Zur Regelung von Entgeltfragen auf Tarif- und Betriebsebene

Die Regelungssperre des § 77 III BetrVG: Reichweite und Verhältnis zum Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 III TVG


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2004

35 Pages, Note: 9 Punkte


Extrait


Gliederung

A. Einführung
I. Das Arbeitsrecht und seine Gestaltungsmittel
1. Privatautonome Gestaltung
2. Gestaltung durch objektives Recht (autonomes Arbeitsrecht)
3. Konkurrenz- und Rangfragen
II. Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen

B. Hauptteil
I. Zwei Ebenen und ihre Konkurrenz
1. Tarifebene und Betriebsebene als Grundlage des kollektiven Arbeitsrechts
a) Tarifautonomie und Tarifvertrag
aa) Zweck des Tarifvertrages
bb) Tarifvertrag und Entgeltfragen
b) Betriebsautonomie und Betriebsvereinbarung
aa) Zweck der Betriebsvereinbarung
bb) Betriebsvereinbarung und Entgeltfragen
c) Vergleich der Ebenen und die Rolle des § 77 III BetrVG für ihre Konkurrenz
2. Interessante Fragen zur Regelungssperre
II. Reichweite des § 77 III BetrVG
1. Grenzen der Betriebsautonomie – Einordnung der Regelungssperre in ein
Gesamtbild
a) Staatliches Recht
b) Günstigkeitsprinzip (§ 4 III TVG) und Betriebsvereinbarung
c) Vorrang der Tarifautonomie
2. Wortlaut des § 77 III BetrVG – Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen
a) Erste Ansicht: Nur materielle Arbeitsbedingungen
b) Zweite Ansicht: Alle Arbeitsbedingungen
c) Alternativer Lösungsansatz
d) Streitentscheidung
3. Bestehen oder Üblichkeit einer Tarifvertragsregelung
a) Bestehen eines Tarifvertrages
b) Tarifüblichkeit einer Regelung (Eigener Ansatz: Abstellen auf den Willen)
4. Tarifgebundenheit als nötige Vorrausetzung für die Regelungssperre
a) Tarifgebundenheit des Arbeitgebers
aa) Erste Ansicht: Zusätzliches Abgrenzungskriterium
bb) Zweite Ansicht: Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit
cc) Dritte Ansicht: Keine Tarifbindung zum Schutz der Tarifautonomie
dd) Streitentscheidung
b) Tarifgebundenheit der Arbeitnehmer
5. Tarifvertrag repräsentativ für jeweilige Branche
6. Nachwirkung des Tarifvertrages
7. Regelungsabrede als kollektives Regelungsinstrument
a) Regelungsabrede und § 77 III BetrVG
aa) Erste Ansicht: Umgehung der Regelungssperre
bb) Zweite Ansicht: Sperrwirkung lediglich für Betriebsvereinbarungen
cc) Streitentscheidung
b) Umdeutungen analog § 140 BGB
III. Ausnahmen von der Regelungssperre
1. Überblick über mögliche gesetzliche Ausnahmen
a) Das Günstigkeitsprinzip (§ 4 III TVG) und sein Verhältnis zu § 77 III BetrVG
aa) Erste Ansicht: § 77 III BetrVG als lex specialis
bb) Zweite Ansicht: Günstigkeitsprinzip als Strukturprinzip
cc) Vermittelnde Ansicht: Günstigkeitsprinzip gekoppelt an Übermaßverbot
dd) Streitentscheidung
b) Öffnungsklauseln als gesetzlich geregelte Ausnahme
aa) Reichweite von Öffnungsklauseln
bb) Stärkung der Betriebsebene
c) Der Sozialplan (§ 112 I S.4 BetrVG)
2. Verhältnis zwischen § 77 III BetrVG und § 87 I BetrVG
a) Vorrangtheorie
b) Zwei-Schranken-Theorie
c) Streitentscheidung

