Die Morphologie des Lernens in Abgrenzung zu Ideologie und Dogmatismus


Hausarbeit, 2006

28 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I.Einleitung

II.Metatheoretische Perspektive
II.1 Der Missbrauch der Wissenschaft
II.2 Popper und der kritische Rationalismus
II.2.1 Das Induktionsproblem
II.2.2 Die Kritische Prüfung
II.2.2.1 Der Entdeckungs- und Begründungszusammenhang
II.2.2.2 Das Abgrenzungskriterium
II.2.2.3 Anforderungen an die Sprache
II.3 Die Differenzierung der Satzsysteme
II.4 Zusammenfassende Abgrenzungsfolie
II.5 Die Überprüfung, Abgrenzung und Einordnung der Morphologie des Lernens

III. Interne Perspektive
III.1 Aus der Sicht des Lernenden
III.1.1 Die Stufen des Lernprozesses
III.2 Prinzipien, die den Lerner vor einer dogmatischen Fixierung bewahren
III.2.1 Die prinzipielle Offenheit
III.2.2 Das Erlernen und Anwenden von wissenschaftlichen Verfahren
III.2.3 Die Bedeutung der gebildeten Geselligkeit
III.3 Aus der Perspektive des Lehrenden
III.3.1 Die mentalen Aktivitäten von Lernen Denken und Erkennen als Modi der Aneignung
III.3.1.1 Lehrinitiiertes Lernen: lernend machen
III.3.1.2 Lehrinitiiertes Erkennen: erkennend machen
III.3.1.3 Lehrinitiiertes Denken à denkend machen
III.3.2 Die Bewahrung der Lehre vor Ideologie und Dogmatismus
III.3.2.1 Die Unverfügbarkeit des Individuums/ Schutz der Autonomie
III.3.2.2 Überwindung von Traditionsgehorsam und Egozentrismus durch Paradigmentransformation

IV. Fazit

V. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Historisch betrachtet, lassen sich viele Beispiele benennen, welche die katastrophalen Folgen, die von ideologischen und dogmatischen Systemen ausgehen können, aufzeigen. Der Begriff Ideologie hat in der Vergangenheit eine Vielzahl von Interpretationen erfahren, so dass ich bewusst auf eine präzise Definition verzichte und meine Darstellung dieses Begriffs auf die in dieser Arbeit vertretene Auffassung beschränke.[1] Der Begriff Ideologie wird hier als eine Weltanschauung aufgefasst, die interessengeleitete Werturteile, Glaubenssätze, Wesensbestimmungen und Normen enthält. Sie wird von dem Interesse geleitet, ihren Fortbestand zu sichern. In der Regel haben ideologische Aussagen einen dogmatischen Charakter. Dennoch sind nicht alle dogmatischen Aussagen einer Ideologie zuzuordnen. Die Begriffe können nicht synonym verwendet werden. Wie jedoch schon aus dem Titel dieser Arbeit ersichtlich ist, stellen diese beiden Begriffe eine gemeinsame Abgrenzungskategorie dar. Diese gemeinsame Kategorie erschließt sich aus der, den beiden Aussagesystemen gemeinsame Behauptung, dass sie Aussagen über die Wahrheit bzw. über die Wirklichkeit machen. Sie erheben den Anschein gesicherte Erkenntnisse zu liefern. Da es sich jedoch bei der Gewinnung von Erkenntnissen über die Wirklichkeit um die ureigenste Aufgabe der Wissenschaft handelt, geben sie sich gleichsam als eine solche aus. In dieser Vermengung bzw. Verwechslung von Wissenschaft und pseudo- wissenschaftlichen ideologischen und dogmatischen Satzsystemen kumuliert die Gefahr des Missbrauchs. Dies wird von totalitären politischen Systemen und fundamentalistischen Gruppierungen immer wieder bewiesen. Da diese Systeme nach Fortbestand und Erweiterung streben, ist eine Abgrenzung besonders zur Erziehungswissenschaft unerlässlich.

