Angst haben, sehr deutlich ihren Stress nach außen. Dabei ist auffällig, dass sie schon bei kleinen Trennungen heftig reagieren. Der entschei­dende Unterschied liegt bei dieser Bindungsorganisation, im Gegensatz zu einer sicheren Bindung, in der Reaktion des Kindes. Bei einer Wiederkehr der Mutter wünscht sich das Kind zwar ebenfalls Körperkontakt mit ihr, jedoch werden viel­mehr ambivalente Reaktionen gezeigt. Das unsicher-ambivalent gebundene Kind sucht einerseits nach einer Bindung, andererseits vermeidet es sie jedoch auch. Dies wird zum Beispiel durch ein Umarmen der Bezugsperson und gleichzeitigem Tre­ten deutlich (vgl. ebd.: 49; 51). Außerdem benötigt das Kind viel Zeit, um sich wie­der zu beruhigen und erneut einen emotional stabilen Zustand zu erreichen (vgl. Brisch 2009: 52). Allgemein scheint das Verhalten der Eltern für unsicher-ambiva­lent gebundene Kinder unvorhersehbar. Sie wissen nicht wann und in welcher Weise ihre Bezugspersonen reagieren. Zentral sind für diese Bindungsorganisation die widersprüchlichen Signale des Kindes und das wenig ausgeprägte Erkundungs­verhalten. Sie halten sich in der Regel immer in der Nähe ihrer Mutter auf (vgl. Brisch 2010: 49; 51).

Die desorganisierte Bindung

Wenn die Bindung zwischen Kind und Bezugsperson hingegen nicht gelingt, nennt man dies eine Bindungspathologie. Bereits im ersten Lebensjahr des Kindes können sich derartige pathologische Muster der Bindung zwischen Eltern und Säugling her­ausbilden. Die Bindungsorganisation der Bindungspathologie nennt man desorga­nisierte Bindung. Ein nicht organisierter Bindungsstatus bedeutet demnach, dass die Kinder hoch unsicher gebunden oder desorganisierte beziehungsweise desori­entierte Kinder sind (vgl. Cierpka 2012: 62). In der Regel geht diese Bindungsor­ganisation von Eltern aus, die selbst Traumataerfahrungen oder Ähnliches in ihrer Kindheit erlebt und nicht verarbeitet haben. Diese Eltern übertragen ihre Ängste und Hilflosigkeit auf ihren Säugling. Außerdem können sie, wenn sie an Gefühle wie Wut, Trauer und Angst aus Erfahrungen erinnert werden, bedrohlich auf das Kind wirken. Bei einer desorganisierten Bindung liegt kein einheitliches Bild von innerer Bindungssicherheit vor. Dies ist daran zu erkennen, dass das Kind bei Tren­nungssituationen und der darauf folgenden Rückkehr der Mutter zuerst auf die Mut­ter zuläuft, dann jedoch auf halbem Weg umdreht, stehen bleibt oder erstarrt. Wut­anfälle sind in diesen Situationen keine Seltenheit (vgl. Brisch 2010: 57-63). Des­organisierte Kinder verfügen über keine eindeutigen Verhaltensstrategien und kön­nen nicht auf ihre Bindungsperson als Quelle von Schutz und Sicherheit zurück­greifen. Die Versuche des Kindes Nähe zu ihrer Bindungsperson aufzubauen, füh­ren meistens zum Erstarren oder psychischer Abwesenheit des Kindes (vgl. Cierpka 2012: 62). Infolgedessen scheint es nicht verwunderlich, dass die desorganisierte Bindung häufig im Zusammenhang mit späteren psychischen Erkrankungen des Kindes steht (vgl. Brisch 2010: 58).

Bindungsstörungen

Des Weiteren können sogenannte Bindungsstörungen bei Kindern entstehen, wenn Säuglinge in ihrem ersten Lebensjahr Formen von Gewalt durch ihre Bindungsper­sonen erfahren. Unter Formen von Gewalt fallen sowohl emotionale und körperli­che Vernachlässigung, verbale Äußerungen, körperliche und sexuelle Gewalt als auch das Miterleben von Gewalt (vgl. Brisch 2010: 58; 61). Bindungsstörungen entwickeln sich häufig, wenn ein Kind eine schwere Traumatisierung oder einen häufigen Wechsel von Betreuungssituationen durchlaufen hat und somit keine tra­gende Bindungsbeziehung aufbauen konnte (vgl. Cierpka 2012: 62). Auffällig ist bei Kindern mit einer Bindungsstörung, dass diese mit jeder fremden Person unbe­grenzt und wahllos Kontakt aufnehmen. Sie verfügen über keine spezifische Bin­dungsbeziehung oder ein sicheres Bindungsverhalten, sondern passen sich sozial an ihre Erfahrungen der emotionalen Vernachlässigung an. Bindungsvermeidende Kinder, zwiespältig-ängstlich gebundene sowie unsicher-desorganisierte Kinder weisen einen begrenzten Sicherheitskreis auf, da ihre Mütter ängstlich sind oder in stressvollen Situationen des Kindes mit abweisendem Verhalten ohne Beruhigung und Hilfe reagieren (vgl. ebd.: 146-148).

Erfahrungen von desorganisierter Bindung und Bindungsstörungen können von Ge­neration zu Generation übertragen werden (vgl. ebd.: 66). Im späteren Verlauf die­ser Arbeit wird auf diesen Aspekt und präventive Interventionen zur Verhinderung dieser Übertragung weiter eingegangen (siehe Kapitel 4).

Nach Karl Heinz Brischs Aufzeichnungen gehört das Bindungsbedürfnis des Kin­des neben seinen physiologischen Bedürfnissen, wie Nahrung, Trinken und Schlaf, zu den grundlegenden und notwendigen Bedürfnissen der Entwicklung. Das Bin­dungsbedürfnis ist somit ein genetisch bedingtes Bedürfnis des Menschen, sich an eine Person zu binden, die größer, weiser und klüger ist. Diese Person soll dem Kind Schutz und Sicherheit gewähren. Auf die Funktion und Gründe einer sicheren Bindung wird in Kapitel 2.3 detailliert eingegangen (vgl. Brisch 2010: 15).

Da nun die verschiedenen Bindungstypen näher erklärt wurden, wird im nächsten Abschnitt auf die Entstehung einer sicheren Bindungsperson-Kind-Bindung einge­gangen.

