Schizophrenie ein soziologisches Konstrukt? Kritische Anmerkungen zu Thomas Szasz


Seminar Paper, 2005

24 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG

2. THOMAS SZASZ – SCHIZOPHRENIE ALS PRODUKT SOZIALER PROZESSE
2.1 BIOGRAPHISCHER HINWEIS ZU THOMAS SZASZ
2.2 ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DER MODERNEN PSYCHIATRIE
2.3 DER SOZIALE ASPEKT DER SCHIZOPHRENIE
2.4 DER KOMMUNIKATIVE ASPEKT DER PSYCHIATRIE
2.5 DER THEOLOGISCHE ASPEKT DER SCHIZOPHRENIE
2.6 DIE „SÜNDENBOCK“ - THEORIE
2.7 DAS KRANKHEITSSPIEL
2.8 ZUSAMMENFASSUNG

3. THEORETISCHE MODELLE ZUR ERKLÄRUNG VON SCHIZOPHRENIE
3.1 DAS MEDIZINISCHE GRUNDMODELL DER SCHIZOPHRENIE
3.1.1 Die Ursachen der Schizophrenie aus medizinischer Sicht
3.1.2 Die Behandlung der Schizophrenie aus medizinischer Sicht
3.2 SCHIZOPHRENIE DURCH ETIKETTIERUNG – DER LABELING-ANSATZ
3.2.1 Problemstellungen des Labeling-Ansatzes
3.2.2 Der empirische Wirklichkeitsgehalt des Labeling-Ansatzes
3.3 ZUSAMMENFASSUNG

4. KRITISCHE WÜRDIGUNGUNG DES SOZIALEN KONSTRUKTIVISMUS NACH THOMAS SZASZ

5. SCHLUSSGEDANKE UND AUSBLICK

6. LITERATURVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG

Mehr als jedes andere medizinische Fachgebiet steht die Psychiatrie im Kontext zu den großen Problemen ihrer Zeit.

Insbesondere über die Entstehung und die mögliche Behandlung psychischer Störungen werden völlig unterschiedliche Auffassungen vertreten.

Ausgehend von dieser nie enden wollenden Debatte um Ursachen und den umstrittenen Krankheitsbegriff möchte ich mich in der vorliegenden Arbeit mit Ansätzen und Erklärungen bzgl. der Entstehung von Schizophrenie beschäftigen.

Das Wort „Schizophrenie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „gespaltenes Gemüt“. Der Begriff wurde 1911 von Eugen Bleuler eingeführt, um verschiedene bis dahin unter dem Ausdruck „Dementia praecox“ zusammengefasste psychische Ausnahmeerscheinung zu bezeichnen. Ich werde im Folgenden „Schizophrenie“ als Oberbegriff für alle schizophrenen und schizoiden Störungen verwenden, da eine Abgrenzung z.B. gegen das „Borderline-Syndrom“ oft schwierig ist. Laien verwechseln Schizophrenie wegen des irreführenden Begriffs „Bewusstseinsspaltung“ oft mit dem Ausdruck „Multiple Persönlichkeit“.

Unter „Bewusstseinsspaltung“ verstand Bleuler jedoch vielmehr das Auseinanderfallen gedanklicher Verbindungen in Form von inkongruentem erleben.[1]

Während vor allem die klinische Psychiatrie die Schizophrenie als Ergebnis eines organischen, erblich bedingten Krankheitsprozess versteht, sieht der amerikanische Psychiater Thomas Szasz in ihr eine Äußerung menschlicher Lebensprobleme als Resultat von gesellschaftlicher Etikettierung und Kontrolle.

Dieser Gegensatz spiegelt die beiden Auffassungen, die in der Psychiatrie miteinander konkurrieren.

Da psychische Störungen immer als Abweichung von einer Norm definiert werden, stellt sich die Frage: Wer bestimmt was normal ist?

Aktuell spielt die Debatte, wer eigentlich krank ist, bei der Definition der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wieder eine große Rolle.

