Bildung oder Politik? Die bürgerlich-liberale und die marxistisch-sozialistische Theorie zur Emanzipation der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert. Eine vergleichende Reflektion


Term Paper (Advanced seminar), 2006

20 Pages, Grade: 1,7


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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die bürgerlich-liberale Auffassung: Friedrich Harkort
II.1. Menschen- und Gesellschaftsbild
II.2. Die Rolle der Bildung

III. Die marxistisch-sozialistische Auffassung: Wilhelm Liebknecht
III.1. Menschen- und Gesellschaftsbild
III.2. Die Rolle der Bildung

IV. Vergleichende Betrachtung

V. Ausblick: Bildung oder Politik?

VI. Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Die Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland ist eng mit den Anfängen der Erwachsenenbildung verknüpft. So erhellt die jeweilige Rolle, welche der Bildung in diesem historischen Verlauf zugewiesen wurde, auch schlaglichtartig die innere Entwicklung der Arbeiterbewegung von einer reformistischen Zielsetzung, die eine Integration des vierten Standes in die Gesellschaft und damit zugleich die Angleichung an die Konventionen des liberalen Bürgertums in den Blick nahm, zu einer vom Marxismus geprägten, auf eine grundlegende Gesellschaftsrevolution zielenden Arbeiterpartei.[1]

Die Auseinandersetzungen, die diesen Hergang begleiteten, werden besonders bei der Betrachtung der verschiedenen Konzeptionen zu dem spezifischen Begriff der ‚Arbeiterbildung’ deutlich, deren grundlegende Problemstellung sich mit der Frage „Bildung oder Politik?“[2] zusammenfassen lässt.

Die vorliegende Arbeit verfolgt nun hauptsächlich das Ziel, die theoretischen Überlegungen der bürgerlich-liberalen und der marxistisch-sozialistischen Richtung zur gesellschaftlichen Funktion der Bildung und ihres Potentials zur Überwindung der „sozialen Frage“ der Zeit anhand zweier exemplarischer Quellen einander vergleichend gegenüberzustellen.

Tatsächlich fielen die Anfänge der Erwachsenenbildung mit dem Beginn der Industrialisierung zusammen. Viele damalige Zeitgenossen haben den Zusammenhang zwischen dieser gesellschaftlichen Umbruchsituation und dem daraus erwachsenden Bedürfnis nach Bildung erkannt und entsprechend reagiert.[3]

Als Vertreter der bürgerlich-liberalen Theorie wird im ersten Abschnitt der Arbeit die Ansicht des Unternehmers Friedrich Harkort[4] in seiner 1844 erschienen Schrift Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Klassen[5] durch die Reflektion zweier zentraler Parameter konkretisiert.

Der zweite Teil setzt sich dagegen mit Wilhelm Liebknechts sozialistisch-marxistisch beeinflussten Vortrag Wissen ist Macht – Macht ist Wissen[6] aus dem Jahre 1872 auseinander, wobei die Parameter des ersten Teils ebenso Anwendung finden.

Die sich daran anschließende vergleichende Betrachtung fokussiert noch einmal konzentriert die grundlegenden Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten beider Ansichten, während im Schlusskapitel der ereignisgeschichtliche Verlauf, der die für die Entwicklung der deutschen Erwachsenenbildung entscheidenden sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts prägte - und somit auch die Rezeptionsgeschichte beider Theorien - kurz reflektiert werden.

Bezüglich der Forschung, die sich mit Friedrich Harkort beschäftigt, kann hier nur auf wenige verfügbare Literatur zurückgegriffen werden.

Obwohl sich die DDR-Forschung[7] sowohl mit dem westfälischen Industriellen als auch mit Liebknecht befasst hat, können diese Ergebnisse aufgrund ihrer ideologischen Prägung nicht berücksichtigt werden, weshalb die Ausführungen vorrangig nur auf den Darstellungen Karl-Ernst Jeismanns[8], Wolfgang Köllmanns[9] und Hans-Wolf Butterhofs[10] basieren. Ferner stützt sich die vorliegende Arbeit zudem auf die Überblicksarbeiten Karl Birkers[11], Josef Olbrichs[12] und Frolinde Balsers[13].