2.2 Wie entsteht eine sichere Bindungsperson-Kind-Bindung?

„Die Mutter-Kind-Beziehung ... verlangt die intensivste Mutterliebe; und dennoch muss diese Liebe dem Kind helfen, sich von der Mutter weg zu entwickeln, um völlig unabhängig zu werden.“ (Fromm 1955. In: Ahnert 2010: 48)

Die Entstehung einer sicheren Bindung wird im Folgenden generell in Bezug auf eine Bindungsperson und Kind erläutert, wobei in dieser Abschlussarbeit der Fokus auf Mutter und Kind gelegt wird.

Kinder durchlaufen der Bindungsforschung nach in ihren ersten Lebensjahren vier Phasen der Bindungsorganisation. Die erste Phase erstreckt sich circa von der Ge­burt bis zum zweiten oder dritten Lebensmonat des Kindes. In dieser Phase orien­tiert sich das Kind an Menschen und sendet Signale aus, ohne, dass es zwischen Personen unterscheidet. Es lässt sich somit zum Beispiel von beliebigen Personen beruhigen. In der darauf folgenden Phase, die vom dritten bis zum sechsten Lebens­monat des Kindes reicht, richtet sich das Kind mit seinen Signalen auf eine oder mehrere Personen. Hierbei führt es keine eindeutige Differenzierung zwischen ihnen durch. In der dritten Phase der Bindungsorganisation zeigt das Kind schließ­lich ein aktives Bindungsverhalten, indem es die Nähe und den Kontakt zu be­stimmten, vertrauten Person aufrechterhält. Im Zeitraum vom sechsten Lebensmo­nat bis zum dritten Lebensjahr bevorzugt das Kind somit deutlich eine primäre Bin­dungsperson. Erst mit der vierten Phase und ab circa dem vierten Lebensjahr ge­winnt das Kind einen Einblick in die Motive und Gefühle der Bindungsperson. Das Kind bildet dann eine zielkorrigierte Partnerschaft und berücksichtigt die Gefühle des Anderen (vgl. Cierpka 2012: 60). Ob und inwieweit ein Kind sicher gebunden ist, hängt jedoch nicht von der jeweiligen Bewältigung der Phase ab, in welcher sich das Kind befindet, sondern davon wie Bindung definiert wird (vgl. Bowlby 1975: 249).

In Bezug auf eine sichere Bindung zwischen einer Bindungsperson und einem Kind unterscheidet man zwischen ,bonding‘ und ,attachment[4]. ,Bonding[4] bezeichnet die Bereitschaft der Eltern sich emotional auf ihr Kind und dessen Bindungssignale einzulassen (vgl. Brisch 2010: 21). Die frühe Bindungsbereitschaft (,bonding‘) bil­det folglich die Grundlage für eine sichere Bindungsentwicklung bei Kindern. Tren­nungen in jeglicher Form hingegen schwächen den sicheren Bindungsaufbau (vgl. Brisch/ Hellbrügge 2007: 10). ,Attachment[4] als das Gegenstück zu ,bonding‘ be­zeichnet die Bindung des Kindes an seine Bezugsperson. Das Kind bindet sich, weil es die Bindung als Sicherheitssystem benötigt und somit Urvertrauen entwickeln kann, welches das Fundament der Persönlichkeit bildet (vgl. Brisch 2010: 21). Brisch stellt dar, dass ein Kind, welches sicher gebunden ist, von seiner Geburt bis zu seinem ersten Lebensjahr eine spezifische emotionale Bindung an eine Haupt­bindungsperson aufbauen konnte. Diese Hauptbindungsperson bildet einen „si- chere[n] emotionale[n] Hafen“ (Brisch 2010: 12) und ist nicht durch andere Perso­nen ersetzbar (vgl. ebd.: 12,13). Eine sichere Bindung existiert nicht von Geburt an, wie das Phasenmodell der frühen Bindungsorganisation deutlich aufzeigt. Erst in der zweiten Phase der Bindungsentwicklung, ab dem Alter von circa sechs Mona­ten, richtet das Kind sein Verhalten, in Form von Nähe und Kontakt, ausgeprägter auf eine Mutterfigur beziehungsweise Bindungsperson (vgl. Bowlby 1975: 248). So kann sich eine sichere Mutter-Kind-Bindung entwickeln (vgl. Ahnert 2010: 44). Eine sichere Bindung entsteht somit im emotionalen Austausch und der Kommuni­kation und Interaktion des Kindes mit den primären Betreuungspersonen während des ersten Lebensjahres (vgl. Cierpka 2012: 60). Entscheidende Erfahrungen für einen Bindungsaufbau beginnen folglich schon während der Schwangerschaft, bei der Geburt und in den ersten Lebensmonaten des Kindes (vgl. Brisch/ Hellbrügge 2007: 7). Dennoch kann jede Person die Hauptbindungsperson werden. Dafür muss keine Verwandtschaft bestehen. Die Bindungsbeziehungen eines Kindes lassen sich in einer Hierarchie der Bindungspersonen, einer sogenannten „Bindungspyramide“ (Brisch 2010: 24), abbilden. Die Hauptbindungsperson, mit der das Kind eine si­chere Bindung hat, steht symbolisch oben an der Spitze der Pyramide. Sie wird bei größtem Stress und der größten Angst, die das Kind betreffen, aufgesucht. Bei we­niger stressvollen Situationen reicht in den meisten Fällen ebenfalls die Beruhigung durch andere Bindungspersonen aus (vgl. Brisch 2010: 23,24). Damit eine sichere Bindung zwischen einer Bindungsperson und einem Kind entstehen kann, müssen grundlegende Voraussetzungen erfüllt werden. Auffällig ist, dass die Hauptbin­dungsperson eines Kindes in den meisten Fällen die Person mit der größten Fein­fühligkeit und Empathie ist. Die Feinfühligkeit nimmt demzufolge einen hohen Stellenwert ein.