Die vorliegende Arbeit soll einen kritischen Überblick über die medizinische Theorie der Schizophrenie geben und deutlich machen, welche Rolle die Gesellschaft bei der Entstehung oder Vermeidung schizophrener „Erkrankungen“ spielt.

Im ersten Abschnitt möchte ich die Hauptthesen des Psychiaters Thomas Szasz vorstellen, welcher Schizophrenie konsequenterweise zu einem Mythos und die klinische Psychiatrie zu einer überflüssigen, durchweg schädlichen Disziplin erklärt.

Sein Werk „Wahnsinn - ein moderner Mythos?“ dient als Arbeitsgrundlage für diese Hausarbeit, anhand dessen ich weitere Überlegungen zum sozialkonstruktivistischen Ansatz anstellen möchte.

Als Ausgangslage für eine kritische Auseinandersetzung mit Szasz Thesen werde ich im folgenden Kapitel das medizinische Grundmodell kurz darstellen, welches im Konflikt zu seinen Annahmen steht und in der klinischen Psychiatrie praktiziert wird.

Im Anschluss daran möchte ich die von Szasz vertretene „Labeling-Theorie“ aufführen, die der Annahme zugrunde liegt, dass Schizophrenie als abweichendes Verhalten darauf zurückgeführt werden kann, dass die betroffenen Individuen von ihrer Umwelt stigmatisiert werden.

Die grundsätzliche Frage ist hierbei, ob die Gesellschaft als Macht- und Kontrollinstanz dafür verantwortlich ist, dass wir Verhalten als abweichend, gestört oder krank ansehen bzw. uns durch sie zum „Sündenbock“ oder „Opfer“ degradieren lassen.

Abschließend möchte ich im vierten Punkt die gewonnenen Erkenntnisse einer kritischen Überprüfung unterziehen und Fehlerquellen, sowie Widersprüche in Szasz Annahmen aufzeigen, um im fünften Kapitel einen kurzen Ausblick auf mögliche Entwicklungen in der Diagnose und der Behandlung der Schizophrenie zu geben.

2. THOMAS SZASZ – SCHIZOPHRENIE ALS PRODUKT SOZIALER PROZESSE

Die negative Bewertung der Psychiatrie ist zumindest teilweise auf eine Bewegung zurückzuführen, die ihre Anfänge um 1960 hatte.[2]

Die sog. „Antipsychiatrie“ sah die Psychiatrie als eine gesellschaftlich verursachte Verhaltensabweichung und ging in Opposition zu einem medizinisch-naturwissenschaftlich geprägten Schizophrenieverständnis. Sie kritisiert vehement den Gebrauch des Krankheitsbegriffes und weist auf die Gefahr des Missbrauchs von psychiatrischer Definitionsmacht hin, insbesondere in Bezug auf den Zustand psychischer Institutionen und medizinischen Behandlungsmethoden.

Mit der Studentenbewegung erlangten die Thesen der Antipsychiater eine erhebliche Popularität und machten Deutschland zu einem wichtigen Schauplatz ihrer Ideologie. Als wichtigste Vertreter dieser Szene gelten Cooper, Laing, Basaglia und Szasz, wobei Letzterer sich energisch gegen eine Einordnung in diese Bewegung wehrt, da er ein positivistisches Krankheitsverständnis habe, dass sich stark von dem der Antipsychiater unterscheide.[3]

2.1 BIOGRAPHISCHER HINWEIS ZU THOMAS SZASZ

Thomas Szasz (*20. 04.1920 in Budapest) studierte von 1938-1944 in Cineinnati Physik und Medizin. Nach seiner Promotion und einer Ausbildung zum Psychoanalytiker war er von 1956-1990 als Professor für Psychiatrie an der State University of New York in Syracuse beschäftigt.

