Warum handelt man wider besseres Wissen? Das Konzept der Akrasia bei Sokrates


Lesson Plan, 2019

39 Pages, Grade: 1,0

Barbara Lampert (Author)


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Inhaltsverzeichnis

1. Allgemeine Auswertung der Erfahrungen im Praxissemester

2. Planung von Unterricht I
2.1 Die Unterrichtsvoraussetzungen
2.2Die Sachanalyse
2.3 Kompetenzen, Standards und Standardkonkretisierung
2.4 Verlaufsplan
2.4.1 Didaktisch-methodische Uberlegungen
2.5 Anhang

3. Analyse von Unterricht I
3.1 Analyse derPlanung
3.1.1 Problemorientierung der Stunde
3.1.2 Sachlogik und Phasierung der Stunde
3.1.3 Einsatz von Fachmethodik, Operationsobjekten und Sozialformen
3.1.4 Impulsgebung und Gesprachsmoderation
3.2 Analyse der Durchfuhrung
3.2.1 Verhaltnis zwischen Planung und Durchfuhrung
3.2.2 Lehrer*innenverhalten
3.2.3 Schuler*innenverhalten

4. Hinzuziehung (fach)didaktischer Literatur und Hospitationserfahrungen

5. Planung von Unterricht II
5.1 Die Unterrichtsvoraussetzungen
5.2 Die Sachanalyse
5.3 Kompetenzen, Standards und Standardkonkretisierung
5.4 Verlaufsplan
5.4.1 Didaktisch-methodische Uberlegungen
5.5 Anhang

6. Literatur- und Quellenverzeichnis

1. Allgemeine Auswertung der Erfahrungen im Praxissemester

Mein Praktikum habe ich an dem X-Gymnasium in X absolviert. Die Mehrheit der Schulerinnen und Schuler (fortan: SuS) sind nichtdeutscher Herkunft und besitzen vorrangig muslimischen Hintergrund. Dieses Schulprofil war fur mich besonders interessant, da sich die Schule von heute, sowie zukunftig noch vermehrt, mit einer Schulerschaft unterschiedlicher Herkunft auseinandersetzen wird und ich somit bereits erste praktische Einblicke erhalten konnte, die ich als sehr positiv bewerten kann. Besonders interessiert war ich daran, die erlernten Theorien und Methoden aus der Universitat in der Praxis umzusetzen und mich darin zu uben. Das Praxissemester habe ich in diesem Zusammenhang als eine Chance gesehen, moglichst viele Erfahrungen zu sammeln und ein tieferes Verstandnis fur die vielfaltigen Herausforderungen als Lehrperson zu entwickeln. Vor allem empfand ich es als wichtig, bereits vor dem Referendariat Einblicke in das Schulleben zu erhalten und mithilfe der mir zugeteilten Mentoren/Mentorinnen geplante Unterrichtsstunden vor der Ausfuhrung konkret zu besprechen, sowie diese anschlieBend ausfuhrlich zu analysieren. Nicht nur der gezielte Einsatz bestimmter Methoden und die strukturierte Einhaltung der einzelnen Phasen einer Unterrichtsstunde konnten in der Praxis geubt werden, besonders wichtig und hilfreich sah ich das Praxissemester auch in Bezug auf das Unterrichtsgesprach und die Rolle der Lehrperson als Moderator/in. Hierbei ist nicht ein lehrerzentriertes Unterrichtsgesprach gemeint, sondern die Fahigkeit, eine Unterrichtsstunde strukturiert zu lenken. Die Lehrperson leitet die SuS zu selbststandigem Lernen an und zieht sich weitestgehend zuruck, dennoch gibt sie konkrete Impulse, bundelt SuS-Antworten, hebt wichtige Beitrage hervor und stellt sie zur weiteren Diskussion fur die SuS bereit. Ich empfand es als sehr wertvoll, mich in meinen eigenen Unterrichtsstunden in der Fahigkeit des Moderierens zu uben und eine erste Grundlage zu schaffen, da ich vor dem Praktikum noch keine Erfahrung im Unterrichten bzw. Moderieren hatte. Dies hat mir auch geholfen, mich sicherer und souveraner in meiner zukunftigen Rolle als Lehrerin zu fuhlen.

