Die Stigmatisierung psychisch Kranker

Eine theoretische Annäherung


Scientific Essay, 2019

127 Pages, Grade: 1.3

Anonymous


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Erläuterung und Abgrenzung grundlegender Begriffe
2.1 Stigma
2.2 Stigmatisierung
2.3 Stereotyp
2.4 Vorurteil

3. Funktionen von Stigmata

4. Hypothesen zur Entstehung von Stigmata

5. Frühe Modelle des Stigmatisierungsprozesses
5.1 Das Stigma-Konzept nach Goffman
5.2 Der Labeling Approach
5.3 Der Etikettierungsansatz nach Scheff
5.4 Der modifizierte Etikettierungsansatz nach Link et al.
5.5 Das erweiterte Stigma-Konzept nach Link und Phelan

6. Annäherung an grundlegende Begriffe
6.1 Krankheit
6.2 Psychische Krankheit / Psychische Störung
6.3 Klassifikationssysteme psychischer Störungen

7. Die Psychiatrie-Enquête
7.1 Definition: Psychiatrie
7.2 Überblick über die Psychiatrie-Enquête
7.3 Entstehung und Entwicklung der Psychiatrie-Enquête
7.4 State of the Art

8. Zur Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien
8.1 Historische Entwicklung öffentlicher Krankheitstheorien
8.2 Krankheitstheorien der Allgemeinbevölkerung
8.3 Ursachenvorstellungen von psychischen Erkrankungen
8.4 Behandlungsvorstellungen von psychischen Erkrankungen

9. Folgebereiche der Stigmatisierung
9.1 Interpersonelle Interaktion
9.2 Strukturelle Diskriminierung
9.3 Das Bild psychisch Erkrankter in der Öffentlichkeit
9.4 Zugang zu sozialen Rollen

10. Die Zwei-Faktoren-Theorie nach Rüsch et al.
10.1 Öffentliche Stigmatisierung
10.2 Selbststigmatisierung

11. Selbstkritische Reflexion

12. Fazit und Ausblick

13. Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Hinweis auf die geschlechtsneutrale Schreibweise

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit die männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Die Angaben beziehen sich jedoch auf alle Geschlechter, sodass die Verwendung der männlichen Sprachform im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen ist.

1. Einleitung

„Das Fremde zu verstehen, ist schwer“, sagte die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer 2001 in ihrem Beitrag „Bilanz und Perspektiven der Psychiatrie-Reform“ anlässlich des Festakts zur Tagung „25- Jahre Psychiatrie-Enquête“ (vgl. Gaebel et al. 2005, S. 1). Denn bei allen Fortschritten, die die Psychiatrie in den vergangenen Jahrzehnten erreichen konnte, bei allem Grund, die erheblich verbesserten Lebensbedingungen psychisch Kranker seit Beginn der Psychiatrie-Reform 1975 zu feiern, stellt die Ausgrenzung psychisch kranker Menschen nach wie vor ein erhebliches Problem in unserer Gesellschaft dar.

Der Verlust von sozialen Kontakten zu Freunden oder Familienmitgliedern, die Zurückweisung durch Arbeitskollegen oder Nachbarn, die Absagen bei der Wohnungs- oder Jobsuche, die allgegenwärtige Sorge, nicht ernst genommen zu werden und den zukünftigen Lebensalltag nicht bestreiten zu können sowie die Berichte in den Massenmedien über die grausamen Gewalttaten von psychisch Kranken sind Erfahrungen, die Betroffene häufig täglich erleben und das Phänomen „Stigmatisierung“ beschreiben. Während sich das Bewusstsein für die Gleichberechtigung von Menschen mit körperlich beeinträchtigenden Krankheiten in den letzten Jahrzehnten zunehmend verfestigt hat, hält sich die Annahme, psychisch Kranke seien grundsätzlich „verrückt“, hartnäckig. Im Alltag gebrauchen wir Redewendungen wie „der hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank“ oder „die hat wohl eine Schraube locker“ und kränken Betroffene damit, wenn auch oft unbewusst, zutiefst.

Dabei können psychische Krankheiten jeden von uns treffen: In Deutschland weist mehr als jeder vierte Erwachsene die Kriterien für eine vollständig ausgeprägte, psychische Störung auf, sodass schätzungsweise etwa 27,8 % der Bevölkerung bzw. ca. 17,8 Millionen Menschen betroffen sind (vgl. Jacobi et al. 2016, S. 88 f.). Auch internationale Untersuchungen über die Häufigkeit psychischer Erkrankungen offenbaren ohne die Berücksichtigung auftretender Störungen im höheren Lebensalter eine Lebenszeitprävalenz von 30-50 %, sodass sie, wenn wir nur alt genug werden, jeden von uns treffen (vgl. Finzen 2018, S. 47 f.). Nach der „Global Burden of Disease“-Studie gehören psychische Störungen in Deutschland zu den vier Hauptursachen für verlorene Lebensjahre durch einen vorzeitigen Tod (vgl. Plass et al. 2014, S. 629 ff.).

Dieses wissenschaftliche Projekt folgt dem Versuch, eine möglichst umfassende und breit aufgestellte, theoretische Übersicht über die Stigmatisierung psychisch Kranker zu liefern. Dafür werden anfangs grundlegende Begriffe wie „Stigma“ und „Stigmatisierung“, „Stereotyp“ und „Vorurteil“ erläutert und voneinander abgegrenzt. Die Definitionen deuten bereits vereinzelt Funktionen von Stigmata an, die im darauffolgenden Kapitel geschildert werden. Nachdem die Darstellung einiger grundlegender Hypothesen für die Herausbildung von Stigmata erfolgt, werden ausgewählte Modelle des Stigmatisierungsprozesses in verkürztem Umfang vorgestellt. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlichster Erklärungsansätze liegt der Fokus dieser Arbeit auf einigen wegweisenden und frühen Erklärungsmodellen, auf die die heutige einschlägige Literatur noch immer verweist. Nachdem die Grundlagen rund um den Begriff „Stigma“ geschaffen wurden, ist es das weitere Bestreben des Projektes, darüber aufzuklären, was eine „psychische Krankheit“ bzw. „psychische Störung“ ist. Wie es in der Theorie häufig der Fall ist, bestehen nahezu unzählige Definitionsversuche für diese Termini, sodass man sich diesen Begrifflichkeiten im Rahmen der Arbeit nur annähern kann. Wie eingangs erläutert, wurde durch den 1975 hervorgerufenen Reformprozess der Psychiatrie eine wesentliche Grundlage für die bis heute andauernde Verbesserung der psychiatrischen Behandlung in Gang gesetzt. Auf dieses außerordentlich bedeutsame Ereignis in der Geschichte der Psychiatrie wird anschließend eingegangen. Der folgende Abschnitt zeigt die Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien im Hinblick auf die Stigmatisierung auf und folgt dem Versuch, einige „typische“ Auffassungen über psychische Störungen darzustellen. In den abschließenden Passagen werden die schwerwiegenden Folgen der Stigmatisierung für Erkrankte in vier stigmatisierten und stigmatisierenden Bereichen beschrieben und diese Erkenntnisse in der Zwei-Faktoren-Theorie nach Rüsch et al. verortet. Bevor auf Grundlage des erarbeiteten Wissens ein Fazit zur Stigmatisierung psychisch Kranker gezogen wird, besteht das vorletzte Kapitel aus einer kritischen Reflexion der erarbeiteten Inhalte.

2. Erläuterung und Abgrenzung grundlegender Begriffe

Für das Verständnis der weiteren Ausführungen dieser Arbeit ist es unumgänglich, elementare Begrifflichkeiten der Thematik zu erläutern. Die Operationalisierung der Termini ermöglicht sowohl die Einordnung in einen größeren Kontext als auch die Abgrenzung zu verwandten sprachlichen Konzepten.

2.1 Stigma

Bis in die 90er Jahre zeichnete der Begriff „Stigma“ lediglich Begriffe aus der Botanik und der Biologie, sodass beispielsweise die am Griffelende sitzende Narbe einer Blüte und die Atemöffnung von Insekten als „Stigma“ bezeichnet wurden.