C. Schlussbemerkung

Seminararbeit

A. Einführung

I. Das Arbeitsrecht in seiner Gesamtheit wird bestimmt von verschiedenen Gestaltungsmitteln. Zur verständlichen und übersichtlichen Veranschaulichung empfiehlt sich eine Einteilung in Gestaltungsmittel des objektiven Rechts und privatautonome Gestaltungsmittel.[1]

1. Die privatautonomen Gestaltungsmittel entspringen vor allem dem Arbeitsverhältnisrecht. Gemeint sind Individualarbeitsverträge, Gesamtzusagen, betriebliche Übungen, aber auch Weisungen des Arbeitgebers. Sie finden ihre Grundlagen im BGB, HGB und auch in der GewO.
2. Bei der Gestaltung durch objektives Recht ist zunächst das staatliche Recht zu nennen. Von ihm wird das Arbeitsrecht durch die Verfassung, Gesetze und Rechtsverordnungen mit ihren teils zwingenden, teils dispositiven Normen bestimmt. Eine Besonderheit des objektiven Rechts, bildet das autonome Arbeitsrecht. Im Rahmen der vom Staat gesetzten zwingenden Rechtsnormen können Betriebs- oder Tarifparteinen eigenständige Rechtsnormen schaffen, die normativ wirken. Die auf Tarifebene und Betriebsebene geschaffenen Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen gelten gemäß § 4 I S. 1 TVG und § 77 IV S. 1 BetrVG unmittelbar und zwingend.
3. Die verschiedenen Gestaltungsmittel stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Konkurrenz- und Rangfragen stellen sich vor allem im privatautonomen Recht und im autonomen Arbeitsrecht, aber auch in deren Verhältnis zueinander. Fest steht jedoch, dass das staatliche Recht, und vor allem die Verfassung als Grundordnung des Staates[2], allem autonomen Recht vorgeht. Denn die Geltung des autonom geschaffenen Rechts ergibt sich aus der entsprechende Anerkennung des Staates.[3]

II. Im Folgenden soll vorrangig auf die Konkurrenz- und Rangfragen der Rechtssetzung auf Tarif- und Betriebsebene eingegangen werden, den Ebenen, auf denen normativ geltendes Recht geschaffen und somit objektives Arbeitsrecht autonom gestaltet wird. Insbesondere wird die Bedeutung der §§ 77 III BetrVG und 4 III TVG für diese Fragen näher untersucht.

B. Hauptteil

I. Zwei Ebenen und ihre Konkurrenz

1. Wie schon in der Einführung angedeutet, bestimmt sich das autonome Arbeitsrecht durch die Rechtsetzung auf zwei Ebenen. Tarifebene und die Betriebsebne bilden die Grundlage des kollektiven Arbeitsrechts. Als kollektives Arbeitsrecht bezeichnet man das Recht der Koalitionen (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände), ihrer Verträge und Auseinandersetzungen sowie das Recht der Betriebsverfassung und der Beteiligung der Arbeitnehmer in der Unternehmensorganisation (durch Betriebsräte).[4] Dieser Begriff fasst zwei Rechtsbereiche zusammen, die auf einer unterschiedlichen Konzeption der Interessenvertretung für die Arbeitnehmer beruhen. Gemeint ist eine Gewerkschaftskonzeption und eine Rätekonzeption. Gemeinsam ist den beiden Rechtsbereichen, dass auf der Seite der Arbeitnehmer stets ein Kollektiv besteht, welches das naturgemäße Kräfteungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in privatautonomen Verhandlungen ausgleichen soll[5]. Durch die kollektiv erstrittenen Tarifverträge werden für den einzelnen Arbeitnehmer die für ihn günstigsten Arbeitsbedingungen geschaffen. Durch die Bildung von Betriebsräten werden die Arbeitnehmer an der Organisation des Betriebes beteiligt und dies mehr, als es dem einzelnen Arbeitnehmer je möglich wäre.

