Das 20. Jahrhundert. Gefährdet und gefährlich: Die Masse


Term Paper (Advanced seminar), 2005

29 Pages, Grade: 2,0


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Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung: Der Begriff „Masse“

1. Die gefährliche Masse
1.1 Die Massenpsychologie
1.1.1 Psychologie der Massen“ von Gustave le Bon
1.1.1.1 Die gefährliche „Masse“ im historischen Kontext
1.1.1.2 Die Massenseele
1.1.1.3 Beeinflussbarkeit der Massen
1.1.1.4 „Massenpsychologie und Ich - Analyse“ von Sigmund Freud
1.1.1.5 Ergänzungen und Kritik nach Freud zu Gustave le Bon

2.Die gefährdete Masse
2.1 Das Verhältnis Masse – Medium
2.1.1. Massenmedien
2.1.1.1 Mediengeschichte im Überblick
2.1.1.2 Die frühe Kinokritik
2.1.1.3 Soziale, ökonomische, ästhetische und psychische Gefahren
2.1.1.4 Das Fernsehen als individuell rezipiertes Massenmedium

3. Ausblick: Die Masse allein zu Hause

4. Bibliographie

0. Einleitung: Der Begriff „Masse“

Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts avanciert der Begriff „Masse“ zu einem der leitenden Begriffe in Soziologie, Psychologie und Kulturkritik. Im soziologischen Kontext wird der Begriff Masse wie folgt definiert:

Der Begriff Masse bezeichnet eine große Anzahl von Menschen, die konzentriert auf relativ engem Raum miteinander kommunizieren, agieren, und reagieren (…). Masse wird in der Soziologie weiters dazu verwendet, um breite Bevölkerungsschichten von einer Elite (…) zu unterscheiden.[1]

Im zwischenmenschlichen und volkgebräuchlichen Verständnis äußert sich Helmut Dingeldey in seiner Einführung zu der „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon über denselben Begriff wie folgt:

In einer allgemeinen Bedeutung ist „Masse“ ein reiner Quantitätsbegriff (…) Im menschlichen Bezug stehen dieser amorphen und anonymen Masse die bestimmten und gegliederten Gesellschaften und die Einzelpersönlichkeiten gegenüber. Wird dabei etwa an eine große, geschichtlich bedeutende oder sonst wie hervorragende Persönlichkeit gedacht, so nimmt „Masse“ sogleich eine andere, qualitativ abwertende Bedeutung an, in dem wir mit ihr die Vorstellung des nur Durchschnittlichen oder Mittelmäßigen, ja oft sogar des Niedrigen und Gemeinen verbinden.[2]

Mit dem Aufkommen der Massenpsychologie als Teilgebiet der Psychologie, das sich mit den Reaktionen des Einzelnen auf die Masse u. mit den Verhaltensweisen der Masse beschäftigt[3], entwickelt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Massendiskurs. Dieser untersucht ab den 50er Jahren vorrangig die Bereiche der Massenkommunikation, also der Kommunikation Abwesender, von vielen zu vielen[4], und der Massenmedien, die dem Duden entnommen als ein auf große Massen ausgerichteter Vermittler von Information u. Kulturgut (z.B. Presse, Film, Funk, Fernsehen)[5] definiert werden.

Im Folgenden wird zuerst unter Bezugnahme auf die Massenpsychologie, das von Gustave Le Bon 1895 verfasste Werk „Psychologie des Foules“ vorgestellt. Darin begründet der französische Gelehrte den Begriff der „Massenseele“, betrachtet das Phänomen der Masse im historischen Kontext und untersucht Charakter und Eigenschaften von Massen. Besondere Gewichtung erhalten dessen Erkenntnisse über die Möglichkeiten der Massenbeeinflussung, da diese im Zusammenhang mit dem Medieneinsatz von Interesse sind. Anschließend werden Auszüge aus dem von Sigmund Freud verfasstem Werk „Massenpsychologie und Ich – Analyse“ vorgestellt, die das vorangehende Referenzwerk im psychoanalytischen Sinne ergänzend vorstellen. Diese ersten Abhandlungen über die Existenz von Massen thematisieren unter anderem die drohenden Gefahren, die von Menschenansammlungen ausgehen.