Meinen Hospitationsschwerpunkt habe ich auf die Einstiege gelegt. Ich habe mich dazu entschieden, meinen Schwerpunkt hierauf zu legen, da Einstiege uberaus bedeutsam fur den weiteren Verlauf der Unterrichtsstunde sind. Gerade die erste Phase des Unterrichts muss so gestaltet werden, dass sie motivationsfordernd fur die SuS ist, sodass sich moglichst alle SuS fur das Thema interessieren und aktiviert werden. Ein gelungener Unterrichtseinstieg kann somit das Interesse an das Thema der restlichen Unterrichtsstunde maBgeblich beeinflussen. Daher wollte ich wahrend meiner Hospitationen besonders die Funktion und Wirksamkeit von Einstiegen untersuchen, sowie genauer beleuchten, welche vielfaltigen Moglichkeiten sich in der Gestaltungen von Unterrichtseinstiegen ergeben. Es istjedoch zuallererst wichtig, sich im Klaren daruber zu sein, was Unterrichtseinstiegen zu erfullen haben, sodass die Eroffnung des Unterrichts gelingen kann. ROSENBACH ist der Meinung, dass Unterricht grundsatzlich als Konfrontation mit einem Problem stattfinden soil. ,,Im Allgemeinen genugt es nicht, Lernen als die Eingliederung von neuem Wissensstoff in schon bestehende Wissensstrukturen zu verstehen und zu organisieren. Deshalb empfiehlt es sich, Unterricht moglichst als die Begegnung mit einem Problem zu gestalten.“ (Rosenbach, S.l). Dabei sollen Einstiege vor alien Dingen die Funktion erfullen, die Neugierde der SuS zu wecken, Spannung zu erzeugen und ein Problembewusstsein fur die SuS zu schaffen (vgl. ebd.), sodass sich die SuS etwas Neues erschlieBen konnen (vgl. ebd.). Dies kann dadurch erzielt werden, indem Einstiege den Lernenden etwas Fragwurdiges, Uberraschendes, Provozierendes oder Problematisches, o.A. ubermitteln (vgl. ebd., S.2). ROSENBACH unterscheidet dabei 12 didaktische Absichten, welche die Eroffnung bestimmen konnen. Diese lauten wie folgt: 1. Anknupfung, Erwahnung des letzten Lernergebnisses, 2. Wiederholung, 3. Ermittlung der Vorkenntnisse, 4. Problemstellung- gegenstandlich, d.h. es gibt eine Problemkonfrontation, welche durch didaktisches Material dargestellt wird, 5. Problemstellung - verbal, d.h. es eine eine Problemkonfrontation, welche verbal dargeboten wird, 6. Kontrastdarstellung, also eine Gegenuberstellung unterschiedlicher Sachverhalte, 7. Provokation, das absichtliche Herbeifuhren einer produktiven Verwirrung, 8. Arbeitsplanung mit weitestgehend schulerzentrierter Lemprozessgestaltung, 9. Einstimmung, d.h. die Schaffung einer inneren Teilhabe, welche sich fur emotional gepragte Lemgegenstande eignet, 10. Sachliche Vorbesprechung, dabei wird die Begegnung mit dem neuen Lerngegenstand und dessen Ziel sachlich vorgestellt, 11. Zielangabe, hierbei wird das Thema prazise formuliert, wobei die Problemfrage idealerweise durch die SuS formuliert wird und 12. Pre-Test, dabei wird zu Beginn einer neuen Sequenz bereits vorhanden Vorkenntnisse in schriftlicherForm ermittelt (vgl. ebd., S.3f.).