a) Wichtigste Voraussetzung für die Rechtsetzung durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auf der Tarifebene ist die Tarifautonomie. Sie findet ihre gesetzliche Grundlage, als Bereich der Selbstregelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, in Art. 9 III S. 1 GG und sichert folglich den Tarifparteien sachlich einen autonomen Aufgabenbereich. Die Tarifautonomie wurde durch das Tarifvertragsgesetz näher ausgestaltet. Das TVG enthält mit den §§ 1 I, 4 I TVG die Grundlage der Normsetzungsbefugnis der Tarifparteien und den Geltungsbefehl für die geschlossenen Tarifverträge. Diese gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Wer tarifgebunden ist und damit in den personellen Geltungsbereich von Tarifverträgen fällt, bestimmt § 3 TVG. Wichtig für das Verständnis des Tarifvertrages ist, dass er als privatrechtlicher Vertrag zwischen privatrechtlichen Verbänden zustande kommt (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände). Er vermag jedoch kraft einfachen Gesetztes (§§ 1 I, 4 I TVG) Rechtsnormenwirkung zu entfalten. Er besitzt einen schuldrechtlichen Teil, in dem Rechte und Pflichten der Vertragspartner begründet werden, aber auch einen normativen Teil. In ihm vereinigen sich folglich Privatautonomie und Rechtsetzung.[6]

aa) Wichtigster Zweck des Tarifvertrages ist, wie schon angedeutet, der Schutz des Arbeitnehmers vor dem in der Vertragsaushandlung mächtigeren Arbeitgeber.[7] Häufig ist der einzelne Arbeitnehmer wirtschaftlich abhängig und müsste einseitig auferlegte Arbeitsverträge akzeptieren, auch wenn er nicht damit einverstanden ist. Dies wiederspräche der in der Privatautonomie verankerten Vertragsfreiheit.[8] Durch das kollektive Gewerkschaftsauftreten können mit Nachdruck bessere Arbeitsbedingungen erstritten werden.

bb) Typischer Inhalt von Tarifverträgen sind Regelungen über die Höhe von monatlichen Arbeitsentgelten.[9] Dies ergibt sich schon aus der Formulierung des § 77 III S. 1 BetrVG, der Arbeitsentgelte gesondert benennt. Die Regelung von Entgeltfragen zählt zum koalitionsspezifischen Betätigungsfeld der Tarifparteien.[10] Es ist allerdings auch nicht weiter verwunderlich, da der Tarifvertrag den Arbeitnehmer vor der einzelvertraglichen Aushandlung mit dem Arbeitgeber schützen soll, und die Entgeltfrage für beide Seiten von höchstem Interesse ist. Sie ist gemäß § 611 I Alt. 2 BGB Hauptleistungspflicht.

b) Gleichsam als Parallele zur Tarifautonomie ist auf der Betriebsebene die Betriebsautonomie zu sehen. Näher betrachtete hat sie jedoch einen völlig anderen Gegenstand. Sie knüpft an den einzelnen Betrieb an und überlässt den Betriebsparteien (Arbeitgeber und Betriebsrat) die Aufgabe, nach näherer Maßgabe des Betriebsverfassungsgesetztes ihre betrieblichen Angelegenheiten zu ordnen.[11] Der Staat erkennt diese Ordnung an, indem er durch das BetrVG einen gesetzlich ausgestalteten sachlichen Zuständigkeitsbereich schafft. Eine verfassungsrechtliche Grundlage besteht nicht. Wichtigste Ausprägung der Betriebsautonomie ist die Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarungen. Auch auf der Betriebsebene können die Betriebsparteien durch förmliche Vereinbarungen Bestimmungen mit Rechtsnormcharakter schaffen (§ 77 IV S. 1 BetrVG). Gerade bei der Formulierung des § 77 IV S. 1 BetrVG, nach dem Betriebsvereinbarungen unmittelbar und zwingend gelten, fällt die Parallele zum Tarifvertrag auf.[12] Auch Betriebsvereinbarungen kommen als privatrechtliche Verträge zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zustande. Auch sie haben einen schuldrechtlichen Teil, wie auch einen normativen Teil, kraft staatlichen Geltungsbefehls des § 77 IV S. 1 BetrVG.[13]

