Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen

Hintergründe, Umgang und Prävention in stationären Einrichtungen


Thèse de Bachelor, 2017

82 Pages, Note: 1,5


Extrait


Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Wissensstand
2.1 Sexualitat
2.2 Sexualitat in unterschiedlichen Lebensphasen
2.2.1 Kindliche Sexualitat
2.2.2 Kinder in der Vorpubertat
2.2.3 Jugendliche Sexualitat
2.2.4 Erwachsene Sexualitat
2.3 Sexuelle Übergriffe, sexuelle Grenzverletzung, sexuelle Gewalt, sexueller Missbrauch?
2.3.1 Sexuell belastigendes Verhalten (sexual harassment) / sexuell grenzverletzendes Verhalten
2.3.2 Sexuelles Problemverhalten
2.3.3 Sexuelle Übergriffe / sexuell aggressives Verhalten / sexuelle Gewalt
2.3.4 Sexueller Missbrauch
2.3.5 Hands-on / Hands-off-Taten
2.3.6 Peer offenders und child offenders
2.4 Rechtliche Aspekte
2.5 Rahmenbedingungen einer stationaren Wohngruppe der Jugendhilfe

3. Hintergründe von sexuellen Übergriffen durch Kinder und Jugendliche
3.1 Warum kommt es zu sexuellen Übergriffen - Risikofaktoren
3.2 Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen wahrnehmen
3.3 Übergriffige Kinder und Taterinnen oder Tater
3.3.1 Taterstrategien
3.3.2 Testerinnen oder Tester oder Taterinnen oder Tater
3.3.3 Taterinnen
3.3.4 Übergriffe unter Geschwistern
3.4 Folgen sexueller Übergriffe

4. Fachlicher Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern und Jugendlichen
4.1 Einschatzung von sexuellen Übergriffen
4.2 Auswirkungen unterschiedlicher Intensitaten auf die Beurteilung sexueller Übergriffe
4.3 Ablauf zum Vorgehen bei sexuellen Übergriffen unter Kindern und Jugendlichen
4.4 Umgang mit sexuellen Übergriffen
4.4.1 Umgang mit dem betroffenen Kind/Jugendlichen (Opfer)
4.4.2 Umgang mit dem übergriffigen Kind/Jugendlichen (Tater)
4.4.3 Umgang in der Wohngruppe
4.4.4 Umgang mit Eltern/Zusammenarbeit

5. Prevention
5.1 Stabile Beziehungen, sichere Bindung
5.2 Starkung der Persönlichkeit
5.3 Empathiefahigkeit
5.4 Klare Haltung
5.5 Intervention
5.6 Rollenklischees auflösen
5.7 Sexualerziehung - sexuelle Bildung
5.8 Strukturelle Prevention - Rahmenbedingungen

6. Schlussfolgerung

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Handlungsschema zur Einschatzung von sexuellen Übergriffen

Abbildung 2: Ablauf zum Vorgehen bei sexuellen Übergriffen unter Kindern und Jugendlichen

Abbildung 3: Bausteine zur Pravention von sexuellen Übergriffen

1. Einleitung

Eine von vier Frauen in unserer Gesellschaft ist von sexueller Gewalt betroffen. Bei Man- nern wird davon ausgegangen, dass die Zahl ahnlich hoch ist. Dazu gibt es keine repra- sentative Studie, da Manner noch weniger über dieses Thema sprechen als Frauen.

Diese Arbeit behandelt die Frage, wie sexuelle Gewalt in stationaren Einrichtungen der Jugendhilfe (Wohngruppen) unter Kindern und Jugendlichen auftritt - und wie sie vor dieser geschützt werden können. Insbesondere durch die eigene Tatigkeit der Autorin in einer solchen Jugendhilfeeinrichtung ist das Interesse für dieses Thema groB. In dieser Einrichtung sind (sexuelle) Grenzverletzungen unter Kindern und Jugendlichen schon langer ein Thema. Um Kinder und Jugendliche zu schützen, wurde ein Schutzkonzept mit verschiedenen Bausteinen entwickelt. Der Umgang mit sexuell übergriffigen Kindern und Jugendlichen wurde in dem Schutzkonzept bisher nur wenig behandelt. Daher be- schaftigt sich diese Arbeit intensiv mit diesem Thema.

Sexuelle Handlungen zwischen Kindern und Jugendlichen sind keine Seltenheit. Laut einer schwedischen Studie von Larsson und Svedin hatten über 80%, von 269 befragten jungen Erwachsene im Durchschnittsalter von 18,6 Jahren, vor dem 13. Lebensjahr se- xuelle Gewalt durch Gleichaltrige erfahren (vgl. Larsson/Svedin 2002, S. 263-273 zitiert nach: Allroggen 2015, S. 384). In Deutschland gibt es bisher noch keine verlasslichen Studien, da hier nicht explizit nach sexueller Gewalt unter Gleichaltrigen gefragt wird, sondern nach Erfahrungen mit sexueller Gewalt im Allgemeinen (vgl. ebd.). Dazu führt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklarung (BZgA) seit 1980 regelmaBige Stu- dien durch. In der aktuellen Studie von 2015 wurde deutlich, dass sexuelle Gewalterfah- rungen sehr haufig vorkommen (vgl. HeBling/Bode 2015, S. 4). Allgemein ist zu sagen, dass sich eine von fünf Madchen/junge Frauen sich schon mit dem Thema sexuelle Ge- walt auseinandersetzen musste, einige sogar mehrfach. Auch Jungen sind davon betrof­fen, so gaben 4 % an, dass sie unfreiwillig zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden (vgl. ebd., S. 196). Es gibt keine definitiven Zahlen, da es eine hohe Dunkelziffer an Erfahrungen mit sexueller Gewalt gibt. Dies liegt u. a. daran, dass viele Kinder und Ju- gendliche, die zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden, (zunachst) nicht über die­sen Vorfall sprechen. Mehr als ein Drittel aller Betroffenen sprechen mit niemandem dar- über (vgl. ebd., S. 201). Laut Allroggen zeigen deutsche Studien, dass Jugendliche mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eher von Gleichaltrigen zu sexuellen Handlungen ge- zwungen werden, als von Erwachsenen (vgl. Allroggen 2015, S. 384). Aufgrund dessen ist die Auseinandersetzung mit Grenzverletzungen in Wohnformen wie einer Wohn- gruppe unentbehrlich. Kinder und Jugendliche in der Jugendhilfe zeigen haufig sexuell auffalliges Verhalten, was immer wieder auch zu sexuellen Grenzüberschreitungen und Übergriffen führt. Das Thema ist ein alltagliches in der Arbeit einer stationaren Wohn- gruppe der Jugendhilfe. Sexuelle Grenzverletzungen fangen bereits mit sexualisierten Beschimpfungen und Abwertungen an. Aber wie gehen padagogische Fachkrafte mit sexuellen Übergriffen um und was ist eigentlich ,normal' und gehört zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen?

Padagogische Fachkrafte schwanken bei diesen Fragen haufig zwischen Bagatellisieren und Dramatisieren (vgl. Egli-Alge 2014, S. 25). Haufig liegt dies an der Unsicherheit und der Überforderung, die ein sexueller Übergriff unter Kindern und Jugendlichen bei Fach- kraften auslöst. Sie wissen nicht, wie sie angemessen darauf reagieren sollen und ver- harmlosen die Situation. Des Weiteren kann es sein, dass sie nicht einschatzen können, ob der Vorfall zu einer gesunden sexuellen Entwicklung gehört oder ein Übergriff dar- stellt. Dies liegt u. a. daran, dass Sexualpadagogik sowie der Umgang mit sexuellen Übergriffen in der Regel nicht als Ausbildungsinhalt sozialer Berufe vorzufinden ist. So kann bei padagogischen Fachkraften das Gefühl von Inkompetenz und Ohnmacht auf- treten. Dies begünstigt eine Abwehrhaltung zu diesem Thema. Übergriffe werden nicht wahrgenommen oder verharmlost. Dies ist keine gute Voraussetzung, um einen profes- sionellen Umgang mit sexuellen Übergriffen zu erreichen (vgl. hierzu insg. Freund/Rie- del-Breidenstein 2016, S. 10). Denn es ist wichtig, auf alle sexuelle Grenzverletzungen und Übergriffe zu reagieren. Dies „. ist keine Frage der persönlichen Einstellung, son- dern ergibt sich verpflichtend aus dem Kinderschutzauftrag von . Jugendhilfeeinrich- tungen“ (ajs 2015, o. S., Hervorhebung nicht übernommen, J. K.).

Um Klarheit im Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern und Jugendlichen zu bekommen und professionelle Handlungsstrategien zu entwickeln, ist es wichtig, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund geht die Autorin in dieser Arbeit folgender Frage nach: Welche MaBnahmen und Rahmenbedingungen sind in ei- ner Wohngruppe nötig, um sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen wahrzu- nehmen und können diese möglichst verhindert werden?

Umgang beschreibt in dieser Arbeit die fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema und die Art und Weise, einen professionellen Umgang mit allen Beteiligten zu erreichen. Zu einem fachlichen Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern und Jugendlichen gehört das Wahrnehmen von solchen Übergriffen. Darunter wird das Registrieren, Er­kennen und Sehen von Übergriffen verstanden. Bei der Wahrnehmung spielt auch das Gespür von padagogischen Fachkraften eine Rolle. Ein ,komisches‘ Gefühl in einer Si­tuation, die beobachtet wird, kann ein Hinweis auf eine Grenzverletzung sein. Diesem Gefühl sollte nachgegangen werden, zu einer Bewertung der Situation. Es soll abgewo- gen werden, inwieweit und in welcher Intensitat ein Übergriff stattgefunden hat. Synonym dazu wird der Begriff der Beurteilung verwendet.

Weitere Begriffe, die für diese Arbeit vorab erlautert werden müssen, um nachzuvollzie- hen, was die Autorin darunter versteht, sind die MaBnahmen, die Intervention und die Pravention. Unter einer MaBnahme sind in dieser Arbeit Handlungen zu verstehen, die etwas Bestimmtes bewirken sollen. So z. B. Konsequenzen für das übergriffige Kind/den übergriffigen Jugendlichen, preventive MaBnahmen zur ,Vorbeugung‘. MaBnahmen kön- nen mit Handlungsstrategien gleichgesetzt werden. Bei einer Intervention geht es da- rum, direkt in das Geschehen einzugreifen. Dabei geht es vorrangig um das Handeln in übergriffigen Situationen und nicht darum, die Situation richtig einzuschatzen oder zu beurteilen. Eine Intervention beinhaltet kein Einverstandnis der Betroffenen, an die sie gerichtet ist. Sie dient dazu, Schaden abzuwenden und ist notwendig. Bei der Pravention hingegen geht es darum, sexuellen Übergriffen vorzubeugen.