Der weitere Verlauf der Arbeit konzentriert sich auf den Zusammenhang zwischen der Medienentwicklung des 20. Jahrhunderts und den daraus resultierenden Veränderungen der im Massendiskurs entstandenen Vorstellungen über das Phänomen der Masse. Anhand eines geschichtlichen Überblicks wird die Entwicklung der Kommunikationsmedien hin zu Massenmedien dargestellt. Die Entwicklung des Films, über das Radio bis hin zum Fernsehen ist stets von der kritischen Sorge um schädliche Auswirkungen auf die Masse begleitet. Die Möglichkeit der sozialen Kontrolle einerseits und die Gefahr eines Kontrollverlustes in der Massenkommunikation andererseits, halten die Diskussionen um das Verhältnis Masse und Medium lebendig. So bewegt sich die anfängliche psychologisch begründete Auffassung einer gefährlichen Masse immer mehr hin zur Auffassung einer durch die Medien gefährdeten Masse: angefangen bei der Kritik der frühen Kinogegnern, die körperliche Schäden in Folge der Mediennutzung voraussagen, bis hin zu den Befürchtungen sozialer, ökonomischer, ästhetischer und psychischer Gefahren, die mit der Etablierung des Rundfunk und Fernsehens zur Sprache kommen. Die Verdrängung bewährter Unterhaltungsformen wird mit der Betrachtung der massenattraktiven Eigenschaften der neuen Medienkonkurrenten begründet.

Abschließend wird der durch das Fernsehen als individuell rezipiertes Massenmedium neu definierte Massenbegriff vorgestellt und die Veränderungen im Verhältnis von Medien- und Gesellschaftsentwicklung angesprochen.

1. Die gefährliche Masse

1.1 Die Massenpsychologie

Den ersten Anstoß zur Entstehung des Massendiskurses gibt die fortschreitende Vermassung im Bereich des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens Mitte des 19. Jahrhunderts.

„Die Masse entsteht im Spannungsfeld von Kapitalismus, Industrialisierung und Verstädterung, die seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts von England ausgehend eine grundlegende Veränderung und Umwälzung der gesellschaftlichen Strukturen in Europa und Amerika herbeiführen.“(Helmut Koenig)[6]

Die Frage, wodurch der Einzelne nun zum Bestandteil einer seelischen mehr oder weniger gleichgeschalteten Masse wird und was dann sein Tun oder Lassen bestimmt, wird zunehmend von Belang und erst gegen Ende des Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Massenpsychologie zu beantworten versucht.

Die Massenpsychologie behandelt (…) den einzelnen Menschen als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, (…), einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur Masse organisiert.[7]

So lautet nach Sigmund Freud die Definition der Massenpsychologie im Gegensatz zur Individualpsychologie, die das Seelenleben des einzelnen Menschen untersucht.

Im Folgenden wird eine der ersten psychologischen Abhandlung vorgestellt, die sich mit dem Phänomen der Massen beschäftigt hat.

1.1.1 „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon

Gustave Le Bon beginnt seine „Psychologie des Foules“ aus dem Jahre 1895 mit einer allgemeinen Einleitung, die über das Zeitalter der Massen informiert. Dieser gefolgt, gliedert sich das Werk in drei Hauptabschnitte, genannt Bücher. Das erste Buch, „Die Massenseele“ besteht aus vier Kapiteln, die das Phänomen der „Masse“ in all ihren allgemeinen Kennzeichen, Eigenschaften, Charakterzügen, Ideen und Eigenheiten beschreiben. Das zweite Buch „Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen“ umfasst ebenfalls vier Kapitel und behandelt die Triebkräfte und Führer der Massen, die deren Meinungen und Taten zu bestimmen vermögen. Weitere fünf Kapitel bilden das dritte Buch, die „Einteilung und Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen“.[8] Die zusätzliche Unterteilung der einzelnen Kapitel in Paragraphen ermöglicht eine überschaubare Lektüre.

Im Folgenden werden neben einer einführenden Gesamtdarstellung diejenigen Kapitel näher betrachtet, welche dem Massendiskurs der Medien vorausgreifend, bereits grundsätzliche Frage- und Problemstellungen in Bezug auf Charakter, Beeinflussbarkeit und Erziehung der Massen behandeln.