aa) Die Betriebsvereinbarung erfüllt einen für die Arbeitnehmer wichtigen Zweck. Durch den aus ihren Reihen gebildeten Betriebsrat werden sie an den sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten des Betriebs beteiligt. Das Interesse am Gedeihen und Wohlergehen des Betriebs wird geweckt. Bessere betriebliche Arbeitsbedingungen können geschaffen werden. Auch auf der Betriebsebene soll der Arbeitnehmer nicht den Status eines Untergebenen haben, sondern in den eines gleichberechtigten Mitarbeiters des Arbeitgebers überführt werden.[14]

bb) In Betriebsvereinbarungen können ebenfalls Regelungen über Arbeitsentgelte getroffen werden. Häufig handelt es sich hierbei um teilmitbestimmte Betriebsvereinbarungen.[15] Gemäß §§ 87 I Nr. 10, 11 BetrVG unterliegen nur Entscheidungen über Verteilungsschlüssel und besondere Leistungsentgelte der zwingenden Mitbestimmung. Ob und in wieweit auch die Höhe von Arbeitsentgelt Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein kann, ist im Folgenden näher zu erörtern. Fest steht jedoch, dass die Höhe von Lohn und Gehalt nicht zu den mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten des Betriebsrats zählt.[16] Insoweit bleibt nur eine freiwillige Betriebsvereinbarung (§ 88 BetrVG).

c) Dieser kurze Überblick über die beiden Ebenen gibt Anreiz zum Vergleich. Auf einige Gemeinsamkeiten wurde bereits hingewiesen. Wirklich interessant ist aber die Tatsache, dass diese Ebenen zwei Formen kollektiver Interessenvertretung für den Arbeitnehmer darstellen. Beide dienen seinem Schutz, aus den erörterten sozialen und demokratischen Gründen. Es erscheint daher verwunderlich, dass es überhaupt zu Konkurrenzfragen kommen kann. Gerade in der Praxis aber, kann es vorkommen, dass die Zielsetzung auf beiden Ebenen nicht identisch ist. Gewerkschaften können andere Pläne zum generellen Arbeitnehmerschutz verfolgen, als es den Arbeitern in einem konkreten Betrieb lieb ist.[17]

Wenn sich in diesen Fällen Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge widersprechen, muss gesetzlich geregelt sein, welchem Gestaltungsmittel der Vorrang gebührt, damit sich Tarif- und Betriebsparteien nicht in die Quere kommen. Diese Regelung treffen die §§ 77 III S.1 und 87 I BetrVG. Mit ihnen realisiert der Gesetzgeber das verfassungsrechtliche Gebot des Art. 9 III GG, indem er einen eindeutigen Vorrang des Tarifvertrages vor der Betriebsvereinbarung geschaffen hat.[18] Sinn und Zweck des § 77 III S. 1 BetrVG ist der Schutz der Tarifautonomie vor der Betriebsautonomie. Für den Arbeitnehmer geht es häufig um die einfache Frage, ob die Gewerkschaft oder der Betriebsrat für ihn mehr herausholen kann. Die Antwort auf diese Frage kann Auswirkungen auf den Nichteintritt oder Austritt aus den Tarifparteien haben.[19] Beide Tarifparteien sind auf die Akzeptanz ihrer Mitglieder angewiesen. Diese bleibt nur erhalten, wenn sie über größeren Einfluss verfügen als Betriebsrat und Arbeitgeber auf der Betriebsebene.[20] § 77 III BetrVG ist eine den Koalitionsbeitritt fördernde Norm[21], da sie den Tarifparteien die „Macht zur Regelung“ vorbehält. Dies stärkt die Tarifautonomie und somit die durch Art. 9 III GG geschützte Betätigungsfreiheit der Koalitionen[22].