II. Die bürgerlich-liberale Sicht: Friedrich Harkort

II.1. Menschen- und Gesellschaftsbild

Friedrich Harkort, der in seiner Jugend mit Arbeiterkindern zur Volksschule ging und so sehr spezielle, persönliche Eindrücke über die Lage dieser Bevölkerungsschicht in sein weiteres soziales Engagement einbringen konnte, geht in seinen Schriften konsequent von jenem Menschenbild aus, das sich im Zuge der Aufklärung durchzusetzen begann.[14]

Abseits aller sozialen Differenzierungen bildeten dabei Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz und die Freiheit des Individuums die Eckpfeiler einer neuen staatlich-gesellschaftlichen Ordnung, die es in strikter Abgrenzung zu den herrschenden, noch stark ständisch-feudal geprägten Verhältnissen zu erreichen galt.[15]

„Die Zeit“ hätte „die Standesinteressen gelöst, die „Menschenrechte über die Stände gestellt“ und rede „einer Gleichheit das Wort“, während die „Familie“ und das „Staatsbürgerthum“ letztendlich zu den „Hauptfactoren der Gesellschaft“[16] zu zählen seien.

Sein eigener Blickpunkt war dabei der eines bürgerlichen Unternehmers, der großen Anteil an der Entwicklung der Industrialisierung in Deutschland hatte.[17] Die bürgerliche Gesellschaft, der Harkort sich uneingeschränkt zugehörig fühlte[18], bildete demnach den Ausgangspunkt aller seiner sozialpolitischen Schriften und muss so als ein wesentliches Element in den Vordergrund gerückt werden.

Als Praktiker, der sich mehr der Beseitigung akuter Missstände als der hypothetischen Klärung grundlegender Probleme verpflichtet fühlte[19], gliederte er die Gesellschaft in seiner Schrift in den „Adel“, das „Bürger-“ und „Bauerntum“ sowie in „untere Volksklassen“[20] - eine Einteilung, die mehr ökonomisch als ständisch fundiert ist, wenn auch der theoretische Hintergrund dieser Begriffe nicht klar eingegrenzt wird.[21]

Aus der selbstbewussten Sicht „bürgerliche[n] Misstrauen[s]“[22] sah er den Adel als eine Gruppe, die zwar von Staatswegen noch stark privilegiert war, deren Führungsanspruch ihm selbst jedoch völlig unzeitgemäß und sogar verderblich erschien.[23]

Während das Bürgertum sich auf der Grundlage allgemeiner technischer Rationalität entwickelte und frei von Gewaltherrschaft durch wirtschaftliche sowie politische Leistungen seine gesellschaftliche Position behaupte, war die mit Grundbesitz ausgestattete und nicht integrierfähige preußische Aristokratie für ihn das Sinnbild des verhassten Feudalismus.[24] Dennoch teilte Harkort die fortschrittsoptimistische Ansicht der Aufklärung, dass allein die „Erscheinung der Zeit“ – nämlich der Aufstieg des Bürgertums und die damit verbundenen Errungenschaften – ausreiche, um die „unfruchtbare todte Hand“[25] verschwinden zu lassen.

Der Stand, der davon nun besonders profitiere[26], sei das Bauerntum, dem er hier eine wichtige und sogar staatserhaltende Rolle zuweist, da die „Güte und Masse der vorhandenen Nahrungsmittel […] die Grundlage einer gesunden, kräftigen Bevölkerung“[27] seien.

Zusammen mit der bürgerlichen Schicht, die ihrerseits mit der Herausbildung von Dichtern, Gelehrten, Künstlern und Gewerbeträgern für den Wohlstand und die Freiheit der Nation Sorge trüge, bilde die bäuerliche Klasse demnach die wichtigste Größe im Staat.[28]

Als zentralen Fokus dieses Gefüges stellt Harkort den Begriff der „Civilisation“[29] heraus, der hauptsächlich die „Existenzform zwischen Proletariat und Aristokratie“[30], durch Wissenschaft, Kunst und Industrie als Ausdruck echter menschlicher Kultur gekennzeichnet, umschreibt. Gefährdet werde dieser gemeinschaftliche „Mittelstand“[31] von eben diesen zwei Seiten, die auch seinen Begriff negativ eingrenzen.[32]

Während jedoch der Feudalismus als eine unzeitgemäße Erscheinung ganz von allein verdrängt werden könne, müsse dagegen den möglichen Folgen des Pauperismus in der Arbeiterschaft für den Staat eine umso größere Aufmerksamkeit zugestanden werden.