Gegenstand dieser Hausarbeit ist die Abgrenzung der >Morphologie des Lernens< von Horst Dräger zu Ideologie und Dogmatismus. In dem ersten Teil der Arbeit wird eine metatheoretische Perspektive eingenommen. Orientiert an den Werken von Karl Raimund Popper, Rudolf Lochner und Wolfgang Brezinka wird eine Folie herausgearbeitet, die als Abgrenzungsgrundlage zwischen wissenschaftlichen und nicht- wissenschaftlichen Systemen dient.

Anhand dieser Folie wird überprüft , ob es sich bei der Morphologie des Lernens um eine Erziehungswissenschaftliche Arbeit handelt.

Handelt es sich bei der Morphologie des Lernens um eine Erziehungswissenschaftliche Arbeit, so ist automatisch eine Abgrenzung zu ideologischen und dogmatischen Satzsystemen gelungen.

Im folgenden Kapitel ändert sich der Blickwinkel von der metatheoretischen auf die inhaltliche Ebene, die >Interne Perspektive<.

Es wird der Frage nachgegangen, ob Dräger Prinzipien und Methoden beschreibt, die den Lerner vor einer dogmatischen und ideologischen Fixierung bzw. Manipulierung seines Gedankenkreises bewahren.

Um die aufgezeigten Prinzipien für den Leser in einem schlüssigen Argumentationsgeflecht zur Darstellung zu bringen, werden grundlegende Aussagen aus der Morphologie des Lernens kurz rezipiert. Zunächst werden die Stufen des Lernprozesses aus der Perspektive des Lernenden dargestellt. Im Anschluss werden die hier gefundenen Prinzipien, die den Lerner vor dogmatischen und ideologischen Aussagen schützen, herausgestellt.

Wichtig ist es darauf hinzuweisen, dass sich diese Prinzipien nicht nur auf den Lernakt des Autodidakten beziehen, sondern auch für das lehrüberformte Lernen Gültigkeit beanspruchen. Eine Erweiterung erfährt die Palette dieser Prinzipien mit dem Blick auf die Lehre.

Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Arbeit.

II. Metatheoretische Perspektive

II.1 Der Missbrauch der Wissenschaft

"Das Wichtigste ist, allen jenen großen Propheten zu misstrauen, die eine Patentlösung in der Tasche haben…“[2]

In diesem Misstrauen gegen Patentlösungen, sprich gegen dogmatische Sätze, wurzelt der Rationalismus. Popper trifft für sich die moralische Entscheidung sich an die Vernunft zu binden, um sich so vom Irrationalismus zu distanzieren. Der Irrationalismus findet Ausdruck in romantischer Hysterie und im Radikalismus. Popper zeigt dies in seinem Doppelband: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ zunächst an Platon, anschließend in Band II an Hegel, Marx und, wenn auch nicht namentlich erwähnt, an Hitler und deren Konsequenzen auf. Hier wird das Individuum zum Werkzeug von Ideologien instrumentalisiert.

„Im Gegensatz zur intellektuellen Unverantwortlichkeit eines Mystizismus, der sich in Träume flüchtet, und im Gegensatz zu einer orakelnden Philosophie, die im Wortschwall ihr Heil sucht, zwingt die moderne Wissenschaft unserem Geiste die Disziplin praktischer Prüfung auf.“[3] Poppers Waffe gegen die „falschen Propheten“ ist folglich die rationale Kritik.

Sowohl Popper, sowie später auch Brezinka, sprechen den Ideologien nicht deren Wert für die Wissenschaft ab. „Die Wissenschaft muß mit Mythen beginnen und mit der Kritik an Mythen.“[4] Wichtig ist jedoch, eindeutig zwischen ideologischen bzw. dogmatischen Aussagen und wissenschaftlichen Theorien zu unterscheiden.

II.2. Popper und der kritische Rationalismus

II.2.1 Das Induktionsproblem

Der führende Kritiker der neopositivistischen Theorie des „Wiener Kreises“ Karl Raimund Popper gilt als Begründer des Kritischen Rationalismus.