2. Da nun die beiden konkurrierenden Ebenen vorgestellt und der Sinn und Zweck des § 77 III BetrVG für ihre Konkurrenz erörtert wurde, soll im Folgenden untersucht werden, inwieweit § 77 III BetrVG seiner Aufgabe gerecht wird. Interessante Fragen zur Reichweite dieser Regelungssperre sind unter anderem das Verständnis des Wortlauts der Norm, die Frage einer nötigen Tarifgebundenheit in deren Geltungsbereich, Fragen der Reichweite von Öffnungsklauseln und die Rolle des Günstigkeitsprinzips gemäß § 4 III TVG im Anwendungsbereich des § 77 III BetrVG, sowie das Verhältnis zu § 87 I BetrVG.

II. Reichweite des § 77 III BetrVG

1. Die Regelungsmacht von Arbeitgeber und Betriebsrat durch Betriebsvereinbarung erfährt ihre Grenzen in dreierlei Hinsicht.[23]

a) Zunächst darf nicht gegen zwingendes staatliches Recht verstoßen, insbesondere von der Organisationsstruktur der Betriebsräte abgewichen werden, welche das BetrVG regelt. Eine Ausnahme bildet § 3 I, II BetrVG.

b) Ferner sind Individualansprüche aus Arbeitsvertrag gegen die Einwirkung durch Normen von Betriebsvereinbarungen geschützt, sofern diese für den Arbeitnehmer günstiger sind.[24] Dies ergibt sich nicht direkt aus § 4 III TVG, der das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis zwischen Einzelarbeitsverträgen und Tarifverträgen regelt.[25] Eine vergleichbare Regelung im BetrVG ist nicht ersichtlich. Eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis zwischen Arbeitsvertrag und Betriebsvereinbarung erscheint jedoch sachgerecht. Dies zeigte eine Entscheidung des BAG[26] zur Regelung von Altersgrenzen durch Betriebsvereinbarungen sehr deutlich. Das in § 4 III TVG nur unvollkommen geregelte Günstigkeitsprinzip sei Ausdruck eines umfassenden Grundsatzes, der unabhängig von der Art der Rechtsquelle gelte. Der Wortlaut des § 77 IV S. 1 BetrVG müsse im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte und systematische Überlegungen um die Kollisionsnorm des Günstigkeitsprinzips ergänzt und somit im Ergebnis eingeschränkt werden.[27] Teilweise wird in der Literatur ein Redaktionsversehen angenommen.[28] Eine Ausnahme vom grundsätzlichen Vorrang des günstigeren Arbeitsvertrages vor Betriebsvereinbarungen bildet der vom BAG entwickelte „kollektive Günstigkeitsvergleich“ bei freiwilligen sozialen Leistungen.[29]

c) Schließlich erfährt die Betriebsautonomie ihre wohl bedeutsamste Beschränkung durch die Regelungssperre des § 77 III S. 1 BetrVG. Diese schon oben in ihrem Sinn und Zweck erörterte Sperre begründet einen grundsätzlichen Tarifvorrang. Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die in einem Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht in Betriebsvereinbarung geregelt werden. Bei dieser Sachlage fehlt den Betriebsparteien die funktionelle Zuständigkeit zur Rechtsnormsetzung, was zur Folge hat, dass Betriebsvereinbarungen, die gegen § 77 III BetrVG verstoßen, unwirksam sind.[30] Terminologisch zutreffender wäre es daher, von einem Tarifvorbehalt zu sprechen.[31] M.E. sind aber beide Bezeichnungen möglich, da letztendlich ein Vorrang der Tarifautonomie stets zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung führt. Dies gilt auch für den Fall, dass die Betriebsvereinbarung schon vor dem Tarifvertrag besteht. Man spricht vom sogenannten Ablösungsprinzip.[32] Ferner dürfen Betriebsvereinbarungen nicht einfach tarifliche Regelungen übernehmen und sie somit auf Tarifaußenseiter ausdehnen.[33] Wäre dies möglich, läge das Recht der Allgemeinverbindlichkeitserklärung i.S.d. § 5 I TVG in Händen des Betriebs.

