Die Debatte um eine "weibliche Moral" - Gertrud Nunner-Winklers Kritik an der These einer geschlechtsspezifischen Moral


Hausarbeit, 2002

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsangabe

Einleitung

1. Die Einführung einer „weibliche Moral“
1.1 Kohlbergs Vorarbeit
1.2 Gilligan
1.2.1 Die provokante These
1.2.2 Verhältnis von Gerechtigkeit und Fürsorge
1.2.3 Erklärungsansatz

2. Gertrud Nunner-Winklers Gegenposition
2.1 Nunner-Winklers Moralverständnis
2.2 Erfüllung von Rollenerwartung
2.3 Aufbau von moralischer Motivation
2.4 Verständnis als Sondermoral
2.5 Der Nutzen für die Frauenbewegung

3. Empirische Untersuchungen
3.1 Gertrud Nunner-Winkler
3.2 Martin Senti

4. Schlussbetrachtung

Literatur

Einleitung

Die Diskussion um die Existenz einer weiblichen Moral wurde von Untersuchungen der Amerikanerin Carol Gilligan entfacht, die sie in den späten 70er und frühen 80er Jahren veröffentlichte.[1] Sie stellte in diesen Schriften eine weiblich präferierte Fürsorgemoral einer von Männern vorgezogenen Gerechtigkeitsmoral gegenüber.[2] Diese These besaß genügend Zündstoff, um Anstoß für eine weitverzweigte Debatte zu werden. Der Frage, warum sie in diesem Maße die Gemüter erregte, werde ich am Beispiel Gertrud Nunner-Winkler nachgehen. Diese war und ist in Deutschland Gilligans schärfste und engagierteste Kritikerin. Sie publizierte zahlreiche eigene Untersuchungen, die die Zwei-Moralen-These widerlegen.

Doch auch außerhalb der Wissenschaft wurde die Theorie von den geschlechtsspezifischen Moralen ausführlich thematisiert.[3] Deren Nutzen für die Frauenbewegung und die gesellschaftlichen Folgen werden in der vorliegenden Arbeit erörtert. Einen Ausblick in die Zukunft bietet der Schweizer Wissenschaftler Martin Senti. Er untersuchte nicht nur die Differenzen zwischen den Geschlechtern, sondern auch die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Frauen.[4] Senti stellte zudem die Frage, was künftig die Aufgabe der Frauenpolitik sein wird bzw. sein muss,[5] wobei deren einführende Beantwortung die Arbeit abrunden wird.

1. Die Einführung einer „weiblichen Moral“

1.1 Kohlbergs Vorarbeit

Ausgangspunkt dieser weitverzweigten Erörterung war ein Stufenmodell, das Lawrence Kohlberg aus Untersuchungen der Entwicklung von moralischem Urteilen 1955 / 56 erstellt hatte. Er sah als Grundvoraussetzung gegeben, dass ein Kind nicht passiv lebt, sondern ständig aktiv im Austausch mit seiner Umwelt und Kultur steht und dadurch sein Verständnis für gut und böse ununterbrochen erweitert und vertieft wird. Dies bedeutet, dass man sich fortwährend weiterentwickelt und sich somit, nach Kohlbergs Sicht, „verbessern“ kann. Sein Stadienschema teilte er in sechs Stufen, wobei höhere Stufen die jeweils vorangegangenen integrieren.[6] Besondere Kritik erregten seine Stufen 3 und 4, diese wurden somit zum Ansatz für die Diskussion um eine geschlechtsspezifische Moral.[7] In Stufe 3 geht es um Rücksichtnahme und Hilfe in interpersonellen Beziehungen,[8] gut ist, was „der eigenen Bezugsgruppe nutzt“. Menschen, denen man nahe steht, bringt man Anteil und gute Absichten entgegen, ebenso wie „Vertrauen, Loyalität, Respekt und Dankbarkeit“[9]. Stufe 3 formuliert somit die Perspektive einer Kleingruppe. Zur Verdeutlichung: Im bekannten „Heinz-Dilemma“[10] würde eine Person auf Stufe 3 wie folgt argumentieren: „Wenn ich jemanden wirklich mag, ist es richtig, ihm in allen erdenklichen Notlagen zu helfen.“[11]

Stufe 4 jedoch stellt vollkommen unterschiedliche Argumente in den Vordergrund einer moralischen Entscheidungsfindung. Hier wird als gut erkannt, was in der eigenen Gesellschaft als gut angesehen wird. Dies wird durch formale Gesetze oder informelle, jedoch nicht unbedeutendere Pflichten ausgedrückt.[12] Aufgrund solcher abstrakten Gerechtigkeitsbestimmungen würde man im Heinz-Dilemma unterschiedlich zu Stufe 3 folgern: „Bestimmt steht irgendwo ein Gesetz, das solche Ausnahmesituationen vorsieht und zumindest mildernde Umstände geltend macht.“[13] Stufe 4 bewegt sich von der Stufe der Gruppe (Stufe 3) auf die höhere Stufe der Gesellschaft.

