Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Seite
1. Einleitung
2. Die Theorie der Multiperspektivität
3. Die Probleme in der Praxis
3.1. Die Gefahr von Monoperspektivität und Personifizierung
3.2. Fehlende Hintergrundnarration
3.3. Quellen der stummen Gruppen
4. Lösungsansätze für den Geschichtsunterricht
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Geschichtsunterricht hat für mich Sinn; er ist mehr als ein abstraktes, dürres Faktengerippe. Er ermöglicht mir, meine Fragen und meine Interessen unterzubringen und hilft mir dabei, diese Fragen im Sinne einer Gegenwarts- bzw. Zukunftsorientierung zu beantworten.“1
Geschichte darf keine reine Faktensammlung für den Schulunterricht sein, wo Ereignisse nur aneinander gereiht werden. Vielmehr soll Geschichte auch die Personen, ihre Strukturen, Verhältnisse und Zusammenhänge aufzeigen. Darüber hinaus spielt die Perspektivität eine wichtige Rolle, bei dem sich die Jugendlichen mit verschiedenen Ansichten zu einem Ereignis auseinandersetzen und zum Schluss eine eigene Meinung bilden sollen. Daher reicht es für den heutigen Geschichtsunterricht nicht mehr aus, dass der Lehrer nur verschiedene Merkzahlen zu den jeweiligen Epochen zuordnet, welche die Klasse auswendig lernen soll. Damit würden die Schüler- und Schülerinnen nur nach dem ‚Schwammprinzip’ arbeiten, bei der eine Wissensaufnahme stattfindet, bei dem der vorwiegende Motivationsaspekt die Leistungsbewertung ist. Dieses Ergebnis ist für beide Seiten nicht dienlich und somit nicht ausreichend für den Geschichtsunterricht. Eine weitere Gefahr besteht durch die Monoperspektivität, wobei den Schülern nur eine begrenzte Perspektive vermittelt wird. Durch den eingeschränkten „Tunnelblick“ können verschiedene Informationen verloren gehen und das Problem einer unvollkommenen Erarbeitung entstehen. Dadurch wird es den Jugendlichen erschwert, sich ein umfangreiches Urteil über den historischen Sachverhalt zu bilden. Genauso kann die Sichtweise durch die kaum vorhandene Quellenlage verzerrt werden. Denn wie sollen sich Schüler in die Perspektive von anderen Menschen hineinversetzen, wenn es gar keine Berichte von ihnen gibt?
Ein Lösungsansatz für die Probleme besteht darin, dass man die Jugendlichen aktiver am Unterricht beteiligt. Einige Beispiele hierfür wären die Erarbeitung von Aufgaben in Gruppen, eine kontroverse Frage zu stellen oder die Ansichten ‚stummer Gruppen’ zu rekonstruieren. Durch das Mitwirken der Klasse am Unterricht wird ihnen nicht nur Wissen vermittelt, sondern sie erfahren auch, dass Geschichte interessant sein kann und gleichzeitig den Denkprozess fördert.
In der folgenden Arbeit wird sich der Autor mit der Multiperspektivität und den Schwierigkeiten bei der Anwendung beschäftigen. Zunächst wird auf die Theorie eingegangen und im Anschluss auf die Merkmale und die Arten. In dem nächsten Kapitel werden dann die Probleme aufgezeigt. Hierbei soll die Einbindung der Multiperspektivität in den Unterricht und die Quellenlage von stummen Gruppen dargestellt werden. Im Folgenden wird dann auf die Lösungsansätze für die Problematiken eingegangen. Mit diesen Komponenten soll dargelegt werden, welche Bedeutung Multiperspektivität für den Geschichtsunterricht hat und was für Problematiken zustande kommen.
2. Die Theorie der Multiperspektivität
„1752 hat Johann Martin Chladenius bereits gewußt, es sei ‚nicht zu vermeiden, daß jeder die Geschichte nach seinem Sehepunkt ansehe’, und der Sehepunkt sei ‚der innerliche und äußerliche Zustand eines Zuschauers, in so ferne daraus eine gewisse und besondere Art, die vorkommenden Dinge anzuschauen und zu betrachten, fließet’“.2
Wenn im Geschichtsunterricht die Multiperspektivität behandelt und eingesetzt wird, sollte den Schüler- und Schülerinnen am Anfang ein wichtiges Merkmal aufgezeigt werden. Das es eine objektive Sicht über die Vergangenheit nicht gibt, weil jede Aussage über ein Ereignis von einer bestimmten sozialen, geschlechtsspezifischen und kulturellen Perspektive gemacht wird. Es ist nicht möglich, dass ein Sachverhalt von verschiedenen Personen gleichwertig wiedergegeben wird. Weil die Betroffenen das Geschehen unterschiedlich empfunden und darauf reagiert haben.3 Des Weiteren besitzt jeder Einzelne verschiedene Werte und Normen und was für den Einen moralisch richtig ist, kann für den Nächsten das Gegenteil bedeuten. Jeder Zeitgenosse besitzt damit eine eigene ‚Geschichte’ zu der Begebenheit, was wiederum heißt, dass es nicht nur die eine Geschichte gibt.4 Nimmt man als Beispiel für die Perspektivität das Braker Waschhaus, so werden die Jugendlichen heute, einen anderen Standpunkt zum Waschvorgang haben, als die die Frauen im 18. Jahrhundert. Denn was heutzutage schnell und einfach mit Maschinen erledigt wird, war zur damaligen Zeit eine schwere Arbeit per Hand, welche aber alltäglich war. Die verschiedenen Auffassungen von dem Arbeitsalltag stellen eine unterschiedliche Sichtweise über dasselbe Thema dar. Was darlegen soll, dass die Perspektive über ein Thema differenziert gesehen wird, aufgrund der Einflussnahme verschiedener Faktoren. 5