1.1.1.1 Die gefährliche „Masse“ im historischen Kontext

Gustave Le Bon (1841 - 1931) versucht als Mitbegründer der Massenpsychologie, die Gesetze des menschlichen Bei- und Miteinander zu entdecken. Sein Hauptanliegen liegt im Nachweis,

(…) daß das Aufgehen des einzelnen in der Masse stets mit einem Individualitätsverlust verbunden ist und zu einer auf die Dauer verhängnisvollen Schwächung des persönlichen Verantwortungsbewusstseins führt.[9]

Eingebunden in den historischen Kontext mit den Erinnerungen an die Schreckenszeit der französischen Revolution im Jahre 1789 und an andere revolutionäre Massenbewegungen und Arbeiteraufstände, kann nach Le Bon die „Masse“ zum Inbegriff von Umsturz und Gewalt, des schlechthin Gefährlichen, werden.[10]

Die Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert, die rasch fortschreitende Industrialisierung und der damit verbundene enorme Wachstum der europäischen Bevölkerung, schärfen das Bewusstsein dieses Massendiskurses. Im gewöhnlichen Wortsinn verwendet Le Bon den Begriff „Masse“ im Zusammenhang mit den proletarischen Massen, vor allem der sozialistisch organisierten Arbeiterschaft oder mit der Vereinigung Einzelner von beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlass der Vereinigung. Als die „organisierte“ oder auch „psychologische“ Masse bezeichnet er die Massensituation unabhängig von der Herkunft der Beteiligten. Dabei handelt es sich um eine vorübergehende Erscheinung, obwohl sie aus Teilen jener dauerhaften soziologischen Massen besteht, die meist bei Aufläufen oder spontanen Demonstrationen zustande kommt.[11] Diese spontane Massenbildung ist Hauptgegenstand der „Psychologie der Massen“. Es wird die Fähigkeit der „Masse“ untersucht, die das Seelenleben des Einzelnen so entscheidend zu beeinflussen vermag, sobald er sich in die „psychologische Masse“ eingereiht hat.

Die im bevorstehenden „Zeitalter der Massen“[12] beobachtete fortschreitende Entpersönlichung des Menschen, muss Le Bon zufolge zwangsläufig zum Verfall aller menschlichen Gesittung und Kultur führen.[13]

Der Vorgang der „Vermassung“, also die fortschreitende Entwicklung des Einzelnen hin zum Massenmenschen, bezeichnet er bereits als drohende Gefahr.

In der Seele der Massen, nicht mehr in den Fürstenberatungen bereiten sich die Schicksale der Völker vor. (…) Heute werden die Forderungen der Massen nach und nach immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gänzlichen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft, (…)[14]

In der Beschreibung verschiedener Massen unterschiedlicher sozialer Zusammensetzungen und deren entpersönlichender Wirkung, warnt er bereits vor einer Entwicklung, die schließlich zu einer dauernden Missachtung und Unterdrückung der menschlichen Persönlichkeitswerte führen muss und somit auch zu einem Absinken des Kulturniveaus der zivilisierten Menschheit.[15]

1.1.1.2 Die Massenseele

Angeregt von den völkerpsychologischen Schriften des deutschen Ethnologen Adolf Bastian und dessen „Elementargedanken“, daß die von den einzelnen Völkern entwickelten Gemeinschaftsformen der Ausdruck ihrer „Rassenseele“ seien[16], führt Le Bon zu der Postulierung einer ebenso latent vorhandenen „Massenseele“.

Im psychologischen Sinn betrachtet, definiert sich die Masse als eine Ansammlung von Menschen, die unter bestimmten Umständen ihre Gedanken und Gefühle in dieselbe Richtung orientieren und somit eine Gemeinschaftsseele bilden. Damit eine Gruppe von Einzelindividuen zur Masse wird bedarf es gewissen Außenreizen. Nach Le Bon` s Gesetz der seelischen Einheit der Massen kommt es zu einer vorübergehenden psychologischen Verschmelzung der Einzelpersonen, die sich zu einem neuen Wesen mit neuen Eigenschaften bilden. Verstandesfähigkeiten, Eigenarten und Persönlichkeiten der Einzelnen verwischen und das rassenmäßig Unbewusste tritt hervor. So zeigt das Individuum in der Masse neue Eigenschaften, die es zuvor nicht besessen hat.