Seinen Ruf als radikale Vertreter der Antipsychiatrie erlangte er insbesondere aufgrund seiner Kritik am psychiatrischen Krankheitsbegriff und der Bekämpfung der staatlich sanktionierten Psychiatrieeinweisung.

Schon Szasz frühere Arbeiten zeigen eine entschiedene Frontstellung gegen die medizinische Zunft. Niemand dürfe Gewalt ausüben. Das gelte für „psychisch Kranke“ und Psychiater gleichermaßen.

Zu seinen wichtigsten Werken zählen u.a. „Geisteskrankheit - ein moderner Mythos? Grundzüge einer Theorie des persönlichen Verhaltens“ (1972), „Recht, Freiheit und Psychiatrie“ (1978), „Schizophrenie. Das heilige Symbol der Psychiatrie“ (1979) und „Grausames Mitleid. Über die Aussonderung unerwünschter Menschen“ (1997).[4]

Insbesondere in seinem Werk „ Geisteskrankheit - ein moderner Mythos?“ erteilt Szasz der psychopathologischen Konzeption der Schizophrenie eine pauschale Absage und bezeichnet sie als „Mythos“, da es sich hierbei um moralische und keine medizinischen Probleme handele.[5]

Diese moralischen und politischen Probleme würden lediglich als Persönliche getarnt und seien somit ein brauchbares Konzept im 19. Jahrhundert gewesen, das heute wissenschaftlich wertlos sei.[6]

2.2 ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DER MODERNEN PSYCHIATRIE

Mit den Anfängen der modernen Psychiatrie wurde der Absonderung und Entmenschlichung von Hysterikern entgegen gewirkt, indem sie nicht mehr als Simulanten, sondern als „Kranke“ diagnostiziert wurden.

Die ursprüngliche Klasse der körperlichen Krankheiten wurde erweitert auf alles was von der Norm abweicht und „psychische Störungen“ somit zu einem Teilgebiet der Medizin.[7]

Diese soziale Reform habe den Ärzten Prestige gebracht, den viele von ihnen gegen Wahrheitsliebe eintauschten.[8]

2.3 DER SOZIALE ASPEKT DER SCHIZOPHRENIE

Szasz sieht den Menschen in erster Linie als ein Produkt seiner sozialen Umwelt. Erst die Hilflosigkeit des Kindes im Kontrast zur Hilfeleistung des Erwachsenen trieben den Menschen in Unfähigkeit.[9]

Menschengemachte Gebote gäben vor allem den Ärzten vor Schwachen und Unfähigen zu helfen, während selbstsichere Menschen weitgehend sich selbst überlassen blieben.

Szasz erstellt somit eine Theorie der Belohnung für Unfähigkeit, aus der das Konstrukt Schizophrenie entstanden sei.[10]

Entgegen dieser Annahme sähe die psychopathologische Psychiatrie Schizophrenie unabhängig von sozialen Faktoren, da sie mit körperlichen Krankheiten gleichgesetzt werde.[11]

Am Beispiel des sowjetischen Gesundheitssystems weist Szasz jedoch auf, dass die Diagnosen abhängig vom jeweiligen System sind.

So seien russische Ärzte Staatsangestellte mit geringem Status, deren Loyalität der Gesellschaft diene, die sie engagiert und nicht dem Patienten. Folglich würden Patienten dort schneller als „Simulanten“ und der Vernachlässigung gesellschaftlicher Aufgaben bezichtigt, als dies in westlichen Ländern der Fall sei.

Entgegen der sowjetischen Praxis, die Schizophrenie als nicht existent bestreitet, würde in der westlichen Praxis die Existenz von Simulanten bestritten.[12]

Somit lässt sich die Hypothese aufstellen, dass Schizophrenie ein soziologisches Konstrukt ist und die Gesundheitsfürsorge als Instrument gesellschaftlicher Kontrolle dient, welche den Status quo erhalten soll.