Im Falle einer sicheren Bindung nimmt die Mutter die Signale des Säuglings wahr, interpretiert diese richtig und reagiert angemessen. Außerdem ist der sprachliche Austausch von großer Bedeutung. Die Mutter sollte Gespräche mit dem plappern­den Säugling führen. Das Sprechen mit dem Kind fördert die Bindung und eine falsche Deutung oder ein Nicht-Wahrnehmen des Plapperns des Kindes kann eine unsichere Bindung begünstigen (vgl. ebd.: 33,34). Des Weiteren ist der Blickkon­takt zwischen Mutter und Kind extrem wichtig, um eine sichere Bindung zu för­dern. Durch Blickkontakt kann die Bindungsperson Stimmungen und Gefühle des Kindes wahrnehmen, sodass die vorsprachliche Verständigung mit dem Kind bes­ser funktioniert (vgl. ebd.: 34,35). Ein weiterer Aspekt, der zur Entwicklung einer sicheren Bindung führen kann, ist die Berührung. Neben der schon erwähnten Fein­fühligkeit der Bindungsperson sind auch die Berührung und der enge Körperkon­takt zum Kind wichtig. Durch Körperkontakt und Stimulation wird das Hormon Oxytozin beim Kind ausgeschüttet, was diesem ein Gefühl von Vertrautheit gegen­über der Bindungsperson vermittelt (vgl. ebd.: 35,36).

Das dynamische Gleichgewicht zwischen Mutter und Kind und deren beider Ver­haltensweisen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Sowohl die Mutter als auch das Kind versuchen stets die Nähe zur anderen Person aufrechtzuerhalten, sodass die Entfernung zwischen beiden in der Regel innerhalb gewisser stabiler Grenzen gehalten wird (vgl. Bowlby 1975: 223). Das Gefühl der Sicherheit durch eine si­chere Bindung kommt daher, dass das Bindungsverhalten von allen Verhaltenswei­sen, die ein Mensch aufweist, am stärksten von Gefühlen begleitet wird (vgl. ebd.: 199). Kinder, die eine sichere Bindung zu ihren Eltern haben, vertrauen in diese als trostspendende Quelle in Zeiten emotionaler Belastung. Ebenso entwickeln sie durch die Bindung Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit, die erforderliche Pflege und Hilfe auch einzufordern (vgl. Egeland 2002. In: Brisch et al.: 309).

Studien ergaben, dass die Hauptvariable für eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind jedoch die Initiativen sind, die von der Mutter ausgehen (vgl. Bishop 1951. In: Bowlby 1975: 314). Die Mutter muss feinfühlig auf ihr Kind eingehen, um eine sichere Bindung zu gewährleisten (vgl. Bowlby 1975: 314). Ainsworth fand im Zusammenhang damit eine Reihe von Messwerten mütterlichen Verhaltens heraus, die zu einer sicheren Bindung führen und die die vorherigen Kriterien be­stätigen. Häufiger und langanhaltender physischer Kontakt zwischen Mutter und Baby, die Empfänglichkeit der Mutter für die Signale ihres Babys sowie die Fähig­keit auf jene richtig zu reagieren sind entscheidend. Zusätzlich ist eine Umgebung, „die so reguliert ist, dass das Baby die Konsequenzen seiner eigenen Handlungen spürt“ (Bowlby 1975: 315) wesentlich. Zuletzt fördert das gegenseitige Vergnügen zwischen Mutter und Kind eine beidseitige sichere Bindung. Sind alle diese Bedin­gungen erfüllt, sind sowohl die Mutter als auch das Kind aktiv und glücklich und somit kann eine sichere Bindung entstehen (vgl. Bowlby 1975: 315,316). Positive Entwicklungsergebnisse fördern demnach die Bindungssicherheit (vgl. Egeland 2002. In: Brisch et al.: 311).

Generell wird bei fast allen Säuglingen innerhalb der ersten zwölf Monate ihres Lebens ein starkes Band zur Mutterfigur entwickelt, wenn die vorangegangenen Prozesse und Kriterien erfüllt werden (vgl. Bowlby 1975: 171).

Doch wieso ist eine sichere Bindung so wichtig? Dies soll im nächsten Kapitel nä­her beleuchtet werden.

2.3 Warum ist eine sichere Bindung notwendig?

Die Funktion einer sicheren Bindung wurde im Laufe der Zeit und der Entwicklung der Bindungsforschung neu überdacht. Während die Sekundärtriebtheorie noch das Konzept vertrat, dass die Bindung zwischen Bindungsperson und Kind nur aus dem Bedürfnis nach Nahrung besteht, war John Bowlby im Jahr 1964 schon ganz ande­rer Meinung. Er behauptete, dass das Bindungsverhalten des Menschen zur Sicher­heit des Kindes beiträgt. Die Funktion einer sicheren Bindung sei folglich „das Schützen und Beschütztwerden vor Raubtieren“ (Bowlby 1964. In: Bowlby 1975: 212). Murphy bestätigte diese Aussage, indem er schrieb: Eine sichere Bindung „gibt dem Kind die Gelegenheit, von der Mutter verschiedene Tätigkeiten zu lernen, die für das Überleben notwendig sind“ (Murphy 1964. In: Bowlby 1975: 212).

Die Auffassung von sicherer Bindung als Schutzfaktor hat sich bis heute durchge­setzt. Die im Säuglingsalter entwickelte sichere Bindungsqualität zu einer Bin­dungsperson hat eine protektive Funktion für den gesamten Entwicklungsverlauf des Kindes. Zum einen werden durch die Bindung prosoziale Verhaltensweisen ge­fördert (vgl. Brisch 2009: 40,41). Brisch stellt dar, dass sicher gebundene Kinder mehr freundschaftliche Beziehungen haben und sich häufiger in Gruppen aufhalten. Außerdem wurde festgestellt, dass sie weniger aggressiv, jedoch kreativer, flexibler und ausdauernder sind und schneller Lösungen zu Problemen finden (vgl. Brisch 2010: 53). Zum anderen kann eine gewisse psychische Stabilität erreicht werden. Wenn ein Kind in seiner frühen Kindheit über eine längere Zeit eine sichere Bin­dung erfährt, kann dies im späteren Leben vor Psychopathologie7 schützen (vgl. Brisch 2009: 40,41). Ein sicherer Bindungsstatus gilt somit als eine wichtige Vo­raussetzung für die spätere gesunde psychische Entwicklung (vgl. Cierpka 2012: 66). Es wurde ebenfalls wissenschaftlich bewiesen, dass die Bindungssicherheit als Schutzfaktor das Kind vor negativen Auswirkungen späterer Belastungen schützt (vgl. Egeland 2002. In: Brisch et al.: 312; 314).