Allein diese dringliche Überzeugung, die Gesellschaft vor jenen „unheildrohenden Massen“ und der durch sie drohenden „Krisis“[33] bewahren zu müssen, war es auch, die den Industriellen Harkort zwang, in immer neuen Schriften gegen die akuten Missstände innerhalb der unteren Schichten praktische Lösungsvorschläge zu unterbreiten.

Seine eigene Verabscheuung von Gewalt und Anarchie[34] ließ ihn wiederholt die Gefahren von Kommunismus und Sozialismus, jene „bereits geschichtlich gewordene[n] Systeme“[35], für die bürgerliche Gesellschaft in scharfen Worten aufzeigen.

[...]


[1] Vgl. dazu: Olbrich, Erwachsenenbildung, S. 28, 77-82 (wie Anmerkung 12).

[2] Vgl. Butterhof, Wissen und Macht, S. 45 (wie Anmerkung 10).

[3] Vgl. Arnold, Rolf: Erwachsenenbildung. Eine Einführung in Grundlagen, Probleme und Perspektiven. Hohengehren 21991, S. 6.

[4] Die Zuordnung Harkorts zum liberalen Lager steht trotz kleinerer Abweichungen weitestgehend fest. So trat im Jahre 1866 er der „Deutschen Fortschrittspartei“ bei und vertrat diese sogar im Reichstag, vgl. Olbrich Erwachsenenbildung, S. 76. Dennoch war Harkort nie ein „Manchestermann“, vielmehr forderte von dem Staat eine schützende und unterstützende Funktion und setzte beispielsweise für eine staatliche Arbeitsgesetzgebung ein, vgl. Jeismann, Volksbildung,, S. 158 (wie Anmerkung 8) und Balser, Anfänge, S. 140 (wie Anmerkung 13).

[5] Harkort, Friedrich: Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Klassen. In: Jeismann, Karl-Ernst (Hg.): Friedrich Harkort. Schriften und Reden zu Volksschule und Volksbildung. Paderborn 1969 (= Schönighs Sammlung pädagogischer Schriften – Quellen zur Geschichte der Pädagogik), S. 64-100. Die Rechtschreibung der verwendeten Zitate folgt dabei dieser Vorlage.

[6] Liebknecht, Wilhelm: Wissen ist Macht – Macht ist Wissen. In: Feidel-Mertz, Hildegard (Hg): Zur Geschichte der Arbeiterbildung. Bad Heilbrunn / OBB. 1968 (= Klinkhardts Pädagogische Quellentexte).

[7] Vgl. u.a. Uhlig, Gottfried: Bourgeoisie und Volksschule im Vormärz. Schulpolitische Kämpfe in Westfalen 1838-1848. Berlin (Ost) 1960; Brumme, Hans: Wilhelm Liebknecht über die Bildung und Erziehung des werktätigen Volkes. Berlin (Ost) 1960.

[8] Jeismann, Karl-Ernst: Volksbildung und Industrialisierung als Faktoren des sozialen Wandels im Vormärz. Dargestellt am Beispiel der Forderungen Friedrich Harkorts zur Bildungsreform. In: Zeitschrift für Pädagogik 18 (1972), S. 315-337; Jeismann, Karl-Ernst: Friedrich Harkort und die Volksbildung. In: ders. (Hg.): Friedrich Harkort. Schriften und Reden zu Volksschule und Volksbildung. Paderborn 1969 (= Schönighs Sammlung pädagogischer Schriften – Quellen zur Geschichte der Pädagogik), S. 153-160.

[9] Köllmann, Wolfgang: Gesellschaftsanschauungen und sozialpolitisches Wollen Friedrich Harkorts. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 1960, S. 81-99.

[10] Butterhof, Hans-Wolf: Wissen und Macht. Widersprüche sozialdemokratischer Bildungspolitik bei Harkort, Liebknecht und Schulz. München 1978.