In seinem Werk „Logik der Forschung“ widerspricht er der Vorstellung, dass sich allgemeine Gesetzesaussagen induktiv aus Sinneswahrnehmungen schließen lassen. Das Induktionsprinzip bzw. die Verifikation von Theorien sieht er als eine Instrumentalisierung der Erfahrung zur „Begründung“ einer pseudo- wissenschaftlichen Theorie. „Eine geschickte Anwendung gewisser Bedingungen wird fast jede Hypothese mit den Erscheinungen übereinstimmend machen: dies ist der Einbildungskraft angenehm, aber vergrößert unsere Kenntnisse nicht.“[5]

Der Wahrheitsanspruch einer Theorie ist für Popper nur in den allertrivialsten Fällen durch Sinneswahrnehmungen prüfbar (z. B.: Heute regnet es in Trier.). Wissenschaftliche Theorien müssen jedoch widerlegbare Hypothesen sein. Es mag zwar eine absolute Wahrheit geben, diese ist jedoch niemals endgültig fassbar bzw. beweisbar. Diese Aussage kann als Richtlinie des kritischen Rationalismus gewertet werden, der sich der Wahrheit niemals sicher ist, sondern sich um eine denkbar gute Annäherung an diese bemüht.

“So ist die empirische Basis der objektiven Wissenschaft nichts ‚Absolutes’; die Wissenschaft baut nicht auf Felsengrund. Es ist eher ein Sumpfland, über dem sich die kühne Konstruktion ihrer Theorien erhebt; sie ist ein Pfeilerbau, dessen Pfeiler sich von oben her in den Sumpf senken – aber nicht bis zu einem natürlichen ‚gegebenen’ Grund. Denn nicht deshalb hört man auf, die Pfeiler tiefer hineinzutreiben, weil man auf eine feste Schicht gestoßen ist: wenn man hofft, dass sie das Gebäude tragen werden, beschließt man, sich vorläufig mit der Festigkeit der Pfeiler zu begnügen.”[6]

II.2.2 Die kritische Prüfung

II.2.2.1 Der Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Popper unterteilt den wissenschaftlichen Prozess in einen Entdeckungszusammenhang und einen Begründungszusammenhang. Dem Entdeckungszusammenhang wird alle Freiheit zugestanden; hier ist Kreativität gefragt. „…Unsere Auffassung (…), dass es eine logische, rational nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt, pflegt man oft dadurch auszudrücken, dass man sagt, jede Entdeckung enthalte ein „irrationales Moment“, sei eine „schöpferische Intention“…“[7] Die Fruchtbarkeit einer Hypothese/ Theorie erweist sich nicht in der Entdeckungsleistung, sondern in den Konsequenzen. „Im Zentrum des Forschungsprozeß steht somit der Begründungszusammenhang, der der Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen gilt.“[8]

II.2.2.2 Das Abgrenzungskriterium

Der kritische Rationalismus plädiert für die kritische Prüfung von Hypothesen, um sich durch diese Methode der Wahrheit in einem dynamischen Prozess anzunähern. Diese strenge Prüfung an der Realität wird in der Absicht vollzogen, die Hypothesen zu falsifizieren. „Die Widerlegung unserer Irrtümer ist die >positive< Erfahrung, die wir aus der Wirklichkeit gewinnen.“[9] Gelingt dies nicht, so hat sich die Hypothese vorläufig bewährt. Bedeutsam ist für diese Methode folglich, dass die Hypothese prinzipiell falsifizierbar sein muss. Ist ein Satz nicht widerlegbar, so sagt er auch nichts über die Wirklichkeit aus; er liefert keinen Erkenntnisgewinn. „Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können.“[10]

Das Kriterium der Falsifizierbarkeit dient Popper als Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Pseudo-/ bzw. Nicht- Wissenschaft. Da dieses Kriterium für die Fragestellung dieser Arbeit von großer Bedeutung ist, ist eine nähere Beschreibung erforderlich:

Dies verlangt auf einige Differenzierungen einzugehen, die für Poppers Abgrenzungskriterium bedeutsam sind.