Ein weiterer grundlegender Aspekt für die Notwendigkeit einer sicheren Bindung ist, dass jene die Grundlage zur Erkundung bildet. Das Bindungsbedürfnis eines jeden Individuums steht in Beziehung mit dem Erkundungsbedürfnis beziehungs­weise Explorationsverhalten. Beide Bedürfnisse aktivieren sich gegenseitig. Das heißt, dass eine sichere Bindung das Kind dazu in die Lage versetzt, seine Umwelt zu erkunden (vgl. Brisch 2010: 17). Wenn ein Kind sicher gebunden ist, ist es emo­tional ausgeglichen und kann somit intensiv seine Umwelt erkunden, wobei seine Bindungsperson als sichere Basis dient. Durch die emotionale Ausgeglichenheit und das Sicherheitsgefühl wird das Erkundungsverhalten des Kindes aktiviert (vgl. Cierpka 2012: 59). Das Kind kann nur etwas Neues lernen, zum Beispiel im Kin­dergarten oder in der Schule, wenn es sich emotional sicher fühlt. Wenn dem nicht so ist und das Kind Angst hat, werden dessen Fähigkeiten, die das Gedächtnis und die Erinnerung betreffen, eingeschränkt (vgl. Brisch 2010: 27; 29). Der Aspekt der Bindung als Grundlage für Erkundungen des Kindes steht somit in einem engen Zusammenhang mit der Bindung als Sicherheitsbasis.

„Der Sicherheitskreis beschreibt, wie Kinder zwischen der sicheren emo­tionalen Basis bei ihren Eltern und der Erkundung der Umwelt 'ihre Kreise ziehen'. “ (Brisch 2010: 145)

So kreisen sicher gebundene Kinder immer zwischen ihrer sicheren Basis und den Erkundungen und können jederzeit bei Situationen der Angst oder Gefahr zu ihren Bindungspersonen Zuflucht finden. In einem vollständigen Sicherheitskreis ist es dem Kind aufgrund gewonnenen Urvertrauens möglich, Explorationen und Welter­kundungen zu unternehmen (vgl. Brisch 2010: 145).

Eine weitere Funktion von sicherer Bindung ist das Erlernen von Selbstregulation. Säuglinge können erlebten Stress nicht selbst regulieren und brauchen aus diesem Grund Fremdregulation durch eine Bindungsperson. Durch häufiges Erleben von Fremdregulation lernt das Kind mit der Zeit seinen Stress selbst zu regulieren (vgl. ebd.: 38).

Des Weiteren stellt eine sichere Bindung die Grundlage für eine spätere kompetente Lebensbewältigung dar. Insbesondere in Bezug auf die soziale Kompetenz des Menschen hat sie große Wirkung (vgl. Egeland 2002. In: Brisch et al.: 312). Eine sichere Bindung gehört zu den wichtigsten Prinzipien und Bedürfnissen für die Ent­wicklung eines Kindes. Sie bildet unter anderem die Grundlage dafür, dass das Kind sich im Erwachsenenalter auf Beziehungen einlassen und die Bedürfnisse des eige­nen Kindes erkennen kann (vgl. Brisch 2010: 20).

In Bezug auf die Fähigkeiten eines Kindes, wurde festgestellt, dass sicher gebun­dene Kinder bessere Leistungen zeigen als unsicher gebundene Kinder. Außerdem sind sie sensibel und zeigen größere Empathie gegenüber anderen Menschen (vgl. Kennell 2007. In: Brisch/ Hellbrügge: 168). Eine sichere Bindung stellt daher ein stabiles Fundament für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung dar (vgl. Brisch 2010: 53).

Nachdem das Thema einer ,sicheren Bindung‘ vertieft wurde, wird im folgenden Kapitel 2.4 die Rolle der PädagogInnen als ,fremde‘ Personen von außen aus ver­schiedenen Positionen analysiert und auf die zuvor thematisierte Bindung zwischen Mutter und Kind bezogen. Dabei werden lediglich die relevanten Aspekte, bezogen auf die Fragestellung dieser Arbeit weiter vertieft.

2.4 Die Rolle von Ersatzbindungspersonen

„Und wenn eine Mutter ihr Baby einem Kindermädchen völlig überlässt, sollte ihr klar sein, dass in den Augen ihres Kindes, das Kindermädchen die wirkliche Mutter sein wird und nicht die Mammi.“ (Bowlby 1958. In: Ahnert 2010: 114)

In der klassischen Bindungstheorie vertrat Bowlby die Meinung, dass die Trennung eines Kindes von der Mutter in jeglicher Hinsicht äußerst ungünstig für die Bin­dungsentstehung ist (vgl. Ahnert 2010: 166). Die Frage nach einer Ersatzbindungs­person gestaltet sich seitdem schwierig und gelangt immer wieder in die Diskussion der Gesellschaft (vgl. Bowlby 1975: 281).

Im klassischen Sinne spielt die Rolle der PädagogInnen als ,fremde‘ Person von außen eher in der Fremdbetreuung von Kindern eine Rolle. Fremdbetreuung, wie zum Beispiel durch BabysitterInnen, Familienmitglieder, Tagesmütter, der Krippe oder ein Au-Pair, ermöglicht es den Eltern beispielsweise Dingen ohne ihre Kinder nachzugehen. Bei jeder Art von Fremdbetreuung ist eine große emotionale Fein­fühligkeit und eine stufenweise Eingewöhnung für den Aufbau einer sicheren Bin­dung zum Kind notwendig (vgl. Brisch 2010: 133-136).

Wie schon erwähnt, spielt auch bei der Fremdbetreuung die Feinfühligkeit wieder Mals eine entscheidende Rolle beim Aufbau einer sicheren Bindung. Feinfühlige Personen sind für Kinder zugänglich, wodurch eine sichere Bindungsbeziehung überhaupt möglich ist. Dennoch können diese Außenpersonen nicht von den bereits vorhandenen, sicheren Bindungserfahrungen der Kinder profitieren. Sie müssen sich selbst ihre eigene Bindung zum Kind aufbauen (vgl. Ahnert 2010: 124,125). Für natürliche Trennungen, wie das nächtliche Ablegen des Babys oder auch das Abgeben des Kindes in eine Fremdbetreuung für eine bestimmte Zeit, muss fol­gende Voraussetzung bestehen. Es sollte immer eine sichere Bindung zu den Eltern gegeben sein, damit das Kind auf dieser sicheren Basis zusätzliche Bindungen auf­bauen kann (vgl. ebd.: 141). Kinder gehen außerdem eher bedeutende Bindungen zu fremden Personen oder PädagogInnen ein, wenn die Betreuung des Kindes lang­anhaltend ist (vgl. ebd.: 115).

