Demographische und ethnographische Grundzüge des Hochlandes von Tibet


Scientific Essay, 1997

21 Pages


Excerpt


Inhalt

Einleitung

Administrative Gliederung Tibets

Ethnische Struktur des tibetischen Hochlands

Historische Migrationen

Demographische Struktur in den tibetischen Gebieten des Hochlandes bes. TAR

Erwerbsstruktur

Han-chinesische Kolonisation in Tibet

Literatur

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 1: Karte der Verwaltungsgliederung im tibetischen Hochland

Abb. 2: Ethnographische Karte des tibetischen Hochlands

Demographische und ethnographische Grundzüge des Hochlandes von Tibet

von Andreas Gruschke

Im Westen werden mit Tibet in erster Linie Begriffe wie buddhistische Esoterik, politische Unterdrückung und gesellschaftliche Überfremdung verbunden. Tibet im 20. Jh. steht fast durchweg im Rampenlicht heftiger politischer Diskussionen. Die sogenannte Tibetfrage wird im Sinne einer Forderung nach Unabhängigkeit eines vermeintlich genau definierten Raumes diskutiert. Freilich ist diese räumliche Definition aufgrund zahlreicher Probleme keineswegs so exakt und eindeutig, wie sich das im Westen darstellt. Neben der mangelnden Auseinandersetzung mit der Historie ist es in aller Regel die Unkenntnis des ethnischen Gefüges, die eine ausgewogene Bewertung der Bevölkerungsstrukturen auf dem Dach der Welt verhindern. Das fast völlige Fehlen demographischer Daten über Tibet kommt einseitigen Interpretationen, die sich fast ausschließlich auf offiziöse exiltibetische oder chinesische Angaben stützen, entgegen. Aber gerade die demographische Struktur und ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung auf dem Dach der Welt spielen für die Beurteilung der politischen Situation Tibets - insbesondere des Problems der politischen (Des)Integration - sowie der Fragen der kulturellen Identität der Tibeter eine große Rolle.

Einleitung

Im Westen wird unter Tibet ein Land verstanden, das sich in historischer Zeit, namentlich bis zum Einmarsch der kommunistischen Truppen der Volksrepublik China, in großer ethnischer und soziopolitischer Einheitlichkeit als buddhistischer Klosterstaat über den gesamten Raum des höchstgelegenen, über 2 Mio. qkm großen Hochlandes erstreckt habe. Nachdem die de-facto-Unabhängigkeit Zentraltibets 1913- 1950 durch den Einmarsch der chinesischen „Volksbefreiungsarmee" (VBA) beendet worden war, begann eine politische Auseinandersetzung mit den Vorgängen auf dem Dach der Welt auf der Grundlage schwärmerischer Kulturutopien. Die zu Recht auftretende Trauer über die Leiden, die die innerasiatischen Völkerschaften (!) im Zuge der kulturrevolutionären Verfolgungen erlitten hatten, findet allerdings größtenteils dadurch ihren Ausdruck, dass die Umwälzungen dort danach bemessen werden, in welchem Umfang Originalität und Authentizität der - in Europa im übrigen nur sehr einseitig betrachteten und damit kaum verstandenen - tibetischen Kultur zerstört worden ist. Bei der Beurteilung vermischen sich Einzelfakten mit Idealvorstellungen, und selbst sachliche Auseinandersetzungen geographischer Arbeiten verknüpfen allgemein anerkannte wissenschaftliche Anschauungen mit den überkommenen Klischees eines Shangri-La-Mythos selbst in Standardwerken:

"...überall wurde dem Kult Ausdruck verliehen; dieser fand seinen Höhepunkt im Weltheiligtum des Lamaismus, im Potala in Lhasa, dem einstigen Sitz des Dalai Lama." (Schwarz 1989, S. 402)

Hier hat das im Westen weitest verbreitete Symbol Tibets, der Palast des theokratischen Oberhauptes, das wirklich größte Heiligtum des Lamaismus, den Jokhang-Tempel, von seinem Platz verdrängt.