Zunächst unterscheidet Popper Universal- von Individualbegriffen. „Sollen wir eine Definition geben, so müssten wir (…) etwa sagen: Individuale ist ein Begriff, zu dessen Definition Eigennamen- oder äquivalente Zeichen, wie Hinweise usw.- unentbehrlich sind; sind hingegen (…) Eigennamen eliminierbar, so ist der Begriff ein Universale.“[11] Diese Definition bedarf des Hinweises, dass der Begriff >Individualien< nicht nur auf den Eigennamen zurück zu führen ist, sondern auch für Ausdrücke, Zeichen und Gesten gilt, die durch Eigennamen oder Koordinaten ersetzt werden können.[12]

Darauf basierend unterscheidet Popper Allsätze von universellen Es- gibt- Sätze. Allsätze sind Sätze, die nur Universalien enthalten. Ein Allsatz lässt sich auch als negativen Es- gibt Satz äquivalent umschreiben. Diese Form ist prinzipiell falsifizierbar und erfüllt damit das Abgrenzungskriterium.

II.2.2.3 Anforderungen an die Sprache

Elementar für den Kritischen Rationalismus ist die intersubjektive Prüfbarkeit der Hypothese. Um dies zu gewährleisten, muss der Forschungsprozess transparent dargestellt werden. Da das Medium der Vermittlung sowie das Instrument des Argumentierens, die Sprache ist, muss sich diese durch Einfachheit, Klarheit und Exaktheit auszeichnen, um Missverständnisse zu vermeiden.[13] Die klare Sprache und das klare Denken ist die Tradition der Vernunft.[14]

II.3 Die Differenzierung der Satzsysteme

Lochner überwindet den bislang gängigen Doppelcharakter der Pädagogik, welcher sie als „… teils empirisch- positive, teils [als] angewandte, der Praxis zugewandte Disziplin (…)“[15] versteht. Im Unterschied zur praktischen Pädagogik betont Lochner die rationale Struktur der Erziehungswissenschaft und entfaltet auf dieser Basis Kriterien zur Abgrenzung dieser Satzsysteme.

Die Erziehungswissenschaft verfügt über ein eigenes Gegenstandsgebiet, welches Lochner als die Gesamtheit der Erziehungserscheinungen darstellt. „Sie ist in diesem Sinn unabhängig, selbstständig, autonom“.[16] Die Erziehungswissenschaft steht bewusst im Singular. Sie beinhaltet keine Subdisziplinen und keine Hilfswissenschaften.

Ihr Anliegen ist es allgemeingültige Sätze über das „Sein“ zu formulieren. Im Gegensatz zu den teleologischen Richtlinien einer praxisorientierten Pädagogik (Erziehungs- Lehre) beinhaltet sie keine normativen Sätze, d.h. sie muss sich wertfrei verhalten. „…es ist nicht ihre Aufgabe Partei zu ergreifen.“[17] Sie darf nicht idealbildend, zielsetzend und reformerisch sein und muss jedes wunschbestimmte Denken von sich ausschließen. Erziehungswissenschaft kann so niemals dogmatische Züge annehmen. Sie steht nicht bewusst im Dienst der Praxis. Ob sie letztendlich für eine solche verwertbar ist oder nicht, obliegt nicht ihrer Intention. Lochner schlägt vor, „…von zwei Disziplinen zu sprechen, von denen die eine Wissenschaft und die andere auf Wissenschaft und andere Verhaltensweisen gegründete Lehre ist.“[18]

Ebenfalls zeichnet sich die Erziehungswissenschaft durch eine prinzipielle Offenheit aus, d.h. sie ermöglicht immer wieder neue Forschung. „Man kann auch sagen: in Bezug auf Erkenntnis der erzieherischen Wirklichkeit und im Hinblick auf die Erfassung des Wesens der Erziehung- formuliert in Begriffen- gibt es überhaupt keinen Abschluß.“[19]