Um die Fragestellung ,Welche MaBnahmen und Rahmenbedingungen sind in einer Wohngruppe nötig, um sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen wahrzuneh- men und können diese möglichst verhindert werden?‘ umfassend klaren zu können, muss zu Beginn im 2. Kapitel ein Grundverstandnis zum Thema Sexualitat im Allgemei- nen und auf die unterschiedlichen Lebensphasen bezogen vermittelt werden. Zum Ver- standnis einer normalen sexuellen Entwicklung ist es wichtig, diese Unterschiede mit Blick auf verschiedene Altersstufen zu kennen. Zudem darf die kindliche Sexualitat nicht mit der von Jugendlichen gleichgestellt werden. Es wird sich z. B. zeigen, dass Jugend- liche bereits ein Bild von Sexualitat entwickelt haben. Dies wirkt sich auf die entspre- chende Intervention aus, wie auch auf Handlungsstrategien bei grenzverletzendem Ver- halten. AnschlieBend werde ich auf die verschiedenen Begrifflichkeiten von sexuellen Übergriffen, sexuellen Grenzverletzungen, sexueller Gewalt und sexuellen Missbrauch eingehen und die relevanten rechtlichen Aspekte erlautern. Doch welche Hintergründe stecken hinter sexuellen Übergriffen von Kindern und Jugendlichen? Zur Klarung dieser Frage wird im 3. Kapitel zunachst der Frage nachgegangen, warum es zu sexuellen Übergriffen kommt und wie man diese wahrnehmen kann. Dies ist relevant, um in einem spateren Schritt zu klaren, welche MaBnahmen und Rahmenbedingungen nötig sind, um sexuelle Übergriffe wahrzunehmen. Nachdem diese Fragen geklart sind, wird die Autorin naher auf übergriffige Kinder und Taterinnen oder Tatern eingehen. Zu beachten ist, dass man bei Kindern nicht von Tater und Opfern spricht. Dies sind juristische Begriffe, die es erschweren, die Ganzheitlichkeit der Vorfalle zu sehen. Zudem polarisieren die Begriffe und dienen der Frontenbildungen, z. B. zwischen Eltern. Dies ist nicht hilfreich. Daher wird bei Kindern von sexuell übergriffigen und betroffenen Kindern gesprochen (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 65). Das gilt auch zunachst für Jugendliche, jedoch muss hier im Weiteren geklart werden, ob eine Straftat vorliegt. Je nachdem kön- nen Jugendliche als Taterinnen oder Tater bezeichnet werden. In der Arbeit wird immer von übergriffigen und betroffenen Kindern und Jugendlichen gesprochen. Um jedoch zu verdeutlichen, was eine Taterinnen oder ein Tater ausmacht, wird in dieser Arbeit erlau- tert, welche Taterstrategien es gibt. Des Weiteren wird es einen Einblick zum Thema Taterinnen und zu Übergriffen unter Geschwistern geben. Dies ist für diese Arbeit rele­vant, da es immer wieder zu Aufnahmen von Geschwistern in Wohngruppen kommt. AnschlieBend werde ich mich mit den Folgen von sexuellen Übergriffen beschaftigen. Das 4. Kapitel beschaftigt sich mit dem fachlichen Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern und Jugendlichen. Damit padagogische Fachkrafte einen professionellen Umgang mit dem Thema sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen erreichen können, wird zuerst auf die Einschatzung von sexuellen Übergriffen eingegangen. Wie kommt eine Fachkraft zu einer guten Einschatzung und welche Auswirkungen hat die Intensitat des Übergriffs auf diese? Eine angemessene Einschatzung bestimmt den wei- teren Verlauf im Umgang mit sexuellen Übergriffen. Dazu wird zuerst ein Ablauf zum Vorgehen bei sexuellen Übergriffen unter Kinder und Jugendlichen vorgestellt. Im An­schluss daran wird der konkrete Umgang mit sexuellen Übergriffen beschrieben und wie mit dem betroffenen und dem übergriffigen Kind sowie der Gruppe und den Eltern um- gegangen werden sollte. Im 5. Kapitel geht es um die Pravention sexueller Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen und darum, was getan werden kann um diesen Jugend­lichen vorzugreifen. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einer Schlussfolgerung.

Beispiele die in der Arbeit verwendet werden, um Situationen zu konkretisieren, sind anonymisierte Beispiele aus dem Arbeitsalltag der Einrichtung, in der die Autorin tatig ist. Des Weiteren wurde viel mit Literatur zum Thema sexuelle Übergriffe unter Kindern gearbeitet und für die Arbeit geprüft, um einen Transfer zum Thema sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen zu leisten.

Themen, die in der Arbeit nicht ausführlich behandelt werden, sind u. a. die Auswirkung von Medien in Bezug auf sexuelle Übergriffe und kulturelle Besonderheiten, die im Um- gang mit sexuellen Übergriffen beachtet werden sollten. Dies würde den Umfang dieser Arbeit übersteigen.

2. Wissensstand

Um die Fragestellung zu klaren, welche MaBnahmen und Rahmenbedingungen für eine Wohngruppe nötig sind, um sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen wahr- zunehmen und sexuelle Übergriffe möglichst zu verhindern, benötigt es ein Wissens- stand über Fakten zur Sexualitat, Begriffsklarungen, Rechtliche Aspekte und über die Rahmenbedingungen einer stationaren Wohngruppe. Daher wird im Folgenden auf die derzeitigen Fakten naher eingegangen.

2.1 Sexualitat

Viele Fachkrafte sind verunsichert, wenn sexuellen Verhaltensweisen zwischen Kindern beobachten. Wenn sich beispielsweise zwei Kinder einer Kita plötzlich auf den Mund küssen; wenn sich ein Sechsjahriger und ein Fünfjahriger plötzlich ohne Hose im Gang stehen; wenn eine Zehnjahrige einem Achtjahrigen auf dem Gang zuruft: „Fick mit mir!“; wenn sich eine Sechsjahrige und ein gleichaltriger Junge bekleidet aufeinander legen, sich rhythmisch bewegen und dabei lachen; etc. Es fallt immer wieder schwer, solche Situationen richtig zu beurteilen und angemessen zu reagieren. Fragen, die aufkommen sind: Ist das eigentlich normal? Ab wann werden Grenzen verletzt? Was ist eine ange- messene Reaktion? (vgl. ajs 2015, o. S. und Quindeau 2014, S. 58).

Diese Verunsicherung kommt nicht von ungefahr, oft ist es keine Selbstverstandlichkeit von kindlicher Sexualitat zu sprechen, oder sie gar anzuerkennen. Sexualitat spielt in der Gesellschaft zwar eine groBe Rolle und bekommt viel Aufmerksamkeit in den Me- dien, dies betrifft jedoch nur die Sexualitat Erwachsener (vgl. Quindeau 2014, S. 58).

Aber was ist unter Sexualitat überhaupt zu verstehen? Dieser Frage soll im Weiteren nachgegangen werden, um ein Verstandnis für Sexualitat und ihre normale Entwicklung zu bekommen. Es ist für die Fragestellung der Arbeit von Bedeutung, die gesunde Ent­wicklung zu kennen, damit Abweichungen wahrgenommen werden können.

Der Mensch ist ein sexuelles Wesen und dies von Geburt an. Das Verstandnis von Se- xualitat ist meist verengt und wird mit Sex, also erwachsener genitaler Sexualitat, gleich- gesetzt. Sexualitat ist jedoch ein sehr vielschichtiges Thema und lasst sich nicht auf das Körperliche, die Lust, Erotik, Leidenschaft, Zartlichkeit, Partnerschaft, etc. reduzieren (vgl. Deggelmann 2014, S. 264 und Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 18). Sexualitat ist ein menschliches Grundbedürfnis, eine Lebensenergie. Die verschiedenen Aspekte, wie z. B. die körperlich-seelische Lust, die Leidenschaft und die Zartlichkeit der Sexuali- tat verandern sich im Laufe des Lebens und haben eine unterschiedlich starke Bedeu- tung in verschiedenen Lebensphasen (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 18). Ab der Geburt erleben Menschen Sexualitat. Diese entwickelt sich im Laufe des Lebens (vgl. Allroggen 2014, S. 264). Wie Sexualitat gelebt und ausgedrückt wird, liegt an der persönlichen Einstellung jedes Einzelnen. Dies hangt mit kulturellen, religiösen und ge- sellschaftlichen Werten und Normen zusammen, die die Menschen in ihrem Leben pra- gen und an dessen ,Regeln‘ sie sich halten bzw. denen sie sich verpflichtet fühlen (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 18).

Im Kinder- und Jugendalter wird mit der eigenen Sexualitat sowie der sexuellen Identitat experimentiert (vgl. Stecklina 2013, S. 433). Dies dient der Identitatsfindung und ist ein Teil der Ich-Identitat eines Menschen. Das Modell der Ich -Identitat wurde von Erikson beschrieben. Darunter versteht man die Fahigkeit des Menschen, die Balance im Span- nungsverhaltnis zwischen Fremderwartungen und eigenen Bedürfnissen in ein eigenes Rollenbild zu integrieren. „Es geht .. um die Fragen »wie sehe ich mich?« und »wie se- hen mich andere?«" (Hubrig 2014, S. 16) und darum, Meinungen anderer zu akzeptie- ren, sich aber auch davon lösen zu können, um die eigene Individualitat zu finden (vgl. ebd. und Krappmann 2010, S. 208). Dieser Prozess stellt eine enorme Herausforderung für Kinder und Jugendliche dar. Passen Fremderwartung und die eigenen Bedürfnisse zusammen, kommt es zu einem stimmigen Selbstbild und folglich zu einer stimmigen Ich-Identitat. Für diese ist es grundlegend, eine stabile Geschlechtsidentitat innezuha- ben (vgl. Hubrig 2014, S. 16). Sexualitat wirkt sich zudem auf das seelische Gleichge- wicht eines Menschen aus. Sie kann auf der einen Seite „. das Selbstwertgefühl star- ken, Lebensfreude geben und Freude am Körper, Geborgenheit und Harmonie vermit- teln . [und auf der anderen Seite] mit Selbstzweifel, Scham, Enttauschung oder Angst verbunden sein" (AWO 2014, S. 5). Dies gibt einen ersten Hinweis darauf, wie vielschich- tig das Thema ist und wie wichtig zur Erarbeitung der Fragestellung. Im Weiteren wird auf eine gesunde Entwicklung von Sexualitat in den verschiedenen Lebensphasen eines Menschen eingegangen.