Die Beschäftigung mit der Ethnographie des Hochlandes, den historischen Wanderungsbewegungen nach und in Tibet stellt sehr schnell die Vorstellung des ethnisch einheitlichen Landes in Frage. Zusammen mit - noch rudimentären - demographischen Daten von Tibet im 20.Jh. kann es die aktuelle Situation dort differenzierter erfassen und somit neue Ansatzpunkte für ein Verständnis der Komplexität der Tibetfrage bieten. Die komplexen Strukturen und Vorgänge sind allerdings ohne umfassende historische Einblicke nicht endgültig zu erfassen, für die aus Platzgründen nur auf wenige wesentliche Werke verwiesen werden kann: Stein 1993 und Goldstein 1993. Die ethnographischen und demographischen Grundzüge vermögen anzudeuten, wie vielschichtig die Probleme sind, die für die bislang gescheiterte Lösung der wichtigen Autonomiefrage Tibets - ganz zu schweigen von seiner Unabhängigkeit - mit-, aber nicht hauptverantwortlich sind.

Probleme der räumlichen Abgrenzung Wie nur bei wenigen anderen Ländern der Welt wird die Ausdehnung Tibets sehr unterschiedlich eingeschätzt - was politische, ethnische und kulturelle Gründe hat. Als selbstverständlich gilt im Westen, dass das einstige unabhängige Tibet den gesamten Raum im Hochland von Tibet umfasste, ohne sich vor Augen zu halten, dass weite Gebiete im Norden und Osten durchaus nicht von Tibetern besiedelt waren oder sind. Gleichwohl ist ein Hauptpunkt der Kritik, dass Tibet auf die Fläche der Tibetischen Autonomen Region (TAR) verkleinert worden sei (Kelsang Gyaltsen 1988, S. 162), deren chinesischer Name Xizang sich auf die tibetischen Zentralprovinzen Ü und Tsang bezieht und soviel bedeutet wie Westliches Tibet. Eine Bezeichnung, die gemessen an den immer noch gewaltigen Gebieten im Nordosten und Osten des Hochlandes durchaus treffend ist.

Die Kultur zur Bestimmung der Grenzen Tibets zugrunde zu legen, bietet sich nicht an, denn mit tibetischer Kultur als der einheitlichen Lebensform Zentraltibets kann wegen der verschiedenen Ausprägungen selbst innerhalb Tibets doch nur jene lamaistisch geprägte Zivilisation gemeint sein, die sich bis nach Südsibirien (Burjätien) und damit weit über das tibetische Hochland hinaus verbreitet hat.

Die sprachliche Eingrenzung ist gleichfalls schwierig, denn Tibet ist keine Selbstbezeichnung, sondern ein aus dem Mongolisch-Türkischen kommendes Wort. Bö-Yül (Bod-Yul) lautet der tibetische Eigenname, was etymologisch betrachtet als „Land des Bön (-Glaubens)" bzw. zu deuten wäre. Auch daraus lassen sich keinerlei Schlüsse auf die Ausdehnung des heutigen Tibet ziehen, da es doch seit Jahrhunderten eine ausgeprägt buddhistisch-lamaistische Kultur besitzt und der Bön-Glaube nur noch ein kümmerliches Dasein fristet. Außerdem war er keineswegs auf die Tibeter selbst beschränkt, sondern auch Völker wie die Tu, Qiang, Monguor u.a. hingen ihm an, ganz davon abgesehen, dass den Bön-Vorstellungen ähnliche religiöse Inhalte sowohl den alten Chinesen und den aus der zentralen Mongolei nach Turkestan eingewanderten Turkvölkern, als auch den Mongolen und nordasiatischen Ethnien (Tungusen u.a.) eigen waren bzw. noch sind.

Nehmen wir also die Historie zu Hilfe, um „die" tibetischen Grenzen abzustecken: Das Großreich des Songtsen Gampo und der ihm nachfolgenden Großkönige hatte sich weit über das Hochland bis in die indische Gangesebene, nach Westchina und Ost-Turkestan ausgedehnt. Späterhin zerfallen und erst unter mongolischer Oberherrschaft wieder halbwegs zusammengefügt, hat sich selbst die Herrschaft der Dalai Lamas in den Zeiten ihrer größten Macht politisch nie mehr auf das ganze Hochland ausgedehnt. Auch wenn ihr religiöser Einfluss weit über Tibet hinaus bis Südchina, Turkestan und in die Mongolei reichte, umfasste die politische Kontrolle der Theokratie tatsächlich nur den west-, zentral- und südtibetischen Raum - also das, was heutzutage die TAR - die Autonome Region Xizang - ist. Hier endlich hatte dann auch 1914 bis 1950 das de facto unabhängige Tibet existiert.