Ahnert schreibt bezüglich der Fremdbetreuung, dass hohe mütterliche Betreuungs­anteile nicht unbedingt eine bestmögliche Entwicklung des Kindes garantieren. Ganz im Gegenteil führt sie auf, dass isolierte Mutter-Kind-Situationen sich eher negativ auswirken (vgl. ebd.: 108). Ebenfalls fand Brisch heraus, dass ein vielfälti­ger und häufiger Wechsel der Betreuungssysteme im ersten Lebensjahr des Kindes Bindungsstörungen und Pseudo-Bindungsverhalten hervorrufen kann. Es kann ge­nauso wie eine Traumatisierung des Kindes dazu führen, dass das Kind sich nicht vertrauensvoll an Bindungspersonen wenden kann oder sich gegensätzlich an jede beliebige, momentan verfügbare Person wendet, um Hilfe von dieser zu bekommen (vgl. Brisch 2002. In: Brisch et al.: 358).

Auf Basis einer sicheren Bindung kann ein Kind zum Ende seines ersten Lebens­jahres leichter eine sekundäre Bindungsbeziehung zu anderen Personen aufbauen. Die Voraussetzungen hierbei sind identisch zur bereits beschriebenen primären Bindungsbeziehung eines Kindes (vgl. Brisch 2009: 77). Bezogen auf ErzieherIn­nen und Pflegepersonal in Betreuungseinrichtungen für Kinder heißt das, dass die Qualität dort, im Hinblick auf den Bindungsaufbau, eine große Rolle spielt (vgl. ebd.: 78).

Eine Studie von Susan Crockenberg im Jahr 1981 kam zu folgendem Ergebnis: Je mehr Unterstützung eine Mutter durch PädagogInnen oder Verwandte von außen erhält, desto besser ausgeprägt sind die Fürsorglichkeit der Mutter und die Bin­dungsqualität zwischen ihr und dem Kind. Die Mutter kann sich demnach besser entfalten und sich besser auf die Reaktionsmuster des Kindes einstellen (vgl. Ahnert 2010: 109). Eine weitere Studie von Carollee Howes fand heraus, dass die Bin­dungsqualität zwischen Kind und Außenperson beziehungsweise PädagogIn ein­richtungsabhängig ist. Auch wenn die pädagogische Fachkraft wechselt, ändert sich die Bindungsqualität kaum (vgl. ebd.: 131). Das Gesundheitsministerium der USA führte außerdem eine Studie durch, in der es feststellte, dass Betreuungsbedingun­gen nicht die Bindungssicherheit oder -qualität eines Kindes gefährden. Jedoch scheint eine Kombination aus schlechter mütterlicher Betreuung und schlechter nichtmütterlicher Betreuung besonders negative Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind zu haben (vgl. ebd.: 162; 170). Dieser Punkt könnte vor allem im Hinblick auf die Arbeit in der Mutter-Kind-Einrichtung im späteren Ver­lauf dieser Arbeit relevant werden.

Mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit, ist zusätzlich von Bedeutung, dass das Kind zwischen der Eltern-Kind-Bindung und der Bindung zur pädagogischen Fachkraft oder Außenperson unterscheidet. Die ,fremden[4] Personen haben somit einen anderen Stellenwert als die Eltern und die Bindungen unterscheiden sich in ihrer Qualität. In den meisten Fällen bleiben die Eltern oder Hauptbindungsperso­nen die sozialen Bezugspersonen. Der Schwerpunkt der PädagogInnen-Kind-Be- ziehung liegt in der Fremdbetreuung meistens auf Assistenz, Entwicklungsbeglei­tung und Explorationsunterstützung. Nach Ahnert werden immer Diskrepanzen zwischen der Eltern-Kind-Bindung und PädagogInnen-Kind-Bindung bestehen bleiben, die nicht durch den alltäglichen Umgang aufgehoben werden können (vgl. ebd.: 264; 268).

Nach einem umfassenden Einblick in die bindungstheoretischen Ansätze, befasst sich das folgende Kapitel mit vollstationären Mutter-Kind-Einrichtungen im Allge­meinen, um eine Grundlage für den späteren Bezug auf die ,Alte Mühle[4] herzustel­len.

3. Vollstationäre Mutter-Kind-Einrichtung

In Bezug auf die Fragestellung „Inwieweit gelingt es mit einem Programm wie SAFE® die Bindung zwischen Mutter und Kind in einer vollstationären Mutter­Kind-Einrichtung zu unterstützen?“ sind die Definition einer vollstationären Mut­ter-Kind-Einrichtung, eine kurze Darstellung der rechtlichen Grundlagen sowie der Ansätze und Aufgaben vorab notwendig.

3.1 Vorüberlegungen

Schon seit geraumer Zeit herrscht der Gedanke einer eigenständigen „Mütterretho- rik“ (Brändel/Hüning u.a. 2010. In: Böllert/Peter 2012: 184) in der Gesellschaft vor. Frauen und insbesondere Müttern werden häufig bestimmte Funktionen und Erwar­tungen zugeschrieben. Diese normativen Erwartungen haben sich heutzutage mo­dernisiert und ihre neue Rolle wird heute als „Doppelorientierung der Frau“ (Nave- Herz 2007. In: Brändel/Hüning u.a. 2012. In: Böllert/Peter: 186) beschrieben. Auch wenn das Ziel der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nun im Mittelpunkt steht, wird die Erziehungs- und Familienarbeit überwiegend von weiblichen Personen ausgeführt. Der Hauptfokus liegt dort auf den Müttern. Der Großteil der Gesell­schaft geht davon aus, dass jene aufgrund ihrer Hauptverantwortung für die Bildung und Erziehung der Kinder auch alleinig für das mögliche Scheitern verantwortlich sind (vgl. Brändel/Hüning u.a. 2012. In: Böllert/Peter: 181-182; 186). Daher wur­den vollstationäre Mutter-Kind-Einrichtungen eingeführt, um insbesondere den Müttern zu helfen, die ungünstige Rahmenbedingungen oder defizitäre Erziehungs­kompetenzen aufweisen (vgl. ebd.: 181).