2.2 Sexualitat in unterschiedlichen Lebensphasen

Erst das Wissen über die sexuelle Entwicklung und die Unterscheidung von kindlicher, jugendlicher und erwachsener Sexualitat macht es möglich zu beurteilen, wo Grenzen zwischen sexuellen Aktivitaten zu sexuellen Übergriffen bei Kindern und Jugendlichen verlaufen (vgl. ajs 2015, o. S.). Daher sind die folgenden eigenstandigen Betrachtungen jeder Lebensphase von groBer Bedeutung. Nach Einschatzung der Autorin sind unter- schiedliche Interventions- und Handlungsstrategien erforderlich, abhangig von der Le- bensphase des Betroffenen/Übergriffigen. Die Erklarungsmodelle der Lebensphasen sind idealtypisch, d. h. sie werden von jedem Menschen unterschiedlich durchlaufen. Der Wechsel der Phasen kann abrupt oder gar flieBend erfolgen. Des Weiteren haben die Phasen bei jedem Menschen eine unterschiedlich lange Dauer.

2.2.1 Kindliche Sexualitat

Schon im Sauglingsalter finden die ersten sinnlichen Erfahrungen mit dem Körper statt, insbesondere über körperliche Erfahrungen wie das Genahrt, Gehalten und Berührt wer­den, z. B. beim Stillen, Schmusen, Drücken oder Küssen. Über den Hautkontakt erfahrt das Kind ein Gefühl von Vertrauen, Geborgenheit und Sicherheit (vgl. Löbner 2013, S. 8f.).

Kinder entdecken den Körper über ihre Sinne. Sie sind auf der Suche nach einem guten Gefühl wie Wohlbefinden und Lust. Sei es durch ihren eigenen Körper, z. B. das Berüh- ren von Genitalien oder den Körperkontakt mit Anderen, z. B. Kuscheln oder Schmusen. Kinder berühren haufig ihre Genitalien, da dies ein besonders intensives Gefühl auslöst, es entspannt und kribbelt. Gelegentlich können Kinder auch Orgasmen erleben (vgl. ajs 2015, o. S.). Kindliche Sexualitat umfasst vielfaltige Formen von sinnlichem Erleben, sie bezieht genitale Erregung schon in den ersten Lebensmonaten mit ein, sind jedoch nicht auf genitale Sexualitat festgelegt. Kinder erlernen Sexualitat mit allen Sinnen und fort- schreitendem Körpergefühl. Dabei wird Sexualitat nicht genital, sondern ganzheitlich er- lebt. Kindliche Sexualitat ist keinesfalls eine unreife oder gar unterentwickelte Form der erwachsenen Sexualitat (vgl. ajs 2015, o. S. und Freund/Riedel-Breidenstein 2016, 19 und S. 21).

Ungefahr ab dem dritten Lebensjahr interessieren sich Kinder für sexuelle Aktivitaten mit anderen Kindern und treten entsprechend mit ihnen in Kontakt. Deutlich wird dies am Beispiel der sogenannten kindlichen Doktorspiele: Anhand von spielerischen Mustern aus der Erwachsenenwelt drücken Kinder ihre Neugierde bei der Erkundung von Kör- perlichkeit aus. Jungen vergleichen beispielsweise gegenseitig ihre PenisgröBe und be- rühren ihren Penis gegenseitig. Es geht um die Erkundung des eigenen Körpers, des Körperinneren sowie der Entwicklung einer eigenen Körperlichkeit. Kinder wollen „. et­was ausprobieren, anschauen, berühren oder daran riechen“ (ajs 2015, o. S.). Auf die- sem Weg entsteht neues Wissen und die Erfahrung natürlicher Gefühle von Erregung und Entspannung, Lust- und Glücksgefühlen, aber auch Schmerz und Ekel. Wahrend Kinder solche Handlungen weder sprachlich als ,sexuell‘ noch durch ihr Selbstverstand- nis greifen können, scheinen Erwachsene solch ein Verhalten durchaus als sexuell zu werten (vgl. ajs 2015, o. S. und Eich 2005, S.170 und S. 173). Denn kindliche Sexualitat ist selbstbezogen und orientiert sich am Ich. Im Fokus steht entsprechend nicht der Nachste und seine Lust, sondern das spielerische Erforschen und Kennenlernen des eigenen sowie des fremden Körpers. Dies entwickelt sich im ,Normalfall‘ aus der spiele- rischen Neugier, spontan und unbefangen. Erst im Laufe der Kindheit entwickeln sich gesellschaftliche Sexualnormen und Schamgrenzen (vgl. ajs 2015, o. S. und Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S.21). Daher kommen Kinder auch nicht auf die Idee, tatsachlich Geschlechtsverkehr zu praktizieren, sie sind neugierig und ahmen auf kindli- che Art nach z. B. legen sie sich aufeinander, lachen gemeinsam und bewegen sich dabei rhythmisch. Dabei werden sie nicht durch Lustgefühle oder dem Begehren ange- trieben (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S.22). So können ,Doktorspiele‘ auch in anderer Form stattfinden, wie z. B. in Rollenspielen. Sie spielen ,Arzt‘, wollen andere Kinder untersuchen oder Vater-Mutter-Kind‘, imitieren Zartlichkeiten. Kinder spielen gerne nach, was sie zufallig bei Erwachsenen beobachtet haben, wie Handchen halten, sich küssen etc. (vgl. Enders 2012, S. 267f.).

Eine ungesunde Entwicklung ware zu erkennen, wenn Kinder tatsachlich Geschlechts- verkehr praktizieren, z. B. wenn sie Finger oder irgendwelche Gegenstande einem an­deren Kind in eine Körperöffnung einführen, muss im Sinne des Kindeswohls genau dif- ferenziert werden. Es ist nicht untypisch, dass Kinder sich Gegenstande in Körperöff- nungen stecken und ungewollte Verletzungen entstehen. Dies kann durchaus ganz un- befangen aus dem Spiel heraus zustandekommen. Allerdings kann dies auch ein Hin- weis auf Missbrauchserfahrungen durch andere junge Menschen oder Erwachsene sein (vgl. Deggelmann 2014, S. 271 und Enders 2012, S. 268).

Ab dem fünften Lebensjahr, wenn die Aneignungsprozesse des Kindes weitestgehend ,abgeschlossen‘ sind, rückt das Interesse an ,Doktorspielen‘ nach hinten. Es beginnt die Phase des ersten Verliebtseins in andere Kinder oder auch in eine erwachsene Person aus dem sozialen Umfeld. Dabei sehnen sich die Kinder nicht nach sexueller Vereini- gung. Sie wollen kuscheln, Handchen halten oder auf dem SchoB des anderen sitzen. Sie schwarmen für den Anderen, sind voller Bewunderung und suchen dessen Nahe (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S.21 und S. 26).

Jedes Kind erlebt unterschiedliche Phasen seines sexuellen Interesses, dies steht in Abhangigkeit der sonstigen individuellen Entwicklung des Kindes (vgl. ebd., S.26).

2.2.2 Kinder in der Vorpubertat

In dieser Entwicklungsphase spielt die Sexualitat bei Kindern in der Vorpubertat in ihrem körperlichen Ausdruck nur eine hintergründige Rolle. ,Doktorspiele‘ finden, wenn, dann nur noch im Verborgenen statt. Dies liegt u. a. daran, dass Kinder Schamgrenzen erlernt und verinnerlicht haben und im Grundschulalter bei geauBerter Sexualitat sanktioniert wurden (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 26 und Löbner 2013, S. 35).

Mit ca. zehn Jahren, befinden sich die Kinder in einer sogenannten realistischen Phase. Dies bedeutet, dass sie in der Realitat angekommen sind und sich für andere Themen wie das andere Geschlecht interessieren. Sie sind weiterhin sehr neugierig und wissbe- gierig, haben aber nun in der Vorpubertat einen anderen Fokus (vgl. Löbner 2013, S. 35).

Kinder interessieren sich vielseitig, so auch für Körpervorgange und Gefühle. Dabei trauen sie sich nicht immer, direkt bei Erwachsenen nachzufragen, vor allem nicht, wenn es um Liebesdinge oder um Sexualitat geht. Hier sind Kinder sehr feinfühlig. Sie spüren, dass Auseinandersetzungen mit Intimitat und Sexualitat Grenzen gesellschaftlicher Nor­men berühren und es Erwachsenen scheinbar unangenehm ist, mit Kindern darüber ins Gesprach bzw. in die Auseinandersetzung zu gehen. Daher fragen sie meist nicht direkt nach, wenn sie Interesse und Fragen zur Sexualitat haben. Sie auBern sich indirekt und provozierend. Zum Beispiel sagt ein Elfjahriger am Essenstisch:, Wie geil ware es, jetzt einen Orgasmus zu haben.‘ Durch diese scheinbar obszöne Redeweise erzwingt das Kind eine Reaktion und Stellungnahme vom Erwachsenen, ohne direkt nachzufragen: ,Warum sprechen Jugendliche immer davon, wie geil ein Orgasmus ist und was ist das überhaupt?‘ (vgl. Löbner 2013, S. 36).