Es wird also deutlich, dass es eine Vielzahl an unterschiedlichen Einstiegsformen gibt, welche ich in meinen Hospitationen wahrend meines Praxissemesters ebenfalls beobachten konnte. Von stillen Bilderimpulsen, polarisierenden Zitaten oder relevanten Zeitungsartikeln bis hin zu aktuellen Themen in den Nachrichten, welche von der Lehrperson verbal kommuniziert wurden. Bei der Wahl eines geeigneten Unterrichteinstiegs sind der Lehrperson nahezu keine Grenzen gesetzt und Einsteige konnen je nach Thema und Lerngruppe von der Lehrkraft individual vorbereitet werden. Mir ist zudem aufgefallen, dass sich besonders abwechslungsreiche Unterrichtseinstiege als fruchtbar erwiesen haben, die gleichzeitig entweder ein aktuelles oder ein alltagsbezogenes und relevantes Thema problematisiert haben. Dabei war es vor alien Dingen auffallend, dass die Einstiege immer zielfuhrend zu einer Problemauseinandersetzung der Unterrichtsstunde geleitet haben.

Wahrend meines Praxissemester konnte ich auch Einstiegsformen beobachten, die zur Wiederholung der vorherigen Stunden dienten oder direkt an diese anknupften, da eine Erarbeitungsphase der vorherigen Stunde aus Zeitgrunden noch nicht zu Ende gebracht werden konnte. Aus meinen Beobachtungen heraus konnte ich hier direkt eine geringere SuS-Mitarbeit beobachten, da sich nur die SuS beteiligen konnten, die das Thema entweder bereits verstanden haben und besonders fleiBig und eifrig sind oder sich einfach besser an die vorherige Stunden erinnern konnten, die moglicherweise bereits mehrere Tage zuruck lag. Dennoch konnte ich in meinen Hospitationen hauptsachlich beobachten, dass die Lehrkrafte groBen Wert auf die Einstiegsphase gelegt haben und bemuht waren, die typischen Elemente (etwas Fragwurdiges, Provozierenden, etc.), wie sie ROSENBACH formuliert hat, miteinzubeziehen. Ich konnte beobachten, dass dadurch eine hohe SuS-Aktivitat einherging und sich eine Vielzahl an SuS beteiligen konnten, wodurch das Kernziel von Einsteigen, namlich das Interesse der SuS zu wecken und sie zur Mitarbeit anzuregen, erfullt wurde. Die Lehrkrafte waren bemuht den Einstieg so zu wahlen, dass die SuS von sich aus etwas Problematisches in Frage stellen und welches auf die darauffolgende Erarbeitungsphase direkt ubergeleitet hat. Die Motivation der SuS war direkt bemerkbar und hat die SuS dazu angeregt, sich weiter mit dem zu behandelten Thema befassen zu wollen.