Etymologisch, aus dem Griechischen abgeleitet, bedeutet das Wort „Stigma“ „Brandmal“, auch im Bereich der christlichen Theologie kennzeichnet der Terminus ein „Wundmal“ (vgl. u. a. Kulbe 2017, S. 164, vgl. Grausgruber 2005, S. 19f., vgl. Hinterhuber 2002, S. 117). Schon Cicero verwendete den Ausdruck „Stigmatias“, um einen „Gebrandmarkten“ zu beschreiben und auch Plinius der Ältere gebrauchte den Begriff „Stigmosus“, um einen mit Brandmalen gekennzeichneten Verbrecher zu benennen. Wörtlich übersetzt steht das griechische Wort „stigmein“ für „durchbohren“ oder „ein Loch anbringen“ (vgl. u. a. Hinterhuber 2002, S. 118). Der amerikanische Soziologe Ervin Goffman schaffte 1963 (dt. 1967) mit seinem Werk „Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity“ (dt. „Über Techniken der Bewältigung geschädigter Identität“) eine wegweisende Arbeit für den Beginn der sozialwissenschaftlichen Stigma-Forschung. Goffman zufolge verwendeten die Griechen den Begriff „Stigma“ um auf ein körperliches Zeichen zu verweisen, das einen schlechten moralischen Zustand einer Person offenbarte und den Zeichenträger als Verbrecher, Verräter oder Sklaven kennzeichnete, der vor allem auf öffentlichen Plätzen gemieden werden sollten (vgl. ebd., S. 9).

In späteren christlichen Zeiten kamen dem Begriff noch zwei weitere metaphorische Inhalte zu: der Erste bezeichnete körperliche Zeichen Gottes Gnade, die in Gestalt „von Blumen auf der Haut aufbrachen“ (Goffman 1967, S. 9), der Zweite bezog sich auf körperliche Zeichen als Symbole physischer Unstimmigkeit. Unter dem Plural „Stigmata“ versteht die christliche Theologie in Anlehnung an Galater 6,17 die Malzeichen Jesu, die etwa 300 mystisch Begabte als leibliche und seelische Identifikation mit Christus an ihrem Leib trugen (vgl. Meise et al. 2001, S. 76).

Mittlerweile wird der Terminus wieder in seinem ursprünglichen Sinn gebraucht und weist mehr auf die „Unehre selbst als auf deren körperliche Erscheinungsweise“ (ebd., S. 9) hin, sodass der Begriff „Stigma“ auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung Anwendung gefunden hat (vgl. Grausgruber 2005, S. 19). Der deutsche Soziologe Karl-Heinz Hillmann definiert „Stigma“ im Wörterbuch der Soziologie als

„physisches oder soziales Merkmal, durch das eine Person sich von allen übrigen Mitgliedern einer Gruppe (oder Gesellschaft) negativ unterscheidet und aufgrund dessen ihr soziale Deklassierung, Isolation oder sogar allgemeine Verachtung droht (Stigmatisierung)“ (Hillmann 2007, S. 864).

Jürgen Hohmeier, ehemaliger Professor für Soziologie der Behinderten an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, resultiert, dass es prinzipiell nicht um das Merkmal selbst geht, sondern um die negative Zuschreibung dieses Merkmals. Er erläutert, dass die Wahrnehmung eines abweichenden Merkmals, in einem semantischen Umfeld eingebettet (vgl. von Kardoff 2010, S. 6), mit dem Verdacht auf weitere negative Wesensmerkmale der Person gekoppelt ist, sodass die Übertragung eines Merkmals auf die Gesamtperson sowie ihre reell eingenommenen und „potentiell einzunehmenden“ (Hohmeier 1975, S. 7) Rollen stattfindet. Diesen Kopplungsprozess stellen Peter Hayward und Jenifer A. Bright vom Institut für Psychiatrie, Psychologie und Neurowissenschaften des King’s College in London an einem Beispiel psychisch Kranker wie folgt dar:

„Put another way, if a person threatens his neighbours he will not be well thought of, but many argue that he will incur an additional negative opinion from those neighbours if they believe that his behaviour is caused by mental illness; we might call this the ‘stigma of mental illness’” (Hayward/Bright 1997, S. 346).

Hohmeier beschreibt, dass sich solche Generalisierungen auf sämtliche soziale Angelegenheiten erstrecken, sodass ein Stigma zum „master status“ (Hohmeier 1975, S. 7 f.) wird, der sich, so stark wie kein anderes Merkmal, auf den Umgang anderer Gesellschaftsmitglieder mit dem Betroffenen auswirkt (vgl. ebd., S. 7 f.).

Die Definitionen zeigen, dass ein Stigma als negative Etikettierung einer Person fungiert, die in einem oder mehreren Aspekt(en) von bestehenden Vorstellungen von „normalen“ Verhaltensweisen und Eigenschaften einer Majorität abweicht. Für die Feststellung stigmatisierender Charakteristika sind sowohl die jeweiligen Kulturen und Subkulturen als auch der soziale Kontext ausschlaggebend, sodass beispielsweise Fettleibigkeit in einigen Gesellschaften stigmatisiert wird und in anderen nicht und einige Merkmale nur in bestimmten Situationen stigmatisierend wirken (vgl. Neuberg et al. 2000, S. 32).

Bei der Zuschreibung eines negativen Merkmals und der zusätzlichen Verknüpfung mit weiteren negativen Eigenschaften (Stigmatisierung) befindet sich das Individuum in einem Dilemma, was Esso Leete, die selbst über 20 Jahre mit einer Schizophrenie gekämpft hat, mit den Worten „Stigma is an ugly word, with ugly consequences” (Leete 1992, S. 19) beschreibt. Das Individuum kann die Zuschreibung zurückweisen, sie annehmen, sie in sein Selbst integrieren oder sich dem betreffenden Umfeld entziehen (vgl. von Kardoff 2010, S. 6). Von Kardoff, ehemaliger Professor für Soziologie der Rehabilitation, berufliche Rehabilitation und Rehabilitationsrecht, beschreibt, dass sich die Konsequenzen für die Betroffenen auf ihre Lebensqualität und -chancen abschätzen lassen, wenn man davon ausgeht, dass sich die eigene Identität zum Großteil aus der Anerkennung anderer bildet (vgl. ebd., S. 6). Asmus Finzen konstatiert die Kausalität zwischen gesellschaftlichen Vorurteilen und dem Alltagserleben von Individuen und gibt zu bedenken, dass das Maß der Ausgrenzung abhängig vom Ausprägungsgrad des gesellschaftlichen Vorurteils ist (vgl. Finzen 2000, S. 35). Der Psychiater, Nervenarzt und Wissenschaftspublizist bringt die schwerwiegenden Folgen für Stigmatisierte mit seinem viel zitierten Vergleich auf den Punkt: „Auf diese Weise wird das Stigma zur zweiten Krankheit, die ebenso belastend sein kann wie die erste und die zum Genesungshindernis ersten Ranges werden kann“ (ebd., S. 35).

Jones et al. erarbeiteten in ihrem Werk „Social Stigma: The Psychology of Marked Relationships“ 1984 sechs Grunddimensionen von Stigmata. Den Autoren zufolge hat jede einzelne Dimension Einfluss darauf, wie sehr ein Stigma eine soziale Interaktion beeinflusst. Die erste entscheidende Dimension „concealability“ ist die Sichtbarkeit des Stigmas und die damit verbundene Möglichkeit, die stigmatisierenden Merkmale zu verstecken. Je sichtbarer ein stigmatisierender Faktor ist, desto höher sind seine Auswirkungen auf Interaktion und Kommunikation (vgl. Jones et al. 1984, S. 24). Ist das stigmatisierende Merkmal für Außenstehende nicht identifizierbar, so schätzen Robert Kurzban und Mark Leary, werden Unbeteiligte das Individuum vermutlich nicht anders behandeln als andere (vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 190). Die zweite Dimension „course“ bezeichnet den Verlauf des Stigmas bzw. die Art und Weise, wie sich die stigmatisierenden Merkmale verändern und was das Resultat dessen ist, bzw. ob das Stigma vorrübergehend oder dauerhaft besteht (vgl. Jones et al. 1984, S. 24). Auf den Verlauf des Stigmas folgt die „disruptiveness“, das „Ausmaß der Zerrüttung“ (Grausgruber 2005, S. 26), bzw. die Störungstendenz auf soziale Interaktionen: Wie stark gefährden oder behindern die stigmatisierenden Bedingungen gesellschaftliche Interaktionen? (vgl. Jones et al. 1984, S. 24). Wie bei der Dimension „concealability“ ist „die Richtung der Kausalität dieser Variable unklar“ (Kurzban/Leary 2001, S. 190), da einige Individuen tatsächlich Ablehnung erfahren, wenn sie den gewöhnlichen Verlauf sozialer Interaktionen gefährden. Kurzban und Leary schildern, dass Ickes (1984) jedoch herausfand, dass die an die Rasse gebundene Stigmatisierung „interrassische soziale Interaktionen“ (ebd., S. 190) störe, sodass „Stigmatisierung per se auch dann störend sein kann, wenn es der ursprüngliche Zustand nicht ist“ (Ickes 1984 zit. n. Kurzban/Leary 2001, S. 190). Die ästhetische und vierte Dimension „aesthetic qualities“ verweist darauf, wie abstoßend das stigmatisierende Merkmal die betroffene Person erscheinen lässt (vgl. Jones et al. 1984, S. 24). Die fünfte Dimension „origin“ greift den Ursprung des Stigmas auf und thematisiert, auf welche Weise das Stigma erlangt wurde bzw. welche Ursache oder Person für seine Herausbildung verantwortlich ist (vgl. ebd., S. 24). Neben der Herkunft eines Stigmas („origin“) thematisiert sein Verlauf („course“) die Kontrollierbarkeit eines Stigmas (vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 190). Personen, die mit einem Stigma versehen sind, was in den Augen Außenstehender vermeidbar gewesen wäre, werden manchmal stärker kritisiert als „hilflose Opfer“ (ebd., S. 190), sodass das Ausmaß der Kontrolle des Betroffenen mit Einstellungen und Verhaltensweisen der Umwelt korreliert (vgl. ebd., S. 190). Die sechste Dimension, die laut Jones et al. Einfluss auf das Ausmaß der Stigmatisierung hat, ist das Bedrohungspotenzial „peril“. Diese Dimension umfasst die Art und den Umfang der Gefahr, die vom Stigmatisierten ausgeht (vgl. Jones et al. 1984, S. 24).