2.2.3 Jugendliche Sexualitat

Das Jugendalter ist eine Phase, in der sehr viele Veranderungen und Entwicklungen stattfinden und der Unterschied zu Kindern immer deutlicher wird. Hierzu beschreibt Erikson acht Entwicklungskrisen, durch die Kinder und Jugendliche gehen. Hierbei kommt es u. a. zur Krise der Identitatsdiffusion. Eine groBe Frage wahrend dieser Zeit ist z. B. „Wer bin ich?" (vgl. Grob/Jaschinski 2003, S. 44). Weitere Entwicklungsaufgaben liegen in der körperlichen Veranderung, dem sozialen Status bei Gleichaltrigen, Veran- derung von familiaren Strukturen, Fragen der Gerechtigkeit, Erwartungen an die Gesell­schaft, Entwicklung von Werthaltungen und Moralvorstellungen, Auseinandersetzung mit der Rolle Frau/Mann, etc. (vgl. ebd. S. 48 ff.). Dies wird auch der Prozess der Bio- graphisierung genannt: Sich selbst finden. Die Biographisierung ist sowohl mit Chancen als auch mit Risiken verbunden. Bezogen auf die Sexualitat werden Jugendliche mit kul- turellen Zuschreibungen von Geschlechtern und den Anforderungen der sozialen Um- welt, mit ihren unterschiedlichen Ansprüchen an ihre sexuelle Identitat konfrontiert (vgl. Stecklina 2013, S. 440). Neben den vielen Anforderungen sowie Veranderungen muss zugleich Sexualitat in die jugendliche Persönlichkeit integriert werden. Zum einen finden körperliche Veranderungen statt, zum anderen nehmen auch sexuelle Phantasien, Sehnsüchte und Bedürfnisse zu (vgl. Löbner 2013, S. 58). Dieser Prozess findet haupt- sachlich innerlich statt. Jedoch gibt es immer mehr Annaherungen an das andere Ge- schlecht und evtl. ein leichtes Ausprobieren von körperlichen Berührungen beim Ande­ren. Jugendliche stehen hier immer wieder im Konflikt mit sich selbst. Denn einerseits möchten sie ihren Wünschen und Phantasien nachkommen und auf der anderen Seite „. existiert viel Angst, Abwehr und Abgrenzung gegenüber dem anderen Geschlecht: Angst davor, was passieren könnte, wenn man es wagen würde .“ (Löbner 2013, S. 58) (vgl. ebd.).

Eine weitere Herausforderung für Jugendliche zeigt sich in der Clique, die eine groBe Wirkung auf Madchen und Jungen hat. Insbesondere Jungen unterstehen groBen Er- folgsdruck: Schnellstmöglich durch Sexualkontakte einen Statusgewinn zu erlangen. Es wird viel geprahlt und jeder möchte sein Können unter Beweis stellen (vgl. ebd. und Stecklina 2013, S. 436).

2.2.4 Erwachsene Sexualitat

Im Gegensatz zur kindlichen Sexualitat, welche sich durch Komplexitat und Ganzheit- lichkeit auszeichnet, ist die Sexualitat von Erwachsenen eher einfach zu erklaren. Kurz gesagt: Erwachsene erreichen sexuelle Befriedigung durch genitalen Kontakt (vgl. Eich 2005, S. 169 und Hubrig 2014, S. 13). Dabei ist sie meist zielgerichtet und erfüllt u. a. die Funktion der Befriedigung der Lust, sexuelle Höhepunkte. Gegebenenfalls auch die Funktion der Fortpflanzung. Allerdings gibt es noch weitere Aspekte, die erwachsene Sexualitat ausmachen und sich von der kindlichen Sexualitat unterscheiden. So wahlen Erwachsene bewusst eine Partnerin/einen Partner aus um ihre Sexualitat auszuleben und streben danach, sich mit jemandem zu Binden. Im Vergleich zur kindlichen Sexua- litat steht neben der eigenen Körperlichkeit und Lust ebenso die Befriedigung der Part- nerin/dem Partner im Fokus (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 20).

Die Gesellschaft, persönliche Überzeugungen und/oder die Religion geben Regeln und Normen zur Orientierung vor, wie Sexualitat gelebt werden sollte. Damit wird die Ausle- bung von Sexualitat jedes Einzelnen beeinflusst. Sexualitat wird somit von jedem unter- schiedlich ge- und erlebt. Für die Einen ist Sexualitat nur ein Akt der Fortpflanzung, für Andere ist es das Ausleben von Lust und SpaB und bei den Nachsten geht es darum, sich an jemanden fest zu binden (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 20f. und Hub­rig 2014, S. 11.).

2.3 Sexuelle Übergriffe, sexuelle Grenzverletzung, sexuelle Gewalt oder sexueller Missbrauch?

Der in dieser Arbeit verwendete Begriff von sexueller Übergriffigkeit impliziert grenzver- letzende Handlungen auf sexueller Ebene. Bei der Rede von sexuellen Übergriffen han­delt es sich um eine Art Überbegriff, welcher sich differenzieren lasst. Dabei kann die Qualitat des sexuellen Übergriffes unterschiedliche Dimensionen haben und von belas- tigendem Verhalten bis hin zur sexuellen Gewalt gehen. Alle zeichnet gemeinsam aus durch Handlungen nicht nur Grenzen zu übertreten, sondern zugleich auch Leid und Verletzungen zu verursachen - unabhangig davon, ob diese sichtbar sind oder nicht. Im Weiteren werden haufig verwendete Begrifflichkeiten hinsichtlich ihrer Dimension sowie Intensitat erlautert und differenziert (vgl. Egli-Alge 2014, S. 24).

2.3.1 Sexuell belastigendes Verhalten (sexual harassment) / sexuell grenzverlet- zendes Verhalten

Hierzu zahlt jede Form von unerwünschter sexueller Aufmerksamkeit. Belastigendes Verhalten umfasst sowohl leichte Formen von sexuell übergriffigem Verhalten z. B. un- beabsichtigtes Anfassen oder Küssen, wie auch sexualisiertes Verhalten z. B. Erzahlen von obszönen Witzen oder Zeigen von pornografischem Material gegen den Willen der dem/der Betroffenen (vgl. Allroggen u. a. 2011, S.7).

Ob Verhaltensweisen als Grenzverletzungen oder als belastigend empfunden werden, hangt nicht nur von den jeweiligen Handlungen oder Formulierungen ab, sondern vor allem davon, wie die Kinder und Jugendlichen diese erleben. Es wird eine persönliche Grenze überschritten. Daher liegt der MaBstab für eine Grenzverletzung im subjektiven Empfinden des Betroffenen. Somit sind in diesem Bereich auch unbeabsichtigte Grenz- verletzungen möglich und nicht immer zu verhindern. Jedoch können diese im padago- gischen Alltag reflektiert und ,korrigiert‘ werden (vgl. Enders/Kossatz 2012, S. 32 und Lilith 2011, S. 5).

2.3.2 Sexuelles Problemverhalten

Diese Begrifflichkeit wird meist im Zusammenhang bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung verwendet und ist weiter gefasst als das sexuell belastigende Ver- halten. Sexuelles Problemverhalten umfasst zahlreiche Verhaltensweisen, die das Kind sexuellen Risiken aussetzt oder einen negativen Einfluss auf die Entwicklungsaufgaben und soziale Beziehungen des Kindes haben. Insbesondere wenn das Verhalten verlet- zend für das Kind oder andere ist (vgl. Chaffin u. a. 2006 zitiert von Allroggen 2014, S. 10). Jedoch wird dieser Begriff teilweise auch synonym zu sexuell übergriffigem oder aggressivem Verhalten verwendet (vgl. Allroggen u. a. 2011, S.7).

2.3.3 Sexuelle Übergriffe-/ sexuell aggressives Verhalten / sexuelle Gewalt

Im Gegensatz zu sexuellen Grenzverletzungen passieren sexuelle Übergriffe nicht zu- fallig oder versehentlich (vgl. Enders/Kossatz 2012, S. 42). Die Beratungsstelle Wildwas- ser beschreibt sexuelle Übergriffe folgendermaBen: „Sexuelle Übergriffe sind sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers, ohne seine Zustimmung, in einer aggressi- ven, ausbeuterischen und verletzenden Weise. Ohne Zustimmung bedeutet auch, dass zum Beispiel ein Kind infolge seines Alters oder seiner Abhangigkeit gar nicht zur Zu- stimmung oder Gegenwehr fahig ist. Im Zweifelsfalle ist die Entscheidung eine juristi- sche" (Wildwasser Berlin, unveröffentlicht zitiert nach: Egli-Alge 2014, S. 24).

Entsprechend lassen sich aus dieser Definition wesentliche Merkmale für einen sexuel- len Übergriff entnehmen. Auch wird deutlich, dass es sich bei solchen Handlungen um sexuell aggressives Verhalten oder um sexuelle Gewalt handeln kann. Von sexueller Gewalt wird gesprochen, wenn es zu sexuellen Handlungen kommt, in denen nicht nur die Überlegenheit durchgesetzt wird, sondern auch Macht und Kontrolle des Übergriffi- gen im Erlebten zum Ausdruck kommen (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2006, S. 22). Jedoch ist es nicht immer einfach, eine klare Abgrenzung unter den Begrifflichkeiten zu finden. Dies kommt u. a. daher, dass bei sexuellen Handlungen unter Kindern und Ju­gendlichen der Übergang zwischen einvernehmlichen sexuellen Handlungen zu sexuell aggressivem Verhalten meist flieBend ist (vgl. Enders/Kossatz 2012, S. 42). Sexuelle Übergriffe können in jedem Alter und ebenso unter Gleichaltrigen passieren. Je nach Intensitat und Haufigkeit können sie ab einem gewissen Alter auch strafrechtlich verfolgt werden (dazu mehr bei den rechtlichen Aspekten in 2.4) (vgl. Allroggen 2015, S. 384 und Egli-Alge 2014, S. 24).

2.3.4 Sexueller Missbrauch

Unter sexuellem Missbrauch ist in diesem Kontext der sexuelle Kindesmissbrauch zu verstehen. „Sexueller Missbrauch liegt vor, wenn eine jugendliche oder erwachsene Per­son ihre Macht und Überlegenheit, das Vertrauen und die emotionale, kognitive, soziale oder materielle Abhangigkeit eines Kindes ausnutzt, um körperliche und seelische Ge- walt mittels sexueller Handlungen auszuüben. Die sexuellen Handlungen werden von den Tater/innen geplant. Dabei unterliegen die kindlichen Opfer einem Geheimhaltungs- druck, der durch Verschiebung von Verantwortung, Schuld, Scham und mittels Bedro- hungen verstarkt wird“ (vgl. Bange 2011, S. 14 zitiert nach: AWO 2014, S. 14).