2. Bei einer näheren Untersuchung der Sperre des § 77 III S. 1 BetrVG sollte zunächst sein Wortlaut betrachtet werden. Der Begriff „Arbeitsentgelte“ umfasst nicht nur Lohn und Gehalt im herkömmlichen Verständnis, sondern auch zusätzliche Sozialleistungen wie Gratifikationen, Gefahren- oder Familienzulagen, Urlaubsgelder oder betriebliche Altersvorsorgen.[34] Was jedoch unter sonstigen Arbeitsbedingungen zu verstehen ist, lässt mehrere Interpretationen zu.

a) Nach einer Ansicht[35] sollen nur sogenannte materielle Arbeitsbedingungen von der Sperre des § 77 III S. 1 BetrVG erfasst werden. Dies sollen Regelungen sein, die Inhalt und Umfang der Hauptpflichten des Arbeitsverhältnisses bestimmen, beispielsweise Lohn, Lohnfortzahlung, Urlaub und Kündigung. Den Gegensatz bilden die formellen Arbeitsbedingungen, welche die äußeren Umstände der Leistungserbringung regeln, wie u.a. die Ordnung im Betrieb und die Lage der Arbeitszeiten. Für sie solle die Sperre nicht gelten. Den Tarifpartnern brauche nicht jedwede Regelungsmöglichkeit vorbehalten zu bleiben. Es reiche, wenn der Tarifvertrag in seinem angestammten klassischen Bereich Vorrang habe. Formelle Arbeitsbedingungen sollten wegen ihrer Betriebsnähe auch den Betriebsparteien zur Regelung überlassen bleiben. Dies alles ergebe sich aus dem Wortlaut des § 77 III BetrVG, insbesondere aus der Gleichstellung der „sonstigen Arbeitsbedingungen“ mit den „Arbeitsentgelten“ als wichtigste materielle Arbeitsbedingung, wie sie schon in § 59 BetrVG 1952 vorgenommen wurde. Die Vertreter dieser Ansicht stützen sich vielfach auf die §§ 56 und 59 BetrVG 1952 und den Willen des damaligen Gesetzgebers zu einer klaren Trennung zwischen formellen und materiellen Arbeitsbedingungen.

b) Nach der Gegenansicht[36] bezieht sich die Regelungssperre des § 77 III BetrVG auf alle Arbeitsbedingungen. Die Auslegung der ersten Ansicht zum Wortlaut sei nicht haltbar. Die Norm weise keinen derart engen Zusammenhang zwischen Arbeitsentgelt und sonstigen Arbeitsbedingungen auf. Sie spräche von „Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die“ und lasse somit keine Beschränkung der Arbeitsbedingungen auf eine bestimmte Art erkennen. Der Gesetzgeber hätte sonst eine Formulierung wie „ähnliche“ oder „vergleichbare“ Arbeitsbedingungen gewählt. Ferner könne von § 59 BetrVG 1952 nicht auf den Willen des Gesetzgebers von heute geschlossen werden. Insbesondere aber spräche der Zweck der Regelung des § 77 III BetrVG für eine Ausdehnung auf alle Arbeitsbedingungen. Zweck sei der Schutz der Tarifautonomie. Dieser könne nur erreicht werden, wenn den Tarifparteinen der grundsätzliche Vorrang zur Regelung aller Arbeitsbedingungen eingeräumt wird. Falls sie davon Gebrauch machten, entfalle die Regelungsbefugnis der Betriebspartner.