Das Schulinterne Curriculum des Faches Philosophic deckt in jedem Semester ein Schwerpunktthema ab, zeigt Verbindungen zu anderen Reflexionsbereichen auf, empfiehlt mogliche Ganzschriften und stellt Beispiele fur mogliche Exkursionen/Projekte/Bezuge zu anderen Fachern bereit. Fur die Leistungskurse sieht das Schulinterne Curriculum vor, dass die einzelnen philosophischen Positionen differenzierter zu behandeln seien und die SuS zu alien Themen in einem hoheren MaBe selbststandig philosophieren. AuBerdem wird zu jedem Schwerpunkt jeweils eine weitere philosophische Theorie behandelt. Fur das 1. Semester wird vorgesehen, den Themenbereich „Werte und Normen“ mit dem Schwerpunkt „ethisch-praktischer Reflexionsbereich“ zu bearbeiten. Moralphilosophisches Argumentieren wird hierbei ins Zentrum gestellt. Dabei werden Begriffe wie Moral und Handlung geklart, die klassischen philosophischen Positionen zur Moralphilosophie, z.B. Kants Kategorischer Imperativ und Benthams Utilitarismus, sowie unterschiedliche Anwendungsbeispiele zur Beurteilung durch die verschiedenen Theorien, thematisiert. Das 2. Semester sieht den Themenbereich „Mensch und Gesellschaft“ mit „geschichtlicher, gesellschaftlicher, anthropologischem Reflexionsbereich“ vor, z.B. politische Prinzipien und soziale Gerechtigkeit. Ebenfalls kann eines der folgenden Themenbereiche erarbeitet werden: Menschenbilder der philosophischen Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Asthetik/Kunst und Gesellschaft oder Willensfreiheit. Im 3. Semester wird der Bereich „Erkenntnis und Wahrheit“ thematisiert mit dem Schwerpunkt „sprachphilosophischer und erkenntnistheoretischer Reflexionsbereich“. Schwerpunktthemen bilden hier: Die Problematisierung der Rolle der Wahrnehmung, Lockes Empirismus, Rationalismus, Descartes' methodischer Zweifel. Im Leistungskurs wird zusatzlich Wittgensteins sprachphilosophische Perspektive behandelt. Im 4. Semester setzt das Schulinterne Curriculum ,,Sein und Werden“ mit dem Schwerpunkt „metaphysischer Reflexionsbereich“ fest. Hier wird an metaphysische Grundfragen und die zugrundeliegenden Menschen- und Weltbilder angeknupft, z.B. Gottesvorstellungen in Hinblick auf die Frage der Erkennbarkeit und der sich ergebenden Werte fur die Lebensfuhrung, sowie nicht-religiose Menschenbilder und Sinnvorstellungen, z.B. Nietzsche, Existenzialismus. Im Leistungskurs wird auBerdem der Buddhismus behandelt.

2. Planung von Unterricht I

2.1 Die Unterrichtsvoraussetzungen

Die Klasse, in welcher ich die hier dargelegte Unterrichtsstunde gehalten habe, ist ein Leistungskurs im ersten Semester und setzt sich aus zehn Schulerinnen und Schulern zusammen. Das Leistungsniveau des Kurses stufe ich als durchschnittlich bis hoch ein, die SuS sind geubt im Argumentieren, beziehen sich in Aussagen aufeinander und konnen sich mit philosophischen Texten angemessen auseinandersetzen. Dennoch ist der Kurs nicht ganzlich leistungshomogen, vereinzelt gibt es SuS, die dennoch Textverstandnisprobleme im Unterricht und Schwierigkeiten im ErschlieBen von Argumentationsstrangen aufweisen. Diese Schwierigkeiten werden jedoch aufgrund des kleinen Kurses fur den/die Lehrer/in schnell offensichtlich, sodass gezielt darauf reagiert werden kann. Zudem sind die SuS sehr gesprachsmotiviert und kommunizieren Verstandnisprobleme offen in der Klasse. Besonders wahrend des kooperativen Lernens lasst sich beobachten, dass sich die SuS bei Verstandnisproblemen helfen und problematisierende Passagen in Texten gegenseitig erklaren bzw. gemeinsam zu losen versuchen. Das Klassenklima wurde ich demnach als positiv einstufen und nehme an, dass sich die SuS untereinander gut verstehen. Unterrichtsstorungen sind ebenfalls selten zu beobachten. Alles in allem sind die SuS motiviert und interessiert an philosophischen Fragen und Problemen. Die aktuelle Sequenz in dem Kurs behandelt das Thema „Moralphilosophie“. Nachdem bereits grundlegende Kenntnisse in Bezug auf das Thema der Sequenz erarbeitet wurden, wie Kants kategorischen Imperativ und Benthams Utilitarismus, bauen die nachsten Stunden der Sequenz auf Moralkritik und konkreten Hinterfragungen zur Moral auf, z.B. warum uberhaupt moralisch sein, Handeln wider besseren

Wissens, etc. Die SuS bringen also bereits ein grundlegendes Verstandnis zu dem Thema mit und bieten gute Voraussetzungen fur die weitere Auseinandersetzung und Vertiefung zur Moralphilosophie.