Sexueller Missbrauch von Kindern ist ein Straftatbestand und wird per Gesetz § 176 Abs. 1, 2 und 4 Nr. 4 StGB wie folgt definiert: Wer sexuelle Handlungen an einem Kind unter vierzehn Jahren vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lasst, wer ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen lasst, sowie auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tontragern pornographischen In­halts, durch Zuganglichmachen pornographischer Inhalte mittels Informations- und Kom- munikationstechnologie oder durch entsprechende Reden einwirkt.

Nach Freund und Riedel-Breidenstein sollte der Begriff des sexuellen Missbrauchs je- doch für sexuelle Handlungen von Erwachsenen/alteren Jugendlichen mit oder an Kin- dern vorbehalten werden. Dies hat unterschiedliche Gründe: Zum einen handelt es sich bei sexuellem Missbrauch immer um sexualisierte Gewalt. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu sexuellen Handlungen von Kindern, die nicht zu Verletzungen und Scha­den führen. Missbrauch jedoch schadet immer der Entwicklung des Kindes (vgl. Freund/ Riedel-Breidenstein 2016, S. 62). Zum anderen handelt es sich immer um einen Macht- missbrauch an Kindern, da hier das Machtgefalle schon strukturell vorgegeben und so- mit für das Kind unüberwindbar ist. Laut Untersuchungen von sexuellem Missbrauch ist ein erheblicher Altersunterschied zwischen dem Tater und dem Opfer vorhanden, in der Regel fünf Jahre (vgl. ebd., S. 62f. und Rau u. a. 2012, S. 4). Eine weitere Unterschei- dung zwischen sexuellen Handlungen von Kindern und sexuellem Missbrauch ist, dass es bei sexuellem Missbrauch keine Freiwilligkeit gibt. Kinder können aufgrund ihres Ent- wicklungsstandes die Tragweite von sexuellen Handlungen nicht erfassen und somit können sie auch keine Zustimmung dafür geben. Daher sind Handlungen des sexuellen Missbrauchs immer strafbar (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 62f.).

2.3.5 Hands-off-Taten / Hands-on-Taten

Die oben genannten Definitionen werden meist unterschiedlich eng oder weit gefasst. Um eine möglichst breit abgesicherte Definition und spater zu einer guten Beurteilung von sexuellen Übergriffen zu kommen, hat das amerikanische National Center for Dise­ases Control and Prevention eine Empfehlung veröffentlicht, die in der Praxis Anwen- dung gefunden hat. Es wird zwischen Hands-off und Hands-on Taten unterschieden(vgl. Jud 2015, S. 43).

Hands-off-Taten umfassen verschiedene Handlungen ohne direkten Körperkontakt wie (vgl. hierzu im Folgenden Jud 2015, S. 43f.und Kohlhofer u. a. 2008, S. 30):

- Dem Kind werden pornografische Inhalte gezeigt oder es wird exhibitionistischen Handlungen ausgesetzt.
- Das Kind wird auf Fotos oder bei Videoaufnahmen sexualisiert dargestellt.
- Es findet eine verbale Belastigung statt, z. B. durch obszöne Telefonanrufe.
- Alle Handlungen die dazu führen, dass Kinderprostitution ermöglicht wird.
- Das unbemerkte Beobachten von möglichst nackten Menschen, um sexuelle Er- regung zu erlangen. Den sogenannten Voyeurismus.
- Sexualisiertes Mobbing.
- „Stalking (Belastigen/Verfolgen einer Person, deren physische oder psychische Integritat dadurch verletzt wird)“ (Kohlhofer u.a. 2008, S. 30).

Hands-on-Taten umfassen Handlungen mit direktem Körperkontakt wie:

- Sexuelle Nötigung, darunter sind alle sexuellen Handlungen zu verstehen, die durch Gewalt oder ihre Androhung herbeigeführt wurden (vgl. Kohlhofer u.a. 2008, S. 30).
- Frotteurismus, d. h. es wird sich z. B. im Gedrange heimlich an anderen gerieben. Dies dient zur sexuellen Erregung (vgl. ebd.).
- Penetrative Handlungen, dazu zahlen oraler, analer, vaginaler Geschlechtsver- kehr mit Penetration durch den Penis, die Finger oder Gegenstande. Des Weite- ren werden alle Kontakte zwischen Mund und Genitalien oder Anus“ (Jud 2015, S. 44) berücksichtigt (vgl. Kohlhofer u. a. 2008, S. 30 und ebd.).
- Handlungen mit sexuellem Kontakt, hierunter zahlen alle absichtlichen Berührun- gen von intimen Bereichen durch die Taterinnen oder Tater am Betroffenen. Auch der Wunsch von Taterinnen oder Tater, an diesen Stellen berührt zu werden, zahlt zu den Handlungen mit sexuellem Kontakt. Berührungen, die nötig sind, um Grundbedürfnisse des Kindes zu erfüllen, werden nicht als Hands-on Taten ge- wertet. Zu diesen Ausnahmen gehört beispielsweise die Reinigung von Kleinkin- dern (vgl. Jud 2015, S. 44).

Diese Unterscheidung von Hands-off und Hands-on-Taten kann auf alle Tatergruppen angewendet werden (vgl. ebd.).

2.3.6 Peer offenders und child offenders

Bei übergriffigen Jugendlichen kann zwischen peer offenders und child offenders unter- schieden werden. Bei peer offenders handelt es sich um übergriffige Jugendliche, deren Opfer im gleichen Altern sind. Bei child offenders sind die Opfer deutlich jünger (vgl. Hendriks/Bijleveld 2004 und Kemper/Kistner 2010 zitiert nach: Allroggen 2014, S. 10):

„Child offenders zeigen gegenüber peer offenders

- mehr psychopathologische Auffalligkeiten,
- sind weniger extrovertiert,
- sind sozial schlechter integriert,
- haben ein negatives Selbstbild,
- haben haufiger problematische familiare Hintergründe,
- sind haufiger Opfer von Vernachlassigung, sexuellem Missbrauch und Gewalt in ihrer Herkunftsfamilie,
- sind im Durchschnitt jünger,
- setzen seltener körperliche Gewalt ein,
- fallen insgesamt weniger durch andere Gewalttaten auf,
- kennen ihre Opfer haufiger,
- wahlen überwiegend mannliche Opfer (Allroggen 2015, S. 385).

In der weiteren Arbeit werde ich von sexuellen Übergriffen sprechen, da dies alle Arten von sexuellen Handlungen, die gegen den Willen der betroffenen Person stattfinden, einschlieBen.

2.4 Rechtliche Aspekte

Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen rein aus rechtlicher Sicht zu be­trachten, greift für die padagogische Arbeit zur kurz. Dennoch werden diese juristischen Aspekte hier aufgegriffen, da Gesetze den Rahmen der padagogischen Arbeit bilden und wichtig sind, um angemessen reagieren zu können. Wesentlich ist die Unterschei- dung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen sexuellen Handlungen. Unfreiwillige Hand- lungen sind immer Grenzverletzungen und erfordern Interventionen im padagogischen Handeln und je nachdem ebenso von Seiten des Rechtsstaats. Sie können je nach Alter der Taterinnen oder Tater auch strafrechtlich verfolgt werden (vgl. Deggelmann 2014, S. 269). Um sich einen Überblick zu verschaffen, wird im Folgenden kurz auf die wichtigsten Paragraphen, die für das Thema sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen relevant sind, eingegangen. Daraus wird ersichtlich, wann freiwillige sexuelle Handlun- gen zwischen Kindern und Jugendlichen gesetzlich inakzeptabel sind und wann nicht. Des Weiteren ist erkennbar, ab wann sexuelle Übergriffe strafbar sind und wer straf- rechtlich verfolgt werden kann.

Am 20. November 1989 wurden von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (bis auf die USA) die Kinderrechte verabschiedet. Dem Schutz des Kindes widmet sich Arti­kel 19. Hier heiBt es: „... das Kind [muss] vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung Oder Vernachlassigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschlieBlich des se- xuellen Missbrauchs ." (UN-Kinderrechtskonvention) geschützt werden. Der besondere Schutz „... vor allen Formen von sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch zu schützen“ (ebd.) wird mit dem Artikel 34 nochmals konkret hervorgehoben (vgl. hierzu insg. Deutsches Kinderhilfswerk e. V. 1992, o. S.).

Sexuelle Aktivitaten unter Kindern wie z. B. ,Doktorspiele‘, gehören zu einer gesunden Entwicklung jedes Kindes (vgl. Enders 2012, S. 268). Kommt es dabei zu sexuell über- griffigem Verhalten, sind nach § 19 StGB Kinder, die das 14. Lebensjahr noch nicht voll- endet haben, also maximal 13 Jahre alt sind, schuldunfahig und können juristisch nicht belangt werden. Dies bedeutet im Umgang mit sexuellen Handlungen unter Kindern, dass Übergriffe von unter 14 jahrigen Taterinnen oder Tater nicht strafbar sind, jedoch padagogische Interventionen unerlasslich machen.

Deggelmann fasst zusammen, dass sexuelle Kontakte zwischen 14- und 17-Jahrigen erlaubt sind, solange die Erziehungsberechtigten einverstanden sind und die betroffenen Jugendlichen es wollen. Es gibt keine Begrenzung für Jugendliche über 18 Jahren, so­lange sie ihre Sexualitat nicht mit unter 16-Jahrigen ausleben möchten. Dies ware nur dann möglich, wenn klar ist, dass der Kontakt von beiden Seiten gewollt und nicht aus einem Zwangskontext heraus stattfindet (vgl. Deggelmann 2014, S. 269). Sollte dies der Fall sein, ist dies nach § 182 Abs. 1 StGB strafbar. Zudem dürfen nach § 182 Abs. 2 StGB unter 18-Jahrige nicht für Geschlechtsverkehr bezahlt werden. Finden sexuelle Kontakte zwischen über 21-Jahrigen und unter 16-Jahrigen statt, so könnte ein Strafver- fahren eröffnet werden, falls der/die 21-Jahrige nach § 182 Abs. 3 StGB die fehlende Fahigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt.

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung werden im 13. Kapitel des Strafgesetz- buches (§ 174-184j StGB) geregelt. Umgangssprachlich wird vom Sexualstrafrecht ge- sprochen, da durch das Strafgesetzbuch auch geregelt ist, ab welchem Alter Ge- schlechtsverkehr ,akzeptabel‘ ist.