[...]


[1] Vgl.: Söllner/Waltermann GA Rn. 122.

[2] Maurer AVwR § 4 Rn. 6.

[3] Söllner/Waltermann GA Rn. 124.

[4] MünchArbR/ Richardi § 240 Rn. 1.

[5] BVerfGE 84, 212, 229; Söllner/Waltermann GA Rn. 94.

[6] Schaub AH § 198 Rn. 10; Söllner/Waltermann GA Rn. 356.

[7] Schaub AH § 198 Rn. 1, 5.

[8] Brox AT Rn. 24.

[9] HaKo/ Lorenz § 77 Rn. 17.

[10] BVerfG BB 96, 1835, 1835.

[11] Waltermann RS S. 135 1. a).

[12] ErfK/ Kania § 77 BetrVG Rn. 2.

[13] Söllner/Waltermann GA Rn. 621.

[14] Schaub AH § 2 Rn. 17.

[15] ErfK/ Kania § 77 BetrVG Rn. 19 f..

[16] BAG NZA 99, 887, 891; BAG NZA 96, 948, 949.

[17] Vgl.: das Beispiel von Kissel NZA 95, 1, 4.

[18] Waltermann RdA 96, 129, 131; Heinze NZA 95, 5, 6.

[19] ErfK/ Kania § 77 BetrVG Rn. 50.

[20] Waltermann RdA 96, 129, 130.

[21] Zöllner § 46 II 6b.

[22] BVerfGE 84, 212, 224.

[23] HaKo/ Lorenz § 77 Rn. 12 ff..

[24] BAGE 53, 42, 47; HaKo/ Lorenz § 77 Rn. 14; Richardi § 77 Rn. 141 ff.; Söllner/Waltermann GA Rn. 639; Zöllner § 46 II 3.

[25] Däubler § 4 Rn. 574.

[26] BAG DB 90, 1724, 1725.

[27] BAGE 53, 42, 60.

[28] Richardi § 77 Rn. 143.

[29] Vgl.: BAGE 53, 42.

[30] BAG NZA 94, 184, 185; Waltermann RS S. 268 II 1.

[31] Hromadka AR II § 13 Rn. 308.

[32] Richardi § 77 Rn. 279; Waltermann RS S. 268 II 1.

[33] Richardi § 77 Rn. 288; Waltermann RS S. 268 II 1.

[34] Richardi § 77 Rn. 253; Däubler/ Berg § 77 Rn. 63.

[35] Hess/Schlochauer/ Hess § 77 Rn. 132 (5. Auflage 1997); Richardi § 77 Rn. 256; Zöllner § 46 II 6a.

[36] BAG DB 91, 1629, 1630; Hess/Schlochauer/ Worzalla § 77 Rn. 134; GK/ Kreutz § 77 Rn. 88; ErfK/ Kania § 77 BetrVG Rn. 52; Däubler/ Berg § 77 Rn. 63; Waltermann RS S. 282; Bichler DB 79, 1939, 1939.

Fin de l'extrait de 35 pages

Résumé des informations

Titre
Zur Regelung von Entgeltfragen auf Tarif- und Betriebsebene
Sous-titre
Die Regelungssperre des § 77 III BetrVG: Reichweite und Verhältnis zum Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 III TVG
Université
University of Bonn
Note
9 Punkte
Auteur
Année
2004
Pages
35
N° de catalogue
V64947
ISBN (ebook)
9783638576307
ISBN (Livre)
9783638670272
Taille d'un fichier
556 KB
Langue
allemand
Mots clés
Regelung, Entgeltfragen, Betriebsebene, Arbeitsrecht, Tarifebene
Citation du texte
Manuel Limbach (Auteur), 2004, Zur Regelung von Entgeltfragen auf Tarif- und Betriebsebene, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64947

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