2.2 Die Sachanalyse

Akrasia bedeutet so viel wie „Unbeherrschtheit“, „Handeln wider besseren Wissens“ und stellt ein klassischen, philosophisches Problem dar: Wie kann es sein, dass jemand ein richtiges Urteil hat und dennoch entgegen diesem Urteil handelt. Eine Person fuhre also eine bestimmte Handlung A aus, obwohl sie weiB, dass die alternative Handlung B besser sei. Die Person handelt also entgegen ihrer eigenen Handlungsintention. Die Annahme, dass Personen, sofern sie dazu in der Lage sind, diejenigen Handlungen ausfuhren, die sie fur am besten halten, trifft bei akratischen Handlungen nicht zu. Wie also lasst sich dieses Handlungsphanomen philosophisch erklaren? Wie ist es moglich, dass eine Person die bessere Handlung weiB, sich aber fur die schlechtere Handlungsalternative entscheidet?

Sokrates' Auffassung nach, kann sich jemand „unmoglich so [d.h. akratisch] verhalten konnefn], wenn er Wissen hat“ (Aristoteles, S.220), eine Person konne nicht willentlich entgegen ihres besseren Wissens handeln und die schlechtere Handlungsalternative wahlen. Wenn ein Subjekt echtes Wissen besitzt, fuhre dies notwendig zu richtigen Handeln. Echtes Wissen impliziere also handeln in Ubereinstimmung mit diesem Wissen. Fur Sokrates war es nicht nachvollziehbar, wie eine Person, obwohl sie echtes Wissen besitzt, sich von etwas anderem beherrschen lassen solle und sich „wie einen Skiaven herumzerren wurde“ (ebd.). Sokrates versteht das Wissen also als eine ubergeordnete Instanz, welches sich gleichzeitig gegen jene anderen Einflusse, wie zum Beispiel den Einfluss von Affekten, wehren konne. Es gabe nichts machtigeres als das Wissen selbst und dieses habe stets die Herrschaft uber alles andere. Wenn demnach also echtes Wissen zwangslaufig die richtige Handlung herbeifuhre, gebe es kein Handeln wider besseren Wissens. Diese Auffassung hat zu Folge, das Sokrates die Existenz von Akrasia leugnen muss. Es gibt demnach keine Unbeherrschtheit. Daraus folgend impliziert dieser Argumentationsstrang, dass ein Subjekt nicht der Willensschwache erliegen kann, da es sie nicht gibt und somit auch nicht das willentlich Schlechte tue. Niemand also handelt wider besseren Wissens, so Sokrates, sondem eine Person handelt nur dann entgegen ihrer eigentlichen Uberzeugung, wenn sie kein tatsachliches Wissen daruber hat, d.h. sie handelt so aufgrund von Unwissenheit. Ungeklart bleibt jedoch, was Sokrates genau mit Unwissenheit meint. WeiB ein Subjekt einen gewissen Tatbestand gar nicht oder ist sie sich diesem aus ungeklarten Grunden nicht bewusst? AuBerdem muss geklart werden, weshalb laut Sokrates der Besitz von echtem Wissen zwangslaufig zum richtigen, d.h. zum guten Handeln fuhrt.

Es konnte durchaus moglich sein, dass Menschen willentlich das Schlechte tun wollen. Damit leugnet Sokrates gleichzeitig, dass es das willentlich Bose gabe. Zudem scheint es durchaus wage anzunehmen, dass es die Willensschwache schlichtweg nicht gibt, da wir diese ganz eindeutig in unserem Alltagsleben erfahren konnen. Die Schwierigkeit besteht gerade darin, die Akrasia zu erklaren. Sokrates' Argumentation liefert uns keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, weshalb Personen akratisch, also entgegen ihres Wissens handeln, sondern leugnet die Existenz von Akrasia und weicht so der eigentlichen Problemfrage aus.