Ab einem Alter von 14 Jahren gelten nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG Kinder als Jugendli- che und können strafrechtlich belangt werden, wenn nach § 3 JGG der Jugendliche zur Tatzeit nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Die Verantwortungsreife des Ju­gendlichen muss individuell zur Beurteilung des Falles (zur Tatzeit) überprüft werden (vgl. Burgsmüller 2015, S. 392).

Sexuelle Handlungen an Kindern sind grundsatzlich nach § 176 Abs. 1 StGB verboten und gelten als sexueller Missbrauch. Darunter ist nicht nur Geschlechtsverkehr als se- xuelle Handlung zu verstehen, sondern nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB auch das Vorneh- men von sexuellen Handlungen vor Kindern und nach § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB das zeigen von pornografischen Abbildungen und Darstellungen. Für das Thema Übergriffe unter Kinder und Jugendliche bedeutet dies zusammengefasst: Jugendliche mit 14 Jah- ren oder alter dürfen keine sexuellen Kontakte mit unter 14 Jahrigen haben, selbst wenn dies von den jüngeren Kindern freiwillig ware (vgl. Deggelmann 2014, S. 269).

Sexuelle Übergriffe, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung sind nach § 177 StGB straf­bar. Sexuelle Übergriffe beginnen da, wo gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vorgenommen werden (§ 177 Abs. 1 StGB).

Inwieweit rechtliche Schritte bei sexuellen Grenzverletzungen unter Kindern und Ju­gendlichen eingeleitet werden sollen, muss im Einzelfall entschieden werden. Es sollte keine ad hoc Entscheidung, sondern gut überlegt sein. Da dies von besonderer Relevanz für die Fragestellung dieser Arbeit ist, wird darauf naher in Kapitel 4.1 Einschatzung von sexuellen Übergriffen eingegangen.

Zudem ist ein gravierendes übergriffiges Verhalten von Kindern und Jugendlichen immer ein Anzeichen von Kindeswohlgefahrdung nach § 8a SGB VIII. Zum einen stellt die Ver- haltensweise an sich schon eine Kindeswohlgefahrdung dar, jedoch muss auch die Ur- sache für dieses Verhalten abgeklart werden. Aufgrund dessen ist eine frühzeitige Ko- operation mit den entsprechenden Partnern wie Fachberatungsstellen und dem Jugend­amt zentral (vgl. Enders 2012, S. 285). Eine Einrichtung ist sogar nach §47 SGB VIII dazu verpflichtet, dies bei der Aufsichtsbehörde zu melden. Über § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII haben die Trager die Verpflichtung zur Sicherung der Rechte von Kindern und Ju­gendlichen.

2.5 Rahmenbedingungen einer stationaren Wohngruppe der Jugendhilfe

Ausgehend vom bisherigen Diskurs um sexuelle Grenzverletzungen sollen im Folgen- den die Rahmenbedingungen einer stationaren Wohngruppe im Rahmen der Jugend- hilfe erlautert werden, um schlieBlich ganzheitlich mit Blick für das Machbare und Not- wendige Handlungsstrategien formulieren zu können.

Die Hilfe zur Erziehung ist gesetzlich geregelt und gewahrt Personensorgeberechtigten nach § 27 Abs. 1 SGB VIII Hilfe, wenn eine dem Wohl des Kindes/Jugendlichen entspre- chende Erziehung nicht gewahrleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet sowie notwendig ist. Eine Hilfe die nach § 27 Abs. 2 SGB VIII gewahrt wird, ist u. a. § 34 SGB VIII die Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen. Nach § 34 SGB VIII gehört die stationare Wohngruppe der Jugendhilfe zu einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung). Kinder und Jugendliche sollen durch eine Verknüpfung von Alltagser- leben mit padagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung gefördert werden. Weiter heiBt es in § 34 SGB VIII, dass entsprechend dem Alter und dem Ent- wicklungsstand des Kindes/Jugendlichen unterschiedliche Ziele verfolgt werden sollen, je nachdem ob eine Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie gegeben ist. Nach § 34 Nr. 1 SGB VIII ist das oberste Ziel der Versuch, die Rückkehr in die Familie zu erreichen. Besteht keine Möglichkeit, das Kind/den Jugendlichen in die Herkunftsfamilie Rückzuführen, wird nach § 34 Nr. 2 SGB VIII die Erziehung in einer anderen Familie vorbereitet oder nach § 34 Nr. § SGB VIII eine auf langere Zeit ange- legte Lebensform angeboten mit dem Ziel, das Kind/den Jugendlichen auf ein selbst- standiges Leben vorzubereiten. Dabei haben die padagogischen Fachkrafte nach § 34 SGB VIII für die Kinder und Jugendlichen eine beratenden und unterstützende Funktion in all ihren Themen und Belangen.

Kinder und Jugendliche wohnen aus diversen Gründen entweder vorübergehend oder langerfristig in einer Wohngruppe. Die Kinder und Jugendlichen können, wollen oder dürfen nicht in ihrer Herkunftsfamilie verbleiben. Meistens hangt dies damit zusammen, dass sie aus sehr prekaren Verhaltnissen mit haufig schwierigen Beziehungsverhaltnis- sen kommen (vgl. Günder 2011, S. 39). Hauptindikatoren für eine Unterbringung in einer stationaren Wohngruppe sind Kindeswohlgefahrdung, Einschrankungen in der Erzie- hungskompetenz der Eltern bzw. Sorgeberechtigten, Auffalligkeiten im Sozialverhalten sowie unzureichende Förderung und Vernachlassigung der Kinder/Jugendlichen. Dabei können die Indikatoren von den Eltern bedingt sein, jedoch auch von den Kindern oder Jugendlichen selbst. Es spielen meist viele Faktoren und Umstande eine Rolle, weshalb eine intensive Klarung unentbehrlich ist (vgl. ebd., S. 44 und Ratz u. a. 2014, S. 172). Zudem stammen die Kinder und Jugendlichen hauptsachlich aus Familien mit geringen sozioökonomischen Ressourcen. Unter anderem liegt dies an einem niedrigen berufli- chen Status der Eltern (vgl. Günder 2011, S. 39).

Die stationare Jugendhilfe bietet ein ausdifferenziertes Angebot von Wohnformen. So z. B. die ,klassische‘ Wohngruppe, Verselbstandigungsgruppen (VG) und betreutes Einzel- wohnen (BJW). Die jeweilige Wohn- und Betreuungsform bietet den Kindern und Ju­gendlichen entwicklungsfördernde Erfahrungen in einem Rahmen der Betreuung, Be- gleitung und Unterstützung (vgl. Ratz u. a. 2014, S. 163, S. 171 und S. 174).

In einer ,klassischen‘ Wohngruppe leben Kinder und Jugendliche als Gruppe in einem Einfamilienhaus oder einer Etagenwohnung. Diese Wohngruppe gehört einer gröBeren Jugendhilfeeinrichtung an. Oft werden diese als AuBen- oder Denzentrale Wohngruppe bezeichnet. Solche Wohngruppen können auf Beheimatung und/oder auf Selbstversor- gung ausgerichtet sein. Verselbstandigungsgruppen sind Gruppen, in denen Jugendli- che leben, die schon einen hohen Grad an Selbststandigkeit erreicht haben und keine Vollzeitbetreuung benötigen. Das betreute Einzelwohnen richtet sich an den individuel- len Bedarf der Jugendlichen. Diese leben in einer eigenen Wohnung (vgl. hierzu insg. ebd., S. 171).

Eine immer wichtiger werdende Leitnorm der stationaren Jugendhilfe ist der von Thiersch gepragte Begriff der Lebensweltorientierung. Es gilt, Kinder und Jugendliche möglichst in ihrem Sozialraum unterzubringen. Dadurch werden sie nicht komplett aus ihrem sozialen Netz heraus gerissen und können weiter Kontakt zur Familie und Freun- den aufrechterhalten. Ausnahmen bilden Falle von Missbrauch und Gewalt. Bei Bedarf wird bewusst raumlicher Abstand zu Familie und zum Umfeld durch die Unterbringung der Kinder und Jugendlichen geschaffen. Die Wohngruppe soll ein positiver Ort für Kin­der und Jugendliche sein, indem für eine positive Entwicklung gesorgt wird (vgl. Ratz u. a. 2014, S. 175).

In einer Wohngruppe wird zunachst eine Basisversorgung geleistet. D. h. die Kinder und Jugendlichen werden in ihren Grundbedürfnissen z. B. Ernahrung, Schlaf und materiel- len Ressourcen z. B. Kleidung, Schulmaterial versorgt. Jedoch gibt es darüber hinaus ein Beziehungsangebot für die Kinder und Jugendlichen. Es sind rund um die Uhr Be- treuerinnen und Betreuer vor Ort. Diese sind für die Kinder und Jugendlichen Bezugs- personen und immer ansprechbar. Das Beziehungsangebot der padagogischen Fach- krafte muss verlasslich und transparent sein (vgl. Winkelmann 2014, S. 172). Denn eine Basisversorgung für die Kinder und Jugendlichen ist nicht ausreichend. Die Problemla- gen und Themen, die Kinder und Jugendliche in den Alltag einbringen, müssen erkannt werden. Dies ist notwendig, damit Kinder und Jugendliche in ihren Entwicklungsaufga- ben unterstützt und begleitet werden können. Daher ist es für eine gute und professio- nelle Betreuung von groBer Bedeutung, nicht nur entsprechend der Konzeption Fach- lichkeit als statisch zu begreifen, sondern sich immer wieder Fort- und Weiterzubilden (vgl. ebd., S. 173). Der Alltag in einer Wohngruppe soll bewusst, klar und förderlich für die einzelnen Kinder und Jugendlichen gestaltet werden. Dabei müssen sensible Pha- sen für Kinder und Jugendliche berücksichtigt werden, z. B. das Ankommen nach der Schule/Ausbildung. Es werden verschiedene Methoden und Ansatze mit in den Alltag integriert, z. B. Erlebnispadagogik, klientenzentrierte Gesprachsführung, der systemi- sche Ansatz, Verhaltenstherapeutische und lösungsorientierte Vorgehensweisen und haltgebende Padagogik. Neben der persönlichen Weiterentwicklung der einzelnen Kin­der und Jugendlichen wie die Förderung der Sozialkompetenz, Aufarbeitung problema­tischer Lebensverlaufe, Umgang mit Beziehungen und Sexualitat, stehen naturgemaB schulisch-berufliche Integration und Förderung im Fokus. Ein weiter verankertes Thema im Wohngruppenalltag ist meist die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen. Dadurch können sie Selbstwirksamkeit erleben. Ziele der einzelnen Kinder und Jugendlichen sind Bestandteil eines Hilfeplangespraches, das zusammen mit dem Jugendamt und den El- tern geführt wird. Des Weiteren findet eine Zusammenarbeit mit den Eltern und Koope- rationen u. a. mit Schulen und Ausbildungsstatten statt (vgl. hierzu insg. St. Josef gGmbH 2017a, o. S.). Die Wohngruppe soll für Kinder und Jugendliche ein sicherer Ort sein, in welchem sie positive Erfahrungen machen können und vor sexuellen Übergriffen geschützt werden.