Die Abfolge der Stufen geht einher mit einer zunehmenderen Erweiterung der Personen, die durch ein solches moralisches Urteil betroffen sind. Je höher sich die Person auf Kohlbergs Stadienschema befindet, desto mehr Menschen schließt sie in ihre Entscheidungsfindung ein. Da ein Merkmal von Moral die Unparteilichkeit ist, bedeutet dies, dass eine solche Erweiterung zugleich auch eine höhere Entwicklung, eine „Verbesserung“ ist.[14]

Kohlbergs Stufenschema sollte eine „rationale Rekonstruktion der Ontogenese von Gerechtigkeitsstrukturen“ sein, er ging also wie selbstverständlich von einer Gerechtigkeitsperspektive aus. Dies wurde dadurch unterstützt, dass er jenes Stufenmodell ausschließlich an weißen und vor Allem männlichen Kindern erstellt hatte.

1.2 Gilligan

1.2.1 Die provokante These

Doch Carol Gilligan, eine Mitarbeiterin Kohlbergs, fand bei eigenen Untersuchungen heraus, dass die moralische Entscheidung von Frauen einer „anderen Stimme“ gehorcht, als der Stimme der Gerechtigkeit.[15] Sie wollte darum diese übliche Sichtweise neu definieren als eine Art und Weise, moralische Dilemmata zu lösen.[16] Bei weiteren Untersuchungen ordnete Gilligan die Antworten von Frauen häufiger Stufe 3 zu, der nach Kohlbergs Stufenmodell weniger entwickelten, und Antworten von Männern häufiger Stufe 4, der „besseren“. Daraus schloss sie, dass es nicht nur geschlechtsspezifische Unterschiede in moralischen Deutungen gibt, sondern dass Frauen zusätzlich als moralisch unterentwickelt gelten.[17]

Gilligan griff die beiden moralischen Orientierungsmuster von Kohlberg auf und stellte die eher weiblich präferierte Fürsorgemoral alternativ der eher männlich präferierten Gerechtigkeitsmoral entgegen.[18] Sie folgerte, dass Frauen grundsätzlich moralische Konflikte lösen würden, indem sie sich verantwortungsbewusst an rücksichtsvollen Tugenden orientierten.[19] Kohlberg beschrieb dies als „persönliche Anteilnahme in zwischenmenschlichen Beziehungen“[20]. Es ginge Frauen darum, Leid für ihre Mitmenschen zu verhindern oder zumindest zu lindern. Anstatt sich die Frage zu stellen, „Was ist gerecht?“, würden sich Frauen eher auf „Wie soll man reagieren?“ konzentrieren.[21] Es ginge weniger um Rechte, Achtung (Goldene Regel) und „Pflichterfüllung in Institutionen“,[22] als um gegenseitiges Zuhören und Verstehen.[23]

Auch bekannte Philosophen übernahmen diese Haltung. Arthur Schopenhauer schrieb über die moralische Entscheidung: „Gerechtigkeit ist mehr die männliche, Menschenliebe mehr die weibliche Tugend.“[24] Friedrich Nietzsche fragte sich: „Können Frauen überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind zu lieben?“[25] Und auch Georg C. Lichtenberg machte sich Gedanken zu dieser Thematik: „Die Natur hat die Frauenzimmer so geschaffen, daß sie nicht nach Prinzipien, sondern nach Empfindung handeln sollen.“[26]

Zusätzlich zu den inhaltlichen Differenzen unterschied Gilligan beide Orientierungen auch formal voneinander. Fürsorge würde mit flexiblen, kontextsensitiven Überlegungen einhergehen und wäre dadurch von der jeweiligen Situation abhängig.[27] Auch würden Frauen positive Pflichten[28] sehr viel ausgedehnter, extensiver interpretieren als Männer.[29] Personen mit einer Gerechtigkeitsperspektive hingegen würden sich ausschließlich an abstrakte Rechte halten und rigide und situationsunabhängig urteilen. Somit entstand quasi eine Dreierkopplung von weiblich-fürsorglich-flexibel und männlich-gerecht-rigide.