2.4 DER KOMMUNIKATIVE ASPEKT DER PSYCHIATRIE

Die menschliche Kommunikation bestehe u.a. aus Zeichen, die symbolisch etwas zum Ausdruck bringen sollen, was in manchen Situationen nur durch Körpersprache möglich sei.[13]

Dieser Symbolisierungsprozess habe immer entweder informativen, affektiven oder promotiven Charakter. Während die informative Verwendung der Sprache es ermögliche die kognitive Bedeutung der Symptome darzustellen, löse der affektive Gebrauch beim Zuhörer vor allem Emotionen aus, da eine gesellschaftliche Regel besage, dass „Kranke“ Mitgefühl bekommen sollten.

Promotive Äußerungen haben darüber hinaus eine aktionsauslösende Bedeutung.

Schizophrenie sei also im Wesentlichen als eine unreflektierte Weise des Sich-Mitteilens

Aufzufassen, mehr affektbetont als verstandesbetont.

Hierfür schlägt Szasz den Ausdruck „Proto-Sprache“ vor. Protosprachlich seien somit alle Mitteilungen, die ein menschlicher Sender ausstrahlt und die ein anderer Empfänger sinngemäß auffasst, ohne dass die Beteiligten ein begleitendes Wissen über den ablaufenden Kommunikationsprozesses besitzen müssen.[14]

Die Funktion dieses Sprachprozesses läge neben der Übermittlung von Information in der Kontaktaufnahme zu Objekten.

Vor allem in delikaten Angelegenheiten, wie z.B. Sexualität und Geld, diene sie als Schutzfunktion, die es ermögliche Themen anzudeuten, aber gleichzeitig zu dementieren.

Da Bedürfnisse heute oftmals als kindlich gelten und Lebensprobleme entgegen körperlichen Krankheiten nicht akzeptiert werden, könne so eine Illusion der Unabhängigkeit gewahrt werden.

Darüber hinaus könne einer direkten Ablehnung entgegengewirkt werden, da eine indirekte Kommunikation bescheidener wirke und die Möglichkeit der Leugnung bestehe.[15]

[...]


[1] Vgl. Häfner 2000: S.16 f

[2] Vgl. Rechlin, Vliegen 1995: S.11

[3] Vgl. Braun, Hergrüter 1980: S. 9 ff

[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Szasz

[5] Vgl. Szasz 1972: S.15

[6] Vgl. Ebd. S.9 f

[7] Vgl. Ebd. S.58 f

[8] Vgl. Ebd. S.40 ff

[9] Vgl. Ebd. S.28 f

[10] Vgl. Ebd. S.28 f

[11] Vgl. Ebd. S.67 f

[12] Vgl. Szasz 1972: S.80 ff

[13] Vgl. Ebd. S.118 f

[14] Vgl. Ebd. S.128 ff

[15] Vgl. Szasz 1972: S.153 ff

Excerpt out of 24 pages

Details

Title
Schizophrenie ein soziologisches Konstrukt? Kritische Anmerkungen zu Thomas Szasz
College
University of Trier
Course
Proseminar: Soziologie der Psychiatrie
Grade
2,0
Author
Year
2005
Pages
24
Catalog Number
V55817
ISBN (eBook)
9783638506762
File size
509 KB
Language
German
Keywords
Schizophrenie, Konstrukt, Kritische, Anmerkungen, Thomas, Szasz, Proseminar, Soziologie, Psychiatrie
Quote paper
Sabrina Dahlheimer (Author), 2005, Schizophrenie ein soziologisches Konstrukt? Kritische Anmerkungen zu Thomas Szasz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55817

Comments

  • guest on 9/11/2006

    Tolle Arbeit.

    Tolle Ausarbeitung zu Szasz. Viele eigene Gedanken dargestellt und auf weitere Bereiche ausgedehnt. Gut, wie hier Transferwissen eingebaut wurde. Sehr gut geschrieben. Kann ich nur empfehlen

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Title: Schizophrenie ein soziologisches Konstrukt? Kritische Anmerkungen zu Thomas Szasz



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