Nach einer kurzen Einführung in die Grundidee einer Mutter-Kind-Einrichtung, folgt nun eine umfassende Definition dieses Begriffes.

3.2 Definition des Begriffes , Vollstationäre Mutter-Kind-Einrich- tung‘

„Einrichtungen, in denen alleinstehende Mädchen und Frauen, die im Zu­sammenhang mit ihrer Schwangerschaft oder ihres Mutterseins in eine Not­situation geraten sind, eine vorübergehende Wohn- und Lebensmöglichkeit sowie Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte finden.“

(Höltershinken/Hecker 1990: 55)

Dies ist eine mögliche Definition einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung. Vollstationär bedeutet in diesem Sinne, dass die Bedürftigen sowohl am Tag als auch in der Nacht, demnach 24 Stunden an jedem Tag im Jahr, betreut werden (vgl. Kunkel/Kepert 2016: 290). Mutter-Kind-Einrichtungen können in verschiedenen Einrichtungsformen vorliegen. Wohngemeinschaften, Wohnprojekte, ausgewie­sene Abteilungen für Mutter und Kind sowie Appartementhäuser können die Hilfe für Mutter und Kind beinhalten. Wenn von einer vollstationären Mutter-Kind-Ein­richtung gesprochen wird, ist in der Regel ein sogenanntes Mutter-Kind-Heim ge­meint, das unter den Begriff der Jugendhilfeeinrichtungen fällt. Die Einrichtungen werden immer über Trägerorganisationen betrieben und verwaltet. Träger können sowohl Kommunen, als auch private Vereine wie beispielsweise Sozialdienste und Caritasverbände sein (vgl. Höltershinken/Hecker 1990: 55,56).

Neben einer Mutter-Kind-Einrichtung gibt es zusätzlich eine Vielzahl anderer mög­licher Hilfeformen zur sozialen Unterstützung von Mädchen und Frauen mit Kind (vgl. ebd.: 384). Der Fokus dieser Arbeit liegt jedoch alleinig auf vollstationären Mutter-Kind-Einrichtungen.

Generell ist die Aufenthaltsdauer in einer vollstationären Einrichtung auf lange Zeit angesetzt, jedoch nicht länger als acht Jahre. Andererseits könnte nicht mehr von einer vorübergehenden sozialpädagogischen Betreuung gesprochen werden. Zent­ral ist in jeder Einrichtung, dass ein pädagogisches Konzept besteht, nach dem ge­handelt wird. Dieses Konzept umfasst zudem die Möglichkeiten und Eigenarten der jeweiligen Einrichtung. Es bezieht sowohl das Personal als auch die jeweilige Ziel­gruppe mit ein. Je nach Problemlage und Bedürfnissen der Frau, werden jene in einer für sie passenden Einrichtung mit entsprechendem Konzept untergebracht. Jedoch ist eine gewisse Flexibilität in der Konzeptgestaltung wichtig (vgl. ebd.: 389; 392).

„Im Milieu haben viele der Klientinnen innerhalb der eigenen Herkunftsfa­milie nichts oder nicht viel über den Umgang mit Kindern mitbekommen; es wird sich nicht mit den Herausforderungen von Elternschaft auseinander gesetzt.“ (Interview Ursula L. In: Brändel/Hüning u.a. 2012. In: Böllert/Pe- ter: 200)

Mutter-Kind-Einrichtungen oder -Heime richten sich an Mütter oder schwangere Frauen mit „fehlenden sozialen oder familiären Ressourcen bzw. persönlichem Be­lastungshintergrund“ (Stucke 2004: 39. In: Cierpka 2012: 341). Die Zielgruppe ei­ner vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung besteht, wie schon benannt, aus Frauen und Mädchen mit ihren Kindern in verschiedensten Notlagen. Die Leben der Betroffenen sind meistens von Arbeitslosigkeit, psychischen und somatischen Erkrankungen, Misshandlungserfahrungen oder milieuspeziellen Erziehungshal­tungen betroffen. Des Weiteren implizieren die Biografien der Mütter oft wieder­kehrende Abbrüche und belastende Ereignisse (vgl. Brändel/Hüning u.a. 2012. In: Böllert/Peter: 200). Die Zielgruppe, die für die spätere Forschungsarbeit im Fami­lienhaus ,Alte Mühle‘ genutzt wurde, sind Teenagereltern. Generell bei allen Müt­tern, aber besonders bei den Jugendlichen, wird ein erhöhter Unterstützungsbedarf benötigt. Die PädagogInnen stehen im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung der Mütter über ihr Leben und der Herausforderung, die Betroffenen erreichen zu können (vgl. Cierpka 2012: 334). In diesem Sinne spielt „Prävention als zentrales Strukturmerkmal einer modernen, weiter entwickelten Kinder- und Jugendhilfe“ (Brändel/Hüning u.a. 2012. In: Böllert/ Peter: 205) eine große Rolle. Die stationä­ren Hilfen zählen genauso wie präventive Hilfsangebote zum multiprofessionellen Unterstützungsangebot für jugendliche Mütter (vgl. Cierpka 2012: 337,338). Da­rauf wird im vierten Kapitel dieser Arbeit vertieft eingegangen (siehe Kapitel 4). Der folgende Abschnitt thematisiert nun die rechtlichen Grundlagen, nach denen in einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung gearbeitet und gehandelt wird.

3.3 Rechtliche Grundlagen

Die rechtliche Grundlage für die Unterbringung von Personen in einer Mutter­Kind-Einrichtung bildet §19 SGB VIII. In diesem Paragraphen steht die gemein­same Wohnform für Mütter und Kinder beziehungsweise Väter und Kinder gere­gelt.