Die Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also: Schwinden der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen.[17]

Der Einzelne fühlt, denkt und handelt als Teil einer Masse also anders, als er es normalerweise täte. Gesamtinteressen treten an erste Stelle und übertreffen hierbei sogar den Selbsterhaltungstrieb des Einzelnen. Gedanken und Gefühle werden nicht mehr von tatsächlichen Gegebenheiten geleitet, sondern durch Beeinflussung und Übertragung. Nach Le Bon scheint das Individuum innerhalb einer erregten Masse einer psychischen Ansteckung ausgesetzt zu sein, welche eine Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen hervorruft, die den Begriff des Unmöglichen schwinden lässt.[18]

Diese Namenlosigkeit und Anonymität der Masse, die den Rückgang des individuellen Verantwortungsgefühls begünstigt und ein Machtgefühl vermittelt, sowie die Beeinflussbarkeit durch geistige Übertragung der Menschen untereinander, lässt die Eigentümlichkeit dieser Massenseele entstehen. Le Bon formuliert es wie folgt:

An einer psychologischen Masse ist das Sonderbarste dies: welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie eine Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde. (…) Die psychologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht (…)[19]

So versinkt das Heterogene im Homogenen, das aus einem gebildeten Individuum ein triebgesteuertes Wesen macht. Die Einreihung in eine Masse führt demnach zur Herabsetzung der intellektuellen Leistung des Einzelnen. In seiner Vereinzelung war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Barbar, das heißt ein Triebwesen.[20] Das bedeutet auch, dass die Masse dem Einzelnen intellektuell stets unterlegen ist.

Zusammenfassend lassen sich Triebhaftigkeit, Unfähigkeit zum logischen Denken, hohe Beeinflussbarkeit und Emotionalität, starke Gefühlsregungen und –umschwünge, Unbeständigkeit, sowie der Drang zur unverzüglichen und rücksichtslosen Realisierung gefasster Ideen, als Eigenschaften von Massen festhalten. All dies kann sich sowohl positiv, wie auch negativ auswirken. Die Masse ist zu gewalttätigen Ausschreitungen, wie auch zur Aufopferung in der Lage. Die durch sie bewirkten Handlungen hängen dabei ganz von dem Einfluss ab, unter welchem die Masse steht.

1.1.1.3 Beeinflussbarkeit der Massen

Nach Le Bon existieren bei dem Phänomen der Masse zwei Arten der Beeinflussung. Erstere bezeichnet als Ansteckung und betrifft die Wirkung, welche die Individuen einer Masse aufeinander ausüben. Danach ist (…) jedes Gefühl, jede Handlung ansteckend, und zwar in so hohem Grade, dass das Individuum sehr leicht sein persönliches Interesse dem Gesamtinteresse opfert.[21] Die zweite Art der Beeinflussung geht von einer übergeordneten Instanz auf die Masse als Kollektiv aus. Diese gilt als gewichtiger, da sie die Suggestibilität des Einzelnen zu erhöhen vermag und somit die Ansteckung untereinander daraus resultiert.

Nach Le Bon wird die Vorstellungskraft der Massen nicht durch die Vernunft oder durch logische Argumente, sondern durch Bilder, Sensation und Skandale gelenkt, welche sie dann mit höchster Leidenschaft und Gewaltsamkeit umzusetzen fähig sind. Er bezeichnet die Massen als kritik- und prinzipienlos, daher leicht lenk- und umstimmbar. Die bereits genannten Eigenschaften der Massen, Triebhaftigkeit (impulsivité), Reizbarkeit (irritabilité), Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle (…)[22], begünstigen diesen allgemeinen Charakterzug einer übermäßigen Beeinflussbarkeit. Während die Taten des Einzelnen noch mit dem Maß der Vernunft zur Verwirklichung gelangen, hängt die Umsetzung der Taten der Masse alleine vom Grad des Anreizes ab: Je weniger die Masse vernünftiger Überlegung fähig ist, um so mehr ist sie zur Tat geneigt.[23]

Die wechselseitige Ansteckung der Individuen untereinander, das Fehlen der Vernunft, der enorme Anteil des Unbewussten, die Leichtgläubigkeit und das Denken in Bildern, bergen Gefahren in sich, wie Kollektivhalluzinationen, die durch die Entstellung tatsächlicher Ereignisse gefährliche Folgen haben können. Le Bon verweist im Anschluss daran auf zahlreiche historische Legenden, die aus Phantasiegebilden bestimmter Massen entstanden sind.[24] Danach lassen gewisse Erwartungshaltungen und eine enorme unbewusste Wirkungskraft, das Beobachtungsvermögen und den kritischen Geist jedes Einzelnen schwinden und begünstigen die verzerrte Wahrnehmung tatsächlicher Ereignisse.