Die Schüler und Schülerinnen entwickeln in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Sichtweisen wichtige Fertigkeiten für den Geschichtsunterricht. Die Jugendlichen erlernen das ‚Verstehen’, bei dem sie sich in die Personen der Vergangenheit hineinversetzen, um somit ihre Handlungsweisen nachempfinden zu können. Ein weiterer Punkt ist das ‚Erklären’, wo erläutert wird, wieso die Menschen so gehandelt haben. Unter Einbezug der Situation und dem Handlungsrahmen. Eine dritte Erkenntnis ist die ‚Rekonstruktion’. Hierbei werden die Schüler feststellen, dass die Interpretation über die Vergangenheit zu unterschiedlichen Auffassungen führen kann. Die vierte Bildung ist die ‚Selbstreflexion’, bei der die Schüler ein Ereignis aus ihrer eigenen Sicht untersuchen sollen. Außerdem entdecken sie, wie unterschiedlich sich die Meinung über den Sachverhalt entwickeln wird. Der letzte Punkt bildet die ‚Schrittfolge von Urteilen’. Die Jugendlichen lernen, dass sie das Verhalten von Menschen beurteilen, statt verurteilen sollen.5
Die Mulitperspektivität betrifft Menschen, welche zum Zeitpunkt des Entstehens der Quelle gelebt haben und am Geschehen beteiligt waren. Die verwendeten Überlieferungen findet man vor allem in schriftlicher oder bildlicher Form vor.6
Eine zweite Art der Perspektivität ist die Kontroversität. Hierbei geht es nicht mehr um die Aussagen von Zeitgenossen, sondern um die Darstellung von Historikern und Historikerinnen. Durch sie entsteht wieder ein neuer Blickwinkel, was zu einem kontroversen Primärzeugnis führt. Dabei werden die Quellen der Beteiligten und die Rekonstruktion der Vergangenheit aus der eigenen Perspektive mit einbezogen. Des Weiteren dient die zweite Art der Geschichtsdidaktik als offener Forschungsprozess, bei dem Vergangenes von Geschichtswissenschaftlern unterschiedlich gedeutet wird.6 „Historikerinnen und Historiker legen unterschiedliche Darstellungen über gleiche historische Sachverhalte vor, weil sie die Quellen und früheren Darstellungen aus unterschiedlichen Sichtweisen betrachten (Kontroversität)“.7
Ein wichtiger Bezugspunkt für kontroverse Darstellungen befindet sich in den Schulbüchern. Die Schulbuchautoren verwenden bei ihren Texten verschiedene Quellen und Karten, weil sie ihre Informationssammlung für die jeweilige Epoche als die Richtige empfinden. Hierbei lernen die Schüler, dass es nicht nur unterschiedliche Sichtweisungen in der Vergangenheit gab, sondern auch in der Gegenwart, bei dem die Historiker zu differenzierten Sinnbildungen gelangen.8 Die Kontroversität entsteht somit aus den gegenwärtigen Deutungen von Betrachtern über ein historisches Ereignis. Die Zeugnisse sind vor allem die schriftlichen Darstellungen der Geschichtswissenschaftler, oder auch Karikaturen und Karten von der Gegenwart.9 Des Weiteren gibt es auch Kontroversen im außerschulischen Geschichtsbereich. Beispiele hierfür sind Museen, Gedenktage und auch Straßennamen, welche aus Gründen verschiedener Meinungen umbenannt wurden und somit ein Stück der Vergangenheit ersetzen.
Wenn man das Beispiel vom Braker Waschhaus weiterführt, würde sich der Historiker mit dem Waschvorgang aus der heutigen Zeit auseinandersetzen. Die Vorteile sind ein einfacheres und schnelleres Waschen. Jedoch entstehen durch die Modernisierung auch Probleme, wie Umweltschäden und der Kostenfaktor. Es werden Chemikalien eingesetzt und viel Strom verbraucht. Außerdem ist die Anschaffung der Maschinen sehr teuer.10
Die Schüler und Schülerinnen beschäftigen sich noch immer mit demselben historischen Sachverhalt, dem Braker Waschhaus. Sie haben die Sichtweise von den Beteiligten aus der Vergangenheit kennen gelernt und die Deutung von den Historikern aus der Gegenwart. Hieraus entwickelt sich das letzte Prinzip der Perspektivität, die Pluralität, wo die Selbstreflexion im Vordergrund steht. Die Jugendlichen setzen sich hierbei mit der Multiperspektivität und der Kontroversität auseinander. Im Anschluss sollen sie eine eigene deutende Rekonstruktion über die Gegebenheit herstellen.11
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1 Bergmann, Klaus: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2002, S. 7.
2 Bergmann, Klaus: Multiperspektivität, in: GWU, Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands, 45/1994, S. 195.
3 Vgl.: Bergmann Klaus, Multiperspektivität, in: Mayer, Ulrich u. a. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2004, S. 65.
4 Vgl.: Bergmann: Zeitschrift des Verbandes, S. 195.
5 Vgl.: Huhn, Jochen: Geschichtsdidaktik – eine Einführung, Köln 1994, S. 48 f.
6 Vgl.: Bergmann: Handbuch Methoden, S. 65 f.
7 Vgl.: Ebd., S. 66 ff.
8 Vgl.: Bergmann, Klaus: Mulitperspektivität, in ders. u.a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl., Seelze - Velber 1997, S. 301 f.
9 Bergmann: Handbuch Methoden, S. 72.
10 Vgl.: Bergmann, Klaus: Geschichte selber denken, Schwalbach/Ts. 2000, S. 42 f.
11 Vgl.: Bergmann: Handbuch Methoden, S. 66.