Administrative Gliederung Tibets

Was wir aufgrund seiner Bedeutung als politisches Zentrum und wegen seiner kulturhistorischen Schätze Zentraltibet nennen, liegt im wesentlichen in Südtibet: die beiden tibetischen Provinzen Ü und Tsang, deren Hauptstädte Lhasa respektive Shigatse sind. Zu diesem kulturgeschichtlichen Kerntibet ist Lhoka, die „Südprovinz" mit dem Yarlung-Tal, hinzuzurechnen. Nördlich des Transhimalaya, im Changthang, erstrecken sich fast menschenleere Weiten, die gleichwohl eigene Regionalnamen wie Namru oder Nagtsang tragen. Im äußersten Westen liegt Ngari, zu dessen Kulturraum das seit Jahrhunderten eigenständige Ladakh zu rechnen wäre. Amdo, das „niedrige Land", liegt im Nordosten des Hochplateaus, während Osttibet im allgemeinen mit Kham gleichgesetzt wird. Das Tsaidam-Wüstenbecken wird von den meisten zu Amdo gezählt, weil dieser mongolische Siedlungsraum im späten chinesischen Kaiserreich mit anderen Teilen Amdos zur Provinz Kokonor zusammengefasst war. Ebenso wird Kham meist zu weit gefasst, da manche Gebiete, wie die ehemals quasiselbständigen Kleinfürstentümer des Gyarong in Tibets äußerstem Osten, durchaus ihre eigene Identität betonen - ähnlich den tibetisch geprägten Himalaya-Räumen Nordindiens, Nepals und Bhutans.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Karte der Verwaltungsgliederung im tibetischen Hochland

Die heutige Verwaltungsgliederung Tibets verbirgt in ihrer offenbaren Zerstückelung, dass sie historisch gewachsenen Strukturen Rechnung trägt: Die TAR umfasst in etwa jenen Raum, der in der Zeit von 1914-1950 de facto unabhängig war, während sich die heutige chinesische Provinz Qinghai, die flächenmäßig den größten Anteil des tibetischen Hochlandes jenseits der TAR innehat, mit der kaiserzeitlichen Kokonor-Provinz deckt. Dass einige tibetische Siedlungsräume den östlich benachbarten chinesischen Provinzen Gansu, Sichuan und Yunnan unterstellt sind, spiegelt in gewisser Weise die kleinstaatliche Zersplitterung jener Räume wider, wie sie bis ins 20. Jahrhundert herrschte. Das „Groß-Tibet" der tibetischen Exilregierung spiegelt einen politischen Anspruch wider, der sich auf das tibetische Großreich im 7.-9.Jh. stützt. (Vgl. Abb.1) Ethnographische Grundzüge des Hochlandes Vergleicht man die verschiedenen statistischen Angaben (Tab. 1), so scheint die Gesamteinwohnerzahl auf dem Hochland eines der großen Geheimnisse Asiens zu sein. Moderne offiziöse Quellen nennen eine Zahl von 6,16 Mio. Menschen (1990) in Gebieten tibetischer Autonomie (vgl. Tab. 2), von denen 4,6 Mio. Tibeter sind. Auf dem gesamten Hochland verteilen sich 46% der Tibeter in die TAR, der Rest nach Sichuan (24%), Qinghai (19,5%), Gansu (8%) und Yunnan (2,5%), während die Han-Chinesen 1,34 Mio. und andere Völker (ohne Han): 0,62 Mio. ausmachen. (NSP 1991, S. 7f.) Diese Zahl berücksichtigt allerdings weder die rein han-chinesischen Siedlungsräume noch die Gebiete autonomer Selbstverwaltung anderer Ethnien. Tab. 3 gibt Auskunft über die Bevölkerungsgruppen und -verteilung auf dem ganzen Hochland (innerhalb der Grenzen der VR China).

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Details

Title
Demographische und ethnographische Grundzüge des Hochlandes von Tibet
Author
Year
1997
Pages
21
Catalog Number
V61451
ISBN (eBook)
9783638549080
ISBN (Book)
9783656799962
File size
1324 KB
Language
German
Notes
Erstmals erschienen unter dem Titel 'Demographie und Ethnographie im Hochland von Tibet', in: Geographische Rundschau, 49 (1997), Heft 5, S. 279-286 [Westermann Verlagsgesellschaft, Braunschweig]
Keywords
Demographische, Grundzüge, Hochlandes, Tibet
Quote paper
M.A. Andreas Gruschke (Author), 1997, Demographische und ethnographische Grundzüge des Hochlandes von Tibet , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61451

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