Weitere Förderer des beeinflussbaren Charakters sind unzureichender Unterricht und mangelhafte Erziehung, welche nach Le Bon die Massenseele verderben. Niederlagen und Enttäuschungen in der schulischen und beruflichen Laufbahn lassen eine Masse von Unbeteiligten und Gleichgültigen entstehen, die zu einem Heer Unzufriedener heranwächst, das bereit ist, allen Einflüssen von Rednern und Weltverbesserern Folge zu leisten.[25]

Somit betrachtet Le Bon Unterricht und Bildung als ausschlaggebende Kriterien für das Schicksal und die Zukunft eines Landes.

Als besonders erregende Mittel auf die Einbildungskraft der Massen gelten, wie bereits erwähnt, die Bilder. Diese können durch die richtigen Worte und Redewendungen erzeugt werden. Mit Vernunft und Argumenten kann man gegen gewisse Worte und Formeln nicht ankämpfen.[26] Da die Worte veränderliche und vergängliche Bedeutungen haben, die mit den Zeiten und Völkern wechseln, müssen die Ausdrücke stets dem Zeitgeist angemessen gewählt werden. Die Macht der Worte ist so groß, daß gutgewählte Bezeichnungen genügen, um den Massen die verhaßtesten Dinge annehmbar zu machen.[27] Nicht nur der Faktor Zeit verlangt die Kunst, einen angemessenen Umgang mit Worten zu beherrschen. So wie dieselben Worte in derselben Gesellschaft für die verschiedenen sozialen Schichten ganz unterschiedliche Bedeutungen haben, gibt es diese Unterschiede zur gleichen Zeit auch zwischen verschiedenen Rassen, die man ohne zahlreiche Reisen nicht kennen lernen und verstehen kann. Als Beispiel hierfür nennt Le Bon den unterschiedlichen Wortgebrauch der Wörter „Demokratie“ und „Sozialismus“ für lateinische und angelsächsische Völker.[28]

Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen.[29] Dies erklärt nach Le Bon den ungeheuren Einfluss der Theatervorstellungen auf die Massen, die das Bild in seiner klarsten Form wiedergeben. Nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstück.[30] Diese Tatsache haben sich schon große Staatsmänner aller Zeiten und Länder zu Eigen gemacht und versucht durch beeinflussen der Phantasie des Volkes ihre Macht zu stützen. So schließt Le Bon über den Umgang des Staatsoberhauptes mit der Masse mit folgender Erkenntnis:

Also nicht die Tatsachen als solche erregen die Volksphantasie, sondern die Art und Weise, wie sie sich vollziehen. Sie müssen durch Verdichtung – wenn ich so sagen darf – ein packendes Bild hervorbringen, das den Geist erfüllt und ergreift. Die Kunst, die Einbildungskraft der Massen zu erregen, ist die Kunst, sie zu regieren.[31]

Am Ende des ersten Buches wird erneut die enorme Kraft der Massen hervorgehoben, die alleine im Stande sind, Umwälzungen ins Leben zu rufen.

Nicht die Könige haben die Bartholomäusnacht, die Religionskriege verursacht, (…) Hinter solchen Ereignissen findet man immer wieder die Seele der Massen.[32]

Im dritten Kapitel des zweiten Buches beschreibt Le Bon das Phänomen des Führers einer Masse und seiner Überzeugungsmittel. Es handelt sich dabei um (…) keine Denker, sondern Männer der Tat.[33] die zur Not, wenn auch sehr unzureichend, durch Zeitungen ersetzt werden können, die ihren Lesern Meinungen anfertigen und somit das Denken ersparen.[34]

Angeführt von dem vorgemachten Beispiel gelten Behauptung, Wiederholung und Übertragung als Erfolg versprechende Mittel bei der Einflussnahme auf die Masse.

Wer auf sie wirken will, bedarf keiner logischen Abmessung seiner Argumente, er muß in den kräftigsten Bildern malen, übertreiben und immer das Gleiche wiederholen.[35]

Diese Feststellungen über die Möglichkeit der gezielten Meinungsbildung einer Masse spielen später im Massendiskurs der Medien des 20. Jahrhunderts eine große Rolle.