2.2 Stigmatisierung

Während der Soziologe Richard Münch ein Stigma als „ein Attribut einer Person“ (Münch 2002, S. 301) definiert, betont Heinrich Tröster, Professor mit Lehrstuhl für Rehabilitationspsychologie, dass der Begriff „Stigma“ „keine Eigenschaf(t) von Merkmalen oder Verhaltensweisen“ (Tröster 2009, S. 148), sondern einen „sozialen Definitionsprozess“ (ebd., S. 148) beschreibt, bei dem eine Person aufgrund abweichender Merkmale als „anders“ wahrgenommen wird, ihr auf Grundlage dieser Abweichung weitere negative Eigenschaften zugeschrieben werden und sie in Folge dessen Ablehnung seitens der (Mehrheits-)Gesellschaft erfährt (vgl. u. a. Hohmeier 1975, S. 7, vgl. Grausgruber 2005, S. 20 f.). Jürgen Hohmeier versteht Stigmatisierung als „verbales oder non-verbales Verhalten, das aufgrund eines zueigen gemachten Stigmas jemandem entgegengebracht wird“ (Hohmeier 1975, S. 7) und weist, wie Tröster, in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nicht die unterstellte Andersartigkeit soziologisch relevant ist, sondern der „Definitionsprozeß, der diese Andersartigkeit festlegt“ (Hohmeier 1975, S. 7) und schwerwiegende Folgen nach sich zieht. Ernst von Kardoff beschreibt Stigmatisierung als

„generellen Mechanismus, (...) der auf der Ebene der Gesellschaft der Grenzziehung zwischen vorherrschenden Normalitätsvorstellungen und Abweichung dient und auf Ebene der sozialen Interaktion die Grenze zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss markiert“ (von Kardoff 2010, S. 4).

Nach von Kardoff entfaltet Stigmatisierung „ihre normative Kraft vor dem Hintergrund der gesellschaftlich durchgesetzten, stillschweigend akzeptierten und sanktionierten Normalitätsstandards“ (ebd., S. 4) und bildet somit die Grundlage für gesellschaftliche Diskriminierung und soziale Ausgrenzung. Bei dem Stigmatisierungsprozess handele es sich um einen Klassifizierungsvorgang eines Gesellschaftsmitgliedes seitens der Mehrheitsgesellschaft, der nur schwer umzukehren sei. Von Kardoff äußert die Vermutung, dass sich die gesellschaftlichen Stigmata und ihre Inhalte wandeln, jedoch nicht die Stigmatisierung selbst (vgl. ebd., S. 6). Sie stelle für den Betroffenen einen besonders kränkenden und identitätsgefährdenden Prozess dar, der politisch kaum steuerbar sei und sich Aufklärungsversuchen immer wieder entziehen zu scheint (vgl. ebd., S. 4). Im Zusammenhang mit den Begriffen „Stigma“ und „Stigmatisierung“ und deren Folgen wird oft der Terminus „Diskriminierung“ verwendet. Im sozialwissenschaftlichen wird „Diskriminierung“ verstanden als

„Ungleichbehandlung, im soziologischen Sinne ungleiche, herabsetzende Behandlung anderer Menschen nach Maßgabe bestimmter Wertvorstellungen oder aufgrund unreflektierter, z. T. auch unbewusster Einstellungen, Vorurteile und Gefühlsladungen“ (Hillmann 1994, S. 155).

Jones et al. weisen im Kontext des Terminus „Stigma” auf die inhaltliche Nähe zu einem weiteren sozialwissenschaftlichen Konzept hin: „We assume that there is always a strong tendency for stigmatizing reactions to move in the direction of stereotypes that rationalize or explain the negative affect that is involved” (Jones et al. 1984, S. 10). Da das Konzept des Stereotyps eng mit dem Entstehen von Stigmata verbunden zu sein scheint und elementar für das Verständnis der weiteren Ausführungen ist, wird an dieser Stelle zunächst erläutert, was unter Stereotypen zu verstehen ist.

2.3 Stereotyp

Auch der Begriff „Stereotyp“ stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus den Worten „stereos“ (dt. starr, hart, fest) und „typos“ (dt. Entwurf, feste Norm, charakteristisches Gepräge) zusammen (vgl. Petersen 2011, S. 233). Ursprünglich wurde der Begriff Ende des 18. Jahrhunderts vom französischen Typografen und Schriftsteller Firmin Didot für die Bezeichnung eines Druckvorgangs verwendet. In den Sozialwissenschaften prägt der Journalist Walter Lippmann in seinem frühen Werk „Public Opinion“ den Begriff des Stereotypens maßgeblich, in dem er Personen als Gesellschaftsmitglieder und Teil einer Gruppe und nicht als Individuen auffasst, denen, wie im drucktechnischen Verfahren, „Stempel aufgedrückt“ werden. Der Autor schreibt Stereotypen eine immense Bedeutung zu und konstatiert, sie seien hilfreiche Instrumente, ohne die wir nicht leben könnten (vgl. Lippmann 1922, xiii).

Im umgangssprachlichen lassen sich „Stereotype“ mit dem „Schubladendenken“ übersetzen (vgl. Kulbe 2017, S. 164). Sie können als „Konzept zur Wahrnehmung sozialer Phänomene“ (Möller-Leimkühler 2005, S. 46) und als verfestigte, verallgemeinernde Bilder von Meinungsobjekten, zum Beispiel Menschen sozialer Kategorien, verstanden werden (vgl. Kulbe 2017, S. 164). In diesem Zusammenhang spricht man auch von „,typisierte(n)‘ Meinungen (...) über Merkmale, Eigenschaften oder Attribute von Personen“ (Möller- Leimkühler 2005, S. 46), die aufgrund ihrer Kategorisierungen einer Gruppe zugeordnet werden.

In der frühen Sozialforschung herrschte die Annahme, Stereotype seien die Wahrnehmungsraster kognitiv einfach strukturierter Menschen. Die Vorstellung der verzerrten Realitätswahrnehmung aufgrund kognitiver Unzulänglichkeiten in Meinungs- und Urteilsbildungsprozessen greift unter anderem deshalb zu kurz, da Urteilsprozesse auch ohne Stereotypen verzerrt sein können. Der heutige Wissensstand liefert Einigkeit darüber, dass Stereotype nicht auf kognitiven Defiziten beruhen, sondern stets rational sind, da sie angesichts der Informationsflut aus der Umwelt eine Notwendigkeit für die effiziente Informationsverarbeitung darstellen (vgl. ebd., S. 47). Heute werden Stereotype abstrakter verstanden, als eine „Variante von Einstellungen, die auf sozialen Repräsentationen, also impliziten, gesellschaftlich geteilten Theorien über Personen basieren“ (ebd., S. 46).

Asmus Finzen beschreibt soziale Repräsentationen als

„inner(e) Bilde(r), die in einer Mischung von Wissen und Gefühlen im Laufe des Lebens erworben werden und sich, wenn überhaupt, nur ganz allmählich ändern. Soziale Repräsentationen sind nicht schlichtes Alltagswissen. Sie sind Wissen verknüpft mit ideologischen, zum Teil mythischen und emotionalen Vorstellungen, im Falle von Krankheiten vor allem Angst“ (Finzen 2000, S. 41 f.).