Die Hilfe wird für die Betroffenen angeboten, wenn sie auf Grund ihrer Persönlich­keitsentwicklung der Pflege und Erziehung des Kindes nicht gerecht werden kön­nen. Die gemeinsame Wohnform von Mutter und Kind steht unter der Bedingung, dass die Mutter entweder schwanger in die Einrichtung kommt oder das Kind unter sechs Jahre alt ist. Außerdem ist im genannten Paragraphen festgelegt, dass die Mutter bei ihrer beruflichen Ausbildung, Berufstätigkeit oder der Suche danach un­terstützt wird. Des Weiteren beschreibt der dritte Absatz des Paragraphen die Leis­tung, die die Mutter-Kind-Einrichtung ausüben soll. Für die betreuten Personen sol­len der notwendige Unterhalt und die Krankenhilfe geboten und die Kosten für diese vom Jugendamt getragen werden (vgl. Stascheit 2015: 1289-1290). Dabei ist zu beachten, dass

„[b]ei einer gemeinsamen Betreuung von Mutter und Kind [...] ... für jede einzelne Person einzeln zu prüfen [ist], welche Hilfe [...] zu gewähren ist. Dabei ist . [.] vom zuständigen Träger zu entscheiden, ob eine ambu­lante Hilfe ausreicht oder eine stationäre Hilfe erforderlich ist.“ (Deutscher Verein 1988: 14. In: Höltershinken/Hecker 1990: 87,88)

Aus diesen Leistungen lassen sich zwei Hauptziele für ein Mutter-Kind-Heim ab­leiten, auf die im folgenden Kapitel detaillierter eingegangen wird. Zum einen soll das Mittel der Mutter-Kind-Einrichtung eine Hilfe zur Erziehung darstellen. Dies ist eng mit dem §27 SGB VIII ,Hilfen zur Erziehung[4] verbunden. Die Hilfe zur Erziehung wird dann geleistet, wenn ein entsprechender erzieherischer Bedarf vor­handen ist. Es ist demnach dann notwendig, wenn die Betreuung und Versorgung des Kindes durch die Mutter alleine nicht ausreicht, sondern eine „zusätzliche be­gleitende Beaufsichtigung und Betreuung des Kindes durch die Einrichtung erfor­derlich sind“ (Höltershinken/Hecker 1990: 88). Die andere Hauptfunktion einer Mutter-Kind-Einrichtung soll die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten sein. Die Betroffenen werden durch ihre sozialen Schwierigkeiten, vor allem an der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft gehindert. Die Mütter benötigen eine Hilfestellung zur Überwindung dieser Probleme, da sie es aus eige­ner Kraft nicht schaffen könnten (vgl. Höltershinken/Hecker 1990: 88,89).

Höltershinken und Hecker betonen außerdem, dass die gesamte Rechtsgrundlage für Mutter-Kind-Einrichtungen immer mit den Merkmalen Volljährigkeit, Minder­jährigkeit und Finanzierung des Aufenthaltes verknüpft ist (vgl. ebd.: 71).

Die pädagogische Arbeit in der , Alten Mühle‘ basiert vor allem auf den Gesetzen §19 SGB VIII, §27 SGB VIII und §34 und §35a SGB VIII. Die speziellen rechtli­chen Grundlagen und die damit verbundenen Arbeitsweisen werden im fünften Ka­pitel dieser Arbeit konkretisiert (siehe Kapitel 5.2 und 5.3).

Welche Ansätze beinhaltet eine vollstationäre Mutter-Kind-Einrichtung und wel­che Aufgaben erfüllt jene? Damit beschäftigt sich der nachfolgende Abschnitt.

3.4 Ansätze und Aufgaben

Die praktisch-pädagogischen Ansätze in einem Mutter-Kind-Heim lassen sich wie folgt beschreiben. Die Betroffenen sollen Selbstständigkeit und eine Lebens- und Alltagsbewältigung erlernen. Die Einrichtung soll Hilfen bieten, um die Schwan­gerschaft und das Muttersein bewältigen zu können. Außerdem steht die Betreuung und Förderung der Kinder als eigenständige Aufgabe im Zentrum des Geschehens (vgl. Höltershinken/Hecker 1990: 80). Wie im vorherigen Kapitel schon benannt, sollen die PädagogInnen in einer Mutter-Kind-Einrichtung die Mütter außerdem bei der Aufnahme und Fortführung von schulischen oder beruflichen Ausbildungen so­wie Erwerbstätigkeiten unterstützen. Des Weiteren sollen die persönlichen und psy­chischen Verhaltensprobleme der Mütter aufgearbeitet werden (vgl. ebd.: 81). Die Ursachen des psychischen Leidens sollen erkannt und bewusst gemacht werden. Neben der Stärkung der Selbstwahrnehmung und Stärkung des Selbstwertgefühls der Mutter soll das weitere therapeutische Verfahren geklärt und vermittelt werden (vgl. ebd.: 258). Zusätzlich soll den Betroffenen dabei geholfen werden, Probleme, die die Familiengeschichte, Elternbeziehung oder Partnerschaftsprobleme betref­fen, verarbeiten zu können (vgl. ebd.: 81). Zum Thema Partnerschaft und Sexualität gehören ebenfalls die Sexualaufklärung inklusive Klärung von Verhütungsfragen und die Entwicklung einer toleranten und verantwortungsvollen Haltung zur Part­nerschaft und Sexualität (vgl. ebd.: 257). Generell wird nach dem Ansatz gearbeitet, dass die PädagogInnen den Müttern „Hilfe zur Selbsthilfe“ (Höltershinken/Hecker 1990: 81) bieten und lehren (vgl. ebd.: 81).

Die Hilfe zur Selbsthilfe stellt eine zentrale und wichtige Aufgabe in einer vollsta­tionären Mutter-Kind-Einrichtung dar. Die Mütter sollen zu einem eigenverant­wortlichen Leben befähigt und ihre Selbstständigkeit demnach gefördert werden (vgl. ebd.: 80). Es soll, nach dem Prinzip „So viel Hilfe wie nötig und so wenig Hilfe wie möglich“ (Cierpka 2012: 343), sowohl Unterstützung als auch Autonomie ermöglicht werden (vgl. Cierpka 2012: 343). Sie sollen lernen Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen und die Wirtschafts- und Haushaltsführung sowie den Um­gang mit Behörden erlernen. Das Ziel ist es, dass die Mütter ihren Tagesablauf selbst strukturieren können (vgl. Höltershinken/Hecker 1990: 257).

Die Vermeidung von Obdachlosigkeit der KlientInnen und die Überwindung von kurzfristig auftretenden Notlagen im Zusammenhang mit Wohnbedingungen ist eine weitere Aufgabe einer Mutter-Kind-Einrichtung. Wesentlich ist außerdem, dass die Mutter und ihr Kind nicht getrennt werden und ein Schutzraum für beide bereitgestellt wird. Somit kann das Wohnen in einem Mutter-Kind-Heim als Alter­nativangebot zum Schwangerschaftsabbruch gesehen werden. Die Einrichtungen leisten infolgedessen einen wertvollen Beitrag zum Schutz eines ungeborenen Le­bens (vgl. ebd.: 80).