Aristoteles versucht nun die Idee Sokrates' weiterzuentwickeln. Im siebten Buch der Nikomachischen Ethik versucht Aristoteles aufzuzeigen, dass Akrasia durchaus vorkommen kann. Um nun zeigen zu konnen, dass die Unbeherrschtheit wirklich existiert und eine entsprechende Erklarung und nicht Leugnung verdient, zeigt Aristoteles zunachst auf, dass wirkliches Wissen nicht notwendig zum richtigen Handeln fuhren muss. Hierfur unterscheidet Aristoteles zwei Formen von Wissen. Auf der einen Seite gabe es das echte Wissen (Wissenl), dass einem Subjekt bewusst vorliegt und auf welches es jederzeit zuruckgreifen konne. In dieser Bedeutung versteht auch Sokrates den Begriff des Wissens. Andererseits, so meint Aristoteles, kann ein Subjekt Wissen haben, jedoch nicht anwenden (Wissen2). Dies fuhre dazu, dass die Person einerseits Wissen hat und auch nicht hat. Aristoteles vergleicht diese Form von Wissen mit denen von Schlafenden, Wahnsinnigen oder Betrunkenen, die sich in einem Zustand befinden, der von Affekten bestimmt sei. Aristoteles versteht Affekte in dem Sinne, dass diese auch die korperlichen Verfassungen verandern konnen. Anders als Sokrates, der das Wissen als ubergeordnete Instanz betrachtet, die nicht von Affekten beeinflusst werden kann. Aristoteles' Auffassung nach befinde sich der Unbeherrschte nun in einem ahnlichen Zustand wie der Schlafende oder Wahnsinnige, der aufgrund bestimmter Affekte von seinem eigentlichen Wissen in der relevanten Situation nicht Gebrauch machen kann und daher nicht entsprechend handelt. Jemand konne zwar echtes Wissen (Wissenl) haben, diesesjedoch aufgrund der Affekte, von denen er oder sie beeinflusst wird, nicht anwenden, sodass die Person letztlich eine andere Form von Wissen (Wissen2) besitzt, welches nicht zur besseren Handlung fuhrt. Bei akratischen Handlungen setzen sich demnach die Affekte gegen die Vemunft durch. „[A]uf der Ebene der Anwendung des Wissens im Urteilen und Handeln bleibt der Akrates im Unwissen bezuglich seines eigenen praktischen Vermogens: Er weiB nicht, dass er es besser weiB, weil er den aktiven Kontakt zu seinem Wissen verloren hat“ (Setton 2009, S.101). Der Willensschwache kann zwar bestimmte Dinge verbal reproduzieren, zum Beispiel mathematische Beweise oder Empedokles-Verse aufsagen, aber er oder sie hat dennoch kein echtes Wissen daruber, da die Affekte dem Subjekt den Zugang zum seinem echten Wissen vernebeln.