Anne Marie Möller-Leimkühler, Professorin für Sozialwissenschaftliche Psychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, sieht Stereotype als

„kulturell vorgefertigte, in ein komplexes empirisch-theoretisches Geflecht von Aussagen, Interpretationen und Wertungen eingebundene Schemata, die eine Ordnungs- und Integrationsfunktion erfüllen in einer ‚unordentlichen‘ komplexen Umwelt“ (Möller-Leimkühler 2005, S. 46).

Stereotype und die mit ihr einhergehenden Verallgemeinerungen erleichtern folglich die soziale Orientierung. Sie operieren als „Elemente normaler Informationsverarbeitungsprozesse“ (ebd., S. 46), vereinfachen die soziale Wahrnehmung und dienen der kognitiven Reduktion der komplexen „Wirklichkeit“. Somit stellen sie unmittelbare Orientierungs- und Entscheidungshilfen im alltäglichen Zusammenleben zur Verfügung (vgl. ebd., S. 46 f.). Als „unpräzise Wahrscheinlichkeitsaussagen“ (ebd., S. 46) können Stereotype weder vollkommen richtig noch vollkommen falsch sein. Sie sind Bezugspunkte für die nachfolgende Informationsverarbeitung, da soziale Kategorien bei besonders unerwarteten, auffälligen, abweichenden oder negativen Umweltreizen „automatisch“ abgerufen werden können und das gesamte neuronale Informationsnetz aktiviert wird (vgl. ebd., S. 49). Somit wird die Verarbeitung stereotyper, konsistenter Informationen gefördert (confirmation bias). Für psychisch Kranke beispielsweise bedeutet dies, dass negative Eigenschaften häufiger zur Verhaltens-Attribution herangezogen werden als positive. Da Stereotype und Vorurteile im Kontext sozialer Repräsentationen entstehen und Inhalte auf den „überlieferten historisch- gesellschaftlichen Sinnzusammenhang bezogen“ (ebd., S. 51) sind, ist ihre Veränderung nur im Rahmen eines gesellschaftlichen Wandels möglich und somit ein sehr langwieriger Prozess.

2.4 Vorurteil

Ausschlaggebend für die Selbstwahrnehmung einer Person ist einerseits, wie sie selbst auf andere Menschen wirkt, andererseits, wie andere Menschen auf sie wirken. Wie erwähnt, führen nicht nur Stereotype zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität, sondern auch „Vorurteile“. Deshalb wird in diesem Kapitel erläutert, was unter „Vorurteilen“ zu verstehen ist und wie diese von Stereotypen abgegrenzt werden können. Wie Amering und Schmolke darlegen, brachte schon Albert Einstein die Resistenz von Vorurteilen auf den Punkt: „Es ist leichter, ein Atom zu zerstören als ein Vorurteil“ (Amering/Schmolke 2007, S. 227).

„Vorurteile stellen eine besondere Art der negativen Einstellung – vorrangig gegenüber Personen oder Personengruppen – dar“ (Kulbe 2017, S. 163). Nach Alfred Grausgruber, Assistenzprofessor der Johannes Kepler Universität in Linz, sind Vorurteile durch eine „besonders verhärtete Voreingenommenheit“ (Grausgruber 2005, S. 23) gekennzeichnet und auch Annette Kulbe, Diplom- Pädagogin mit Ausbildungen in humanistischer Gesprächsführung und Gestalttherapie, konstatiert, dass Vorurteile „selbst bei gegenteiliger Erfahrung“ (Kulbe 2017, S. 163) stabil und nur schwer änderbar sind. Diese Voreingenommenheit beachte die faktische Gegebenheit zu wenig, verzerre Informationen oder ignoriere Zutreffende, lehne Falsche nicht ab oder fälle vorschnell verallgemeinernde Urteile (vgl. u. a. Grausgruber 2005, S. 23, vgl. Hohmeier 1975, S. 10 f., vgl. Kulbe 2017, S. 163). Vorurteile beinhalten eine wertende Komponente, da sie Beurteilungen von Personengruppen implizieren (vgl. Hohmeier 1975, S. 8, vgl. Kulbe 2017, S. 163), sodass sie im Vergleich zu Stereotypen von Emotionen begleitet sind. Jürgen Hohmeier sieht Stigmata deshalb auch als „Sonderfall eines sozialen Vorurteils gegenüber bestimmten Personen, durch das diesen negative Eigenschaften zugeschrieben werden“ (Hohmeier 1975, S. 7). Eine klassische Definition des Begriffs „Vorurteil“ stammt vom amerikanischen Psychologen Goldon Allport. Nach ihm handelt es sich bei einem Vorteil um eine

„ablehnende oder feindselige Haltung gegenüber einer Person, die zu einer Gruppe gehört und deswegen dieselben zu beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man dieser Gruppe zuschreibt“ (Allport 1971, S. 21).

Die US-amerikanische Sozialpsychologin Susan Fiske und das Forschungsteam um Nicolas Rüsch, Leiter der Sektion Public Mental Health und Oberarzt am Universitätsklinikum Ulm, schlagen vor, Stereotype als kognitive, Vorurteile als affektive bzw. emotionale und Diskriminierung als verhaltensbezogene Komponenten zu verstehen (vgl. Fiske 1998, S. 372, vgl. Rüsch et al. 2004, S. 3 f.). Andere bekannte Forscher definieren Vorurteile als negative Einstellungen mit kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Aspekten (vgl. Fiske 1998, S. 372). Laut einer frühen Definition von Krech, Crutchfield und Ballachey kann „Einstellung“ („Attitude“) definiert werden als

„an enduring system of three components centering about a single object: the beliefs about the object – the cognitive component; the affect connected with the object – the feeling component; and the disposition to take action with respect to the object – the action tendency component” (Krech/Crutchfield/Ballachey 1962, S. 146).

Rüsch et al. erläutern, dass das Kennen von Stereotypen nicht zwangsläufig ihre Unterstützung bedeutet. Wenn Menschen negative Stereotype jedoch unterstützen, handele es sich um Vorurteile (Rüsch et al. 2004, S. 3 f.). Fiske beschreibt, dass Vorurteile sehr viel stärker zu Diskriminierungen beitragen als Stereotype. Die sprachlichen Konzepte vereint, dass Individuen Verallgemeinerungen erfahren und sie aufgrund bestimmter Merkmale einer Personengruppe zugeordnet werden. Auch bei der Unterscheidung zwischen Stigmata und Stigmatisierung nimmt Grausgruber Bezug auf die kognitive und die Verhaltensebene und schildert, dass Stigmata und Vorurteile die Einstellungsebene beeinflussen, Stigmatisierungen auf der Verhaltensebene wirken (vgl. Grausgruber 2005, S. 23).

3. Funktionen von Stigmata

Bereits im ersten Kapitel wurde erläutert, dass die Stigmatisierung ein rationaler Prozess ist, der keineswegs mangelnden kognitiven Fähigkeiten zugrunde liegt, sondern eine effiziente Informationsverarbeitung ermöglicht. Nachdem stark verkürzt die Funktionen von Stereotypen und Vorurteilen aufgezeigt wurden, sollen daran anknüpfend an dieser Stelle in ausführlicherer Form die Funktionen von Stigmata erläutert werden. Da Individuen nicht unabhängig vom Zusammenleben in der Gesellschaft gedacht werden können (vgl. Neuberg et al. 2000, S. 35), erfüllen Stigmata sowohl auf Mikro- als auch auf Metaebene wichtige Funktionen des sozialen Handelns (vgl. u. a. Hohmeier 1975, S. 10, vgl. Kulbe 2017, S. 165).

Die viel zitierte Definition des Soziologen Max Weber vom „sozialen Handeln“ ist nach wie vor richtungsweisend: „ein menschliches Verhalten (...) wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven S i n n verbinden“ (Weber 1964, S. 1, Hervorhebung i. O.). Der von Weber fokussierte „subjektiv(e) S i n n“ (ebd., S. 1, Hervorhebung i. O.) ist für Außenstehende nur erklärbar, wenn sie herausfinden, wie „der Handelnde seine Wahrnehmung subjektiv geordnet hat“ (Frey 1983, S. 4). In der soziologischen Perspektive ist menschliches Handeln folglich nur relevant, wenn es sich auf Interaktionen zwischen Menschen bezieht (vgl. ebd., S. 4 f.). Nach Weber ist Handeln dann sozial, wenn es „seinem von dem oder der Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten a n d e- r e r bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1964, S. 1, Hervorhebung i. O.). Schlussfolgernd lässt sich festhalten, dass soziales Handeln zwei Aspekte beinhaltet: Es ist sozial bestimmt und hat soziale Konsequenzen. Es ist deshalb sozial determiniert, da es stark von gesellschaftlichen Einflüssen und Institutionen abhängig ist. Indem soziales Handeln „soziale Verhältnisse konstituiert“ (ebd., S. 5), die bestätigt oder modifiziert werden, hat soziales Handeln soziale Konsequenzen.