Im weiteren Argumentationsverlauf greift Lochner die Bedeutung der Philosophie für die Erziehungswissenschaft auf und reduziert diese radikal. „Aber eine solche Philosophie der Erziehung ist keine Voraussetzung mehr für die Erziehungswissenschaft, sondern sozusagen erst eine Folge der erziehungswissenschaftlichen Arbeit.“[20] Dies ist jedoch nicht als eine Entwertung der Philosophie, sondern als eine weitere Abgrenzung zur Erziehungswissenschaft zu verstehen. Die Erziehungs- Lehre gründet jedoch zum Teil auf der Philosophie der Erziehung.[21]

Die von Lochner differenzierten Satzsysteme unterscheiden sich in Form und Inhalt. Daher dürfen sie nicht vermischt werden. „Man darf hier nicht nachgeben, sondern man muß die strengsten Maßstäbe anlegen die möglich sind.“[22]

Brezinka knüpft an diese Aufforderung an. Er kritisiert die traditionelle unaufgeklärte Sammelsurium- Pädagogik, welche sich unter dem Deckmantel Erziehungswissenschaft versteckt. Brezinka bemüht sich um eine Aufklärung über den Ist- Zustand des Faches.[23] Er betont die Notwendigkeit, wissenschaftliche von nicht- wissenschaftlichen Aussagesystemen zu unterscheiden. Dies ist deshalb so wichtig, da einige Autoren durch Immunisierungsstrategien „(…) gewisse irrationale Positionen [weltanschauliche, religiöse, metaphysische und ethische Behauptungssätze[24] ] gegen eine rationale Überprüfung absichern möchte[n]…“[25] Eine solche Strategie kann sich in einem Plädoyer für Offenheit und Methodentoleranz verschleiern. Die Vermengung dieser Satzsysteme führt Brezinka auf die weltanschauliche Abhängigkeit der Pädagogik zurück.[26]

„Schlecht im Sinne von unredlich ist es nur, ihren weltanschaulichen Charakter zu verschleiern und sie den ahnungslosen Zeitgenossen als Wissenschaft auszugeben. Schlecht im Sinne von unkritisch ist es auch, wenn Leute, die beanspruchen, wissenschaftlich gebildet zu sein, auf eine solche Täuschung hereinfallen.“[27]

Brezinka lässt in seiner Arbeit ein starkes ideologiekritisches Motiv erkennen.

Aus seiner Kritik an der traditionellen Pädagogik sind folgende Differenzierungen entstanden, die sich der Form nach an Lochners Abgrenzungsvorschlägen orientieren: Praktische Pädagogik (bei Lochner: Erziehungs- Lehre), Philosophie der Erziehung und Erziehungswissenschaft. Diese Dreiteilung, deren Bezeichnung nicht bindend ist, erkennt die Bedeutung der einzelnen Arbeitsgebiete für die Erziehung an. Sie verfolgen jedoch unterschiedliche Ziele und Zwecke. Die Praktische Pädagogik enthält Handlungsanweisungen; die Philosophie der Erziehung trifft Aussagen über Werte und Normen. „Solche in wesentlichen Teilen glaubensbestimmte und bekenntnisartige Erziehungslehren sind unentbehrlich, weil sie bestimmten Menschengruppen praktische Orientierungshilfen im Sinne ihrer eigenen weltanschaulichen und moralischen Vorstellungswelt bieten, die keine wissenschaftliche Erziehungstheorie bieten kann.“[28]