[...]


[1] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Eine weibliche Moral? S. 417.

[2] Vgl.: C. Gilligan: Moralische Orientierung und moralische Entwicklung. S. 80.

[3] Vgl.: D. Horster: Der Streit um die „weibliche Moral“ und die Entwicklung einer differenzierten Moralauffassung. S. 11f.

[4] Vgl.: M. Senti: Geschlecht als einheitsstiftende Kategorie? S. 685.

[5] Vgl.: Ebd. S. 707.

[6] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen. S. 9f.

[7] In Kohlbergs Stufe 1 erscheint dies als gut, was belohnt und jenes als schlecht, was bestraft wird. Stufe 2 entwickelt sich sohingehend, dass als gut erachtet wird, was nicht nur mir, sondern gelegentlich auch anderen nutzt. In den Stufen 5 und 6 schließlich ist die Orientierung an selbstgewählten und universalistischen Prinzipien wie Gleichheit, Achtung und Gerechtigkeit gut (Vgl.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen. S. 10).

[8] Vgl.: D. Horster: Der Streit um die „weibliche Moral“ und die Entwicklung einer differenzierten Moralauffassung. S. 9.

[9] G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen. S. 11.

[10] Eine an Krebs erkrankte Frau könnte durch ein bestimmtes Medikament geheilt werden. Der Apotheker, der jenes Arzneimittel entdeckt hat, verlangt jedoch ein Vielfaches des Herstellungspreis. Heinz, der Ehemann der Frau, versucht, genug Geld aufzutreiben, erreicht dies aber nicht. Er will den Apotheker dazu bringen, dass er den Rest später bezahlt. Dieser will ihm das Medikament unter solchen Umständen nicht verkaufen, da er damit reich werden möchte. Der Dilemmainhalt besteht nun darin, ob Heinz in die Apotheke einbrechen und das Medikament stehlen soll oder nicht.

[11] D. Horster: Der Streit um die „weibliche Moral“ und die Entwicklung einer differenzierten Moralauffassung. S. 8f.

[12] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen. S. 10.

[13] D. Horster: Der Streit um die „weibliche Moral“ und die Entwicklung einer differenzierten Moralauffassung. S. 10.

[14] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen. S. 10.

[15] Vgl.: D. Horster: Der Streit um die „weibliche Moral“ und die Entwicklung einer differenzierten Moralauffassung. S. 8f.

[16] Vgl.: C. Gilligan: Moralische Orientierung und moralische Entwicklung. S. 80.

[17] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen. S. 11.

[18] Kay Johnston erhielt bei ihrer eigenen Untersuchung ähnliche Ergebnisse. Sie forschte nach der Beziehung zwischen moralischer Orientierung und Problemlösungsstrategien. Auch sie fand heraus, dass Mädchen spontan eher Fürsorgelösungen bevorzugten und Jungen eher Gerechtigkeitslösungen präferierten (Vgl.: C. Gilligan: Moralische Orientierung und moralische Entwicklung. S. 91).

[19] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von de zwei Moralen. S. 13.

[20] Ebd. S. 11.

[21] Vgl.: C. Gilligan: Moralische Orientierung und moralische Entwicklung. S. 84.

[22] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von de zwei Moralen. S. 11.

[23] Vgl.: C. Gilligan: Moralische Orientierung und moralische Entwicklung. S. 85.

[24] Zit. n.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen. S. 9.

[25] Zit. n.: Ebd. S. 9.

[26] Zit. n.: Ebd. S. 9.

[27] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen. S. 13.

[28] Positive Pflichten: Ausführung von Handlung (Du sollst, musst...!), negative Pflichten: Unterlassung von Handlung (Du sollst, darfst... nicht !)

[29] Vgl.: G. Nunner-Winkler: Gibt es eine weibliche Moral? S. 149.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Debatte um eine "weibliche Moral" - Gertrud Nunner-Winklers Kritik an der These einer geschlechtsspezifischen Moral
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Soziologisches Institut)
Veranstaltung
Geschlechterdifferenzen in der Moderne
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
18
Katalognummer
V51063
ISBN (eBook)
9783638471299
ISBN (Buch)
9783638764896
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Debatte, Moral, Gertrud, Nunner-Winklers, Kritik, These, Moral, Geschlechterdifferenzen, Moderne
Arbeit zitieren
M.A. Nicole Nieraad (Autor:in), 2002, Die Debatte um eine "weibliche Moral" - Gertrud Nunner-Winklers Kritik an der These einer geschlechtsspezifischen Moral, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/51063

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