Kurzban und Leary fassen drei Funktionen von Stigmata zusammen und legen dar, dass Menschen andere Personen stigmatisieren, um (a) ihr Selbstwertgefühl zu steigern, (b) ihre soziale Identität zu optimieren oder (c) eine politische, soziale oder ökonomische Struktur zu rechtfertigen (vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 189 f.). Hinsichtlich dieser Funktionen definieren die Autoren Stigmatisierung als einen verunglimpfenden Prozess anderer mit dem Ziel einer „psychologisch überlegenen Position“ (ebd., S. 189 f.). Auch das Team um den Sozialpsychologen Steven Neuberg nimmt an, dass Menschen andere teilweise deshalb stigmatisieren, um die komplexe Vielseitigkeit von Individuen zu reduzieren, um sich selbst als Individuen oder als Teil der Gruppe besser zu fühlen, um einen präferierten Status zu rechtfertigen oder um eine bestimmte Weltansicht zu bestätigen (vgl. Neuberg et al. 2000, S. 32 f.).

Die Autoren weisen darauf hin, dass aus den folgenden, stark verallgemeinerten Hypothesen nicht hervorgeht, welche Eigenschaften ein Individuum aufweisen muss, damit andere es zur Erhöhung ihres Selbstwertgefühls stigmatisieren. Zudem können die Funktionen keine kultur- und artübergreifenden sowie historischen Ähnlichkeiten in den Inhalten der Stigmata feststellen und nur wenig darüber aussagen, wie genau und aus welchen Gründen Gesellschaftsmitglieder Personen stigmatisieren; warum sie beispielsweise einige Individuen meiden, während sie andere verspotten (vgl. ebd., S. 33).

Gruber, Böhm, Wallner und Knoren weisen zunächst auf eine sehr allgemeine Funktion von Stigmata für Individuen hin, indem sie festhalten, Stigmata könnten für die Sicherung eigener Vorteile genutzt werden (vgl. Gruber et al. 2018, S. 185). Wie eingangs erläutert, haben Stigmata eine Orientierungsfunktion inne, indem sie eine Vorstellung davon schaffen, was innerhalb sozialer Interaktionen „normal“ ist (vgl. Grausgruber 2005, S. 24). Vorangegangene Erfahrungen geben vor, wie sich Personen in sozialen Kontexten verhalten sollten, sodass Situationen nicht jedes Mal neu bewertet werden müssen und Stigmata Personen dabei helfen, leichter und schneller und somit besser in ihrem Umfeld zurecht zu kommen (vgl. Kulbe 2017, S. 165). Damit vermitteln sie ein Gefühl von Sicherheit gegenüber Neuem und liefern einen „psychische(n) Gewinn“ (ebd., S. 165), indem Unsicherheiten und Ängste vermieden werden können. Auch Hohmeier schildert die Reduktion von Unsicherheit durch die Strukturierung von Situationen im Voraus mittels Stigmata und erläutert, dass sie der Entscheidungshilfe dienen (vgl. Hohmeier 1975, S. 10).

Angelehnt an diese Erkenntnis beschreibt Kulbe die Handlungsfunktion von Stigmata (vgl. Kulbe 2017, S. 166). Vorhandene Einstellungen beeinflussen unsere Wahrnehmung von Informationen (confirmation bias) und somit das Verhalten gegenüber anderen, die diese Einstellungen unbewusst „registrieren“ und in Folge auf die erfahrene Ablehnung mit den prophezeiten, negativ erwarteten Handlungen reagieren. Diese selbsterfüllenden Prophezeiungen können als Teufelskreis verstanden werden, der es keiner Partei ermöglicht, das eigene Verhalten zu ändern (vgl. ebd., S. 166). Zudem ermöglichen Stigmata durch implizierte Verhaltenserwartungen unter Verwendung eines Mindestmaßes an Informationen ein Höchstmaß an Vermutungen über den Interaktionspartner (vgl. Lofland 1969, S. 142 f.). Wie erläutert, birgt die generalisierte Kategorisierung aber auch ein Risiko, da wahrgenommene Informationen Selektionen und Verzerrungen unterliegen und neue Erfahrungen unmöglich werden (vgl. Bergler 1966, S. 86, S. 109 ff.). Kulbe beschreibt Stigmata deshalb als „Möglichkeit, sich (...) nicht mit Fremden oder Unbekanntem auseinander setzen zu müssen“ (Kulbe 2017, S. 165) und als eine „Art persönliches Alibi, um weiterhin bei seinen Vorurteilen bleiben zu können und diese erneut bestätigt zu wissen“ (ebd., S. 165).

Shlomo Grioa Shoham, der 2003 den Israel-Preis in der Kriminologieforschung erhielt und heute Wissenschaftler und Lehrer an der Juristischen Fakultät der Universität in Tel Aviv ist, beschreibt, dass Stigmata aus tiefenpsychologischer Perspektive als „Ventil für Aggressionen“ (Shoham 2013, S. 98 f.) und „Projektionen der Schuld“ (ebd., S. 98 f.) verstanden werden können: „Inner aggression and the projection of guilt for the stigmatizer’s own deviantional tendencies are the subconscious sources of social stigma“ (ebd., S. 98 f.). Darüber hinaus verantworten Stigmata eine Entlastungsfunktion, indem sie „Projektionen verdrängter Triebansprüche“ (Hohmeier 1975, S. 11) darstellen. Personen schreiben anderen Menschen Antriebe und Wünsche zu, die sie selbst nicht zu realisieren wagen (vgl. Allport 1954, S. 384 ff.). Stigmatisierungen sind sowohl für den Stigmatisierten als auch den Stigmatisierenden eine „Strategie zur Identitätssicherung“ (Grausgruber 2005, S. 25, vgl. u. a. Kurzban/Leary 2001, S. 189 f.). Während der Stigmatisierte mittels „Stigma-Techniken“ versucht, sein Stigma zu verbergen, zu leugnen oder zu relativieren, ist es das Bestreben der Stigmatisierenden, die die Begegnung mit einem Betroffenen oftmals als Bedrohung wahrnehmen, ihren eigenen, psychisch gesunden Geisteszustand zu wahren und „Abweichungsgelüst(e)“ (Grausgruber 2005, S. 25, vgl. Hohmeier 1975, S. 11) zu vermeiden. Die Zuschreibung von Stigmata dient somit der Abgrenzung und Vergewisserung der „eigenen Normalität und Identität“ (Gruber et al. 2018, S. 185).

Jennifer Crocker, ehemalige Präsidentin der Gesellschaft für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, führte 1998 in der sozialpsychologischen Stigma- Forschung die Funktion des „Terror Management(s)“ (Crocker 1998, S. 510) von Stigmata an, indem sie Individuen ein Weltbild und Bedeutungssystem für die Abwehr existenzieller Ängste bereitstellen (vgl. ebd., S. 510). Die zentrale Annahme des „Terror Management(s)“ (ebd., S. 510) beschreiben Solomon, Greenberg, und Pyszczynski: Die einzigartigen kognitiven Fähigkeiten der Menschen machen ihnen bewusst, dass sie unweigerlich sterben werden, der Tod oft vorzeitig und unerwartet eintritt, Menschen unfreiwillig in ein unkontrollierbares und unbestimmtes Universum hineingeboren und mit größter Sicherheit aus diesem aussterben werden (vgl. Solomon et al. 1991, S. 95). In dieser unsicheren Welt verleihen Stigmata den Menschen das Gefühl von Kontrolle und Steuerung, da sie normabweichende Personen für ihr nonkonformes Verhalten, die Erschütterung ihrer übersichtlichen, heilen Welt und den Vertrauensverlust in das, was „richtig“ ist, mit Diskriminierungen sanktionieren können (vgl. Crocker et al. 1998, S. 508).