3. Hintergründe von sexuellen Übergriffen durch Kinder und Jugendliche

In Bezug auf die Fragestellung: Welche MaBnahmen und Rahmenbedingungen für eine Wohngruppe nötig sind, um sexuelle Übergriffe wahrzunehmen und diese möglichst zu verhindern? ist es von Bedeutung, die Hintergründe von sexuellen Übergriffen unter Kin- dern und Jugendlichen zu kennen. Dazu gehört u. a. zu wissen, wie es zu sexuellen Übergriffen kommt und welche Faktoren eine Rolle spielen können. Dies ermöglicht es, im weiteren Schritt sexuelle Übergriffe wahrzunehmen und zu verstehen, wie es zu ei- nem solchen Verhalten kommt.

3.1 Warum kommt es zu sexuellen Übergriffen - Risikofaktoren

Warum Kinder und Jugendliche sexuell übergriffig werden, kann nicht an einem Erkla- rungsmuster verdeutlicht werden und ist multifaktoriell. „. Persönlichkeitsmerkmale, so- wie biologische, biographische, situative, gesellschaftliche und soziale ..." (Kohlhofer u. a. 2008, S. 43) Faktoren spielen eine Rolle (vgl. ajs 2014, o. S. und Allroggen 2015, S. 385). Es ist nicht klar, welche Einflüsse in einer Weise relevant sind, dass Jugendliche straffallig werden. Dennoch können Merkmale beschrieben werden, die ein solches Ver- halten begünstigen. Aus dem Zutreffen verschiedener Faktoren lasst sich allerdings ein sexueller Übergriff nicht kausal ableiten (vgl. Kohlhofer u. a. 2008, S. 43). Daher muss die Einschatzung eines sexuellen Übergriffes in mehreren Schritten differenziert betrach- tet werden (hierzu mehr bei 4.1).

Unter Kindern kommt es meist zu sexuellen Übergriffen aus Neugier und der fehlenden Impulskontrolle. Die fehlende Impulskontrolle lasst sich an einem Beispiel in dem Kinder zusammen spielen, verdeutlichen. So reiBen sie z. B. einem anderen Kind einfach ein Spielzeug aus der Hand, das das betroffene Kind nicht hergeben möchte (vgl. ajs 2015, o. S.).

Kinder, insbesondere Jungen, die nach einem traditionellen Rollenbild erzogen werden, lernen schon früh, dass es leicht ist, sich stark zu fühlen, wenn man sexuelle Grenzen Anderer verletzt (vgl. ebd.). Traditionelle Rollenklischees unterstützen dieses Rollenbild. Der MaBstab von Mannlichkeit wird an Faktoren wie sexuelle Aktivitat, Starke und Do- minanz festgelegt. Weiblichkeit hingegen wird als polarer Gegensatz hierzu gesehen. Faktoren wie Schwache, Passivitat und Unterlegenheit wird ihnen zugeschrieben. Diese Rollenzuschreibungen begünstigen ein übergriffiges Verhalten von Jungen und das Er- dulden von Übergriffen bei Madchen. Aus diesen Erkenntnissen lasst sich ableiten, dass je alter Kinder wird, desto mehr kann der Wunsch nach Überlegenheit und Macht eine Rolle spielen (vgl. ajs 2015, o. S. und Schmidt 2014, S. 59).

Eine weitere mögliche Ursache für sexuelle Übergriffe besteht in den von übergriffigen Kindern selbst gemachten grenzverletzenden Erfahrungen. Diese Erfahrung gibt das übergriffige Kind direkt weiter. Es kompensiert damit eigene Ohnmachtsgefühle und fühlt sich im Handeln stark und machtig (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 91). In ei- nigen Fallen kann es zu übergriffigem Verhalten von Kindern kommen, wenn diese selbst Übergriffe durch Erwachsene erlebt haben. Aufgrund dessen können sexuelle Übergriffe ein Hinweis auf einen möglichen Missbrauch geben. Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Dies kann ein Hinweis sein, muss es aber nicht. Diesem Verdacht muss unabhangig von der padagogischen Reaktion nachgegangen werden (vgl. ajs 2015, o. S.). Bei Jugendli­chen hingegen scheinen eigene Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen eine be- deutsame Rolle darzustellen. Jugendliche, die sexuell übergriffig werden, haben, in Ab- grenzung zu Kindern, haufiger selbst Missbrauchs- / Misshandlungserfahrungen und Vernachlassigung erlebt. Darüber hinaus begünstigen möglicherweise biographische und soziale Faktoren sexuell übergriffiges Verhalten. Eine Rolle spielen standig wech- selnde Bindungen und dadurch immer wieder verursachte Beziehungsabbrüche zu pri- maren Bezugspersonen (vgl. Allroggen 2015, S. 385 und Kohlhofer u. a. 2008, S. 43). Inwieweit diese Faktoren zur Entwicklung von sexuell übergriffigem Verhalten beitragen, ist jedoch nicht geklart und wird immer wieder diskutiert, da die meisten Opfer eines sexuellen Missbrauchs nicht automatisch zu Tatern werden (vgl. ajs 2014, o. S.). Es wird davon ausgegangen, dass bei sexuellen Übergriffen unter Gleichaltrigen die Wahr- scheinlichkeit einer vorangegangen Missbrauchserfahrung deutlich geringer ist als bei Übergriffen zu jüngeren (vgl. Allroggen u. a. 2011, S. 24).

Weitere mögliche Gründe, weshalb es zu sexuellen Übergriffen unter Kindern und Ju­gendlichen kommen kann, liegen u. a. an der immer starker sexualisierten Gesellschaft. Es ist zu beobachten, dass in Medien die Sexualitat immer mehr im Vordergrund steht. Viele Kinder und Jugendliche orientieren sich z. B. an Rappern, die sexuelle Übergriffe und prekare Geschlechterrollen verherrlichen. Dadurch werden u. a. Vergewaltigungs- fantasien ,salonfahig‘ gemacht (vgl. ajs 2014, o. S.).

Eine weitere Problematik gibt es in der Kommunikation zwischen Jugendlichen, die sich kennen. Hier kommt es immer wieder zu angeblichen Missverstandnissen. So fassen Jugendliche z. B. ein Nein als ein Ja auf. Fehlinterpretationen können Auslöser für einen sexuellen Übergriff sein (vgl. ebd.). Ebenso kann übermaBiger Konsum von Alkohol dazu führen, dass die eigenen Grenzen nicht deutlich gesetzt oder Grenzen anderer nicht wahrgenommen werden. Dieser Umstand wird immer wieder von Jugendlichen ausge- nutzt, indem sie Alkohol gezielt einsetzen. Dabei handelt es sich um ein planvolles Vor- gehen, um sexuelle Übergriffe zu ermöglichen (vgl. ebd.).

Darüber hinaus darf die Bedeutung einer Clique nicht unterschatzt werden. Durch Grup- pendynamiken kann ein Gruppendruck entstehen. Dieser bringt beispielsweise Kinder und Jugendliche dazu, sich an sexuell übergriffigen Ritualen zu beteiligen, um in der Clique aufgenommen zu werden. Sie verletzen dabei ihre eigenen oder Grenzen von anderen Gruppenmitgliedern (vgl. ajs 2014, o. S. und Enders 2012, S. 275).

Bei fast allen übergriffigen Jugendlichen sind Defizite in den Bereichen des Selbsterle- bens, der Identitat und der Aggressionsbewaltigung festzustellen (vgl. Machlitt 2004 zi- tiert nach: Kohlhofer u. a. 2008, S. 44). Die damit verbundenen inneren Unsicherheiten, Angste und Hilflosigkeit, die übergriffige Kinder und Jugendliche wahrend ihrer Entwick­lung begleiten, sind meist nicht zu erkennen (vgl. Kohlhofer u. a. 2008, S.44).

Bei Wohngruppen lebenden Jugendlichen sind viele dieser Risikofaktoren vorzufinden. Daher ist dieses Thema von besonderer Bedeutung für diesen Bereich.

3.2 Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen wahrnehmen

Ein sexueller Übergriff unter Kindern liegt vor, wenn Unfreiwilligkeit oder ein Machtgefalle vorhanden ist. Dies bedeutet, dass Übergriffe erzwungen und Machtgefalle z. B. durch Druck, Drohungen, Versprechungen, Anerkennung oder körperliche Gewalt ausgenutzt werden (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 67).

Eindeutig zu erkennende sexuelle Übergriffe sind da, wo die betroffenen Kinder laut pro- testieren oder sich bei Erwachsenen beschweren. Sie benennen klar, dass das übergrif- fige Kind etwas getan hat, was das betroffene Kind nicht wollte. Nicht so eindeutig ist es bei scheinbar freiwilligen sexuellen Aktivitaten unter Kindern (vgl. ajs 2015, o. S.). Hier ist es wichtig, genau hinzusehen um zu erkennen, mit was das betroffene Kind gefügig gemacht worden sein könnte (dazu mehr bei 4.1).