[11] Birker, Karl: Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1840-1870. Mit einem Vorwort von Ernst Schraepler. Berlin 1973 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 10).

[12] Olbrich, Josef: Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland. Opladen 2001.

[13] Balser, Frolinde: Die Anfänge der Erwachsenenbildung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine kultursoziologische Deutung. Stuttgart 1959 (= Beiträge zur Geschichte der Erwachsenenbildung).

[14] Vgl. Balser, Anfänge, S. 144-145; Harkort, Hindernisse, S. 76.

[15] Vgl. Köllmann, Gesellschaftsanschauungen, S. 90.

[16] Harkort, Hindernisse, S. 83.

[17] So war Harkorts „Mechanische Werkstätte“ in Wetter für ca. ein Jahrzehnt das dominierende Unternehmen im Westen Deutschlands, dass zudem die neu entwickelten Maschinen und Praktiken aus England ins Land brachte. Zu seien Leistungen gehören weiterhin das Engagement zum Ausbau des Verkehrs- und Transportwesens und Anregungen für den Eisenbahnbau, vgl. Köllmann, Gesellschaftsanschauungen, S. 83.

[18] Vgl. Köllmann, Gesellschaftsanschauungen, S. 87-88.

[19] Vgl. ebd., S. 83-84; ders.: Politische und soziale Entwicklung der deutschen Arbeiterschaft 1850-1914. In: Ritter, Gerhard Albert: Die deutschen Parteien vor 1918. Köln 1973 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek Geschichte, Bd. 61), S. 317.

[20] Harkort, Hindernisse, S. 68ff.

[21] Vgl. Köllmann, Gesellschaftsanschauungen, S. 85.

[22] Ebd., S. 85.

[23] Vgl. Harkort, Friedrich: Gehört der Adel zum Volk? In: Hagener Zeitung, Nr. 51, 30. April 1864 (zit. bei Köllmann, Gesellschaftsanschauungen, S. 85). Seine Kritik richtete sich jedoch keinesfalls gegen die Monarchie an sich, er befand sich vielmehr in der Haltung einer „des Königs getreuester Opposition“, zit. bei Köllmann, Gesellschaftsanschauungen, S. 86.

[24] Vgl. Harkort, Hindernisse, S. 68, 78. Der Typus des Junkers bildet für Harkort den Inbegriff einer sterilen, feudal-reaktionären Gruppe. Als vorbildhaft erschien ihm gegenüber dem preußischen Adel die englische Aristokratie, die in ihrem Land eng mit dem Bürgertum verwachsen sei und sich statt auf Geburt auf die soziale Leistung beriefe, vgl. Köllmann, Gesellschaftsanschauungen, S. 85 mit Anmerkung 14.

[25] Harkort, Hindernisse, S. 78.

[26] Vgl. ebd., S. 78.

[27] Harkort, Hindernisse, S. 77.

[28] Vgl. Köllmann, Gesellschaftsanschauungen, S. 86.

[29] Harkort, Hindernisse, S. 64ff.

[30] Butterhof, Wissen und Macht, S. 17.

[31] Harkort, Hindernisse, S. 86.

[32] Vgl. Butterhof, Wissen und Macht, S. 17.

[33] Harkort, Hindernisse, S. 77.

[34] Ebd., S. 96.

[35] Ebd., S. 85.

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Details

Title
Bildung oder Politik? Die bürgerlich-liberale und die marxistisch-sozialistische Theorie zur Emanzipation der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert. Eine vergleichende Reflektion
College
Dresden Technical University  (Institut für Geschichte)
Course
Industrialisierung und soziale Frage im 19. Jahrhundert in Deutschland
Grade
1,7
Author
Year
2006
Pages
20
Catalog Number
V65864
ISBN (eBook)
9783638587792
ISBN (Book)
9783638753685
File size
583 KB
Language
German
Keywords
Bildung, Politik, Theorie, Emanzipation, Arbeiterschaft, Jahrhundert, Eine, Reflektion, Industrialisierung, Frage, Jahrhundert, Deutschland
Quote paper
Henriette Kunz (Author), 2006, Bildung oder Politik? Die bürgerlich-liberale und die marxistisch-sozialistische Theorie zur Emanzipation der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert. Eine vergleichende Reflektion, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65864

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