Am Ende des dritten Kapitels stellt Le Bon den Begriff des Nimbus (le prestige)[36] vor und definiert ihn als eine Art magnetischen Zauber, den eine Persönlichkeit, ein Werk oder eine Idee hat und dadurch in hohem Maße die Massen beeinflussen kann. Als einer der bedeutendsten Faktoren bei der Entstehung dieses Nimbus, der nur bestimmten Personen zu Eigen ist, gilt der Erfolg. Doch ist jedes Prestige auch vom Erfolg abhängig und geht durch Misserfolg verloren.[37] Auch hier lässt sich bereits eine Parallele zum Medienbereich ziehen, da Personen durch erfolgreiches Auftreten ein bestimmtes Image oder Prestige erlangen, das genauso flüchtig wieder vorüber gehen kann, wie es entstanden ist. In den Worten von Gustave Le Bon gesprochen:

Der Nimbus verschwindet immer im Augenblick des Misserfolges. Der Held, dem die Masse gestern zujubelte, wird morgen von ihr angespien, wenn das Schicksal ihn schlug.[38]

In zehn Sprachen übersetzt und in zahlreicher Auflage verbreitet, gewinnt vorgestelltes Werk mit der Entwicklung der Massenmedien im Laufe des 20. Jahrhunderts erneut an Aufmerksamkeit.

[...]


[1] http://www.matheboard.de/lexikon/Masse_(Soziologie),definition.htm

[2] le Bon, G.: Psychologie der Massen. Zur Einführung. S. XV

[3] Duden. Das Fremdwörterbuch. 6., überarbeitete u. erweiterte Auflage. S. 501

[4] http://www.geo.uni-bonn.de/members/pullmann/germanistik/kvv/akt

[5] Duden. Das Fremdwörterbuch. 6., überarbeitete u. erweiterte Auflage. S. 501

[6] http://www.geo.uni-bonn.de/members/pullmann/germanistik/kvv/akt

[7] Freud, S.: Massenpsychologie und Ich – Analyse. S.10

[8] Vgl. le Bon, G.: Psychologie der Massen. S. IXX – S. XXVI

[9] Ebd. S. IX

[10] Vgl. ebd. S.X

[11] Vgl. ebd. S. XIV

[12] Ebd. S. XI

[13] Vgl. ebd. S. X

[14] Ebd. S. 3

[15] Vgl. ebd. S. XVI/XVII

[16] Ebd. S. VIII

[17] le Bon, G.: Psychologie der Massen. S. 19

[18] Vgl. ebd. S. 23

[19] Freud, S.: Massenpsychologie und Ich – Analyse. S. 12

[20] Freud, S.: Gesammelte Werke. Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich – Analyse / Das Ich und das Es. S. 82

[21] Ebd. S. 79

[22] le Bon, G.: Psychologie der Massen. S. 21

[23] Ebd. S. 5

[24] Vgl. ebd. S. 27/28

[25] Vgl. ebd. S. 82

[26] Freud, S.: Gesammelte Werke. Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich – Analyse / Das Ich und das Es. S. 85

[27] le Bon, G.: Psychologie der Massen. S. 88

[28] Vgl. ebd. S. 88/89

[29] Ebd. S. 51

[30] Ebd. S. 52

[31] Ebd. S. 54

[32] Ebd. S. 60

[33] Ebd. S. 99

[34] Vgl. Ebd. S. 100

[35] Freud, S.: Gesammelte Werke. Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich – Analyse / Das Ich und das Es. S. 83

[36] le Bon, G.: Psychologie der Massen. S. 109

[37] Freud, S.: Gesammelte Werke. Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich – Analyse / Das Ich und das Es. S. 87

[38] Bon, G.: Psychologie der Massen. S. 119

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Details

Title
Das 20. Jahrhundert. Gefährdet und gefährlich: Die Masse
College
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg  (Institut für Theater- und Medienwissenschaft)
Grade
2,0
Author
Year
2005
Pages
29
Catalog Number
V52553
ISBN (eBook)
9783638482349
ISBN (Book)
9783656266037
File size
596 KB
Language
German
Keywords
Jahrhundert, Gefährdet, Masse
Quote paper
Magister Christiane Hagn (Author), 2005, Das 20. Jahrhundert. Gefährdet und gefährlich: Die Masse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52553

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