Zudem unterstützen Stigmata das „Streben nach Selbstachtung“ (Crocker 2004, S. 4). Gemäß der downward comparison theory ist es Personen durch die Abwertung anderer möglich, dass eigene Selbstbild zu erhöhen. Dabei gelingen Stigmatisierungen und Diskriminierungen besonders durch den Vergleich mit Personen, die sozial schwächer gestellt sind, was Crocker im Zusammenhang der „ downward social comparisons“ (ebd., S. 11 f., Hervorhebung i. O.) beschreibt. Durch den Vergleich sozial unterschiedlich gestellter Gruppen können Stigmata zur „Erhöhung des Wertes der Eigengruppe“ (Grausgruber 2005, S. 25, vgl. Kulbe 2017, S. 166) führen und ihre besondere Bedeutung und Überlegenheit rechtfertigen (vgl. Kulbe 2017, S. 166). Dies geschieht vor allem in Wettbewerbssituationen oder vor dem Hintergrund besonders hoher Angst und starken Drucks (vgl. Grausgruber 2005, S. 25). Neben Crocker beschreiben unter anderem Kurzban und Leary die Erhöhung des Selbstwertgefühls von Individuen und Gruppen durch Stigmatisierungen. Die Theorie des gesteigerten Selbstwertgefühls durch die Diskriminierung anderer impliziert laut ihnen die Schlussfolgerungen, dass Diskriminierungen einerseits das Selbstwertgefühl steigern, andererseits aufgrund eines geringen Selbstwertgefühls erfolgen (vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 189 f.).

In diesem Kontext fungieren Stigmata als „Platzanweiser in der sozialen Statushierarchie“ (von Kardoff 2010, S. 6), als Machtinstrumente für die „Unterdrückung von Minderheiten“ (Gruber et al. 2018, S. 185, vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 189 f.) und der Legitimation des „immer rechtfertigungsbedürftigen sozialen Ausschluss(es)“ (von Kardoff 2010, S. 6). Kurzban und Leary schildern, dass Personen grundsätzlich dazu neigen, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systeme, in denen sie leben, zu rechtfertigen (vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 189 f.). Durch diese Funktion der „Systemrechtfertigung“ (Grausgruber 2005, S. 26, vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 189 f.) werden ungleiche Positionen verschiedener Menschen legitimiert, sodass Personen höherer Statusgruppen Menschen niedriger Statusgruppen stigmatisieren und somit ihre Privilegien rechtfertigen können (vgl. Gruber et al. 2018, S. 185, vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 189 f.). Eng verbunden mit der Funktion der Systemrechtfertigung ist die „Systemstabilisierungsfunktion“ (Grausgruber 2005, S. 26, vgl. Hohmeier 1975, S. 12, vgl. Kurzban/Leary 2001, S. 189 f.), die den Zugang zu Ressourcen sowie gesellschaftlichen und beruflichen Positionen reguliert und damit letztlich über Lebenschancen bestimmt (vgl. Gruber et al. 2018, S. 185). Im Zusammenhang verweist Hohmeier auf die „Herrschaftsfunktion“ (Hohmeier 1975, S. 12) von Stigmata.

Tröster definiert ein Stigma als „kognitives Schema, das sich im Laufe der Evolution aufgrund seiner adaptiven Funktion herausgebildet hat“ (Tröster 2009, S. 148). Diese adaptive Funktion bestehe in der Ausgrenzung von Menschen, die das „Überleben der Gruppe“ (ebd., S. 148) gefährden könnten. Neuberg et al. beschreiben den Stigmatazweck nach dem „Survival-of-the Fittest-Konzept“ wie folgt:

„group living is highly adaptive for human survival and gene transmission, people will stigmatize those individuals whose characteristics and actions are seen as threatening or hindering the effective functioning of their groups. (…) Group living - characterized by prosocial tendencies such as sharing, cooperation, and mutual investment - is the primary human survival strategy: To the extent that the group operates effectively, its individual members benefit“ (Neuberg et al. 2000, S. 35).

Neuberg et al. kommen also zu dem Fazit, dass Personen, die gut in Gruppenstrukturen integriert sind, ihre Gene wahrscheinlicher weitergeben werden. Somit werde Gesellschaftlichkeit über einen langen Zeitraum eine biologisch basierte, menschliche Eigenschaft (vgl. ebd., S. 35).

Wie auch Normen, Werte und Einstellungen leisten Stigmata einen Beitrag zur Regulation von Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen und können deshalb als „Interaktionsregulationen“ (Grausgruber 2005, S. 26) verstanden werden. Da in einer Gesellschaft unterschiedliche soziale Gruppen koexistieren, minimieren Stigmata auch auf positive Weise gesellschaftliche Disparitäten und Konflikte. Dies wirkt sich jedoch förderlich auf die Legitimation von Ideologien und Diskriminierungen aus: „Categorizing people into ingroups and outgroups minimizes within-group differences (they all look alike) and accentuates between-group differences (they don’t look like us)” (Fiske 1998, S. 361).

Vor allem im Fall von gesellschaftlichen und sozialen Problemen suchen Menschen nach Ursachen für entstandene Schwierigkeiten. Im Zuge dessen werden Randgruppen mit vergleichsweise wenig Macht durch die Zuschreibung negativer Eigenschaften zu „Sündenböcken“ erklärt. Gruber et al. führen in diesem Zusammenhang die „Verschleierungsfunktion“ (vgl. Gruber et al. 2018, S. 185) von Stigmata an, da durch das Beschuldigen von Personen die „echten“ gesellschaftlichen Missstände verdeckt bleiben.

Die wohl offensichtlichste Funktion von Stigmata zielt noch einmal auf die sozialen Normen ab. Schon Émile Durkheim, der französischer Sozio- und Ethnologe war, erläuterte das Paradoxon, dass Normabweichungen ein „integrierender Bestandteil einer nicht-pathologischen Gesellschaft“ (Peuckert 1995, S. 229) sind und erst die Abweichung von bestehenden Normen ihre Gültigkeit in Erinnerung ruft (vgl. ebd., S. 229). Indem Stigmata die Gesellschaftsmitglieder unter indirekter Androhung von Sanktionen unter Zugzwang setzen, sozial konform zu handeln, schaffen sie eine „Stärkung der Konformität“ (Grausgruber 2005, S. 26, vgl. u. a. Hohmeier 1975, S. 12, vgl. Berger 1966, S. 97, vgl. Shoman 1970, S. 7).

4. Hypothesen zur Entstehung von Stigmata

Nachdem erläutert wurde, was Stigmata und Stigmatisierungen sind und welche Funktionen sie erfüllen, ist es das Ziel dieses Kapitels, ausschlaggebende Faktoren für die Entstehung von Stigmata darzustellen. Es wurde bereits erläutert, dass die Existenz und Wahrnehmung eines abweichenden Merkmals einer Person für die Zuschreibung weiterer Merkmale und die anschließende Kategorisierung grundlegend sind. Neben der Herausbildung von Stereotypen und Vorurteilen verweist unter anderem Finzen auf die Bedeutung sozialer Repräsentationen (Moscovi 1984) und betont, dass Alltagswissen, beispielsweise über psychisch Kranke, nicht ausschließlich durch Medien vermittelt wird, sondern sich vor allem aus tradierten Wissensbeständen und ideologischen, emotionalen und mythischen Vorstellungen speist (vgl. Finzen 2000, S. 41 f., vgl. Grausgruber 2005, S. 23).

In seiner frühen Arbeit „Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß“ (1975) befasst sich Jürgen Hohmeier damit, wie ein Stigma in einer Gesellschaft „Geltung erlangt“ (Hohmeier 1975, S. 6). Denn neben wahrnehmbaren Unterschieden zwischen Individuen müssen für die Entstehung von Stigmata weitere gesellschaftliche Rahmenbedingungen gegeben sein. Eine Voraussetzung dafür liegt nach Hohmeier in der Struktur der Stigmata selbst, da die Übertragung eines einzelnen Merkmals auf die gesamte Person die Stigmatisierung besonders wirksam macht. Eine weitere Voraussetzung für die Herausbildung ist, wie erläutert, die Abweichung von einer definierten Norm. Dabei ist besonders die „Verbindlichkeit und Verbreitung der gebrochenen Norm“ (ebd., S. 9) sowie das „Eingreifen von Sanktionsinstanzen“ (ebd., S. 9) und das Verhalten anderer Gesellschaftsmitglieder entscheidend. Wie gezeigt, spielt auch Macht bei der Entstehung von Stigmata eine große Rolle, da Stigmatisierungen oftmals von Personen oder Gruppen ausgehen, die über mehr Macht als die Stigmatisierten verfügen. Besonders in diesem Kontext stellt sich erneut die Frage nach den Ursachen von Stigmatisierungen innerhalb einer Gesellschaft.