Unfreiwillige sexuelle Handlungen sind immer sexuelle Übergriffe, da diese erzwungen sind. Falle von Unfreiwilligkeit können im Prozess des Spiels aufkommen. Eine einver- nehmliche sexuelle Aktivitat kann im Verlauf des Spiels ein sexueller Übergriff werden, z. B. spielen zwei Madchen in der Kita verkleiden. Sie sehen sich nackt und werden neugierig. Im gegenseitigen Einverstandnis zeigen sie sich ihre Scheide. Ein Madchen interessiert sich naher für die Scheide der anderen und würde sie gerne anfassen. Das andere Madchen möchte dies nicht, schafft es aber nicht, sich zu wehren. Auch wenn zu Beginn der Situation das gegenseitige Einverstandnis vorhanden war, kann nicht da- von ausgegangen werden, dass dies im weiteren Kontakt bestehen bleibt (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 67). „Jedes Kind hat das Recht, zu jedem Zeitpunkt sein sexuelles Selbstbestimmungsrecht auszuüben" (Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 67). Unfreiwillige Situationen sind nicht immer einfach zu deuten, da, wie eben be- schrieben, aus einer erst freiwilligen Situation schnell eine unfreiwillige entstehen kann. Daher sind Gesprache sowohl mit dem betroffenen, als auch im zweiten Schritt mit dem übergriffigen Kind/Jugendlichen von Nöten (naher beschrieben in 4.4.1 beim Umgang mit dem betroffenen und bei 4.4.2 dem übergriffigen Kind/Jugendlichen). Durch die Ge- sprache können sich Informationen ergeben, die für eine angemessene Einschatzung von Bedeutung sind. Des Weiteren kennen die padagogischen Fachkrafte ihre Kinder und Jugendlichen und die Dynamik in ihrer Gruppe. Dieses Wissen ist hilfreich, um zu einer angemessenen Einschatzung zu kommen (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 69 und S. 111).

Deutlicher zu erkennen sind sexuelle Übergriffe, wenn Machtverhaltnisse zum Tragen kommen. So werden z. B. Kinder durch Gewalt zu Betroffenen, z. B. ,rangeln‘ zwei Jun- gen miteinander, dabei nimmt der starkere Junge den Schwacheren in den ,Schwitzkas- ten‘ und kneift ihm in seine Hoden. Ein weiteres Mittel das eingesetzt wird, um sexuelle Handlungen zu erzwingen, liegt in der Manipulation. Dem betroffenen Kind werden Ver- sprechungen gemacht, z. B. ,wenn ich deinen Busen anfassen darf, dann bekommst du von mir Daher suchen sich übergriffige Kinder und Jugendliche meist unterlegene Kinder/Jugendliche aus. Es herrscht nicht nur ein Machtgefalle zwischen diesen - Be- troffene lassen sich zudem einfacher manipulieren (vgl. ajs 2015, o. S. und Freund/Rie- del-Breidenstein 2016, S. 68).

Da es in einer Wohngruppe immer wieder zu Machtgefallen kommen kann, wird an die- ser Stelle genauer beleuchtet, was ein Machtgefalle ausmacht und wie ein solches ent- steht. Dies dient zur Sensibilisierung von padagogischen Fachkraften und ist für eine spatere angemessene Einschatzung von Bedeutung. Ein Machtgefalle kann aus unter- schiedlichen Gründen entstehen:

- Altersunterschied
- Beliebtheit und Position innerhalb einer Gruppe oder Klasse
- Geschlecht
- körperliche Kraft
- Intelligenz
- sozialer Status
- Behinderung
- Migrationshintergrund

Der Altersunterschied bei Kindern und Jugendlichen ist sowohl kognitiv als auch körper- lich relevant. Altere Kinder/Jugendliche sind in der Entwicklung kognitiv weiter entwickelt und körperlich überlegen. Daher können sie einfach jüngere Kinder zu sexuellen Hand- lungen überreden oder körperlich Überwaltigen. Diese Überlegenheit wird oft auch an Kindern und Jugendlichen mit geistiger oder körperlicher Behinderung angewendet. Die schwachere Position der Kinder und Jugendlichen verstarkt sich meist dadurch, dass sie schlecht integriert sind und dazugehören wollen (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S.72f.). Sind Kinder oder auch Jugendliche sehr beliebt oder gehören zu einer bestimm- ten Clique, können sie andere Kinder und Jugendliche dazu bringen, sich zu beweisen, wenn sie dazugehören wollen. Sie müssen Rituale von sexuellen Handlungen über sich ergehen lassen oder Grenzen von anderen verletzen (vgl. ebd., S. 73).

Der soziale Status ist verbunden mit dem Einfluss und den finanziellen Mitteln, die eine Familie besitzt. Davon wird der Status der Familie in der Gesellschaft festgeschrieben. Einfluss verbunden mit finanziellen Mitteln wird mit Macht gleichgesetzt. Den Kindern und Jugendlichen wird dies vorgelebt und vermittelt. Kinder und Jugendlichen mit ein- flussreichen Eltern können sich so manchmal mehr erlauben, als andere (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2006, S. 21).

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund haben meist einen schlechten Stand in der Gruppe. Dies liegt u. a. daran, dass Kinder ohne Migrationshintergrund Vorurteile gegenüber „Auslandern" haben, diese wurden von ihren Eltern und/oder der Gesell­schaft übernommen. So erleben sie immer wieder Zurückweisung und Ausgrenzung von anderen Kindern und Jugendlichen. Dadurch kommt es immer wieder zu sexuellen Über- griffen, da sie die „Schwacheren“ sind. Auf der anderen Seite motiviert gerade die Zu- rückweisung und Ausgrenzung der Kinder und Jugendlichen, selbst übergriffig zu wer­den. Sie möchten damit ihre Überlegenheit demonstrieren und zeigen, dass sie nicht zu den „Schwachen“ gehören (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2006, S. 21f. und Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 74).

Neben der Unfreiwilligkeit und dem Machtgefalle gibt es noch weitere Definitionsmerk- male, die sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen kennzeichnen:

Der Gemeinhaltungsdruck, den ein übergriffiges Kind/Jugendlicher einem Betroffenen auferlegt, kann ein Hinweis sein. Dies passiert meist mit zunehmendem Alter der Kinder. Die übergriffigen Kinder wissen sehr wohl, dass sie in diesem Moment etwas Verbotenes tun. Sie versuchen, das betroffene Kind unter Druck zu setzen, damit es den sexuellen Übergriff für sich behalt. Geheimhaltungsdruck kann zum einen ein Hinweis auf einen sexuellen Übergriff sein. Zum anderen muss beachtet werden, dass dieser auch aus Scham auferlegt werden kann. Denn Kinder, die z. B. keine erlaubten sexuellen Aktivi- taten kennen und bei denen jegliches sexuelles verboten ist, möchten dies Geheimhal- ten, da sie Sanktionen befürchten oder da sie es selbst peinlich finden, darüber zu spre- chen (vgl. hierzu insg. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 76).

Des Weiteren muss unter dem Imitieren und dem Praktizierens von Geschlechtsverkehr (vaginal, oral, anal) unterschieden werden. Wahrend das imitieren von Geschlechtsver- kehr, wie bei der kindlichen Sexualitat (2.1.1) beschrieben, zu sexuellen Aktivitaten der Kinder aus Neugier und ihrem Forschungsdrang zahlt, „...ist das Praktizieren von Ge- schlechtsverkehr [unter Kindern]... immer ein sexueller Übergriff" (ajs 2015, o. S., Her- vorhebung nicht übernommen, J. K.). Das Praktizieren von Geschlechtsverkehr ist für Kinder schadlich, da ihr ganzheitliches Erleben von Sexualitat dadurch unterbrochen wird. Dies führt dazu, dass der Lustaspekt in den Vordergrund gerat. So werden die Kinder in ihrem Forschungsdrang gestoppt und ihre sexuelle Entwicklung verkürzt (vgl. hierzu insg. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 76).

Zudem zahlen sexualisierte Schimpfwörter z. B. ,Mother fucker', ,Hurensohn‘, ,Schwuch- tel‘, ,Schwanzlutscher‘ zu sexuellen Übergriffen, auch hier ist eine Unfreiwilligkeit festzu- stellen. Niemand lasst sich freiwillig von anderen beleidigen. Kinder haben hier bereits gelernt, dass sie mit sexualisierten Schimpfwörtern verletzen können und setzten diese gezielt ein, egal ob sie wissen, was dies im Einzelnen bedeutet oder nicht (vgl. ajs 2015, o. S. und Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 68f.).

Einen Sonderfall von sexuellen Übergriffen unter Kindern stellen sexuelle Übergriffe im Überschwang dar. Dies sind keine bewussten Grenzverletzungen, aber es sind Grenz- verletzungen und zahlen zu sexuellen Übergriffen. Ein solcher Überschwang ist meist bei jüngeren Kindern zu beobachten. Ihre Motive sind andere, als beim sexuellen Über- griff, im Fokus steht ihr eigenes sexuelles Interesse und die eigene Neugier (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 74f.). Sie sind noch in der Phase des Experimen- tierens und des erforschen des Körpers. Zudem müssen jüngere Kinder noch lernen, dass „... ihre Bedürfnisse an den Bedürfnissen anderer ihre Grenzen finden“ (ebd., S. 75). Hier kommt es zu Situationen, die im Einvernehmen beginnen, ihr Ende jedoch in einer Grenzverletzungen finden, z. B. spielt ein fünfjahriger Junge mit einem sechsjahri- gen Madchen in der Puppenecke mit Puppen. Eine Puppe davon ist ein Junge. Diese hat die Funktion zu trinken und zu pinkeln. Beim Windeln wechseln fallt dem Madchen der Penis der Puppe auf und es fragt den Jungen, ob er auch so etwas hatte. Er solle es doch zeigen. Der Junge zieht sich aus und zeigt seinen Penis bereitwillig. Nun möchte er aber auch sehen wie es bei einem Madchen dort aussieht. Das Madchen möchte dies nicht. Sie sagt nein, aber der Junge zieht ihr die Hose herunter. Je alter Kinder sind, desto weniger passieren sexuelle Übergriffe im Überschwang, da Kinder im Laufe der Jahre ein Bewusstsein für Grenzen anderer entwickeln. Trotz des Übergriffs im Über- schwang muss hier reagiert werden (vgl. hierzu insg. Freund/Riedel-Breidenstein 2016, S. 74f.).

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Fin de l'extrait de 82 pages

Résumé des informations

Titre
Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen
Sous-titre
Hintergründe, Umgang und Prävention in stationären Einrichtungen
Université
Wiesbaden University of Applied Sciences
Note
1,5
Auteur
Année
2017
Pages
82
N° de catalogue
V595018
ISBN (ebook)
9783346227560
ISBN (Livre)
9783346227577
Langue
allemand
Mots clés
sexuelle, übergriffe, kindern, jugendlichen, wohngruppen, hintergründe, umgang, prävention, einrichtungen
Citation du texte
Jennifer Kullen (Auteur), 2017, Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/595018

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