Nur eine Unterscheidung dieser Satzsysteme ermöglicht eine Erziehungswissenschaft, die nur die rationale Erklärung der Phänomene der Erziehungswirklichkeit als ihren Gegenstand betrachtet. Ihr Zweck ist die Erkenntnis. Diese kann laut Brezinka „…nur durch >konstruktive Hypothesen< gewonnen werden (…), die empirisch zu prüfen sind.“[29] Für diese Überprüfung stellt Brezinka ein Regelsystem auf, welches sich stark an den Kriterien des Kritischen Rationalismus orientiert. Er überträgt diese in einer überarbeiteten Form auf die Erziehungswissenschaft. Brezinka schließt sich Popper an, dass Wissenschaft immer mit einem Problem beginnt. Das Problembewusstsein hängt eng mit dem Informationsgehalt der Sätze zusammen.[30] Ebenso differenziert er zwischen dem Entstehungszusammenhang und dem Begründungszusammenhang. Für Letzteren, der für die Feststellung des Wahrheitswertes ausschlaggebend ist, gibt es nur die intersubjektive Prüfung als brauchbare Methode.[31] Als eine notwendige Bedingung sieht Brezinka die Widerspruchsfreiheit der zu prüfenden Sätze an. Diese Bedingung ist jedoch nur für Formalwissenschaften ausreichend. Realwissenschaften bedürfen einer empirischen Prüfung. Zunächst bestätigt Brezinka Poppers Induktionsprinzip und rezipiert die Methode der Falsifikation. Brezinka differenziert zwischen den Begriffen >Verifikation< und >Bestätigung<. Bestätigungen für eine Theorie durch Beobachtungen zu suchen, stellt für ihn eine durchaus legitime Methode dar. Im Widerspruch zu Popper sieht Brezinka die Falsifikation nur für die Überprüfung von universellen Gesetzesaussagen für brauchbar an. Für Brezinka gibt es auch statistische Gesetzesaussagen, auf die die Falsifikation nicht angewendet werden kann. Er verweist für diesen Fall auf Stegmüllers Begriff der >vernünftigen Verwerfung<. Scheitert die Theorie jedoch regelmäßig an den Beobachtungen, so muss sie überarbeitet werden.[32] „Nur wenn diese Versuche einer Verbesserung der ursprünglichen Hypothese erfolglos bleiben sollten, erscheint es vernünftig, sie zu verwerfen.“[33]

Eng verbunden mit der intersubjektiven Prüfbarkeit ist die, an Hans Albert angelehnte, Forderung nach Werturteilsfreiheit auf der Ebene der Objektsprache. Von den Werturteilen werden Wertungen mit empirischem Charakter und die Wertbasis der Wissenschaftler unterschieden.[34] Ein Verweis auf diese Differenzierung soll hier genügen, da es sich bei der Morphologie des Lernens weder um eine Metatheorie, noch um eine empirische Aussage über normative Sätze handelt.

II.4 Zusammenfassende Abgrenzungsfolie

Es wurden in Anlehnung an Popper, Albert, Lochner und Brezinka Kriterien dargestellt, die eine Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudo- bzw. Nicht- Wissenschaft ermöglichen. Da ideologische und dogmatische Sätze nach dem hier rezipierten Wissenschaftsverständnis nicht Bestandteil einer Erziehungswissenschaft sein können, ist eine Abgrenzung der Morphologie des Lernens zu Ideologie und Dogmatismus geleistet, sofern sich diese als erziehungswissenschaftliche Arbeit erweist. Aus Gründen der Übersicht werden nun die wesentlichen Abgrenzungskriterien aufgelistet. Diese Liste dient im Folgenden als Folie, an welcher die Morphologie des Lernens chronologisch überprüft wird.

Weist die Morphologie des Lernens kein Induktionsproblem auf?

Behandelt die Morphologie des Lernens einen eigenen Gegenstand; hat sie eine eigene Problemstellung?

Ist sie prinzipiell falsifizierbar?

Lassen sich Bestätigungen für die Morphologie des Lernens finden?

Ist die Morphologie des Lernens intersubjektiv prüfbar?

Wird eine klare Sprache verwendet?

Ist sie frei von Widersprüchen?

Ist sie frei von Werturteilen und metaphysischen Sätzen?

Dient die Morphologie des Lernens der rationalen Informationsdistribution?

Ermöglicht die Morphologie des Lernens weitere Forschung?

II.5 Die Überprüfung, Abgrenzung und Einordnung der Morphologie des Lernens

Die Morphologie als Methode ist disziplinübergreifend. Ihr Gegenstand, die reine Form, wird in einem ersten Schritt intuitiv bestimmt.

Die Morphologie des Lernens weist kein Induktionsproblem auf, da Dräger nicht induktiv sondern deduktiv vorgeht. Er geht von dem Allgemeinsten, sprich von der reinen Form aus.