Eine Ursache für die Entstehung von Stigmata sieht Hohmeier in den Interessen gesellschaftlicher Institutionen. In dieser Hypothese bezieht er Stigmata auf die Herrschaftsstrukturen in einer Gesellschaft und die darin existierenden Organisationen, sodass die Institution „Privateigentum“ beispielsweise den stigmatisierten Dieb, die „christliche Kirche den sexuell Devianten“ (ebd., S. 21) konstituiert.

Ein weiterer Faktor, der das Entstehen von Stigmata begünstigt, ist laut Hohmeier die „Dynamik gesellschaftlicher Differenzierung“ (ebd., S. 21). Durch soziale Beziehungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen treten „regulierend(e) Normen“ (ebd., S. 21) in den Vordergrund. Dabei bietet jede Norm eine Möglichkeit, normabweichende Personen zu stigmatisieren und zu sanktionieren. Der Autor konstatiert jedoch, dass zusätzliche Faktoren wie die Machtdifferenz oder das Eingreifen gesellschaftlich organisierter Kontrollinstanzen die Normabweichung begleiten müssen, damit diese auch stigmatisierende Konsequenzen nach sich zieht.

Parallel zur „Dynamik gesellschaftlicher Differenzierung“ (ebd., S. 21) betrachtet von Kardoff die „fortschreitende Tendenz zur Individualisierung“ (von Kardoff 2010, S. 2) als ursächlich für die Herausbildung von Stigmata und schildert, dass Gesellschaften, die sich stark individualisiert und wettbewerbsorientiert inszenieren, besonders sensibel auf „Beschränkungen individueller Lebensentwürfe“ (ebd., S. 2) reagieren. Hohmeier konstatiert, dass prinzipiell alle Industriegesellschaften leistungs- und wettbewerbsorientiert sind (vgl. Hohmeier 1975, S. 10). Von Kardoff sieht in der „geforderten Vielfalt von Lebensentwürfen“ (von Kardoff 2010, S. 2) in der heutigen Gesellschaft eine Tendenz zu geringer werdenden Handlungsspielräumen, was insbesondere die „arbeitsmarktbezogene Leistungsfähigkeit“ (ebd., S. 2) betreffe. Auch Angermeyer und Schulze betrachten Wertvorstellungen der Gesellschaft wie Leistungsbereitschaft als ursächlich für das Aufkommen von Stigmata (vgl. Angermeyer/Schulze 2002a, S. 82). Die hohe Wettbewerbsorientierung und der Trend zur Individualisierung ist laut von Kardoff mit erhöhten Leistungsanforderungen in der Arbeitswelt, dem Zwang zur erhöhten Flexibilität und Ängsten vor der Leistungsbewertung und möglichem Statusverlust verbunden (vgl. von Kardoff 2010, S. 2). „Das erschöpfte Selbst“ der Moderne als Zeichen des sozialen Wandels mit dem Resultat zunehmender seelischer Störungen, Ängste und Depressionen beschreibt auch der französische Soziologe Alain Ehrenberg (2004).

Eine weitere allgemeine Hypothese für die Herausbildung von Stigmata ist nach Hohmeier die wachsende „Zweck-Mittel-Orientierung“ (Hohmeier 1975, S. 21) innerhalb der Gesellschaft, der sich einzelne Gruppen aufgrund ihrer unzulänglichen Eigenschaften nicht ausreichend anpassen können und somit in Widerspruch zu dieser Rationalisierung geraten.

Auch die „anthropologische Grundausstattung“ (ebd., S. 22) des Menschen ist eine Ursache für das Zustandekommen von Stigmata, da der Mensch ein natürliches oder anerzogenes Verlangen danach verspürt, sich selbst von anderen zu unterscheiden. Er hat einen starken Drang und Trieb nach der Entladung seiner Aggressionen, nach der „Projektion belastender Ansprüche“ (ebd., S. 22) und nach der Entlastung durch Übernahme bestehender Vorurteile.

5. Frühe Modelle des Stigmatisierungsprozesses

Bis zu diesem Kapitel wurden grundlegende Begrifflichkeiten definiert, Funktionen von Stigmata aufgezeigt und Hypothesen für die Soziogenese von Stigmata erarbeitet. Im Folgenden sollen diese Erkenntnisse anhand einiger elementarer Stigma-Modelle Anwendung finden.

Vorab noch kurz einige methodologische Anmerkungen zum Standort der nachfolgend dargestellten Inhalte und der weiteren Vorgehensweise. Die Beschäftigung mit Verhaltensweisen und Eigenschaften von Individuen und Gruppen, die von denen einer Majorität abweichen sowie die Ursprünge des Identitätsproblems und des Stigma-Konzeptes reichen bis in den Beginn der abendländischen Kultur (vgl. Frey 1983, S. 2). Diese zentralen Forschungsparadigmen stoßen in den multidisziplinären Sozialwissenschaften seit jeher auf großes Interesse, sodass unterschiedlich ansetzende Theorien dem Versuch zu erklären, warum einige Menschen „anders“ als andere sind, folgen. In diesem Zusammenhang ist der bereits verwendete Begriff der Devianz elementar, der die Abweichung von einer bestehenden Norm bzw. eine zugeschriebene Andersartigkeit beschreibt. Das „Anderssein“ von Personen wurde in frühen Ansätzen überwiegend als gegeben betrachtet, ohne dabei der Relevanz des sozialen Definitionsprozesses nachzugehen (vgl. Hohmeier 1975, S. 5 f.). Im Hinblick auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteressen wurden die Konzepte „Stigma“ und „Identität“ besonders in der amerikanischen Soziologie devianten Verhaltens miteinander verknüpft, doch auch sie übersah lange Zeit, dass deviantes Verhalten ein Resultat gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse ist. Zum einen knüpft die Soziologie abweichenden Verhaltens an die Hermeneutik des s ymbolischen Interaktionismus an, die heute unter dem Begriff der Handlungstheorie zusammengefasst wird, zum anderen war sie „schon immer stark empirisch-positivistisch orientiert“ (Frey 1983, S. 1), sodass sie ebenfalls die Schnittstelle dieser zwei weiteren Problemfelder darstellt.

Gewiss kann es weder Anspruch noch Ziel dieses Kapitels sein, sämtliche, aus diesen Problemkreisen resultierende Theorien, in ihrer Gänze zu erläutern. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlichster Erklärungsansätze liegt der Fokus dieser Arbeit auf einigen wegweisenden und frühen Erklärungsmodellen, auf die die heutige einschlägige Literatur noch immer verweist.

5.1 Das Stigma-Konzept nach Goffman

Die nachfolgenden Ausführungen können der gesamten Theorie Goffmans nicht gerecht werden und sollen nur einige wesentliche Merkmale seiner Theorie aufgreifen. Goffman beschäftigte sich vor allem damit, wie sich Stigmatisierte verhalten, wie sie versuchen, ihre Identität aufrecht zu erhalten, ihr Gesicht zu wahren und welche Techniken sie im Rahmen des „Stigma-Managements“ anwenden. Goffman versteht den Menschen als sozial determiniert, da sich das Individuum in einem permanenten Abwehrprozess gesellschaftlicher Zuschreibungen, die sich nicht mit den Vorstellungen vom eigenen Selbst vereinen lassen, befindet. In Folge dessen bewegt sich der Mensch kontinuierlich zwischen Anpassung und Abwandlung. Ausgehend von diesen Annahmen entwirft Goffman ein rollentheoretisches Identitäts konzept und differenziert zwischen der „sozialen-“, „persönlichen-“ und „Ich-Identität“.

„Der Begriff der sozialen Identität erlaubt uns, Stigmatisierung zu betrachten“ (Goffman 1967, S. 133). Bei der „sozialen Identität“ handelt es sich nach Goffman um eine soziale Erscheinung, da die Attribution von Eigenschaften einer Person stets durch die Lebensumwelt erfolgt und Goffman die „soziale Identität“ als „komplette(n) Satz von Attitüden“ (Goffman 1980, S. 10) beschreibt. Eine „soziale Identität“ geht mit Wissen über die eigene Identität im Gefüge der sozialen Zugehörigkeit und Erwartungen anderer einher. Goffman unterscheidet zwischen der „aktualen sozialen Identität“ und der „virtuellen sozialen Identität“. Die „aktuale soziale Identität“ ist jenes Attribut und Merkmal, über das eine Person tatsächlich verfügt, die „virtuelle soziale Identität“ konstituiert sich aus extern zugeschriebenen Charaktereigenschaften, sodass der zugeschriebene Charakter einer Person weniger ihren tatsächlichen Eigenschaften als vielmehr den Erwartungen anderer entspricht.