Wie ist es jedoch moglich, sein Wissen in relevanten Situationen dennoch anwenden zu konnen? Gibt es eine Moglichkeit, entgegen der Akrasia zu handeln? Aristoteles meint, das Wissen musse erst ,,mit dem Menschen verwachsen“ (Aristoteles, S.225). Ein Subjekt muss sein Wissen verinnerlichen, sodass es ein angemessenes Bewusstsein von seinem Wissen besitzt und demgemaB auch handelt. Dass das Wissen mit den Menschen verwachst, so Aristoteles, braucht jedoch Zeit. Das Wissen kann nicht einfach nur vorliegen, es muss zur Erkenntnis werden und dies geschieht nur mit kontinuierlichem und aktivem Auseinandersetzen mit seinem Wissen. Das bedeutet, dass sobaid Wissenl erlangt wird, dies notwendig zum richtigen und guten Handeln fuhrt. Fraglich ist jedoch, ob das Wissen, welches durch Affekte beeinflusst ist (Wissen2), uberhaupt noch als Wissen bezeichnet werden kann? Die Ursache von Wissen2 liegt in der Kraft der Affekte, die Einfluss auf die Vernunft und somit auf das echte Wissen haben konnen. Welche Form von Wissen liegt dann uberhaupt vor, wenn es keine bewusste und verinnerlichte Form von Wissen ist? Falls diese Wissensform nicht als Wissen bezeichnet werden kann, wurde daraus folgen, dass es kein Handeln wider besseren Wissen gibt, da kein eigentliches Wissen vorliegt. Die Frage ist also, ob Aristoteles dem Problem der Akrasia nicht ausweicht, indem er zwar die Idee von Wissen2 vorschlagt, dieses Wissen jedoch eigentlich gar nicht als Wissen bezeichnet werden kann. Das Problem der Akrasia ware somit nicht gelost, sondem wurde die Existenz dessen auf eine Scheinlosung verschieben und zur Folge haben, dass das Vorhandensein von Akrasia geleugnet werden muss, wie Sokrates es getan hat. Macht es also Sinn sagen zu konnen, dass wir zwei Formen von Wissen haben? Wie sieht es damit aus, wenn eine Person zwar Wissenl besitzt, im Regelfall auch genau danach handelt, jedoch trotzdem gelegentlich akratisch handelt? HeiBt das, die Person besitzt eigentlich gar kein echtes Wissen oder ist es moglich zwischen Wissenl und Wissen2 hin und her zu wechseln? 1st Wissenl dann uberhaupt noch Erkenntnis oder hat demnach fast niemand echte Erkenntnis uber etwas, da ein jeder genug personliche Alltagsbeispiele kennt, in denen er oder sie trotz Uberzeugung gelegentlich gegen das bessere Wissen handelt. Zu fragen ware auch, wie genau es moglich ist, mit dem Wissen zu verwachsen, sodass das sokratische Wissen erlangt werden kann, welches Affekten ubergeordnet ist. 1st es uberhaupt moglich, sich gegen Affekte zu wehren? Aristoteles meint, dazu brauchte es Zeit mit der intensiven Auseinandersetzung und Verinnerlichung des echten Wissens. Wann jedoch wandelt sich das angebliche Wissen (Wissen2) in echtes Wissen (Wissenl) und wird zur Erkenntnis? Wenn letztlich danach gehandelt wird. Aber der Unbeherrschte ist sich gar nicht im Klaren, dass er gegen seinen Willen handelt, da er das notige Wissen dazu gar nicht besitzt. Er oder Sie ist gar nicht in Besitz von Wissenl und hat darauf keinen Zugriff, sondem nur in Besitz von Wissen2. Der akratisch Handelnde weiB also wahrend der Handlung nicht, dass er entgegen seines besseren Wissens handelt, weil er gar nicht weiB, welches eine gute Handlung ist. Er sei, wie Aristoteles selbst sagt, wie ein Betrunkener oder Wahnsinniger, der aufgrund der Affekte die richtige Handlung nicht erwagen kann. Wann ist sich der Handelnde also bewusst, dass er das richtige tut und im Sinne von Wissenl handelt? Dies fordert von dem Handelnden, dass er sich bereits bewusst daruber ist, was das Gute ist, aber das Wissen uber das Gute ist dem akratisch Handelndem in dem Moment der Handlung nicht zuganglich und nicht bewusst. Kritisch zu betrachten ist auch, ob ein Subjekt uberhaupt lediglich durch Uberzeugung und Erkenntnis zum richtigen Handeln gebracht werden kann. Reicht es aus, Erkenntnis uber einen Sachverhalt zu haben, um dauerhaft richtig handeln zu konnen?

2.3 Kompetenzen, Standards und Standardkonkretisierung

Stundenplanung; Handeln wider besseren Wissens

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

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Excerpt out of 39 pages

Details

Title
Warum handelt man wider besseres Wissen? Das Konzept der Akrasia bei Sokrates
College
Humboldt-University of Berlin
Grade
1,0
Author
Year
2019
Pages
39
Catalog Number
V539947
ISBN (eBook)
9783346166630
ISBN (Book)
9783346166647
Language
German
Keywords
Philosophie, Ethik, Akrasia, Unterrichtsentwurf, Sokrates, Aristoteles, Handelnwiderbesserenwissens
Quote paper
Barbara Lampert (Author), 2019, Warum handelt man wider besseres Wissen? Das Konzept der Akrasia bei Sokrates, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539947

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