[...]


[1] Über den „Unsinn“ von Definitionen: siehe auch: Magee, B.: Karl Popper, J.C.B. Mohr, Tübingen, 1973, S. 51f

[2] Popper- Interview mit Klaus Podak, 1974, zitiert in SZ, 27.7.2002, S. III, gesendet auf 3Sat am 9.02.04, 23.10Uhr, http://www.3sat.de/specials/37137/index.html (auf Aktualität überprüft am 07.02.06)

[3] Popper, K. R.: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen- Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II, 3. Aufl., Francke Verlag, Bern, München, 1973, S.: 300

[4] Popper zitiert von Brezinka, W. in: Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft - Eine Einführung in die Metatheorie der Erziehung, Weinheim, 1971, S.: 12

[5] J. Black, zitiert von Popper, K.R. in: Logik der Forschung, 7., verb. U. durch 6 Anh. Vermehrte Aufl., Mohr, Tübingen, 1982, S.: 50

[6] Popper, K.R., 1982, S. 75f.

[7] Popper; K.R., 1982, S.: 7

[8] Krüger, H.H.: Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft, Leske+ Budrich, Opladen, 1997, S.: 43

[9] Popper, K.R.: Objektive Erkenntnis, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 1973, S.: 389

[10] Popper, K.R., 1982, S.: 15

[11] Popper, K.R., 1982, S.: 37

[12] Vgl. ebd. S.: 36, 37

[13] Vgl. Popper, K.R., 1973, S.: 294

[14] Vgl.: Popper, K.R.: Vermutungen und Widerlegungen- Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Band I, J.C.B. Mohr, Tübingen, 1994, S. 197

[15] Lochner, R.: Zur Grundlegung einer selbständigen Erziehungswissenschaft, in: Zeitschrift für Pädagogik, 6. Jahrgang, Verlag Julius Belz, Weinheim, Pädagogischer Verlag Schwann, Düsseldorf, 1960, S.:4

[16] ebd. S.: 6

[17] ebd. S.: 8

[18] Lochner, R.: Deutsche Erziehungswissenschaft, Verlag Anton Hain, Meisenheim am Glan, 1963, S.: 431

[19] Lochner, R., 1960 S. 9

[20] ebd. S.: 11

[21] Vgl. ebd. S.: 12; 1963: S.: 457f.

[22] Lochner, R., 1963, S.: 431

[23] Vgl. Brezinka, W.: Erziehung und Pädagogik im Kulturwandel, Ernst Reinhardt Verlag, München, 2003, S.:165

[24] Vgl. Brezinka, W.: Aufklärung über Erziehungstheorien, Beiträge zur Kritik der Pädagogik, Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel, 1989, S. 127

[25] ebd., S.129

[26] Vgl. Brezinka, W.: Metatheorie der Erziehung, Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel, 1978, S.: 19f

[27] Brezinka, W.: Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft- Beiträge zur Praktischen Pädagogik, Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel, 1986, S.: 34

[28] Röhrs, H., Scheuerl, H. (Hg.): Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft und praktische Verständigung, Verlag Peter Lang, Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris, 1989, S.: 72

[29] Brezinka, W.: 1978, S. 35

[30] Vgl. ebd. S.: 113ff

[31] Vgl. ebd. S.: 128f.

[32] ebd. S.: 134

[33] ebd. S.: 135

[34] Brezinka, W.: 1971, S.. 67ff

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Die Morphologie des Lernens in Abgrenzung zu Ideologie und Dogmatismus
Hochschule
Universität Trier
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2006
Seiten
28
Katalognummer
V53744
ISBN (eBook)
9783638491099
ISBN (Buch)
9783638693233
Dateigröße
582 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diplom Teilprüfung
Schlagworte
Morphologie, Lernens, Abgrenzung, Ideologie, Dogmatismus, Bildung, Lehren, Lernen, methode, lehrmethoden
Arbeit zitieren
Michael Roos (Autor:in), 2006, Die Morphologie des Lernens in Abgrenzung zu Ideologie und Dogmatismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53744

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