Ganz zentral ist in einer Mutter-Kind-Einrichtung die pädagogische Zielsetzung, dass eine positive Beziehung zwischen Mutter und Kind sowohl entwickelt als auch gefördert werden soll (vgl. ebd.: 256). Neben dem übergreifendem Ziel der Unter­stützung der persönlichen Entwicklung der Mutter und der Alltagsbewältigung mit dem Kind, soll somit die Mutter-Kind-Interaktion gezielt gefördert werden (vgl. Cierpka 2012: 341). Dieses Ziel ist im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit von besonderer Relevanz und wird im späteren Verlauf erneut aufgegriffen.

Im Anschluss an das Kapitel über vollstationäre Mutter-Kind-Einrichtungen folgt nun eine ausführliche Erläuterung und Analyse bindungsunterstützender bezie­hungsweise -stärkender Programme. Es wird näher auf die Programme SAFE®, Marte Meo, STEEP™ und ,Das Baby verstehen ‘ sowie auf die Inhalte, Methoden und Ziele dieser Kurse eingegangen.

4. Programme für die ,Bindungsstärkung‘

So groß wie heute war der Unterstützungsbedarf von Eltern noch nie (vgl. Tschöpe- Scheffler 2003: 9). Circa eine von 100 Müttern zeigt eine Abneigung beziehungs­weise Zurückweisung oder Wut gegenüber ihrem Kind. In diesen Fällen besteht eine sehr hohe Chance einer Kindesmisshandlung oder einer Bindungsstörung. Nach Brisch gerät die Störung in der Mutter-Kind-Beziehung oft in den Hinter­grund der Gesellschaft, obwohl sie von sehr hoher Relevanz und Wichtigkeit ist (vgl. Brisch/ Hellbrügge 2007: 254).

Im folgenden Kapitel wird zunächst auf das Netzwerk der ,Frühen Hilfen‘ einge­gangen, welches die Grundlage für viele bindungsunterstützende Programme bil­det.

4.1 Das Netzwerk ,Frühe Hilfen[4]

„Kinder mit sozialen und gesundheitlichen Risiken brauchen Förderung von Anfang an. Dazu müssen Hilfen für sozial benachteiligte und betroffene Familien früher, verlässlicher und vernetzter in der Lebenswelt bzw. dem Stadtteil verankert werden.“ (Bundesregierung 2005: 114f. In: Buschhorn 2012. In: Böllert/ Peter: 212).

Das differenzierte Netzwerk ,Frühe Hilfen‘ beinhaltet verschiedene Systeme wie das Jugendamt, die freien Träger, das Gesundheitswesen, die Bildungs- und Betreu­ungseinrichtungen für Familien und das Familiengericht. Diese Systeme arbeiten zusammen, um mithilfe der Verzahnung der spezifischen Kompetenzen und Pro­fessionen psychosoziale Risiken früher zu erkennen und geeignete Hilfen bereit­stellen zu können (vgl. Landesverband donum vitae NRW e.V. o.J.: 2). Eine multi­professionelle Kooperation ist demnach von großer Bedeutung in diesem Feld (vgl. Buschhorn 2012. In: Böllert/ Peter: 216). Bei den Betroffenen liegen bereits Belas­tungen oder Gefährdungslagen, wenn auch nur in geringem Maße, in irgendeiner Art vor, wenn ,Frühe Hilfen‘ angewandt werden müssen (vgl. ebd.: 214). Die Ziel­gruppe der Hilfe umfasst infolgedessen Schwangere, Väter und Mütter mit Kindern zwischen null und drei Jahren, welche häufig in Problemlagen stecken (vgl. ebd.: 216). ,Frühe Hilfen‘ wollen Gefahren von Vernachlässigung und Misshandlung entgegen wirken und zu einer Förderung der sowohl körperlich, als auch psychi­schen und sozialen gesunden Entwicklung verhelfen. Sie stellen die Stärkung der Eigenverantwortung der Eltern und das Recht des Kindes auf eine positive Ent­wicklung in den Mittelpunkt (vgl. ebd.: 2).

[...]


1 In dieser Bachelorarbeit wird ausgegangen von Bindung „als emotionales Band zwischen Kind und einer oder mehreren vertrauten Bezugspersonen“ (Cierpka 2012: 59)

2 In dieser Bachelorarbeit sollen unter dem Begriff ,Mutter‘ die Bindungspersonen des Kindes mit eingeschlossen werden.

3 In dieser Bachelorarbeit wird unter Bindungsverhalten „das Aufsuchen und Aufrechterhalten der Nähe eines anderen Lebewesens“ (Bowlby 1975: 186) verstanden.

4 Für nähere Informationen zum Versuch vergleiche Bowlby 1975: 204f.

5 Für mehr Informationen zum Ablauf des Fremde-Situationen-Testes vergleiche Main 2002. In: Brisch et al.: 190f.

6 Feinfühligkeit wird in dieser Bachelorarbeit definiert als folgendes (elterliches) Verhalten: „Häu­figer und langanhaltender physischer Kontakt zwischen Mutter und Baby, die Empfänglichkeit der Mutter für die Signale ihres Babys sowie die Fähigkeit auf jene richtig zu reagieren“ (Egeland 2002. In: Brisch et al.: 311).

7 Für nähere Informationen vergleiche Brisch 2009: 41f.

Excerpt out of 119 pages

Details

Title
Bindungsarbeit mit Mutter und Kind
Subtitle
Am Beispiel des Programms SAFE in einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung
College
University of Hildesheim  (Erziehungswissenschaft)
Grade
1,0
Year
2018
Pages
119
Catalog Number
V509381
ISBN (eBook)
9783346126191
ISBN (Book)
9783346126207
Language
German
Keywords
Erziehungswissenschaft, Erziehungswissenschaften, Mutter, Kind, Bindung, Mutter-Kind-Einrichtung, SAFE, Bindungsarbeit, Bindungsprogramm, Mutter-Kind-Bindung, vollstationär, Frühe Hilfen, Beziehung
Quote paper
Anonymous, 2018, Bindungsarbeit mit Mutter und Kind, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/509381

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