Komplementär zur „sozialen Identität“ konstituiert Goffman den Begriff der „persönlichen Identität“. Diese Identität entsteht durch die einzigartige Biografie eines Menschen, die den Bezugspunkt der Stigmatisierung bildet. Das Individuum ist gezwungen, sich mit der eigenen Identität und sämtlichen Lebensereignissen auseinanderzusetzen, anhand derer eine „kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann“ (Goffman 1967, S. 74). Durch die einmalige Kombination der Lebensdaten eines Menschen ist die Differenzierung gegenüber anderen Gesellschaftsmitgliedern möglich. Zudem garantiert die „persönliche Identität“ „die Kontinuität des Ich in einer Folge von sehr verschiedenartigen und vielfältigen Situationen“ (Benölken 1987, S. 37). Im diesem Kontext verweist Goffman auf spezifische „Stigma-Management- Techniken“, um mittels Informationskontrolle einen bestimmten Eindruck bei anderen Personen hervorzurufen (vgl. Goffman 1967, S. 133).

Die „soziale Identität“ als auch die „persönliche Identität“ bedeuten für das Individuum einen schwierigen Balance-Akt zwischen den Anforderungen der sozialen Umwelt und der gleichbedeutsamen Distanzierung und Differenzierung, da es einerseits den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht werden, andererseits aber die Vereinnahmung der sozialen Umwelt verhindern möchte. Die „persönliche Identität“ und die „virtuelle soziale Identität“ sind als zugeschriebene Identitäten soziale Produkte, die das Individuum im sozialen Interaktionsprozess erlangt. Wie sich beide Identitätstypen zueinander verhalten und welche Konsequenzen sie für das Individuum bedeuten, zeigt der Begriff der „Ich-Identität“. Die „Ich-Identität“ ist laut Goffman vor allem eine „subjektive und reflexive Angelegenheit“ (ebd. S. 133) und beschreibt „das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt“ (ebd., S. 132). Die „Ich-Identität“ beinhaltet somit den Umgang einer Person mit den ihr zugeschriebenen Identitäten und thematisiert das (Selbst-)Bewusstsein eines Individuums in Hinblick auf sein Stigma und dessen Management (vgl. ebd., S. 133).

Wie anhand der „aktualen“ und „virtuellen sozialen Identität“ gezeigt wurde, besteht eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen an eine Person und ihrer „echten“ Identität. Diese Differenz bildet den Ausgangspunkt der Stigmatisierung. Goffman merkt an, dass einige Differenzen ohne Beachtung hingenommen werden, während andere, die in stärkerem Maße von einem Idealtypus abweichen, besondere Aufmerksamkeit erregen (vgl. ebd., S. 11). Die Unvereinbarkeit einer tatsächlichen Eigenschaft und ihrer Antizipation macht ein Stigma zum Merkmal einer Person, das „zutiefst diskreditierend ist“ (ebd., S. 11). Der Soziologe postuliert die häufige Verwendung stigmatisierender Redewendungen ohne den Bedacht ihrer ursprünglichen Bedeutungen sowie die Tendenz zur Andichtung aneinandergereihter Unvollkommenheiten und resümiert, dass somit täglich eine Vielzahl an Diskriminierungen ausgeübt und die Lebenschancen stigmatisierter Personen bedeutsam verringert werden (vgl. ebd., S. 13 f.).

Das Ausmaß der eingangs aufgeführten Grunddimension „concealability“ eines Stigmas beeinflusst die Störungstendenz sozialer Interaktionen maßgeblich (vgl. Jones et al. 1984, S. 24). Dass die Auffälligkeit eines Stigmas nicht unwesentlich über den gesellschaftlichen Umgang mit dem Stigma-Träger entscheidet, stellt auch Tröster fest (vgl. Tröster 2009, S. 152). Diesbezüglich stellt Goffman eine doppelte Perspektive des Terminus „Stigma“ dar und unterscheidet zwischen „Diskreditierbaren“ und „Diskreditierten“ (vgl. Goffman 1967, S. 14). Nach Goffman ist dies ein wichtiger Unterschied, wenngleich Stigmatisierte meist beide Erfahrungen machen. Bei der Differenzierung von „Diskreditierbaren“ und „Diskreditierten“ geht es um die Unterscheidung zwischen Stigmata, die allgemein bekannt sind, und denen, die der Gesellschaft verborgen bleiben. Wenn das Individuum annimmt, die Allgemeinheit wisse über das „Anderssein“ Bescheid und/oder es sei offensichtlich erkennbar, handelt es sich um einen „Diskreditierten“. In diesem Fall drängt sich das Stigma dem Interaktionspartner auf, ohne dass das stigmatisierte Individuum Einfluss auf den begonnenen Zuschreibungsprozess nehmen kann (vgl. Tröster 2009, S. 152). Die Hauptaufgabe des Betroffenen besteht dann in der Bewältigung der Folgen, die die beschädigte soziale Identität nach sich zieht (vgl. ebd., S. 152). Wenn das Individuum annimmt, das „Anderssein“ sei weder von außen wahrnehmbar noch den Anwesenden bekannt, handelt es sich um einen „Diskreditierbaren“ und das Individuum befindet sich „auf der Schwelle zur Diskreditierung“ (Münch 2002 S. 302, vgl. Tröster 2009, S. 152). In dieser Situation ist es das Hauptbestreben des „Diskreditierbaren“, die stigmarelevanten Informationen im sozialen Interaktionsprozess zu steuern und zu kontrollieren (vgl. Tröster 2009, S. 152).

Bei den Extremen von vollständiger Unkenntnis bis zur kompletten Offenbarung eines Stigmas versteht Goffman es als „Belohnung“, als „normal“ betrachtet zu werden (vgl. Goffman 1967, S. 96). Deshalb wenden „Diskreditierte“ als auch „Diskreditierbare“ sogenannte „Stigma-Management-Techniken“ an, um ihr „Anderssein“ zu leugnen oder zu verbergen (vgl. ebd., S. 133). Betroffene können beispielsweise einen direkten Korrekturversuch dessen vornehmen, was sie „als die objektive Basis ihres Fehlers“ (ebd., S. 18) sehen, sodass das Individuum keinen vollkommen gewöhnlichen Status erlangt, sondern „die Transformation eines Ich mit einem bestimmten Makel zu einem Ich mit dem Kennzeichen, einen bestimmten Makel korrigiert zu haben“ (ebd., S. 18) vornimmt. Eine Behandlung der plastischen Chirurgie stellt ein Beispiel für einen direkten Korrekturversuch dar. Auch eine indirekte Korrektur ist durch das Ausüben einer Tätigkeit, die dem stigmatisierten Individuum für gewöhnlich verwehrt bleiben würde, möglich, beispielsweise wenn ein Gelähmter das Reiten erlernt (vgl. ebd., S. 19). Goffman gibt allerdings zu bedenken, dass die „Folter des Lernens“ (ebd., S. 19) mit der „Folter der Darbietung“ (ebd., S. 19) des Erlernten einhergehen kann. Eine weitere „Stigma-Management-Technik“ sieht der Soziologe darin, mit der „Realität“ zu brechen und die unkonventionelle Auffassung der Eigenheit der sozialen Identität zu behaupten (vgl. ebd., S. 20). Zusätzlich besteht für den Betroffenen die Möglichkeit, sein Stigma als Entschuldigung für Misserfolg, auch wenn er ihm wegen anderer Ursachen widerfahren ist, zu nutzen oder sein Leid als „Glück im Unglück [zu] sehen“ (ebd., S. 20). Während einige Individuen „antizipatorisch (...) reagieren durch defensives Sichverkriechen“ (ebd., S. 27), versuchen andere, „mit feindseligem Bravado gemischte Kontakte herbeizuführen“ (ebd., S. 28), was jedoch weitere unangenehme Folgen nach sich ziehen kann. Nach Goffman schwanken Stigmatisierte häufig zwischen „antizipatorischem Sichverkrichen“ (ebd., S. 28) und „feindseligem Bravado“ (ebd., S. 28).

[...]

Excerpt out of 127 pages

Details

Title
Die Stigmatisierung psychisch Kranker
Subtitle
Eine theoretische Annäherung
College
University of Applied Sciences Osnabrück
Grade
1.3
Year
2019
Pages
127
Catalog Number
V539561
ISBN (eBook)
9783346183583
ISBN (Book)
9783346183590
Language
German
Keywords
Stigmatisierung, Psychiatrie, psychisch krank
Quote paper
Anonymous, 2019, Die Stigmatisierung psychisch Kranker, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539561

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